Schule des Schweigens - Jeffery Deaver - E-Book
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Schule des Schweigens E-Book

Jeffery Deaver

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Beschreibung

Ein nervenaufreibender Thriller vom unangefochtenen Meister der psychologischen Spannung! In Kansas entführen drei entflohene Schwerverbrecher einen Schulbus mit zwei Lehrerinnen und acht taubstummen Mädchen. Sie flüchten mit ihnen in einen abgelegenen ehemaligen Schlachthof und stellen ein Ultimatum: Im Austausch gegen ihre Geiseln wollen sie einen Hubschrauber – sonst stirbt jede Stunde ein Mädchen. Arthur Potter, psychologisch geschulter FBI-Spezialist, ist fest entschlossen, die Täter zur Strecke zu bringen. Während die Geiseln im Schlachthof durch die Hölle gehen, nimmt ein nervenaufreibendes Feilschen um ihre Leben seinen Lauf … »Der beste Autor psychologischer Thriller weit und breit.« The Times Dieser furiose Psychothriller für Fans von David Baldacci und Karin Slaughter wird Sie das Fürchten lehren! Als Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Seitenzahl: 698

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Über dieses Buch:

In Kansas entführen drei entflohene Schwerverbrecher einen Schulbus mit zwei Lehrerinnen und acht taubstummen Mädchen. Sie flüchten mit ihnen in einen abgelegenen ehemaligen Schlachthof und stellen ein Ultimatum: Im Austausch gegen ihre Geiseln wollen sie einen Hubschrauber – sonst stirbt jede Stunde ein Mädchen. Arthur Potter, psychologisch geschulter FBI-Spezialist, ist fest entschlossen, die Täter zur Strecke zu bringen. Während die Geiseln im Schlachthof durch die Hölle gehen, nimmt ein nervenaufreibendes Feilschen um ihre Leben seinen Lauf …

»Schule des Schweigens« erscheint außerdem als Hörbuch bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über den Autor:

Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Seit seinem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat Jeffery Deaver sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht.

Bei Saga Egmont im Hörbuch und bei dotbooks im eBook veröffentlichte der Autor seine mitreißenden Thriller »Schule des Schweigens«, »Blutiger Mond«, »Nachtgebet« und »Ein tödlicher Plan«.

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eBook-Ausgabe Dezember 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »A Maiden's Grave« bei Viking, New York.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 by Jeffery Deaver

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1996 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-449-1

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Jeffery Deaver

Schule des Schweigens

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner

dotbooks.

Widmung

Für Diana Keene mit all meiner Liebe,

weil sie eine Inspiration, eine kluge Kritikerin,

ein Teil meiner Bücher, ein Teil meines Lebens ist.

TEIL 1:DER SCHLACHTRAUM

8.30 Uhr

»Acht graue Vögel sitzen im Dunkeln.

Kalter Wind weht, er ist nicht freundlich.«

Der kleine gelbe Schulbus rollte über die Kuppe eines steilen Hügels, und einen Augenblick lang sah sie nur einen riesigen Teppich aus hellem Weizen, tausend Meilen breit, der unter dem grauen Himmel wogte. Dann tauchten sie wieder darin ein, und der Horizont verschwand.

»Sie sitzen auf Drähten, schlagen mit den Flügeln

und segeln davon in weiße Wolkenberge.«

Sie machte eine Pause und sah die Mädchen an, die beifällig nickten. Sie merkte, dass sie den dichten Weizenteppich angestarrt und ihr Publikum ignoriert hatte.

»Bist du nervös?«, fragte Shannon.

»Das darfst du nicht fragen«, warnte Beverly. »Bringt Unglück.«

Nein, erklärte Melanie ihnen, sie sei nicht nervös.

Sie sah wieder aus dem Fenster und beobachtete die draußen vorbeiziehenden Felder.

Drei der Mädchen dösten, aber die anderen fünf waren hellwach und warteten darauf, dass Melanie fortfuhr. Sie begann wieder, wurde aber unterbrochen, bevor sie die nächste Zeile rezitiert hatte.

»Warte, was für Vögel sind das eigentlich?« Kielle runzelte die Stirn.

»Nicht unterbrechen.« Das kam von der siebzehnjährigen Susan. »Leute, die andere unterbrechen, sind Philister.«

»Bin ich nicht!«, wehrte Kielle ab. »Was ist das?«

»Krass ist es, du Dummkopf«, erklärte Susan ihr.

»Was ist krass?«, wollte Kielle wissen.

»Lass sie weitermachen!«

Melanie fuhr fort:

»Acht kleine Vögel, hoch am Himmel,

Fliegen die ganze Nacht, bis sie die Sonne finden,«

»Auszeit!« Susan lachte. »Gestern waren es fünf Vögel.«

»Jetzt unterbrichst du sie«, stellte der magere Wildfang Shannon fest. »Philadelphier!«

»Philister«, verbesserte Susan sie.

Die pummelige Jocylyn nickte nachdrücklich, als hätte sie den Ausrutscher ebenfalls bemerkt, wäre aber zu schüchtern gewesen, um darauf hinzuweisen. Jocylyn war zu schüchtern, um überhaupt viel zu tun.

»Aber ihr seid acht, darum habe ich die Zahl geändert.«

»Darfst du das einfach?«, wollte Beverly wissen. Mit vierzehn war sie die zweitälteste Schülerin.

»Es ist mein Gedicht«, antwortete Melanie. »Ich kann so viele Vögel erfinden, wie ich will.«

»Wie viele Leute sind dort? Im Theater?«

»Hunderttausend.« Melanie wirkte völlig ernsthaft.

»Nein! Wirklich?«, fragte die achtjährige Shannon ganz begeistert, während die nicht so leicht zu beeindruckende gleichaltrige Kielle die Augen verdrehte.

Das eintönige Landschaftsbild des südlichen Mittelkansas zog Melanies Blick erneut an. Die blauen Harvestore-Fertigsilos waren die einzigen Farbtupfer. Es war Juli, aber der Tag war kühl und wolkenverhangen; Regen drohte. Sie kamen an gigantischen Mähdreschern und Bussen voller Wanderarbeiter vorbei, die ihre Porta-Potti-Toilettenhäuschen auf Anhängern mitführten. Sie sahen Grundbesitzer und Landpächter, die ihre riesigen Traktoren steuerten. Melanie bildete sich ein, sie nervös zum Himmel aufblicken zu sehen; es war Erntezeit für den Winterweizen, und wenn es jetzt einen Sturm gäbe, könnte das acht Monate Arbeit zunichtemachen.

Die junge Frau wandte sich vom Fenster ab und betrachtete leicht verlegen ihre Fingernägel, die sie jeden Abend gewissenhaft pflegte und feilte. Mit ihrem unauffälligen Nagellack sahen sie wie makellose Perlmuttmuscheln aus. Sie hob die Hände und rezitierte nochmals mehrere Gedichte, wobei ihre Finger elegant die Worte bildeten. Jetzt waren die Mädchen alle wach – vier sahen aus dem Fenster, drei beobachteten Melanies Finger, und die pummelige Jocylyn Weiderman ließ ihre Lehrerin nicht aus den Augen.

Diese Felder gehen endlos weiter, dachte Melanie. Susans Blick folgte Melanies. »Das sind Rabenvögel«, sagte der Teenager mit den Fingern. »Krähen.«

Ja, das waren sie. Nicht fünf oder zehn, sondern tausend, ein ganzer Schwarm. Die Krähen beobachteten die Felder, den gelben Bus und den wolkenverhangenen Himmel, grau und purpurrot.

Melanie sah auf die Uhr. Sie waren noch nicht einmal auf dem Highway. Topeka würden sie in frühestens drei Stunden erreichen.

Der Schulbus fuhr in den nächsten Canon aus Weizen hinunter.

Melanie spürte, dass irgendetwas nicht stimmte, bevor sie auch nur einen einzigen Hinweis bewusst wahrnahm. Später würde sie zu dem Schluss gelangen, der Auslöser dafür sei keine übersinnliche Botschaft oder Vorahnung, sondern allein die Tatsache gewesen, dass Mrs. Harstrawns kräftige, rote Finger das Lenkrad nervös umklammerten.

Hände, in Bewegung.

Dann verengten sich die Augen der Älteren. Sie bewegte ihre Schultern. Ihre Kopfhaltung veränderte sich kaum wahrnehmbar. Die kleinen Dinge, durch die der Körper verrät, was das Gehirn denkt.

»Schlafen die Mädchen?« Die Frage war knapp, und die Finger kehrten sofort ans Lenkrad zurück. Melanie hastete nach vorn und signalisierte, dass sie nicht schliefen.

Die Zwillingsschwestern Anna und Suzie, zart wie Federn, setzten sich nun auf und beugten sich nach vorn, sodass ihr Atem die breiten Schultern der älteren Lehrerin traf. Mrs. Harstrawn scheuchte sie zurück. »Nein, nicht rausschauen! Setzt euch hin und seht aus dem anderen Fenster. Los, sofort! Aus dem linken Fenster.«

Dann sah Melanie den Wagen. Und das Blut. Grässlich viel Blut. Sie sorgte dafür, dass die Mädchen auf ihre Plätze zurückkehrten.

»Nicht hinsehen«, wies Melanie sie an. Ihr Herz raste wie wild, ihre Arme wogen plötzlich tausend Pfund. »Und schnallt euch an.« Sie hatte Mühe, die Worte zu bilden.

Jocylyn, Beverly und die zehnjährige Emily befolgten ihre Anweisung sofort. Shannon schnitt eine Grimasse und riskierte mehrere Blicke, Kielle ignorierte Melanie einfach. Susan dürfe hinsehen, stellte sie fest. Warum nicht auch sie?

