Schulweisheiten - Wolfgang Wilhelm - E-Book

Schulweisheiten E-Book

Wolfgang Wilhelm

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Beschreibung

Das Buch beschreibt satirisch humorvoll eine Reise durch das deutsche gymnasiale Bildungssystem mit bissigen gesellschaftskritischen Randbemerkungen.

Das E-Book Schulweisheiten wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Schulsystem, Gymnasium, Lehrerausbildung, Lehrerlaufbahn, Gesellschaftskritik

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Ähnliche


Bensheimer Studien zu verdeckten Herrschaftsmechanismen in demokratisch verfassten Gemeinwesen.

Band III.1 Der öffentliche Dienst:

Das Bildungswesen.

Teilband A Feldstudien

Von einem Autorenkollektiv. Herausgegeben von Frank Petrikau.

Hedberg, MMXXIII

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Dramatis aliqui Personae

Teil 1: Unsere Reisestationen

Vorspiel in der Deutschstunde.

Drei Mann auf einer Bank – eine schöne Studentenzeit.

Einblicke in den universitären Forschungsbetrieb

Wenig Chancen mit Chemie in der Heimat

Und in der Fremde?

Das Arbeitsamt?!

Die eigene Schulzeit.

Hochschullehrer, exemplarisch

Der Vorbereitungsdienst, Teil 1

Erster Auftritt E. van Zadelhof

Zweiter Auftritt E. van Zadelhof

Einmal anhalten und dann wieder los

Wohin wird’s dieses Mal gehen?

Interessante Wirtsleute

Impressionen aus dem Referendarsleben

Neue Fachleiter und Prüfungen

Bewerbung auf eine Planstelle

Start auf der Planstelle

Astrophysik als Schulfach

Eine Notenkonferenz, bemerkenswert

Gesamtkonferenz, exemplarisch

Schuljahresabschlussfeier am Poldi

Fortbildungen

Gefahrstoffe

Typische Typen

Verdienstkreuz

Du bist nicht allein. Oder doch?

Ein uneigennütziger Rechtsanwalt

Therapie?

Und mal wieder ein kleiner Glücksfall.

Brief an Greta

Solche Schüler wünscht man sich!

Medien, Religion und Politik

Die Macht der Musik – Zadelhof die dritte!

Ausstieg

Ein kurzer Rückblick, hauptsächlich in anger

Ankunft

Intermezzo

Teil 2: Reiseproviant

Der Lehrer als Autor

Demokratiedystopie

AfD

Δηλητηριώδη μικρά πιάτα

Δύσπεπτα κύρια πιάτα

Das selbstorganisierte Schülerprojekt

Einige Jahre nach dem Termin beim Rechtsanwalt

Wen vertritt denn der PR?

Gasalarm oder Schnell wie die Feuerwehr

Netter Kollege und Personalrat

Pädagogisches Kolloquium

Abgewatscht und für dumm verkauft

Lehrproben

Die neue Königin

Impressionen aus dem Vorbereitungsdienst

Aus der Fachliteratur

Ein mehr gleicher Referendar.

Wirtschaftsnachrichten und kein Kreisauer Kreis

Eltern

Gepeppert

Επιδόρπιο με επίγευση

Ein persönliches Fazit

Quellen

Der verbitterte Eklektisiastikus ein Wirklichkeitsmärchen sehr teutsch, das ist die Beschreibung seiner abentheuerlichen Irrfahrten, wie er in dieses Milieu gekommen, was er darin erfahren und gelernet und ausgestanden habe und welchen merkwürdigen und gefährlichen Geschöpfen er begegnet sei. Überaus lustig und maenniglich nutzlich zu lesen.

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt, suchend nach beruflicher Heimat. Und singe, o Göttin, uns seinen Zorn.

Wo hast Du das erlebt, Genosse? In welcher Stadt, an welcher Schule?

Ich habe es natürlich nicht genau so erlebt. Das ist doch ein Roman.

Nichts in dieser Geschichte entspricht den Tatsachen. Und alles ist wahr.

Vorwort des Herausgebers

Der nun vorliegende dritte Band der Reihe will mehrere Adressatengruppen ansprechen. Er ist natürlich zunächst gedacht für Politologen und Soziologen sowie die Studierenden dieser Fächer. Dementsprechend werden neben den Gegebenheiten auf den staatlichen pädagogischen Dienststellen auch gesamtgesellschaftliche Erscheinungen gestreift, was die Lektüre auch für den zeitgeschichtlich arbeitenden Historiker lohnenswert machen dürfte.

Auch dem Psychotherapeuten, der tagtäglich Patienten der einschlägigen Klientel mit Überlastungsdepression zu behandeln hat, wird das reichliche Erfahrungsmaterial des ersten Teilbandes Hilfen an die Hand geben, um die Dimensionen der Frustration und Verbitterung seiner Patienten ermessen zu können. Der erfahrene Psychiater wird unschwer die Textabschnitte erkennen, welche aus der therapeutischen Praxis stammen.

Schulabgänger tun gut daran, sich vor Aufnahme eines Lehramtsstudiums mit dem umfangreichen heimlichen Lehrplan vertraut zu machen, der noch weit mehr als die Schüler Referendare und auch Planstelleninhaber betrifft.

Schließlich mag sogar der eine oder andere Bildungspolitiker den Mut besitzen, sich mit der harten Realität auseinanderzusetzen.

Last but not least möchten die Autoren auch ganz entschieden die Schülerschaft ansprechen. Ein tiefer Blick hinter die Kulissen des Schulbetriebes, der Schülern normalerweise gänzlich verborgen bleibt, soll exemplarisch, anhand eines eben teilweise vertrauten Geschehens, die Wahrnehmung schärfen für die gesellschaftlichen Verhältnisse, in welche die Jugend hineinwächst und dabei scheindemokratische Strukturen entlarven und die wahre Demokratie schützen und verteidigen soll.

Die Datenerhebung erfolgte, ergänzt durch klassische Umfragen, hauptsächlich ethnografisch, also in teilnehmender Beobachtung. Bei dieser ursprünglich aus der Kulturanthropologie stammenden Methode wurden Lehrer über einen langen Zeitraum, oft über Jahre hinweg in freier Wildbahn in ihrem Alltag begleitet, um so mit ihren dienstlichen Tätigkeiten, Gewohnheiten, Einstellungen und Problemen vertraut zu werden. Sämtliche Forschende besaßen ordnungsgemäße Lehrbefähigungen verschiedener Schulfächer.

Unser Episodenmosaik lässt sich ferner auch als eine Biographie der politischen und weltanschaulichen Radikalisierung lesen.

Um die Lesbarkeit für die nicht sozialwissenschaftlich geschulten Leserschaft zu erhöhen und das Interesse wach zu halten – aut delectare volumus – wurde eine episodenhafte Erzählform gewählt. Wegen der verschiedenen Quellen wird keine durchgängige Geschichte erzählt, viele Anekdoten und Erlebnisse ranken sich aber um einen wiederkehrenden Protagonisten.