Eine der Zwillinge, Anna, saß unbeweglich da, hatte die Hände in den Schoß gelegt und war blasser als sonst – in auffälligem Gegensatz zum nussbraunen Teint ihrer Schwester. Melanie strich ihr tröstend übers Haar. Sie deutete aus dem linken Seitenfenster. »Sieh dir den Weizen an«, forderte sie die Kleine auf.

»Total interessant«, antwortete Shannon sarkastisch.

»Die armen Leute.« Die zwölfjährige Jocylyn wischte sich die reichlich fließenden Tränen von den dicken Backen.

Der burgunderrote Cadillac war ins Schleudern geraten und gegen den eisernen Absperrschieber einer Bewässerungsanlage geknallt. Von der Motorhaube stieg eine Dampfwolke auf. Der Fahrer, ein älterer Mann, hing halb aus dem Wagen, sodass sein Kopf auf dem Asphalt lag. Melanie sah jetzt auch einen zweiten Wagen, einen grauen Chevy. Der Zusammenstoß war auf einer Kreuzung passiert. Der Cadillac hatte anscheinend Vorfahrt gehabt und den grauen Wagen gerammt, der ein Stoppschild überfahren haben musste. Der Chevy war von der Straße abgekommen und im hohen Weizen gelandet. In diesem Wagen schien niemand zu sitzen, aber die Motorhaube war demoliert, und der Kühler dampfte ebenfalls.

Mrs. Harstrawn brachte den Bus zum Stehen und legte ihre Hand auf den abgewetzten verchromten Türgriff.

Nein!, dachte Melanie. Fahr weiter! Zu einem Laden, einem 7-Eleven, einem Haus. Sie waren seit vielen Meilen an nichts mehr vorbeigekommen; aber vor ihnen lag bestimmt irgendetwas. Nicht halten. Weiterfahren. Das hatte sie gedacht. Aber ihre Hände mussten sich dabei bewegt haben, denn Susan antwortete: »Nein, wir müssen halten. Er ist verletzt.«

Aber das Blut!, dachte Melanie. Sie sollten nicht mit seinem Blut in Berührung kommen. Es gab Aids, es gab andere Dinge, mit denen man sich anstecken konnte.

Diese Leute brauchten Hilfe, aber sie brauchten offizielle Hilfe.

Acht graue Vögel sitzen im Dunkeln ...

Susan, acht Jahre jünger als Melanie, sprang als Erste aus dem Schulbus und rannte auf den Verletzten zu. Ihr langes schwarzes Haar wehte im böigen Wind.

Dann Mrs. Harstrawn.

Melanie blieb noch sitzen, starrte nach draußen. Der Fahrer lag mit einem grässlich verdrehten Bein wie eine mit Sägemehl gefüllte Puppe da. Sein Kopf hing schlaff herunter, seine Hände waren dick und blass.

Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen.

Aber er ist natürlich nicht tot. Nein, nein, nur Schnittwunden. Nichts Ernstes. Er ist nur ohnmächtig.

Die kleinen Mädchen drehten sich nacheinander um und betrachteten die Unfallstelle. Kielle und Shannon natürlich als Erste – das dynamische Duo, die Power Rangers, die X-Men. Dann die zerbrechliche Emily, die inbrünstig betend die Hände faltete. (Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie Gott allabendlich bat, ihr das Gehör wiederzugeben. Das hatte sie außer Melanie noch niemandem anvertraut.) Beverly griff sich an die Brust: eine instinktive Geste, denn ihr nächster Anfall stand keineswegs unmittelbar bevor.

Melanie stieg aus und ging auf den Cadillac zu. Auf halber Strecke verlangsamte sie ihren Schritt. Vor dem grauen Himmel, dem grauen Weizen, der hellgrauen Straße war das Blut schrecklich rot. Und es war überall: auf der Glatze des Mannes, auf seiner Brust, an der Autotür, auf dem gelben Lederpolster.

Auf der Achterbahn der Angst stürzte ihr Herz dem Erdboden entgegen.

Mrs. Harstrawn, Mutter zweier halbwüchsiger Jungen, war eine humorlose Frau, intelligent, zuverlässig, massiv wie vulkanisierter Gummi. Sie griff unter ihren farbenprächtigen Pullover, zog ihre Bluse heraus und riss einen Streifen ab, um einen Verband zu improvisieren, mit dem sie die tiefe Kopfwunde des Verletzten versorgte. Dann beugte sie sich über ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr, drückte mit beiden Händen auf seine Brust und atmete in seinen Mund.

Und dann horchte sie.

Ich kann nicht hören, dachte Melanie, also kann ich nicht helfen. Hier kann ich nichts tun. Am besten gehe ich zum Bus zurück, passe auf die Mädchen auf. Die Achterbahn ihrer Angst verlief allmählich gerader. Gut, gut.

Auch Susan kniete neben ihm und versuchte, die Blutung in seinem Nacken zum Stillstand zu bringen. Die Schülerin sah stirnrunzelnd zu Mrs. Harstrawn auf. Mit blutigen Fingern fragte sie: »Warum so viel Blut? Hier im Nacken.«

Mrs. Harstrawn untersuchte die Verletzung. Auch sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Er hat ein Loch im Nacken«, stellte die Lehrerin überrascht fest. »Wie von einer Kugel.«

Melanie holte bei dieser Mitteilung erschrocken tief Luft. Der klapprige Achterbahnwagen stürzte erneut in die Tiefe und schien Melanies Magen irgendwo zurückzulassen – weit, weit über ihr. Sie konnte nicht mehr weitergehen.

Dann sah sie die Umhängetasche.

Drei Meter entfernt.

Sie war für alles dankbar, was ihr eine Entschuldigung dafür lieferte, den Schwerverletzten nicht ansehen zu müssen, und trat auf die Tasche zu, um sie genauer zu untersuchen. Das in den Stoff eingewebte Muster war von irgendeinem Designer. Melanie Charrol – eine Farmerstochter, die als angehende Gehörlosenlehrerin sechzehntausendfünfhundert Dollar im Jahr verdiente – hatte in ihren fünfundzwanzig Lebensjahren noch nie ein Designer-Accessoire in der Hand gehabt. Weil die Umhängetasche klein war, wirkte sie kostbar. Wie ein glitzerndes Juwel. Dies war die Art Tasche, die man als Frau über der Schulter hatte, wenn man ein Büro hoch über der Innenstadt von Kansas City oder sogar in Manhattan oder Los Angeles betrat. Die Art Tasche, die man lässig auf einen Schreibtisch werfen und aus der man einen silbernen Füllfederhalter ziehen würde, um ein paar Worte zu schreiben, die Sekretärinnen und Assistenten in Bewegung setzen würden.

Aber während Melanie die teure Tasche anstarrte, bildete sich in ihrem Kopf ein kleiner Gedanke, der wuchs und wuchs, bis er zuletzt aufblühte: Wo ist die Frau, der sie gehört?

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf sie.

Der Mann war nicht groß, auch nicht dick, aber er wirkte sehr massiv. Er hatte Muskeln wie ein Pferd! Klar definiert und dicht unter der Haut, über die bei jeder Bewegung kleine Wellen zu laufen schienen. Melanie keuchte erschrocken und starrte in sein glattes, junges Gesicht. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt, und seine Kleidung war so grau wie die Wolken, die über ihnen dahinrasten. Er grinste breit und ließ dabei weiße Zähne sehen, aber sie nahm ihm dieses Lächeln nicht eine Sekunde lang ab.

Melanies erster Eindruck war, er sei ein Fuchs. Nein, sagte sie sich im nächsten Augenblick, ein Wiesel ... oder ein Marder. Im Bund seiner ausgebeulten weiten Hose steckte eine Pistole. Melanie hob erschrocken die Hände. Nicht zum Gesicht, sondern auf Brusthöhe. »Nichts tun, bitte«, bedeutete sie ihm instinktiv. Er warf einen Blick auf ihre sich bewegenden Hände und lachte.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie Mrs. Harstrawn und Susan unbehaglich dastehen. Ein zweiter Mann bewegte sich auf sie zu. Er war riesig. Groß und dick. Auch er war verwaschen grau gekleidet. Zottiges Haar. Er hatte eine Zahnlücke, und sein Grinsen war hungrig. Ein Bär, dachte sie automatisch.

»Komm«, forderte Melanie Susan durch ein Handzeichen auf. »Komm, wir fahren. Schnell!« Sie behielt den gelben Schulbus im Auge und wollte zu den sieben ängstlichen Gesichtern zurückgehen, die durch die Scheiben starrten.

Marder packte sie am Kragen. Sie schlug nach seiner Hand – aber vorsichtig, weil sie Angst hatte, sie könnte ihn treffen, weil sie Angst vor seinem Zorn hatte.

Er brüllte etwas, was sie nicht verstand, und schüttelte sie. Das Grinsen wurde, was es in Wirklichkeit war: ein kaltes Funkeln. Sein Gesicht verfinsterte sich. Melanie sackte entsetzt zusammen und ließ die Hand sinken.

»Was ... hier?«, fragte Bär. »Wir sollten ... wenn du mich fragst.«

Melanie war postlingual ertaubt. Der Verlust ihrer Hörkraft setzte ein, als sie acht war und ihre Sprechfertigkeit schon voll ausgebildet gewesen war. Sie konnte besser von den Lippen ablesen als die meisten anderen Mädchen. Aber das Lippenlesen ist eine sehr unsichere Sache – viel komplizierter, als nur Lippenbewegungen zu beobachten. Man muss dazu auch noch die Bewegungen von Mund, Zunge, Zähnen, Augen und anderen Körperteilen interpretieren. Wirklich effektiv ist dieses Verfahren nur, wenn man den Menschen kennt, dessen Worte man zu entziffern versucht. Bär lebte in einem Universum, das völlig anders war als Melanies Welt mit altenglischem Dekor, Tees der Marke Celestial Seasonings und Kleinstadtschulen im Mittelwesten. Und sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

Der große Mann lachte und spuckte einen weißen Strahl. Sein Blick glitt über ihren Körper – über ihre Brüste unter der hochgeschlossenen burgunderroten Bluse, ihren langen anthrazitgrauen Rock, die schwarze Strumpfhose. Sie verschränkte verlegen die Arme. Bär konzentrierte sich wieder auf Mrs. Harstrawn und Susan.

Marder beugte sich nach vorn und sagte etwas – schrie vermutlich, wie es Leute im Umgang mit Gehörlosen oft taten (was in Ordnung war, weil sie dann langsamer und mit viel deutlicheren Lippenbewegungen sprachen): Er wollte wissen, wer in dem Bus sei. Melanie stand wie gelähmt da. Sie konnte sich nicht bewegen. Seine schweißnassen Finger umklammerten ihren Oberarm.

Bär sah auf das entstellte Gesicht des Verunglückten hinunter, klopfte mit der Stiefelspitze träge gegen seinen Kopf und beobachtete, wie er kraftlos von einer Seite zur anderen fiel. Melanie stockte der Atem. Das Beiläufige dieses Tritts, die unnötige Rohheit war entsetzlich. Sie begann zu weinen. Bär stieß Susan und Mrs. Harstrawn vor sich her zum Bus.

Melanie sah zu Susan hinüber und riss erschrocken die Hände hoch. »Nein, nicht!«

Aber Susan war bereits in Bewegung.

Ihre perfekte Figur, der Körper einer Sprinterin.

Ihre einundfünfzig muskulösen Kilogramm.

Ihre kräftigen Hände.

Als sie nach Bärs Gesicht schlug, zuckte er überrascht zurück und fing ihre Hand nur wenige Zentimeter vor seinen Augen ab. Seine Überraschung verwandelte sich in Belustigung. Er drückte ihren Arm nach unten, bis sie auf die Knie sank. Dann stieß er sie zu Boden, sodass ihre schwarzen Jeans und die weiße Bluse schmutzig wurden. Dann drehte Bär sich nach Marder um und rief irgendetwas.

»Nein, Susan, nicht!«, warnte Melanie sie.

Die Schülerin hatte sich wieder aufgerappelt. Aber diesmal war Bär auf ihren Angriff gefasst und warf sich herum. Als er sie packte, berührte er ihre Brüste und umfasste sie für einen Augenblick. Plötzlich hatte er dieses Spiel satt. Er verpasste ihr einen kräftigen Magenhaken, und sie sank auf die Knie und hielt sich nach Luft schnappend den Leib.

»Nein!«, signalisierte Melanie ihr. »Nicht kämpfen.«

Marder rief Bär zu: »Wo ... er?«

Bär deutete auf eine Mauer aus Weizen. Sein Gesichtsausdruck war merkwürdig – so als wäre er mit etwas nicht einverstanden, fürchtete sich aber, zu kritisch zu reagieren. »Nein ... keine Zeit ... solchen Scheiß«, stieß er hervor. Melanie folgte seinem Blick und sah in das Weizenfeld. Sie konnte nichts Genaues erkennen, aber aufgrund der Schatten und verschwommenen Umrisse glaubte sie, einen gebückt dastehenden Mann vor sich zu haben. Er war klein und drahtig. Er schien eine Hand zu heben – wie zu einem Nazigruß. In dieser Haltung blieb er für lange Augenblicke stehen. Unter ihm glaubte sie, die Umrisse einer dunkelgrün gekleideten Gestalt zu erkennen.

Die Frau, der die Umhängetasche gehörte. Diese Erkenntnis durchzuckte Melanie mit erschreckender Klarheit.

Nein, bitte nicht ...

Der Arm des Mannes senkte sich gemächlich. Durch den wogenden Weizen sah sie etwas Metallisches in seiner Hand aufblitzen.

Marder legte kaum merklich den Kopf schief. Er hatte ein Geräusch gehört. Er zuckte zusammen. Auf Bärs Gesicht erschien ein Grinsen. Mrs. Harstrawn hob die Hände und hielt sich die Ohren zu. Entsetzt. Mrs. Harstrawn hörte ausgezeichnet.

Melanie starrte weinend ins Weizenfeld. Sie sah, wie sich die verschwommene Gestalt tiefer über die Frau beugte. Sie sah das elegante Wogen des hohen Weizens, der im stürmischen Juliwind schwankte. Die Bewegungen des Männerarms, der sich erneut hob und senkte, einmal, zweimal. Sein Gesicht, als er die vor ihm liegende Tote betrachtete.

Mrs. Harstrawn fixierte Marder mit einem strengen Blick. » ... uns jetzt fahren, dann ... sie in Ruhe lassen. Ich verspreche Ihnen ...«

Melanie fand es tröstlich, ihren Trotz, ihren Zorn zu sehen. Ihr energisch vorgerecktes Kinn.

Marder und Bär ignorierten sie. Die beiden trieben Susan, Mrs. Harstrawn und Melanie vor sich her zum Schulbus.

Im Bus drängten sich die jüngeren Mädchen auf der hinteren Sitzbank zusammen. Bär schob Susan und Mrs. Harstrawn hinein und deutete vielsagend auf seinen Gürtel, aus dem seine Waffe ragte. Melanie stieg als Letzte vor Marder ein, der sie grob nach hinten stieß, sodass sie stolperte und auf die schluchzenden Zwillinge fiel. Sie umarmte die beiden fest und schloss dann auch Emily und Shannon in die Arme.

Die Außenwelt ... gefangen in der schrecklichen Außenwelt.

Melanie, die Marder im Auge behielt, sah ihn sagen: »Taub wie ... die ganze Bande!« Bär quetschte seinen fetten Hintern auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Er sah in den Rückspiegel, runzelte die Stirn und fuhr herum.

In weiter Ferne, am Ende des Asphaltbands, waren winzige rote Blinklichter aufgetaucht. Bär drückte auf die Lenkradnabe, und Melanie spürte die Vibrationen der Hupe in ihrer Brust.

Bär sagte: »Mann, was zum Teufel ... wie lange ...« Dann drehte er den Kopf zur Seite, sodass nicht mehr zu erkennen war, was er sagte.

Marder rief etwas in den Weizen. Er nickte, so als hätte der dritte Mann geantwortet. Gleich danach schoss der graue Chevy aus dem Feld. Der schwer beschädigte, aber noch fahrtüchtige Wagen rollte aufs Bankett und blieb einen Augenblick stehen. Melanie bemühte sich, den Mann aus dem Weizen am Steuer zu erkennen, aber die Windschutzscheibe spiegelte zu stark. Man hätte glauben können, am Steuer sitze überhaupt niemand.

Dann beschleunigte der Wagen rasant und fuhr mit qualmenden Reifen schleudernd auf den Asphalt hinaus. Der Bus folgte ihm durch dünne Wolken aus bläulichem Gummirauch. Bär schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad, drehte sich einen Augenblick um und blaffte einige Worte in Melanies Richtung – zornige Worte, gemeine Worte. Aber sie verstand kein einziges davon.

Die strahlend hellen Blinklichter schlossen zu ihnen auf: rot und blau und weiß. Wie das Feuerwerk am Unabhängigkeitstag vor zwei Wochen über dem Park in Hebron, wo Melanie die farbigen Kometenschweife am Himmel beobachtet und die Explosionen der weißglühenden Knallkörper auf ihrer Haut gespürt hatte.

Sie sah sich nach dem Streifenwagen um und wusste, was geschehen würde. Irgendwo vor ihnen würden aus allen Richtungen hundert Streifenwagen zusammenkommen. Sie würden den Bus zum Halten zwingen, und diese Männer würden aussteigen. Sie würden mit erhobenen Händen abgeführt werden. Die Schülerinnen und ihre beiden Lehrerinnen würden aufs nächste Polizeirevier fahren und ihre Aussagen zu Protokoll geben. Diesmal würde sie den Auftritt im Gehörlosentheater von Topeka verpassen – auch wenn sie es zeitlich noch hätten schaffen können –. denn nach allem, was sie heute erlebt hatte, konnte sie sich unmöglich auf die Bühne stellen und Gedichte rezitieren.

Und der zweite Grund für ihre Fahrt nach Topeka?

Vielleicht war dies ein Zeichen, dass sie nicht hinfahren sollte, dass sie sich das nicht hätte vornehmen sollen. Gewissermaßen ein Omen.

Sie wollte jetzt nur noch heimfahren. Heim in ihr gemietetes Haus, wo sie die Tür absperren und eine Tasse Tee trinken konnte. Okay, ein Glas Brombeerlikör. Und ihrem Bruder im Krankenhaus von St. Louis ein Fax schicken konnte, um ihm und ihren Eltern von ihren Erlebnissen zu berichten. Melanie verfiel in eine nervöse Angewohnheit: Sie schlang ihr blondes Haar um ihren gekrümmten Mittelfinger, während die übrigen Finger gestreckt blieben. Diese Gebärde war das Symbol für leuchten.

Ein Schlingern ließ sie aufschrecken. Bär war von der Asphaltstraße abgebogen und fuhr auf einer unbefestigten Straße hinter dem grauen Wagen her. Marder runzelte die Stirn. Er fragte Bär etwas, was Melanie nicht von seinen Lippen ablesen konnte. Der große Mann gab keine Antwort, sondern spuckte nur aus dem Fenster. Noch eine Kurve, dann noch eine – in hügeligeres Gelände hinein. Näher an den Fluss.

Sie fuhren unter einer Hochspannungsleitung hindurch, auf der über hundert Vögel saßen. Große Vögel. Krähen.