Die Autoren machen hier eine Anleihe bei verschiedenen Fachdidaktiken, in welchen der Rahmenerzählung eine nicht zu unterschätzende positive Funktion zukommt.

Der bewährten Gliederung der Bensheimer Studien folgend, wird der demnächst erscheinende Teilband B den theoretischen Überbau liefern.

Frankfurt am Main, den 30.1.1933

Der Herausgeber.

Dramatis aliqui Personae

Studiendirektor Gerd Berkenbrink, Fachberater Sozialkunde, ist eine Art graue Eminenz.

Doktorand Friwi De Bödecker ist Spätaufsteher, Kaffeetrinker und NMR-Spezialist.

Studiendirektorin Bohnenkamp, Chemiefachleiterin, lässt keinen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Auffassungen zu.

Studienrat Bosma ist eigentlich Chemieingenieur und der Freund von Lorentz.

Studiendirektor Michael Büker, Diplomphysiker und Physikfachleiter, mochte vielleicht den Diplomer in A. Cruse.

Panienka Agnieszka Chrząszcza wird zu Frau Angelika Cruse.

Chemieprofessor Dirksen ist alt, furchteinflößend und keine große Hilfe.

Studienrat Michael Dräng, Personalratsvorsitzender, bekommt vom Schicksal ein Glückslos zugespielt.

Leitender Regierungsschuldirektor Druger, zuständiger Schulaufsichtsbeamter, ist für den einen die optimale, für den anderen eine fatale Rollenbesetzung.

Naš pazikuća Jozsef Ernsztman versteht mehr von Geschichte als ein Sorbonneveteran.

Studiendirektor Tobias Fabri ist ein wirklich patenter und vielseitiger Mensch und überlässt Herrn A. Cruse stets die Vor- und Nachbereitung der AGs.

Oberstudiendirektor Bodo Frommholt, Schulleiter, profitiert von guten Beziehungen.

Studiendirektorin von Genuit verhindert zuweilen, dass Lorentz und Bosma frei reden.

Studiendirektorin Gabriele Gitschel wird es noch ganz weit bringen.

Oberstudiendirektorin Ulrike Hilgen, Schulleiterin, ist kalt und berechnend.

Studiendirektor Klöfer, Oberstufenleiter, ist intelligent, leistungsstark und total auf Linie.

Oberstudiendirektor Koppmann, Studienseminarleiter, ist einer der wenigen positiven Vorgesetzten in Herrn A. Cruses Leben.

Oberstudienrat Krier bietet dem Chef die Stirn.

Studienrat Andreas Cruse macht sich Notizen.

Oma Eelkje Cruse ist bibelfest und kann Trecker fahren.

Landwirt und Huf- und Wagenschmied Opa Fritz Cruse mag Holzschuhe, aber keine Bücher.

Gärtnermeister Wilfried Cruse ist für einen Mann seiner Generation erstaunlich reflektiert und lernfähig.

Land- und Baumaschinenmechanikermeister Werner Cruse wird als nett und harmlos angesehen und ist ein Feigling.

Studienrat Linnenbrügger ist im Personalrat und vor allem politischer Realist.

Oberstudienrat Lorentz ist der Chemiechef am Burggymnasium.

Studiendirektorin Niehues, Chemiefachleiterin, ist ein gutes Vorbild.

Studiendirektorin Friderike Pepper, 1. stellvertretende Schulleiterin, ist ja immer sooo nett!

Studiendirektor Schattemans, 2. stellvertretender Schulleiter, flitzt los und ist der famoseste Kerl, den das ganze Poldi aufzuweisen hat.

Diplomand Sürmann hat rote Haare und zischt gerne ein Pils.

Lehrerin im Angestelltenverhältnis Elaine van Zadelhof ist die Frau.

Vorspiel in der Deutschstunde.

Die Lektürewahl stand mal wieder an. Steger wollte den Kurs entscheiden lassen. Ein Typ, der mit sich reden ließ. *Denn nieman kann mit gerten kindes zuht beherten.* Bei aller hemdsärmeligen Art und seinem rustikalen Kleidungsstil war er doch ein erstaunlich beschlagener Germanist.

»Wir könnten den Vorleser oder Faserland oder Herrn Lehmann lesen? Habt Ihr bestimmt schon mal von gehört. Macht Euch mal zur nächsten Stunde eigene Gedanken dazu, geht ins Internet, was es noch so gäbe, auch Aktuelles, verschiedene Genres, wir sind da ziemlich frei. Das müsst Ihr dann aber auch vorstellen und Euren Mitschülern sozusagen verkaufen.«

Da kommt schon ein unerwarteter Vorschlag.

»Ja, in dem Buch von Frank Petrikau geht’s um Schule und Lehrer und so und mein Onkel hat sich tierisch darüber aufgeregt, war echt lustig. Dass das unerhört ist und dass das ’ne Frechheit is. Und weil bei Ihnen doch auch immer das BRIGHT-Board nich funktioniert und überall die Fenster nich zugehen.

Und mein Onkel sagt, ich soll Sie fragen, ob Sie der Cruse aus dem Buch sind. Sind Sie der Cruse aus dem Buch, Herr Steger?«

Kopfschütteln. »Dachte ich mir. Heißt das, Sie kennen das Buch?«

Steger wiegt lächelnd das Haupt wie Gibbs und macht ein nettes Pokerface.

Er habe dazu was in der Mediathek gefunden. Das sei schon irgendwie anspruchsvoll. Der Deutschkursler holt in der nächsten Stunde einen Print hervor und liest erstaunlich flüssig ab: »Die meisten Mediendarstellungen über den Nutzen von interaktiven Whiteboards im Unterricht sind motiviert von Technikfetischismus, ey, Fetischismus – Gekicher aus der Klasse – seitens der Journalistinnen und von (mit falscher Betonung auf dem i) duckmäuserischer – was heißt eigentlich duckmäuserischer? – Fortschrittsgläubigkeit der befragten Lehrpersonen. Ehrlich: Welcher Schulleiter, der vom Bürgermeister ein sauteures BRIGHT-Board überreicht bekommen hat, kann öffentlich verkünden, dass die Dinger auf einer unausgereiften Technologie beruhen, die sich im Unterrichtsalltag einfach nicht bewährt hat?«

Fräulein Schäfer, Tochter von RA Schäfer und Mitglied in der Jungen Union, bemerkte etwas zu gelangweilt: »Ach das, da war ’ne Diskussion im Spätprogramm. Der Vorsitzende der Vereinigung meinte, ein Reimwort mit drei Buchstaben auf Petrikau verkneife er sich und Nestbeschmutzer reime sich nicht. Er wies darauf hin, dass es kein einziges Bundesland gebe, in dem ein Schulleiter alleine über Beförderungen entscheide. Allein daran könne man schon erkennen, dass das ein erstunkenes und erlogenes Machwerk sei. Sie wolle es ja nur gesagt haben, sprach die Schäferin. Und ihr Vater sehe das genauso.