Melanie starrte den Wagen vor ihnen an. Sie konnte ihn noch immer nicht deutlich erkennen – den Fahrer, den Mann aus dem Weizenfeld. Anfangs hielt sie ihn für langhaarig, später schien er eine Glatze oder einen Bürstenhaarschnitt zu haben, im nächsten Augenblick war sie sich sicher, dass er einen Hut trug.

Der graue Wagen bog schleudernd nach rechts ab und holperte dann eine schmale, von Unkraut überwucherte Zufahrt entlang. Melanie nahm an, dass er vor ihnen Dutzende von Streifenwagen gesehen hatte – die Fahrzeuge, die auf sie zurasten, um sie zu retten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nein, da vorn war nichts. Der Bus bog ab und folgte dem Chevy. Bär murmelte irgendetwas vor sich hin. Marder sah sich mehrmals nach dem Streifenwagen um.

Dann sah Melanie wieder nach vorn und erkannte, wohin sie fuhren.

Nein, dachte sie.

Bitte nicht.

Denn sie wusste, dass ihre Hoffnung, die Männer würden sich der Polizeistreife ergeben, die von hinten rasch näherkam, nur ein Wunschtraum war. Sie begriff, wohin sie unterwegs waren.

Zum schlimmsten Ort der Welt.

Der graue Wagen schoss plötzlich auf ein riesiges, von Unkraut überwuchertes Feld hinaus. Am Ende des Feldes, am Fluss, stand der Klinkerbau eines längst aufgegebenen Industriegebäudes. Düster und massiv wie eine mittelalterliche Burg. Auf der weiten Fläche vor dem Gebäude standen noch einige Pfosten und Zaunreste der Pferche, in die sie einmal unterteilt gewesen war, aber den größten Teil des Feldes hatte die Kansas-Prärie zurückerobert: mittelhohes Gras, Riedgras, Blaugras und Büffelgras.

Der Chevy raste geradewegs auf die Vorderfront des Gebäudes zu. Der Schulbus folgte ihm. Die beiden Fahrzeuge kamen schleudernd gleich links neben dem Eingang zum Stehen.

Melanie starrte die rotbraunen Klinkersteine an.

Als sie achtzehn war und selbst noch die Larent Clerc School besucht hatte, war einmal ein Junge mit ihr hierhergefahren, angeblich zu einem Picknick, aber in Wirklichkeit natürlich, um das zu tun, was achtzehnjährige Jungen eben tun – und was Melanie damals auch zu wollen geglaubt hatte. Aber sobald sie sich mit einer Wolldecke unter dem Arm hineingeschlichen hatten, war sie nach dem ersten Blick ins bedrohliche Dunkel in Panik geraten. Sie war geflüchtet und hatte weder den verblüfften Jungen noch das Gebäude jemals wiedergesehen.

Aber sie erinnerte sich daran. Ein verlassenes Schlachthaus, ein Ort des Todes. Ein Ort, der hart und scharfkantig und gefährlich war.

Und dunkel. Wie Melanie die Dunkelheit hasste! (Mit ihren fünfundzwanzig Jahren ließ sie in einem Sechszimmerhaus fünf Nachtleuchten brennen.)

Marder öffnete die Bustür und zerrte Susan und Mrs. Harstrawn hinter sich aus dem Fahrzeug.

Der Streifenwagen – mit einem einzelnen Polizeibeamten am Steuer – hielt an der Zufahrt aufs Feld. Der Uniformierte sprang mit der Pistole in der Hand aus dem Wagen, blieb aber sofort stehen, als Bär sich Shannon griff und ihr seine Waffe an die Schläfe drückte. Die Achtjährige überraschte ihn, indem sie sich herumwarf und ihn kräftig ans Knie trat. Er zuckte vor Schmerz zusammen und schüttelte sie dann, bis sie zu zappeln aufhörte. Bär sah übers Feld zu dem Polizeibeamten hinüber, der demonstrativ seine Pistole wegsteckte und sich wieder in den Streifenwagen setzte.

Bär und Marder trieben die Mädchen zum Eingang des Schlachthauses. Bär schlug mit einem Stein auf die Kette, mit der die Tür gesichert war, und zerriss die rostigen Kettenglieder. Marder holte mehrere große Reisetaschen aus dem Kofferraum des grauen Wagens. Der Fahrer blieb am Steuer sitzen und sah zu dem Gebäude auf. Reflexe auf der Scheibe hinderten Melanie immer noch daran, ihn deutlich zu sehen, aber er wirkte entspannt und schien die Türme und schwarzen Fensterhöhlen interessiert zu betrachten.

Bär stieß die Eingangstür auf. Dann schoben Marder und er die Mädchen in das Gebäude. In dem verlassenen Bau stank es wie in einer Höhle. Dreck und Mist und Schimmel und süßlicher Verwesungsgeruch, ranziges Tierfett. Das Innere des Schlachthauses war ein Labyrinth aus Metallstegen und Pferchen und Rampen und verrosteten Maschinen. Mit Gruben, die von Geländern und Teilen alter Maschinen umgeben waren. An der Decke hingen endlose Reihen rostiger Fleischhaken. Und es war genau so dunkel, wie Melanie es in Erinnerung hatte.

Bär trieb die Schülerinnen und ihre Lehrerinnen in einen halbkreisförmigen, gekachelten Raum, der fensterlos und feucht war. Wände und Fußboden hatten dunkelbraune Flecken. Eine abgetretene Holzrampe führte zur linken Seite des Raumes hinüber. Unter der Decke führte ein Förderband mit Fleischhaken nach rechts weg. Darunter in der Mitte befand sich ein Ablauf für das Blut.

Dies war der Raum, in dem die Tiere geschlachtet worden waren.

Kalter Wind weht, er ist nicht freundlich.

Kielle umklammerte Melanies Arm und drängte sich an sie. Mrs. Harstrawn und Susan umarmten die anderen Mädchen, wobei Susan jeden der Männer, die ihrem Blick gerade begegneten, hasserfüllt anstarrte. Jocylyn schluchzte, die Zwillinge ebenfalls. Beverly rang nach Luft.

Acht graue Vögel, die nirgends hinkönnen.

Sie drängten sich auf dem kalten, feuchten Boden schutzsuchend aneinander. Eine Ratte, deren glanzloses graues Kleid an ein Stück altes Fleisch erinnerte, huschte vorüber. Dann wurde die Tür erneut geöffnet. Melanie schirmte ihre Augen gegen die blendende Helligkeit ab.

Er stand im kalten Licht des Eingangs.

Klein und hager.

Weder kahlköpfig noch langhaarig, sondern mit ungepflegten aschblonden Strähnen, die sein schmales Gesicht umrahmten. Im Gegensatz zu den anderen trug er nur ein T-Shirt mit dem aufgedruckten Namen L. Handy. Aber für sie hieß er nicht Handy – und erst recht nicht Larry und Lou. Sie dachte sofort an den Schauspieler vom Staatlichen Gehörlosentheater von Kansas, der vor Kurzem in einer Aufführung von Julius Cäsar den Brutus gespielt hatte.

Er schob sich herein und stellte sorgfältig zwei schwere Segeltuchtaschen auf den Boden. Die Tür fiel zu, und sobald das bleiche Licht ausgesperrt war, konnte sie seine blassen Augen und seinen Mund mit den schmalen Lippen sehen.

Melanie sah, wie Bär sagte: »Wozu ... hergekommen, Mann? ... keinen gottverdammten Ausweg.«

Dann ertönten Brutus’ Worte ganz deutlich in ihrem Kopf, als könnte sie einwandfrei hören: die Phantomstimme, die Gehörlose manchmal wahrnehmen – eine menschliche Stimme, die trotzdem keiner echten Menschenstimme gleicht. »Spielt keine Rolle«, sagte er langsam. »Nö, ist völlig unwichtig.«

Während Brutus das sagte, sah er Melanie an und bedachte sie mit einem schwachen Lächeln, bevor er auf mehrere rostige Eisenstangen deutete und den beiden anderen Männern befahl, die Türen fest zu verbarrikadieren.

9.10 Uhr

In dreiundzwanzig Jahren hatte er niemals ihren Hochzeitstag vergessen.

Wirklich ein vorbildlicher Ehemann.

Arthur Potter schlug das Papier zurück, in das die Rosen eingewickelt waren – leuchtende Blüten, orange und gelb, zum größten Teil aufgeblüht, die Blütenblätter vollkommen ausgebildet, elastisch, schwellend. Er roch daran. Marians Lieblingsblumen. Kräftige Farben. Niemals weiße oder rote Rosen.

Die Ampel zeigte Grün. Er legte den Blumenstrauß vorsichtig auf den Beifahrersitz, gab Gas und fuhr über die Kreuzung. Seine Hand tastete nach seinem Bauch, der sich gegen den Hosenbund drängte. Er verzog das Gesicht. Der Gürtel war sein Barometer; der Dorn der Gürtelschnalle steckte im vorletzten Loch des abgewetzten Leders. Ab Montag wieder Diät, sagte er sich fröhlich. Dann wäre er wieder in Washington, hätte die gute Küche seiner Cousine längst verdaut und könnte sich wieder einmal darauf konzentrieren, jedes Gramm Fett zu zählen.

Eigentlich war Linden an allem schuld. Mal sehen ... Gestern Abend hatte sie Corned Bees, Kartoffeln mit Butter, Kohl mit Butter, Brot (auf Wunsch mit Butter, und er hatte welche gewünscht), Limabohnen, gegrillte Tomaten und Schokoladekuchen mit Vanille-Eiskrem aufgetischt. Linden war Marians Cousine aus dem Clan von Sean McGillis, dessen Söhne Eamon und Hardy als Zwischendeckpassagiere nach Amerika gekommen waren und im selben Jahr geheiratet hatten, worauf ihre Ehefrauen im zehnten beziehungsweise elften Monat nach der Trauung je einer Tochter das Leben geschenkt hatten.

Arthur Potter, der als Einzelkind und Sohn zweier Einzelkinder mit dreizehn Jahren Vollwaise geworden war, hatte die Familie seiner Frau begeistert adoptiert und den Stammbaum der Familie McGillis in jahrelanger Arbeit erforscht. Durch umfangreiche Korrespondenz (handschriftlich auf teurem Briefpapier; er besaß keinen Computer) hielt er sich gewissenhaft, man hätte fast sagen können abergläubisch, über alle Veränderungen innerhalb des Clans auf dem Laufenden.

Auf dem Congress Expressway nach Westen. Dann nach Süden. Die Hände in Zehn- und Zwei-Uhr-Position am Steuer, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Brille auf der blassen, fleischigen Nase, fuhr Potter durch die Arbeiterviertel Chicagos: Wohnblocks und Apartmentgebäude und Doppelhäuser im Sommerlicht des Mittelwestens, das nur blässlich durch die Wolken drang.

Wie sich das Licht von Stadt zu Stadt verändert, dachte er. Arthur Potter war in seinem Leben schon oft um die Welt gereist und besaß einen Riesenvorrat an Ideen für Reisebeschreibungen, die er nie schreiben würde. Genealogische Anmerkungen und Aktennotizen für seinen Job, in dem er bald in den Ruhestand treten würde, würden wahrscheinlich seinen ganzen literarischen Nachlass ausmachen.

Hier abbiegen, dort abbiegen. Er fuhr automatisch und etwas nachlässig. Obwohl er von Natur aus ungeduldig war, hatte er dieses Laster – falls es denn ein Laster war – längst überwunden und fuhr nie schneller als erlaubt.

Als er mit seinem gemieteten Ford in die Austin Avenue abbog, sah er in den Rückspiegel und wurde auf den anderen Wagen aufmerksam.

Die Männer fuhren eine blaugraue Limousine, die nicht unauffälliger hätte sein können. Zwei glattrasierte, anständige junge Männer mit reinem Gewissen, die ihn beschatteten.

Auf ihrer Stirn prangte der Stempel FBI.

Potters Herz begann zu jagen. »Verdammt«, murmelte er in seinem tiefen Bariton. Wütend zupfte er sich an der Backe und wickelte die Rosen fester in ihr grünes Papier, als rechnete er mit einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd. Aber als er dann die gesuchte Straße fand und in sie einbog, fuhr er ganz vorsichtig, nicht schneller als sieben Meilen in der Stunde. Der Blumenstrauß seiner Frau rollte gegen seinen stämmigen Oberschenkel.

Nein, er raste nicht. Seine Strategie war, sich dafür zu entscheiden, dass er sich geirrt hatte, dass der Wagen hinter ihm mit zwei Geschäftsleuten besetzt war, die unterwegs waren, um Computer zu verkaufen oder Druckaufträge hereinzuholen, und bald mit anderem Ziel abbiegen würden.

Und ihn in Ruhe lassen würden.

Der andere Wagen tat jedoch nichts dergleichen. Die Männer behielten ihren gefahrlosen Abstand bei und passten ihre Geschwindigkeit dem irritierend langsamen Tempo von Potters Ford an.

Er bog in die vertraute Zufahrt ein, fuhr noch ein ganzes Stück weiter und hielt dann. Potter stieg schnell aus, presste die Blumen an seine Brust und stapfte den Fußweg entlang – trotzig, wie er hoffte, als wollte er die Agenten herausfordern, ihn hier aufzuhalten.

Wie hatten sie ihn aufgespürt?

Dabei war er so clever gewesen. Er hatte seinen Ford drei Blocks von Lindens Apartment entfernt geparkt. Hatte sie gebeten, nicht ans Telefon zu gehen und ihren Anrufbeantworter ausgeschaltet zu lassen. Die Einundfünfzigjährige, die am liebsten eine Zigeunerin gewesen wäre, wenn sie ihre Gene hätte neu arrangieren können (trotz ihrer Blutsverwandtschaft war sie ganz anders als Marian), hatte seine Anweisungen aufgeregt befolgt. Sie war das unerklärliche Benehmen ihres angeheirateten Cousins gewohnt. Sie hielt sein Leben für irgendwie gefährlich, wenn nicht sogar unheimlich, und er konnte ihr das kaum ausreden, denn das war es tatsächlich.

Die FBI-Agenten parkten hinter Potters Wagen und stiegen aus. Er hörte ihre Schritte auf dem Kies hinter sich.

Sie beeilten sich nicht; sie konnten ihn überall finden, und das wussten sie genau. Er würde ihnen nie entkommen.

Ich gehöre euch, ihr arroganten Mistkerle.

»Mr. Potter.«

Nein, nein, verschwindet! Nicht heute. Heute ist ein besonderer Tag. Mein Hochzeitstag. Dreiundzwanzig Jahre. Wenn ihr so alt seid wie ich, werdet ihr das verstehen.

Lasst mich in Ruhe.

»Mr. Potter?« Die jungen Männer waren austauschbar. Er ignorierte einen und ignorierte somit beide.

Er ging über den Rasen zu seiner Frau hinüber. Marian, dachte er. Tut mir leid. Ich habe etwas Unangenehmes mitgebracht. Entschuldige.

»Lasst mich in Ruhe«, flüsterte er. Und plötzlich, als hätten sie seine Worte gehört, blieben die Männer stehen – diese beiden ernsten Männer in grauen Anzügen, mit blassen Gesichtern. Potter kniete nieder und legte die Blumen auf das Grab. Er begann, das grüne Papier abzustreifen, konnte aus den Augenwinkeln heraus jedoch noch immer die jungen Männer sehen; deshalb machte er eine Pause, kniff die Augen zusammen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Er betete nicht. Arthur Potter betete nie. Früher hatte er gebetet. Gelegentlich. Sein Beruf gab ihm das Recht, einige geheime, private abergläubische Vorstellungen zu hegen, aber er hatte vor genau dreizehn Jahren zu beten aufgehört, an dem Tag, wo Marian die Lebende sich in Marian die Tote verwandelt hatte. Sie war vor seinen aneinandergelegten Fingerspitzen verschieden, während er sich in ausgedehnten Verhandlungen mit dem Gott befunden hatte, an dessen Existenz er sein Leben lang mehr oder weniger geglaubt hatte. Der Ort, an den er seine Angebote gerichtet hatte, erwies sich als leer wie eine rostige Konservenbüchse. Potter war weder überrascht noch desillusioniert. Trotzdem hörte er zu beten auf.

Jetzt hob er mit geschlossenen Augen dieselben Fingerspitzen und bewegte sie mehrmals ruckartig vom Gesicht weg, um die beiden austauschbaren Männer abzuwehren.

Und die Agenten, die vielleicht sogar gottesfürchtige Agenten waren (das waren viele von ihnen), hielten sich im Hintergrund.

Keine Gebete, aber Potter sagte ein paar Worte zu seiner Frau, die weiter dort lag, wo sie in all den langen Jahren gelegen hatte. Seine Lippen bewegten sich. Antworten bekam er nur, weil er ihre Gedanken so gut wie seine eigenen kannte. Aber die Nähe der Agenten in ihren fast identischen Anzügen störte ihn. Schließlich stand er langsam auf und betrachtete die in den Granit ihres Grabsteins eingelegte Marmorblume. Er hatte eine Rose bestellt, aber die Blume sah wie eine Chrysantheme aus. Vielleicht war der Steinmetz ein Japaner gewesen.

Es hatte keinen Zweck, das Unvermeidliche noch länger hinauszuzögern.

»Mr. Potter?«

Er seufzte und wandte sich vom Grab ab.

»Ich bin Special Agent McGovern. Dies ist Special Agent Crowley.«

»Ja?«

»Tut mir leid, Sie belästigen zu müssen, Sir. Könnten wir Sie kurz sprechen?«

McGovern fügte hinzu: »Könnten wir vielleicht zu unserem Wagen gehen, Sir?«

»Was wollen Sie?«

»Zum Wagen? Bitte.« Niemand sagt so nachdrücklich »bitte« wie ein FBI-Agent.

Potter ging mit den beiden – sie nahmen ihn in die Mitte – zu ihrem Dienstwagen. Erst als er ihn fast erreicht hatte, merkte er, dass der stetige Wind für Juli erstaunlich kalt war. Als er sich zum Grab umdrehte, sah er das grüne Papier seiner Blumen im Wind flattern.

»Also gut.« Er blieb abrupt stehen, wollte keinen Schritt weitergehen.

»Tut mir leid, dass wir Sie im Urlaub stören müssen, Sir. Wir haben versucht, die Nummer anzurufen, wo Sie wohnen. Aber dort hat sich niemand gemeldet.«

»Haben Sie jemanden hingeschickt?« Potter machte sich Sorgen, dass Linden sich aufregen würde, wenn FBI-Agenten bei ihr aufkreuzten.

»Ja, Sir, aber sobald wir Sie gefunden hatten, haben wir das andere Team über Funk verständigt.«

Potter nickte. Er sah auf seine Uhr. Heute Abend hätte es Rinderhackpastete mit Kartoffelbrei geben sollen. Mit grünem Salat. Er sollte auf der Heimfahrt die Getränke einkaufen. Samuel Smith Nut Brown Ale für sich, Oatmeal Stout für sie. Nach dem Abendessen wollten sie mit den Holbergs von nebenan Karten spielen. Pik oder Herz.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Potter.

»Eine Situation in Kansas«, sagte McGovern.