Der Vorredner musste aber unbedingt noch etwas loswerden. »Dieses Drehbuch ist kein Loblied auf die deutsche Schule«, las er ab, »aber es ist gut möglich, dass es ihr kalt am Arsch vorbei geht. Äh, Homer kommt aber auch vor.«

Das o als Diphthong gesprochen und betont.

Steger war es recht. Mal was anderes. Konnte vielleicht ganz interessant werden. Er zog an seinem Ziegenbart und überlegte. Schule kam im Schulunterricht gar nicht vor. Vor den Ferien etwa, Die Feuerzangenbowle konnte man nicht mehr zeigen, oder Haus in Montevideo lesen, no way. Tot. Uncool. Ein so anständiger und subtiler Humor ging völlig ins Leere. Ihm fiel noch ein, dass auf den 623 Seiten des Sozialkundebuches das deutsche Schulsystem nicht mal erwähnt, geschweige denn irgendwie thematisiert wurde.

Ach so, Siegfried Lenz – nee, wenn’s was Lustiges ist, haben die Schüler gute Laune und der Steger hat’s leichter.

Drei Mann auf einer Bank – eine schöne Studentenzeit.

Nicht nur die langweiligen Chemiker, Physiker, Maschinenbauer etc. in ihren karierten Hemden und Jeans oder Cordhosen mit Hochwasser gab es hier in der Halle zu sehen, sondern auch all die Studierenden der Literaturwissenschaften, diverser moderner Sprachen etc. Studentinnen. Eine Augenweide der Extraklasse bildeten die Juristinnen.

Prof. Teubner stieg aus der Biochemiegrundvorlesung, um die er nicht herumkam und ging wie immer danach zur Unisparkasse und ließ sich von dem schmallippigen Automaten einen Fuffziger hervorwürgen. Damit belohne er sich selbst für die gerade ausgestandene Qual, hieß es.

»Weltklassefrau!«

»Wo, wo, wo?«, fragte Sürmann. De Bödecker guckte auch kurz hin, gab ein freundliches Brummen von sich und genoss weiter seinen Kaffee mit Mister Tom, vermutlich war er um diese Tageszeit schon bei einer zweistelligen Zahl Kaffeetassen angekommen. Der NMR-Spezialist wurde gerne bei kniffligen Spektren zu Rate gezogen und ließ sich mit Kaffee und Schokoriegeln entlohnen. Cruse wies diskret auf die Studentin, die langsam nach rechts auswanderte. »Was soll an der denn Weltklasse sein?« Eine Variante der ständigen Dialoge der drei. »Ich mag nun mal Mary Poppins Stiefeletten.« Die drei musterten die hagere junge Frau im langen schwarzen Rock mit den Schnürstiefeln.

Sürmann, der in einer herumliegenden Bildzeitung geblättert hatte, sah noch genauer hin und meinte zu Cruse: »Du, diese Weltklassefrau ist Schütze.« Und fügte den verblüfften Kollegen erläuternd hinzu: »Hab’ ich gerade in diesem Fachblatt gelesen. Bei den typischen Schützegeborenen ist das Pferdeartige des Gesichts sehr ausgeprägt. Aber wenn Dir sowas gefällt, Cruse.«

Die große Halle des Volkes war einer der unbestreitbaren Vorteile der modernen Kompaktuni. Ein riesiger, mehrstöckiger zentraler Hohlraum mit umlaufender Galerie, auf der Hauptebene auch Geschäfte, fast wie eine Mall. Etwas Zerstreuung bot sich hier und man war vor Dirksens berüchtigten aufgezwungenen Fachgesprächen sicher. Denn der pulte mit Vorliebe so lange herum, bis man zugeben musste, es nun im Moment wirklich nicht zu wissen. Hilfreich waren diese Chefgespräche nur sehr selten. Statt Tipps gab es nur weitere Verunsicherung.

Die Gaststudentin aus Uruguay näherte sich aus Richtung Cafeteria. »Ist die wirklich so intelligent, macht die so dolle Forschung, dass sie an allen Messgeräten Vorrang eingeräumt bekommt?« Sürmann war grummelig. »Unsereins muss sich peinlich genau in die Warteliste eintragen, Pardon wird nicht gegeben, und Dirksens Gäste?« Ximena J. Nelson ging Richtung Institut. Nachdenklich sah ihr Sürmann nach. »Doch«, meinte er nach einer Weile, »von hinten jedenfalls sieht sie intelligent aus, sehr sogar.«

Andreas sah genauer hin. Stimmt, einen Hintern wie eine, danke Arno, Reichsunmittelbare!

Ja, man hatte ordentlich zu arbeiten, um sich auf die große, schwarze Bestie, die Zukunft, vorzubereiten. Aber noch war das Leben einigermaßen leicht. Es war die Zeit des make tea, not love, als Beyer und Gerthsen stattlich, aber nicht adipös waren, Tipler und Demtröder noch Alonso Finn hießen, Familie Greiner noch überschaubar und der Nolting nicht mehr als ein Vorlesungsskript war.

Und spätestens seit der Tertia hatte für Andreas festgestanden, dass er Chemie studieren wollte.

Des Helden Herkunft

Andreas’ Großvater Karl Friedrich Cruse hatte Landwirtschaft betrieben und einen Betrieb für Landmaschinentechnik geführt.

Das Wohnhaus und die Werkstattgebäude, die Maschinen und Kunden, der good will war dann an Andreas’ Vater Werner gegangen, der jüngere Sohn, Andreas’ Onkel Wilfried, der zum Missfallen seines Vaters wenig Eifer als Maschinenschlosser zeigte, bekam das Heuerlingshaus mit Nebengebäuden und die Äcker, Felder, Wiesen, mit Streuobst, ein Stückchen Wald war auch dabei.

Wilfried, der immer schon mit seiner Mutter Eelkje selbstangebautes Gemüse und Obst in der Nachbarschaft verkauft hatte, sozusagen damals schon einen Biohofladen betrieb, ohne es so zu nennen, baute sich eine erfolgreiche Gärtnerei mit Baumschule und Gartenbau auf.

»Du weißt es doch am besten, die werden groß!« Tante Johanna wies immer wieder kopfschüttelnd auf diese biologische Gesetzmäßigkeit hin, wenn Wilfried mal wieder ein paar Ahornwildlinge, junge Rosskastanien und Walnussbäumchen liebevoll in Töpfchen setzte.

Und die Ahörner und Co. wurden tatsächlich groß und größer. Aber Platz war ja andererseits auch genug da. Reichlich.

Von seiner Oma Eelkje, die zeitlebens nur ein komisches Deutsch sprach, hatte Andreas Holländisch gelernt. Später beschlich ihn das Gefühl, sie habe auch ein seltsames Holländisch gepflegt.

Er hätte sich viel mehr mit ihr unterhalten müssen über sie, den Opa, die Verwandtschaftsverhältnisse. Aber die Jugend interessiert sich nicht für die Vergangenheit alter Menschen.

Später, selber nicht mehr jung, als *viele Herbste sich verdichtet*, konnte er sie vor sich sehen, eine kleine, krumme Frau, fast wie ein Kind, uralt, wie sie unermüdlich ihre Beete hackte und goss, sich von ausbleibendem Regen und krömmelig gewachsenen Früchten fast persönlich beleidigt fühlte.

»Diese drei Bäumchen, die Kirsche, der Ahorn und die Säulenhainbuche, die sind genauso alt wie Du«, hatte die Oma dem kleinen Andreas erzählt. »Die habe ich kurz nach Deiner Geburt als ganz kleine Pflänzchen dort eingesetzt, wo sie jetzt stehen.«

Was waren das für große Bäume geworden! Die drei kräftigsten Tochterpflanzen, die Herr Cruse kurz vor dem Ausscheiden aus dem Dienst an einen guten Platz gesetzt hatte, würde er nicht mehr groß werden sehen. Bei aller Skepsis dem Phänomen Leben gegenüber – *schon ein Libellenkopf, ein Möwenhaupt wäre zu weit und litte schon zu sehr* – jetzt, wo die große schwarze Bestie, die Zukunft, ihr Interesse an ihm weitgehend verloren hatte, machte das dendromemento mori ihn wehmütig.

Diese Szene stand ihm noch klar vor Augen. Vor dem lokalen Edekaladen, links halb auf der Fahrbahn, rechts haarscharf neben den Fahrradständern, steht der Xerion. Oma Cruse kommt aus dem Laden, sucht im Einkaufskörbchen herum. Ah, da. Sicher wackelt sie gleich auf dem klapprigen Hollandrad, das neben dem Xerion steht, davon. Irrtum. Die alte Frau erklettert stattdessen das Ungetüm und walzt los. Zugegeben, für die Seniorchefin hatte man nicht ohne Mühe an der Pedalerie herumgebastelt.

Die Oma war mit dem kleinen Andy mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren, mit der Linie 2, die bis fast zu ihnen herausfuhr, zur Puppenfee mit der riesigen Spielzeugabteilung. Man kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus! Eisenbahnen, Matchboxautos, Ritterburgen mit Rittern, Wildwestforts mit Männekens, Kavallerie, Mexikaner, Indianer, Westmen. Waterpumpgunvorläufer mit transparenten Wassertanks, mit funktionslosen kleinen Kunststoffkugeln darin. Ballerplättchenpistole? Einen Unterhebelrepetierer hatte Oma Eelkje ihm gekauft. Im Kaliber 6 mm Erbse. In einem seltenen Anfall von Zuneigung hatte Opa Fritz in das solide Spielzeug eine stärkere Feder eingesetzt. Und mit 12 kaufte Andreas sich eine solide Zielscheibe und gutes Gerät.

»Allen, die vor uns gestorven sind, sind auch für ons gestorven. So ist das te verstaan! Ik denk an allen degene, die vor me gegangen sind. En ook dat: Want wat den kinderen der menschen wedervaart, dat wedervaart ook den beesten, en eenerlei wedervaart hun beiden: gelijk die sterft, alzoo sterft deze, en zij allen hebben eenerlei adem, en de uitnemendheid der menschen boven de beesten is geene: want allen zijn zij ijdelheid. Zij gaan allen naar ééne plaats; zij zijn allen uit het stof, en zij keeren allen weder tot het stof. Andreas wusste genau, dass die Oma dabei an Lissy und Ludo, Tommy und Lilly dachte.

Als reifer Mann, wie man so sagt, wie oft hatte Andreas später nicht gedacht, ich rufe mal just die Oma oder Tante Johanna an. Too late. Schon lange tot. Unbegreiflich. Blomstrade, åldrades, gick – men vart? *Das muss ein Morgen haben! * Stand das bei Bloch?

Kommunikation war Opa Karl Friedrichs Sache nicht so. Gab ohnehin nicht viele vernünftige Menschen. Wer nicht mindestens einmal die Woche so richtig maschinenölverschmiert war, war ein Laumalocher. Leute, die Sie sagten, waren Lackaffen. Studienräte z.B..

Er verschwand als alter Mann am liebsten hinten im Nebengebäude in seiner großen Werkstatt, wo die Drehbank und die große Standbohrmaschine standen. Fertigte dort irgendein Ersatzteil für einen Trecker, der fast so alt schien wie er selber. In Klompen auf den groben Holzbohlen stehend, die Pipen im Mund. Das monotone Singen der Drehbank, der unverkennbare Geruch von heißem Maschinenöl, wie der Support mit dem Schneidwerkzeug langsam vorrückte und die heißen, blauangelaufenen, messerscharfen Späne abschälte. Kindheitserinnerungen.

Früher hatte er auch noch Schmiedearbeiten durchgeführt, Ketten, Pferdegeschirre und Pflugscharen repariert, auch Hufeisen angepasst. Die Esse war jedoch schon lange kalt. Der lungenkranke Mann konnte die schweren Werkstücke nicht mehr hantieren und vor allem die Hämmer nicht mehr lange führen.

Nachdem Andreas einmal mit dem Vorschlaghammer ordentlich daneben gewämmst hatte, waren sich die Zeos der Familie sofort darin einig, dass Andy kein handwerkliches Genie sei. Auf den abwegigen Gedanken, man könnte auch mal in Ruhe etwas erklären oder vormachen, ein wenig Geduld zeigen, kamen sie selbstverständlich nicht.

Die versammelten Fachleute guckten aus den Werkstattfenstern. Heini Piepenbrink kam auf den Betriebshof gequalmt. Schon wieder. Der große Schlepper mit der 6,8 l Maschine hatte immer wieder Kopfdichtungsprobleme. Firma Cruse wusste nicht weiter.

»Geh mal fragen, was er will«, sagte Werner Cruse zu Andy, der gerade hinten aus dem Öllager kam.

»Da haste mal wieder den Dümmsten in der ganzen Bauerschaft vorgeschickt«, sprach Fritz Cruse laut und deutlich in die Runde. Dann ging er selber raus, um sich mit Heini zu zanken.

»Piepenbrink, oller Knickerpott, ich habs Dir ja gleich jesacht, der Schlepper war viel zu billig, aber Du wolls ja partout nich auf mich hören!«

Andy grub der Oma im Frühjahr den Nutzgarten um. Er machte das gerne, und außerdem bekam er später Tomaten, Erdbeeren und Himbeeren von der Oma.

»Hör mal Andy, ich möchte Dich beraten«, sagte die hinzugetretene Oma.

»Grab doch immer nur ein Stückchen um, das kannst Du dann vom Rand her glattharken und dann mit dem feinen Rechen drübergehen, ohne dass Du wieder auf dem frisch umgegrabenen Stück rumknotten musst.«

Merkt man den feinen Unterschied?

In Andreas Großelternhaus hingen keine Gainsboroughs, wurde auch kein Schoppäng gespielt. Ganz unintellektuelles Arbeitsleben. Oh, durchaus intelligente und findige Leute, die zu Vermögen zu kommen wussten.

»De Böker hebbt di verdorven«, musste sich Andreas mehr als einmal vom Opa Fritz sagen lassen. Andreas’ überaus praxisnahe Versuche hinter der Schuppenmauer zu schnellen Oxidationsreaktionen, begleitet von akustischen und optischen Erscheinungen waren dem Senior dann auch wieder nicht recht!