»Eine schlimme Sache, Sir«, fügte Crowley hinzu. »Er lässt Sie bitten, ein Krisenmanagement-Team zusammenzustellen. In Glenview steht eine DomTran-Maschine für Sie bereit. Weitere Informationen finden Sie hier drin.«

Als Potter den versiegelten Umschlag aus der Hand des jungen Mannes entgegennahm, sah er zu seiner Überraschung einen winzigen Tropfen Blut an seinem eigenen Daumen – vermutlich von einem Dorn an irgendeiner der Rosen, deren Blütenblätter ihn an die breite weiche Krempe eines Damensommerhuts erinnerten.

Er riss den Umschlag auf und überflog das Fax. Es trug die hastige Unterschrift des Direktors des Federal Bureau of Investigation.

»Seit wann hat er sich verbarrikadiert?«

»Die erste Meldung ist gegen acht Uhr fünfundvierzig eingegangen.«

»Hat er sich schon gemeldet?«

»Bisher nicht.«

»Abgeriegelt?«

»Völlig. Von der Polizei von Kansas und einem halben Dutzend Agenten von unserer Dienststelle in Wichita. Dort kommt niemand raus.«

Potter knöpfte sein Sportsakko zu, knöpfte es wieder auf. Er merkte, dass die Agenten ihn allzu ehrfürchtig beobachteten, und das war ihm zuwider. »Ich will Henry LeBow als meinen Analytiker, der die Informationen sammelt und auswertet, und Tobe Geller als Kommunikationstechniker. Mit ›e‹ geschrieben, aber wie ›Toby‹ ausgesprochen.«

»Ja, Sir. Falls sie nicht verfügbar sind ...«

»Nur die beiden. Sie müssen sie finden, wo immer sie auch sein mögen. Ich will, dass sie in einer halben Stunde an der Absperrung sind. Und fragen Sie nach, ob Angie Scapello verfügbar ist. Sie ist in der Zentrale oder in Quantico. Verhaltensforschung. Auch sie muss sofort ein Flugzeug bekommen.«

»Ja, Sir.«

»Wie sieht’s mit dem Sonderkommando aus?«

Das aus achtundvierzig Agenten bestehende FBI-Sonderkommando für Befreiungsaktionen war die größte auf Geiselnahmen spezialisierte Polizeitruppe Amerikas.

Crowley überließ es McGovern, die Hiobsbotschaft zu überbringen.

»Da gibt’s ein Problem, Sir. Ein Team ist in Miami eingesetzt. Bei einer Drogenrazzia. Dort sind zweiundzwanzig Agenten. Und das zweite ist in Seattle. Nach einem Bankraub hat der Täter sich heute Morgen verbarrikadiert. Dort sind fünfzehn Mann. Wir könnten ein drittes Team improvisieren, aber dazu müssten wir Leute aus den beiden anderen abziehen. Deshalb wird’s eine Weile dauern, bis es am Tatort eintreffen kann.«

»Rufen Sie Quantico an, lassen Sie es aufstellen. Mit Frank telefoniere ich vom Flugzeug aus. Wo ist er?«

»Er leitet den Einsatz in Seattle«, antwortete der Agent. »Wenn Sie möchten, dass wir Sie in der Wohnung abholen, damit Sie einen Koffer packen können, Sir ...«

»Nein, ich fahre direkt nach Glenview. Haben Sie Blinklicht und Sirene?«

»Ja, Sir. Aber zum Apartment Ihrer Cousine ist’s nur eine Viertelstunde ...«

»Hören Sie, vielleicht kann einer von Ihnen meine Blumen auf dem Grab dort drüben auswickeln, damit täten Sie mir einen Gefallen. Und sie vielleicht etwas besser anordnen, damit der Wind sie nicht wegweht.«

»Ja, Sir, wird erledigt«, sagte Crowley rasch. Die beiden waren also doch verschieden: McGovern, das sah Potter jetzt, war kein Blumenarrangeur.

»Ich danke Ihnen sehr.«

Potter setzte sich wieder in Bewegung und folgte McGovern zu seinem Dienstwagen. Das Einzige, was er sich unterwegs besorgen musste, war Kaugummi. Diese Militärmaschinen stiegen so verflucht schnell, dass der Druck in seinen Ohren wie in einem Dampfkochtopf anstieg, wenn er nicht eine ganze Packung Wrigley’s kaute, sobald die Räder den Asphalt verließen. Wie er das Fliegen hasste!

Oh, ich bin müde, dachte er. So verdammt müde.

»Ich komme wieder, Marian«, flüsterte Potter, ohne zu ihrem Grab hinüberzusehen. »Ich komme wieder.«

TEIL 2:DIE EINSATZREGELN

10.35 Uhr

Wie immer hatte das Ganze etwas Zirkushaftes.

Arthur Potter stand neben dem besten Fahrzeug des FBI-Regionalbüros, einem Ford Taunus, und begutachtete den Einsatzort. Streifenwagen, die wie die Planwagen von Pionieren halbkreisförmig aufgefahren waren, Kleinbusse Von Fernsehstationen, die Reporter mit ihren klobigen Kameras, die sie wie Raketenwerfer auf der Schulter trugen. Dazwischen überall Feuerwehrfahrzeuge (weil jeder natürlich an Waco dachte).

Drei weitere neutrale Dienstwagen trafen als Karawane ein und erhöhten damit die Gesamtzahl der FBI-Fahrzeuge auf elf. Etwa die Hälfte der Männer trug marineblaue Einsatzoveralls, die anderen ihre nur scheinbar von Brooks Brothers stammenden Anzüge.

Die für die Beförderung von Zivilbeamten reservierte Militärmaschine mit Potter an Bord war vor zwanzig Minuten in Wichita gelandet, und er war dort in einen Hubschrauber umgestiegen, um sich die letzten sechzig Meilen nach Nordwesten in die Kleinstadt Crow Ridge fliegen zu lassen.

Kansas war so flach, wie er erwartet hatte. Die Flugroute des Hubschraubers führte jedoch einen breiten Fluss entlang, dessen Ufer bewaldet waren, und das anschließende Gelände war größtenteils hügelig. Dies, erklärte der Pilot ihm, sei das Gebiet, in dem die von mittelhohem Gras bedeckte Prärie an die Kurzgrasprärie stieß. Im Westen habe das Büffelland gelegen. Er deutete auf einen Punkt, der Larned war, wo vor hundert Jahren eine Büffelherde mit vier Millionen Tieren gesichtet worden war. Der Pilot berichtete diese Tatsache mit unverkennbarem Stolz.

Sie hatten riesige Farmen mit vier- und achthundert Hektar großen zusammenhängenden Flächen überflogen. Potter fand, Juli sei ziemlich früh für die Ernte, aber unter ihnen rasierten Hunderte von roten und grün-gelben Mähdreschern dem Farmland die Weizenernte ab.

Als Potter jetzt bei eisigem Wind unter der geschlossenen Wolkendecke stand, fiel ihm die erbarmungslose Trostlosigkeit dieser Gegend auf, die er augenblicklich gegen die Wohnblocks von Chicago eingetauscht hätte, die er erst vor Kurzem hinter sich gelassen hatte. Etwa hundert Meter entfernt erhob sich wie eine Festung ein Industriegebäude aus roten Klinkersteinen, das aus der Zeit um die Jahrhundertwende zu stammen schien. Davor standen ein kleiner gelber Schulbus und eine verbeulte graue Limousine.

»Was ist das für ein Gebäude?«, fragte er Peter Henderson, Special Agent und Leiter der FBI-Dienststelle in Wichita.

»Ein altes Schlachthaus«, antwortete der Special Agent. »Sie haben ganze Herden aus Westkansas und Texas hergetrieben, hier geschlachtet und dann auf Frachtkähnen runter nach Wichita transportiert.«

Der Wind überfiel sie mit einem harten Doppelschlag. Potter, für den das unerwartet kam, trat einen Schritt zurück, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Den haben sie uns geliehen, die Jungs von der State Police.« Der große, gutaussehende Mann nickte zu einem olivgrünen Kastenwagen von der Größe eines UPS-Lieferwagens hinüber. Das Fahrzeug stand auf einer Anhöhe mit gutem Blick auf den gesamten Gebäudekomplex. »Als mobile Kommandozentrale.« Die beiden gingen darauf zu.

»Ein zu gutes Ziel«, wandte Potter ein. Jeder einigermaßen gute Schütze konnte dieses Ziel aus hundert Metern Entfernung leicht treffen.

»Nein«, erklärte Henderson ihm, »der Wagen ist gepanzert. Die Fenster sind zweieinhalb Zentimeter dick.«

»Tatsächlich?«

Mit einem weiteren raschen Blick zu dem düsteren Schlachthaus hinüber öffnete er die Tür und betrat die mobile Kommandozentrale. Das abgedunkelte Innere des Fahrzeugs war geräumig. Die einzigen Lichtquellen waren schwache gelbe Deckenleuchten, Arbeitslampen, Bildschirme und LED-Anzeigen. Potter schüttelte einem jungen State Trooper – einem Polizeibeamten der State Police, der aufgesprungen war und Haltung angenommen hatte, bevor er ganz hereingekommen war – die Hand.