Die falsche Frau, die Andreas’ Vater geheiratet hatte und der er ebenso nützlich wie gehorsam war, wollte gesellschaftlich etwas gelten und hatte den Wert von Bildung klar erkannt. Anders als ihre bäurischen Schwiegereltern. Seit der Grundschule trieb sie ihren Sohn unerbittlich an.

»Hast Du heute schon Klavier geübt?! Das soll Deine Hausaufgabe sein? Diese Krickelei?! Das schreibst Du alles schön noch einmal, Freundchen. – ›Ja, aber ich-‹ »Keine Widerworte! Alt und grau darfst Du werden, aber nicht frech!«

Wenig Schläge, viel Schelte, viele Vorwürfe, Angstpädagogik, Hausarrest, üben, üben und nochmals üben. »Wie heißt der Andy mit Nachnamen? An die Arbeit!« Lockerung gegen gute Noten. Lehrbuchwidrig erzeugte das bei Andreas aber keine Aversion, sondern eine hohe Affinität zu Büchern, Schule, Studium, Wissen. Das musste er zugeben.

Einblicke in den universitären Forschungsbetrieb

Wieder ein Freitag. Wieder in Deutschland. Verbeulte Handwerkerkarren rasten vorbei im Vorgefühl des Wochenendes mit Mopsgeschwindigkeit, hinter der Frontscheibe alles zugemüllt, der Fahrer mit Fluppe im Maul, die Narrenkappe falschrum; wummernde Bässe aus tiefergelegten, schwarzen, noch schnelleren Dreier-BMWs, jede Wette, der Fahrer in einer Lebenskontrollverlusthose. De rauten Striemen anne Büxen machen’s für Brigadier Schlabberhose auch nicht besser. – Menschenbild.

Nach dem Vorbild eines ehemaligen Studienkollegen hatte er sich als stipendiat, beurshouder oder gjesteforsker, stets nur auf befristeten Stellen, eine Weile über Wasser halten können. Dabei war der Freitagabend, Arbeitsende, als er noch Arbeit hatte, immer die schönste Zeit. Gewissermaßen Schabbat Schalom.

Zusammenpacken, ein letzter Kontrollblick ins Labor, und auf seiner ersten, besonders prägenden Station, dann mit dem alten, schwarzen Armeefahrrad mit dem eiernden Vorderrad den ruhigen Fluss entlang rollen, in welchem nach ehrwürdiger studentischer Tradition nicht wenige Geschwister seines Gefährts lagen, unter einem schweren, düster-romantischen, grau-dunkelblauen Himmel, nach einer halben Stunde Fahrt kamen die Türme der Kathedrale in den Blick; die berühmte, alte Stadt. In seiner kleinen Wohnung in der Straße mit den Krähenschlafbäumen dann in aller Ruhe speisen, dabei TV gucken, und jede Woche doch etwas mehr verstehen von der ärgerlichen Sprache, bei der oft man dachte, verstanden zu haben und dann doch nicht verstanden hatte, definitiv nicht an die Arbeit denken, bis zum Sonntag. Da plante er die nächsten Schritte, stöberte in der Bibliothek, rollte wohl auch nicht selten schon wieder zum Institut.

Doch auch hier konnte er nicht bleiben, weil ihm das Forscherglück so wenig hold war wie das Glück überhaupt zu jener Zeit.

Die Älteren hatten noch promoviert, die Jüngeren wie Cruse hingegen hatten zugesehen, sich umzuorientieren, solange sie nicht gänzlich chancenlos waren. Oder dafür angesehen, versteht sich. Prof. Dirksen, der Chef der Arbeitsgruppe, hatte solange ein gewisses Verständnis für seine Ehemaligen, die einfach keine Anstellung fanden, solange seine eigene Tochter auch arbeitssuchend war.

Das war auch so eine Sache gewesen, Fräulein Dirksen, der Abfall und die Feinregulierung. Zur Überbrückung, wie es hieß, forschte Stephanie Dirksen, obwohl eigentlich Biologin, nämlich ein bisschen herum in Vaters Arbeitsgruppe. Da hatte es diesen hässlichen Zwischenfall in der Dekanatssitzung anlässlich der neuen Gefahrstoffverordnung zwischen Dirksen und dem Sicherheitsbeauftragten Dr. Hassel, einem unbequemen Mittelbauer mit Berliner Schnauze gegeben. Letzterer hatte nämlich gerügt, dass die Laborabfälle der Institute glatt in den allgemeinen Hausmüll der Uni gingen, was Dirksen als hanebüchenen linken Ökounsinn zurückwies. Pech nur, dass Hassel Recht hatte. Dirksen als letztlich verantwortlicher Quasiunternehmer gab daraufhin die Parole in seiner Arbeitsgruppe aus, dass bei sorgfältigem Arbeiten gar keine zu entsorgenden Rückstände übrigblieben.

Stephanie tappte nichtsahnend in die Falle, als sie in aller Unschuld des Chefs Laborantin fragte, wohin sie mit den Filterpapieren mit den Arsenresten solle. »Wer sorgfältig arbeitet, produziert keine Abfälle, schon gar keine Arsenabfälle, Fräulein Dirksen.« »Was soll denn der Quatsch?« »Tja, so jedenfalls hat uns Ihr Herr Vater belehrt.« »Der Alte spinnt doch!«

Wie die beiden Dirksens das intern klärten, ist nicht überliefert.

Nach der Sache mit der Handmechanik war aber Schluss mit dem Gastaufenthalt. Bediente man die ein paar tausend Mark teure Regulierungsmechanik mit der Heizspitze und den Sensoren nicht äußerst behutsam und sachkundig, bevor man die Ventile zudrehte, war das gute Stück verbogen, hielt auch nicht mehr dicht und war nur noch Edelstahlschrott. War man zu langsam mit dem Absperren, brach das Hochvakuum in der heißen Apparatur zusammen, schlimmstenfalls feierte der Detektor durch den zu hohen Sauerstoffgehalt dann schon Silvester.

Doch, damals musste man tatsächlich noch selber romworschtele un Knäppscher trecke.

Nach Gerätelogbuch kam nur Stephanie D. für das Malheur in Frage. Kurz nach diesem Zwischenfall bekam Stephanie eine Anstellung und verschwand wieder von der Bildfläche.

Was blieb aus Andreas Cruses Sicht noch von Dirksen? Zum Geburtstag: »Auf dass Sie nicht nur älter, sondern auch klüger werden!« Drückte man die Hoffnung aus, der neue Versuch werde endlich Erfolg bringen: »Ja, ja, am Hoffen und Harren erkennt man den Narren!« Oder auch dies: Ein Doktorand vermag ein Gerät vom Dach des Hochschranks herunterzuholen, Dirksen kommt hinzu: »Nun, Sie sind wohl lang; groß werden Sie nie.«

Unbestritten, der Mann hatte ein paar hundert Publikationen auf dem Buckel und war in der Fachwelt angesehen. Als saturierter, alter, furchteinflößender C4-Professor las er zu Cruses Zeiten nur noch eine kleine Handvoll der renommiertesten Journals und publizierte auch nur in diesen und nur umfassende Arbeiten.

Übrigens, wer nur noch JACS, Berichte, J.Het.Chem., J.Org.Chem und J.Phys.Org.Chem. liest, tja, der kennt die Literatur nicht ausreichend.

Woanders, das hatte Cruse an ausländischen Hochschulen gelernt, kultivierten Hochschullehrer, die eben nicht lebenslang auf einer Professorenstelle saßen, durchaus die SPU’s, die smallest publishable units. So kamen die Studenten auf die benötigte Anzahl Publikationen und der Supervisor stellte seine Produktivität unter Beweis.

In der Nachbararbeitsgruppe hatten weder der Chef noch sein akademischer A15er bemerkt, dass die Tage des Hauptanalysegerätes, von dem etwa die Hälfte der Arbeitsgruppe abhing, gezählt waren und dass sich die eigentliche Auswertehardware darin beim besten Willen nicht würde reparieren oder ersetzen lassen. Anfragen bei Technikmuseen wurden abschlägig beschieden. So mussten die armen Hansels dort nach mühseligen und ungenauen Verfahren aus den Sechzigern versuchen, zu ihren Daten zu kommen.

Der akademische Direktor dort war kaum auf die Maschine angewiesen und dirigierte zu

90 % seine eigene Forschung. »Wenn ich schon nicht selber Professor werden kann, will ich es auf mindestens genauso viele Publikationen bringen wie der C3er eine Etage unter uns!«.

Wenig Chancen mit Chemie in der Heimat

Es war noch nicht lange her, dass Siemens ein paar tausend Ingenieure, Informatiker und Naturwissenschaftler entlassen hatte. Nein, à la Tom de Marco natürlich freigesetzt zur Wahrnehmung neuer Karrierechancen. All das Gerede, dass Deutschland doch vom Erfindungsreichtum seiner Wissenschaftler leben müsse und die jungen Menschen schon auf der Schule für die exakten Wissenschaften begeistert werden sollten, ging Andreas Cruse gewaltig auf die Nerven. Ihn und ein paar tausend andere Absolventen jedenfalls brauchte Deutschland nun nicht mehr.

Die Absolventen versickerten in enge, unbequeme Ritzen des Arbeitsmarktes. Ulrike Voss kam bei einer landwirtschaftlichen Zuchtanstalt unter, was immer wieder Anlass zu allerlei Späßen bot. Sürmann ging zu einer Bauchemiebude. »Wenigstens für die kalte Jahreszeit, bis die Biergärten wieder öffnen.« Er blieb dort hängen. Etliche wurden Pharmavertreter. Dr. Jürgens bot sich einem Friseurartikelgroßhändler als Laborant an und war plötzlich Chefchemiker bei der Biospray GmbH. Bloß für ein immerhin gutes Laborantengehalt versteht sich, aber man nimmt, was man kriegen kann.

Der »Rote Rolf« hatte besonderes Pech. »Herr Dr. Haubrock, das wird Sie auch interessieren. Meine Tochter kommt jetzt doch von ihrer Weltreise zurück. Freuen Sie sich mit mir. Sie ist ja auch Chemikerin und wird in meine Firma einsteigen. Sie wird dann Ihre Stelle übernehmen. – Ich kann Sie also leider nach Ablauf der Probezeit nicht weiter beschäftigen. Ich gebe Ihnen hier schon mal einen Entwurf für Ihr Arbeitszeugnis.« So verkündet in der letzten Woche der Probezeit …

Und in der Fremde?

Friwi de Bödecker, auf dessen Spuren Andreas Cruse dann später wandelte, hatte sehr gründlich, aber sagen wir mal ebenso sehr ruhig promoviert und war dadurch schon ein recht bemoostes Haupt. Jedoch war er damals einer der ganz wenigen in der Bundesrepublik, die sich mit der semiempirischen, computersimulationsgestützen NMR-Interpretation, insbesondere für die Stereochemie von Naturstoffen, auskannten. Aber wer brauchte in diesem, unseren Lande schon innovative Wissenschaftler in Zeiten wie diesen? Er kassierte die üblichen Absagen und ging dann für längere Zeit als Postdoc nach Oslo. Dort war der NMR-Fachmann hoch willkommen. Als Wissenschaftler. Die Bezahlung war auch ausgesprochen gut. Noch viel mehr als die schwedische ist aber die norwegische Gesellschaft im Grunde eine ge- und verschlossene Bauern- und Fischergesellschaft geblieben, in der Ausländer, insbesondere die vom Gasreichtum eingekauften ausländischen Fachleute, sachlich korrekt behandelt werden, jedoch oft allein und einsam bleiben. Die armen, ungebildeten Einwanderer, nebenbei bemerkt, bilden die Rinkebyghettos aus.

Friwi blieb allein. »Die norwegischen Mädchen hatten alle einen Gehfehler!« klagte er später. »Sie gingen schon mit einem Norweger.«

Dem einsamen Andreas erging es nicht besser; die einzigen jungen Frauen, denen er einmal aufgefallen war, waren zwei Soldatinnen der frelsesarmé. Sie luden den landfremden Streuner in Oxfamklamotten ein, in ihre Versammlung zu kommen.

Kontakt mit Friwi gab es auch kaum noch, denn der hatte sich in seiner mehrdimensionalen COSY, NOESY, SEXY, HMQC und was noch alles Kernspinresonanzwelt eingeschlossen.

Zwar nicht mehr wie Andreas Tangen in Christiania herumirrend, blickte Andreas Cruse dann doch abends allein am Hafen von Christiansand auf die See Richtung Süden und lungerte des Sonntags an der stasjon herum. In einer Stunde hätte er gepackt gehabt, um den Fernzug Richtung Heimat zu nehmen. Ein tröstlicher Plan.

Als nun der Friwi vom Leben in der wohlhabenden, jedoch kühlen und dunklen Stadt, die niemand verlässt, ohne dass sie ihm ihre Marken eingegraben hätte, die Nase voll hatte, kam er zurück ins Münsterland und er verbiss sich dann ins autodidaktische Studium des Aktienhandels. Und hatte lange Zeit verblüffenden Erfolg. Und mit dem Gewinn kaufte er sich, alle hielten ihn für bekloppt, in BaWü, für alte Westfalen ist das fast schon Ausland, Tiefgaragenplätze, die er vermietete. Immer mehr Garagenplätze.

Schließlich hatte er auch mal eine kleine Wohnung passend zum Tiefgaragenplatz dazu erworben und war nach BaWü gezogen. Eine gewisse Sylvie hatte dabei eine undurchsichtige Rolle gespielt, die wohl weit über Wohnungsvermittlung hinaus gegangen war. Die Beziehung hatte aber nicht gehalten. Angeblich hatte Sylvies leiernder Badenser Singsang das Fass zum Überlaufen gebracht.