»Ihr Name?«

»Derek Elb, Sir. Sergeant.« Der rothaarige Trooper in makellos gebügelter Uniform stellte sich als Techniker mit einer Spezialausbildung für die Bedienung der mobilen Kommandozentrale vor. Er kannte Henderson und hatte sich freiwillig erboten, hierzubleiben und nach Möglichkeit zu helfen. Potter ließ seinen Blick hilflos über die vielen Konsolen und Bildschirme und Schalter gleiten und dankte ihm ernsthaft. In der Mitte des Innenraums stand ein großer Schreibtisch mit vier Stühlen. Potter nahm auf einem Platz, während Derek ihm wie ein Vertreter enthusiastisch die Überwachungs- und Kommunikationseinrichtungen des Wagens anpries. »Wir haben auch einen Schrank mit Handfeuerwaffen.«

»Wir wollen hoffen, dass wir ihn nicht brauchen«, sagte Arthur Potter, der in dreißig FBI-Dienstjahren noch bei keinem Einsatz einen Schuss aus seiner Pistole abgegeben hatte. »Sie können Satellitensignale empfangen?«

»Ja, Sir, wir haben eine Schüssel. Jedes analoge, digitalisierte oder Mikrowellensignal.«

Potter schrieb eine Telefonnummer und eine Zahlenfolge auf eine Karte und gab sie Derek. »Sie rufen diese Nummer an und verlangen Jim Kwo. Sagen Sie ihm, dass Sie in meinem Auftrag anrufen, und nennen Sie ihm diesen Code.«

»Den da?«

»Richtig. Sagen Sie ihm, dass wir eine SatSurv-Aufnahme auf einem dieser ...« Seine Handbewegung umfasste die aufgereihten Monitore. »Dass er sie auf einen dieser Bildschirme überspielen soll. Den technischen Kram koordiniert er mit Ihnen. Davon verstehe ich ehrlich gesagt nichts. Geben Sie ihm die geografische Länge und Breite des Schlachthauses.«

»Ja, Sir«, sagte Derek und machte sich eifrig Notizen. Als Technikfreak war er natürlich im siebten Himmel. »Was genau ist SatSurv?«

»Das Satellitenüberwachungssystem der CIA. Die Satelliten können uns Außen- und Infrarotaufnahmen des Schlachthauses liefern.«

»He, darüber habe ich etwas gelesen. In Populär Science, glaub ich.« Derek wandte sich ab, um zu telefonieren.

Potter bückte sich und richtete sein Leitz-Fernglas durch die Panzerglasscheibe. Er studierte das Schlachthaus. Ein Totenschädel von einem Gebäude. Ein dunkler Fleck vor sonnengebleichtem Gras – wie angetrocknetes Blut auf einem gelben Knochen. Das war die Einschätzung von Arthur Potter, der im Hauptfach Literaturgeschichte studiert hatte. Danach war er sofort wieder Arthur Potter, der ranghöchste auf Verhandlungen mit Geiselnehmern spezialisierte FBI-Agent und stellvertretender Leiter der Einheit für Sondereinsätze, dessen rascher Blick wichtige Details wahrnahm. Massive Ziegelmauern, keine Fenster, den Verlauf der Stromleitungen, das Fehlen von Telefonleitungen, das offene Gelände rings um das Gebäude und die Grasbüsche, Baumgruppen und Hügel, die Scharfschützen – eigenen und feindlichen – Deckung bieten konnten.

Die Rückseite des Schlachthauses grenzte an den Fluss.

Der Fluss, dachte Potter. Können wir den irgendwie nutzen?

Können sie’s?

Die Dachkante war mit Zinnen besetzt wie eine mittelalterliche Burg. Dort oben befanden sich ein hoher, dünner Schornstein und der Aufbau eines Lastenaufzugs, die eine Hubschrauberlandung erschweren würden – zumindest bei diesem böigen Wind. Andererseits konnte über dem Dach ein Hubschrauber schweben, aus dem sich ein Dutzend FBI-Agenten mit Spezialausbildung mühelos abseilen könnte. Von hier aus waren keine Oberlichter zu erkennen.

Das Gebäude der schon vor vielen Jahren liquidierten Webber & Stoltz Processing Company erinnerte Potter stark an ein Krematorium.

»Pete, haben Sie ein Megafon?«

»Klar.« Henderson verließ das Fahrzeug und trabte geduckt zu seinem Wagen, um es zu holen.

»Sagen Sie, hier gibt’s wohl keine Toilette, was?«, fragte Potter den jungen Techniker.

»Doch, Sir«, sagte Derek, der auf die technologischen Höchstleistungen aus Kansas sichtbar stolz war. Er deutete auf eine schmale Tür. Potter betrat die Toilette und legte eine kugelsichere Weste an, über die er wieder sein Hemd anzog. Er band sich sorgfältig die Krawatte und schlüpfte wieder in sein marineblaues Sportsakko. Ihm fiel auf, dass der Leibgurt seiner kugelsicheren Weste sich nur sehr wenig zuziehen ließ, aber in seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung machte sein Gewicht ihm so gut wie keine Sorgen mehr.

Potter trat in den kühlen Vormittag hinaus, ließ sich von Henderson das schwarze Megafon geben, hastete geduckt im Zickzack zwischen Hügeln und Streifenwagen hindurch und wies die größtenteils jungen und übereifrigen Trooper an, ihre Pistolen wegzustecken und in Deckung zu bleiben. Ungefähr sechzig Meter von dem Schlachthaus entfernt legte er sich auf einen Hügel und beobachtete es durch sein Leitz-Fernglas. Im Inneren des Gebäudes war keine Bewegung zu erkennen. Kein Lichtschein in den Fenstern. Nichts. Ihm fiel auf, dass nach vorn hinaus sämtliche Fensterscheiben fehlten, aber er wusste nicht, ob die Geiselnehmer sie zertrümmert hatten, um besser zielen zu können, oder ob hiesige Schuljungen sie eingeworfen und mit Kleinkalibergewehren zerschossen hatten.

Er schaltete das Megafon ein und achtete darauf, nicht zu schreien, damit seine Worte nicht verzerrt wurden, als er sagte: »Hier spricht Arthur Potter. Ich bin vom FBI. Ich möchte mit Ihnen dort drinnen reden. Ich lasse ein Mobiltelefon besorgen. Sie bekommen es in schätzungsweise zehn bis fünfzehn Minuten. Wir planen keinen Angriff. Sie sind nicht in Gefahr. Ich wiederhole: Wir planen keinen Angriff.«

Potter erwartete keine Antwort und erhielt auch keine. Er hastete geduckt zur Kommandozentrale zurück und fragte Henderson: »Wer ist von der Polizei von Kansas zuständig? Ich möchte mit ihm sprechen.«

»Der Mann dort drüben.«

An einem Baum lehnte ein großer, aschblonder Mann in einem blassblauen Overall. Seine Haltung wirkte perfekt.

»Wer ist das?«, fragte Potter und polierte seine Brillengläser am Jackenaufschlag.

»Charles Budd. Captain der State Police. Erfahrung mit Ermittlungen und taktischen Einsätzen. Nicht mit Verhandlungen. Vorbildliche Laufbahn.«

»Wie lange ist er dabei?« Potter fand, der Captain wirkte jung und unreif. Man erwartete eher, ihn bei Sears in der Elektrogeräte-Abteilung übers Linoleum schleichen zu sehen, um schüchtern eine erweiterte Garantie anzupreisen.

»Acht Jahre. Hat sich rangehalten, um die Streifen zu bekommen.«

Potter rief: »Captain?«

Der Mann richtete den Blick seiner blauen Augen auf Potter und kam hinter die Kommandozentrale. Sie schüttelten sich kräftig die Hand und stellten sich vor.

»Hallo, Peter«, sagte Budd.

»Charlie.«

Zu Potter sagte er: »Sie sind also der große Mann aus Washington, stimmt’s? Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Ist mir wirklich ’ne Ehre.«

Potter lächelte.

»Okay, Sir, soviel wir wissen, sieht die Lage folgendermaßen aus.« Er deutete zum Schlachthaus. »Hinter diesen beiden Fenstern waren Bewegungen zu sehen. Ein Glitzern, vielleicht der Lauf einer Waffe. Oder ein Zielfernrohr. Schwer zu sagen. Dann haben sie ...«

»Dazu kommen wir noch, Captain.«

»Oh, nennen Sie mich einfach Charlie, okay?«

»Okay, Charlie. Wie viele Leute haben Sie hier?«

»Siebenunddreißig Trooper, fünf hiesige Deputys. Und Petes Leute. Ihre, meine ich.«

Potter hielt diese Zahlen in seinem kleinen schwarzen Notizbuch fest.

»Hat jemand von Ihren Männern oder Frauen Erfahrungen mit Geiselnehmern?«

»Die Trooper? Ein paar von ihnen dürften schon mal einen Bankraub oder einen Überfall auf einen Supermarkt miterlebt haben. Aber die hiesigen Deputys ... die bestimmt nicht. Die haben hauptsächlich mit betrunkenen Autofahrern und Landarbeitern zu tun, die am Samstagabend Streit suchen und ’ne Schlägerei anfangen.«

»Wie sieht der Befehlsweg aus?«

»Ich koordiniere den Einsatz. Ich habe vier Kommandeure – drei Leutnants und einen Sergeant, der auf seine Beförderung wartet –. denen diese siebenunddreißig ziemlich gleichmäßig verteilt unterstehen. Zwei Trupps haben zehn Mann, einer neun, einer acht. Sie notieren sich das alles, was?«

Potter lächelte erneut. »Wo sind sie aufgestellt?«

Wie der Bürgerkriegsgeneral, dem Budd eines Tages ähneln würde, zeigte er auf die Gruppen seiner Trooper im Gelände.

»Waffen? Ihre, meine ich.«

»Wir geben hier Glocks aus, Sir, als Handfeuerwaffen. Außerdem haben wir insgesamt ungefähr fünfzehn Schrotflinten. Kaliber zwölf, doppelläufig, Lauflänge fünfundvierzig Zentimeter. In den Bäumen hier drüben und dort hinten habe ich sechs Männer und eine Frau mit M-16-Sturmgewehren postiert. Alle mit Zielfernrohren.«

»Nachtsichtgeräte?«

Budd lachte halblaut. »Nicht hierzulande.«

»Wer führt die hiesigen Deputys?«

»Der Sheriff von Crow Ridge. Dean Stillwell. Er steht dort drüben.«

Budd deutete auf einen schlaksigen, strubbelhaarigen Mann, der den Kopf gesenkt hielt, während er mit einem seiner Deputys sprach.