Warum er nicht in BaWü geblieben sei? Schließlich sei er doch mal, Sylvie und so?

»Nee, lessons learned, die im Muschterländle schmeißen ihr Altpapier in die Gelbe Tonne. Wie kann man nur Abfälle nachträglich mischen, die so gut wie nicht zusammen anfallen?«

»DeBö, das ist wirklich schlimm, echt übel!« Grins.

»Aber vor allem, was ich so mit den dortigen Finanzbehörden zu tun hatte, reicht mir vollkommen. Die hatten alles vorliegen, und ich musste das mühsam heraussuchen, um es denen digital wieder zu schicken. Von wegen, the Läänd! Allein dieses blöde Wort kostete uns Steuerzahler Millionen, seid umschlungen! Wenn ich hier bei uns einen persönlichen Termin mit meinem Finanzamt mache, –«

»Du hast Rendezvous mit deinem Finanzamt, DeBö?«

»Steuernummer angeben, Anliegen mitteilen, dann spreche ich im Finanzamt mit meinem Sachbearbeiter, der sich vorbereitet hat. Und in Heidelburk? – DeBö schnaubte vor Wut – ein übellauniger Zerberus sitzt in einer Art Conciergeloge, der unkündbare Beamte, wie man sich ihn nur vorstellt, und weist einen mit frecher Pampigkeit ab. ›Komm Du bloß nie wieder her‹. Nachdem man per Mail haarklein expliziert hatte, worum es geht!«

»Meinet Sie etwa, mir holet für jeden Steuerpflichtigen ekschtra eine von unsre 420 Kollege hier insch Foyer, nur um mit Ihne ze schwätze? Wie, Sie wollet sogar hier im Finanschamtschgebäude umeinander laufe?!«

Soweit man weiß, hat er ein ganz auskömmliches Dasein auf dem Gut seiner Geschwister, tuckert des Sonntags mit dem Lands Bulldog, der sein Leben einem komplizierten chirurgischen Eingriff von Opa Cruse verdankte und in dessen Tank gewiss kein versteuertes Dieselöl schwappt, von Dorffest zu Dorffest und ist’s zufrieden. Pfeif auf die Wissenschaft. Man muss nur zu Geld kommen!

Als zweites Standbein neben den Garagen erarbeitete er sich einen Meter Mathebücher und gibt nun Nachhilfe auf Universitätsniveau. Man nennt das dann Coaching.

Deutschland brauchte die jungen Chemiker nicht. Ganz einfach.

Auf Aktien, Immobilien oder Mathematik mochte sich Andreas Cruse nicht stürzen. Ein Exkollege aus Dirksens Arbeitsgruppe, »Fast Ecki« Naumann war richtig erfolgreich und auch zufrieden als Pharmareferent. Andreas überlegte. Einen Versuch wär’s doch wert.

»Du, Nauman, was ich Dich mal fragen wollte, ich überleg mir so, also, ich weiß ja nicht, ob das was wäre, hm, ob ich auch Pharmareferent werden soll?«

»Nö. In dieser Zeit hättste schon mindestens drei Arzneimittel beim Onkel Doktor bewerben müssen. Und noch vorher mit den Mädels an der Anmeldung schäkern. Ein Tiegelchen Hautcrème überreichen. ›Zum Erhalt Ihrer Schönheit‹. Bist im Reden einfach zu langsam.« Andreas gab Naumann recht. Das also nicht.

»Am Hoffen und Harren erkennt man den Narren.« Dirksens blöder Spruch kam Andreas immer wieder in den Sinn.

Trotzdem hoffte Cruse erst mal auf bessere Zeiten. Älter wurde er auch. Zwar hatte das mit befristeten Forschungsstellen in Nordwesteuropa nach De Bödeckers Vorbild ja eine Weile geklappt, zuletzt an einer holländischen Hochschule. Aber nun drängte sein guter Vaterbruder, er solle nach Hause kommen. Bei den Holzschuhträgern habe er langfristig keine Zukunft. Es sei Zeit, sich das einzugestehen. Notfalls könne Andreas doch mietfrei bei ihm über der Gärtnerei wohnen.

Chancenlos mit Chemie war ein Artikel in der ZEIT überschrieben gewesen. Den Absolventen mangele es an Sprachkenntnissen, geistiger Flexibilität und praktischem Know-how. Ja, was denn nun? Und wie soll ein absoluter Berufsanfänger zu den praktischen Kenntnissen gelangen, wenn die denn verlangt werden, hä? Das klassische Schuster-Vogt-Dilemma.

Bemühen wir mal wieder unser gusseisernes Gedächtnis. Vor wenigen Jahren traten fünf Industriechemiker auf der GDCh Abendveranstaltung im großen Chemiehörsaal auf, um über die Zeit nach dem Studium zu informieren. Fragen aus dem Auditorium: Ob man z.B. noch Russisch oder Japanisch erlernen solle? Vorlesungen in Betriebswirtschaft hören?

»Englisch können wir alle, davon reden wir erst gar nicht. Chemie sollen Sie können! Das erwarten wir von Ihnen. Alles andere bringen wir Ihnen dann schon bei, wenn es nötig sein sollte.«

Ach ja, von umgeschmolzenen Ökotrophologinnen auf irgendwelchen ABM-Maßnahmen, die einen Zeitungsartikel platzieren durften, lass ich mir nichts über intellektuelle Beweglichkeit erzählen! Bring Du erst mal ein Chemiestudium erfolgreich hinter Dich!

Dachte Andreas Cruse.

Doch chancenlos war man tatsächlich. Wenn später Schüler gelegentlich der Kurswahl zu Berufsaussichten mit Chemie fragten, las er sehr gern ein paar Sätze vor, die er auf einem losen Blatt bei den rückgesandten Unterlagen einer seiner zahllosen Absagen gefunden hatte. Ob Absicht oder Zufall, wusste er nicht.

»Die Fülle der bei uns auf nur eine ausgeschriebene Stelle eingegangenen Bewerbungen hat uns völlig überrascht. Ab der 800. Bewerbung stellten wir die Sichtung ein. Und mit Schrecken wurde uns klar, dass von mindestens zwei Jahrgängen qualifizierter Hochschulabgänger der Chemie ca. 90 % ohne jede Chance auf angemessene Stellen sein dürften. Ich erspare Ihnen und mir irgendwelche aufmunternden Floskeln. Ihre Lage muss wirklich deprimierend sein … «

Das Arbeitsamt?!

Ein Studienfreund hatte ihm dann erzählt, Fachwissenschaftler würden doch sofort als Lehrer eingestellt werden, bei dem herrschenden Lehrermangel! Nachdem Andreas sich bis zur Landesregierung durchtelefoniert hatte, erfuhr er, dass dieses Fenster vor einem Monat geschlossen worden war.

Apropos Landeshauptstadt. Als nüchterner Mensch hatte er in aller Unschuld das erste Mal an einem Rosenmontag dort angerufen. Konnte man das denn glauben? Laut Bandansage seien die Sachbearbeiter des Dezernats 4c, Gymnasium, bis Spätsommer des übernächsten Jahres auf einem Betriebsausflug. Das musste doch ein Irrtum sein.