Ein weiterer Wagen fuhr vor, bremste scharf und hielt neben der Kommandozentrale. Potter war sehr zufrieden, als er sah, wer am Steuer saß.

Der kleine Henry LeBow stieg aus und setzte sich als Erstes einen zerknautschten Tweedhut auf; bei den fast zweihundert Verhandlungen mit Geiselnehmern, die Potter und er gemeinsam geführt hatten, hatte seine kreisrunde Glatze schon mehr als einmal als glänzende Zielscheibe gedient.

LeBow kam herangewatschelt: ein rundlicher, zurückhaltender Mann, der bei Geiselnahmen als Informationsanalytiker der idealste Partner war, den Potter sich vorstellen konnte.

LeBow ging unter der Last zweier riesiger Umhängetaschen gebeugt.

Die beiden schüttelten sich herzlich die Hand, und Potter machte ihn mit Henderson und Budd bekannt.

»Sieh dir bloß an, was wir hier haben, Henry. Eine mobile Kommandozentrale ganz für uns allein.«

»Toll. Und einen Fluss zum Angeln. Wie heißt er?«

»Arkansas«, sagte Budd, wobei er die zweite Silbe betonte.

»Erinnert mich an meine Jugend«, murmelte LeBow.

Auf Potters Bitte ging Henderson zu seinem Dienstwagen zurück, um über Funk bei der FBI-Dienststelle in Wichita nachzufragen, wann Tobe Geller und Angie Scapello eintreffen würden. Potter, LeBow und Budd stiegen in den Kastenwagen. LeBow schüttelte Derek die Hand, öffnete dann seine Umhängetaschen und holte zwei Laptops heraus. Er fand die notwendigen Steckdosen, schaltete seine Computer ein und schloss dann auch einen kleinen Laserdrucker an.

»Standleitung?«, fragte LeBow den jungen Techniker.

»Gleich hier.«

LeBow schloss seine restlichen Geräte an und war gerade damit fertig, als der Drucker auch schon zu ächzen begann.

»Geht’s schon los?«, fragte Potter.

LeBow überflog das ankommende Fax und sagte: »Informationen der Gefängnisverwaltung, Bewährungsberichte, Führungsbogen, Vorstrafenregister und so weiter. Alles sehr vorläufig, Arthur. Und sehr lückenhaft.« Potter gab ihm das Material, das er von den beiden Agenten in Chicago erhalten hatte, und die umfangreichen Notizen, die er sich im Flugzeug gemacht hatte. Sie schilderten mit knappen Worten, wie Lou Handy und zwei weitere Häftlinge aus einem Bundesgefängnis in Südkansas geflüchtet waren, wenige Meilen von dem Schlachthaus entfernt ein Ehepaar ermordet hatten und danach ihre Geiseln hierherverschleppt hatten. LeBow sichtete diese Unterlagen und fing an, die Informationen in einen seiner Computer einzugeben.

Die Tür ging auf, und Peter Henderson kam herein. Er teilte mit, Tobe Geller werde bald eintreffen und Angie Scapello werde innerhalb der nächsten Stunde erwartet. Tobe war von einer F-16 der U.S. Air Force aus Boston hergeflogen worden, wo er die Teilnehmer eines Kurses darüber aufgeklärt hatte, wie man Programme zur Identifizierung krimineller Hacker erstellt. Angie war mit einem DomTran-Jet der Marine aus Quantico unterwegs.

»Angie?«, fragte LeBow. »Das freut mich. Freut mich sehr.«

Agent Scapello sah Geena Davis sehr ähnlich und hatte riesige, braune Augen, die selbst ihr gänzlicher Verzicht auf Make-up nicht weniger verführerisch machen konnte. Trotzdem rührte LeBows Begeisterung nicht von ihrem Aussehen, sondern von ihrem Spezialgebiet her: der Psychologie von Geiseln und Geiselnehmern.

Auf ihrem Weg zum Einsatzort würde Angie die Laurent Clerc School besuchen und möglichst viele Informationen über die Geiseln mitbringen. Potter kannte sie gut genug, um zu vermuten, dass sie bereits mit der Schule telefonierte, um Persönlichkeitsprofile der Mädchen zusammenzustellen.

An der Wand über seinem Arbeitsplatz befestigte LeBow mit Klebstreifen einen großen Bogen weißes Papier. Daneben hängte er einen schwarzen Filzstift an einem Bindfaden auf. Der Bogen war durch einen senkrechten Strich zweigeteilt. Über der linken Hälfte stand Versprechungen, über der rechten Täuschungen. In diesen beiden Spalten würde LeBow alles festhalten, was Potter Handy zusagte – und alle Lügen, die er dem Mann erzählte. Das gehörte bei Geiselnahmen zum Standardverfahren, und die Notwendigkeit dieser Gedächtnisstütze ließ sich am besten mit Mark Twain erklären, der gesagt hatte, um erfolgreich lügen zu können, brauche man ein gutes Gedächtnis.

Budd fragte erstaunt: »Sie wollen ihn wirklich anlügen?«

LeBow lächelte.

»Aber was genau ist eine Lüge, Charlie?«, fragte Potter. »Die Wahrheit ist ziemlich schwer zu fassen. Gibt es überhaupt eine Aussage, die hundertprozentig wahr ist?« Er riss einige Seiten aus seinem Notizbuch und gab sie LeBow, der die Blätter und auch die Faxe, die sein Drucker ausspuckte, nahm und sich an den mit Profile beschrifteten Computer setzte. Dieses Wort hatte er vor langer Zeit auf ein inzwischen schmuddelig gewordenes Stück Abdeckband geschrieben. LeBows zweiter Laptop war mit Chronologie beschriftet. Auf dem Bildschirm waren erst zwei Eintragungen zu lesen:

8.40 h Geiselnahme

10.50 h Krisenmanagement-Team – Potter; LeBow – am Einsatzort.

Die hintergrundbeleuchteten LCD-Bildschirme strahlten LeBows rundes Gesicht fast unheimlich blau an; es erinnerte an ein von Arthur Rackham gemaltes Porträt des Mannes im Mond. Charlie Budd starrte seine Finger an, die in einer irrwitzigen Geschwindigkeit über die Tasten flogen. »Seht euch das an! Er hat die Buchstaben schon halb abgenützt.«

LeBow knurrte zu Potter hinüber: »Hab mir das Gebäude angesehen. Miese Voraussetzungen. Für SatSurv- Aufnahmen zu gut abgeschirmt; nicht genug Fenster für Infrarot oder Mikrofone. Der Wind ist auch ein Problem.«

Wie bei den meisten Geiselnahmen würde die Masse der Informationen aus herkömmlichen Quellen kommen müssen: von geflüchteten oder freigelassenen Geiseln und von Polizeibeamten, die den Geiselnehmern Getränke und Verpflegung brachten und bei dieser Gelegenheit die Augen offenhielten.

Henry LeBow tippte einen Befehl ein und öffnete auf dem Bildschirm seines Chronologie-Computers ein kleines Fenster. Darin erschienen zwei digitale Stoppuhren. Über einer stand Verstrichene Zeit, über der anderen Verbleibende Zeit.

LeBow stellte die erste Uhr auf 2:10 Stunden und drückte auf eine Taste. Sie begann zu laufen. Er sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Potter hinüber.

»Ich weiß, Henry.«

Wenn man nicht schon bald nach der Geiselnahme Verbindung mit dem Geiselnehmer aufnimmt, wird er nervös und beginnt sich zu fragen, ob man etwa einen Sturmangriff plane. Der Verhandler fügte hinzu: »Wir geben Tobe noch ein paar Minuten, dann machen wir die Einsatzbesprechung.« Er blickte auf die weiten Felder hinter ihnen hinaus, auf den hohen blassgrünen Grasteppich, der im kalten Sommerwind wogte. Eine halbe Meile entfernt bewegten sich Mähdrescher lautlos auf symmetrischen Bahnen und schoren die Weizenfelder kahl wie die Schädel junger Rekruten.

Potter sah auf die Umgebungskarte. »Sind diese Straßen alle abgeriegelt?«

»Ja, Sir«, sagte Budd. »Und sie sind die einzigen Zufahrtswege.«

»Richten Sie hier einen rückwärtigen Bereitstellungsraum ein, Charlie.« Er zeigte auf eine Straßenkurve ungefähr eine Meile südlich des Schlachthauses. »Ich möchte, dass dort ein Pressezelt aufgestellt wird. Außer Sichtweite der Barrikade. Haben Sie einen Presseoffizier?«

»Nö«, sagte Budd. »Normalerweise gebe ich die Erklärungen zu Vorfällen hier in der Gegend ab, wenn’s nötig ist. Das werd ich hier wohl auch tun müssen.«

»Nein, ich brauche Sie hier. Delegieren Sie die Aufgabe. Suchen Sie sich einen einfachen Beamten.«

Henderson mischte sich ein. »Dies ist ein FBI-Unternehmen, Arthur. Ich finde, etwaige Presseerklärungen sollten von mir abgegeben werden.«

»Nein, ich brauche jemanden von der State Police ohne hohen Dienstgrad. Dann bleiben die Reporter im Pressezelt und warten, weil sie damit rechnen, dass jemand kommt, der ihre Fragen wirklich beantworten kann. Und das hält sie davon ab, sich irgendwo rumzutreiben, wo sie nicht hingehören.«

»Nun, ich weiß nicht recht, wer dafür geeignet wäre«, sagte Budd und starrte aus dem Fenster, als könnte zufällig ein Trooper vorbeischlendern, der wie Dan Rather aussah.