Arbeitsamt? Jo. Einbestellung zur Entgegennahme eines Stellenangebots. Tatsächlich handelt es sich um eine Fortbildungsmaßnahme. Nun ja. Berufsbegleitend.? Er übe seinen Beruf gerade z. Z. nicht aus, arbeitssuchend eben. Gleichgültige, etwas gelangweilte Blicke der Arbeitsvermittlerin. Etwas anderes habe sie nicht. Und Cruse müsse sich bei dem Fortbildungsinstitut pünktlich zum ersten Termin der Maßnahme einfinden. Sonst Leistungsstreichung. Müsse. Einfinden. Leistungsstreichung.

Apropos. Cruse habe die Frist für die turnusmäßige Meldung beim Arbeitsamt als weiterhin arbeitssuchend und arbeitsfähig versäumt. Daher werde man ihm die Leistung für 14 Tage streichen. Dass es keinerlei passende Stellenangebote gebe, spiele keine Rolle!

Ja, da musste hart durchgegriffen werden.

Ja, er wisse, so und so, müsse jedoch. Cruse und Co. bekamen die schon parat liegenden, vorgefertigten Bescheinigungen für’s Arbeitsamt in die Hände gedrückt, nur berufsbegleitend, nicht für arbeitslose Arbeitslose.

Cruse tingelte selbstorganisiert und eigenverantwortlich von einer Fortbildungsinformationsveranstaltung zur nächsten. Bei einer Bildungseinrichtung in Dortmund, die eine Ausbildung zum technischen Redakteur, d.h. Verfasser von Bedienungsanleitungen anbot, bekam er mal wieder eine glatte Abfuhr. Man spreche ganz gezielt Diplomingenieure an und keine Naturwissenschaftler. Ja, die Ingenieure hatten die weitaus stärkste Lobby. Von dieser Veranstaltung erzählte er später immer mal wieder. Er war ja immerhin in Europa für einen Arbeitsplatz umhergewandert. Wenn auch nicht mehr als Wanderarbeiter für die Grasmahd wie seine Vorfahren. Spiralcurriculum. Den arbeitslosen Dortmunder Jungingenieuren, meist Hüttenleuten, sagte man allen Ernstes: »Ihre Einstellungschancen als technischer Redakteur steigen ganz erheblich, wenn Sie sich nicht nur in Dortmund, sondern sagen wir mal auch in Bochum und Essen bewerben.« Traurig schlich unser Hollandheimkehrer davon.

Wenn der Arbeitsmarkt etwas nicht brauche, dann Chemiker. Keine Zeit mit der nutzlosen Promotion verplempert zu haben, sei immerhin die richtige Entscheidung gewesen. Die Auslandsrunden hätten ihn andererseits ebenfalls nur älter gemacht.

Eine Ausbildung zum Alten- oder, er habe die freie Auswahl, Krankenpfleger würde man ihm bezahlen.

Sprach der Mann vom Arbeitsamt.

Cruse fühlte sich auch als Westdeutscher nicht so ganz mitgenommen. Auch sein Lebensentwurf ging nicht so ganz auf.

Sehr viel später würden angesehene Leute, öh, Forschende, analysieren, herausfinden und nicht schlecht dafür bezahlt werden, dass die Verweigerung des Zugangs zu etwas, worauf die Problemwähler glaubten, ein Anrecht zu haben, zu ungeahnten Entwicklungen geführt habe.

Irgendwie tat sich dann wieder was im Gesundheitswesen. Eine Reform jagte ja die andere. Immer stärker wurde betriebswirtschaftliches Denken in Krankenhäusern nötig. Da gab es eine Ausbildung zum Gesundheitsmanager in Hamburg, Dauer 15 Monate, mit Praktikum. Der nun zuständige, noch neuere Fachberater beim Arbeitsamt würde ihm den Lehrgang bezahlen. Augenzwinkernd hatte der Fachberater für besondere Fachkräfte noch gesagt, eigentlich habe er ja noch jede Menge Umschulungen zum Steuerfachgehilfen oder zum altbekannten Krankenpfleger auf dem Schreibtisch, die müsse er noch einigen Leuten unterjubeln. »Fühlen Sie starke Neigung, Steuerfachgehilfe zu werden, Herr Cruse«? Cruse verneinte. »Na sehen Sie, Sie wollen also Krankenpfleger werden!« Aber dieser Mann vom Arbeitsamt, ein gewisser Dr. Gräwe, war Cruse wohlgesonnen. Weil Andreas sich intensiv selbst gekümmert hatte und den buntblühenden Strauß von Misserfolgen vorlegen konnte. Bzw. einen verwelkten.

Er sollte die Gesundheitsgeschichte in Hamburg bekommen. Schon wieder fort von heimatlichen Gefilden, aber was half’s. Gräwe drückte ihm die Unterlagen zum Ausfüllen in die Hand, man stand schon in der Tür.

»Ach, Lehrer wollten Sie ja nicht werden?« Stumm wies Andreas Cruse auf das Schild im gegenüberliegenden Flur der Etage. Abteilung für arbeitssuchende Lehrkräfte, stand über dem Flureingang geschrieben. Dr. Gräwe winkte ab. »Das gilt doch nur für Germanisten und Historiker und so. Ich bin übrigens Frühneuzeitler. Das Heuerlingswesen im Rahmen der Grundherrschaft im Osnabrücker Land. Sollte man gelesen haben! Na ja, man muss im Leben einfach auch mal Glück haben. Jedenfalls haben Sie mit Ihren Qualifikationen auf der Lehrerschiene die besten von allen schlechten Einstellungschancen, so sieht’s aus. Ja, die Landesregierung erschwert die Sache gerade mal wieder, so ohne weiteres lassen sie nun keinen mehr unterrichten.«

Das sei mal so mal so, ein System könne man nicht erkennen.

»Und Sie müssten natürlich ein bisschen was nachziehen.«

Die Aussicht auf eine Zukunft ohne Krankenhaus war natürlich verlockend.

Ein bisschen was nachziehen hieß aber, zurück an die Uni und ein zweites Lehramtsfach studieren. Mathematik, Physik oder auch gerne Latein, so in dieser Größenordnung. Es stellte sich die wichtige Frage der Finanzierung. Im Ausland hatte er zwar eisern gespart. Ob das Arbeitsamt das denn finanziell unterstütze. Nein, das sei doch ein richtiges, auf spätere Berufsausübung abzielendes Studium. Cruse gab noch nicht auf. Er wusste ziemlich gut, wie es den lokalen Fachkollegen und –kolleginnen so erging. Eine Studienkollegin, jetzt die Frau von Dr. Baumann, bekomme doch auch ihr Zweitstudium für’s Lehramt bezahlt bzw. weiter Alogeld. Ja genau, erklärte Dr. Gräwe, eine Hausfrau, die nur so zum Zeitvertreib vor sich hin studiere, bekomme weiterhin Arbeitslosengeld, weil sie ja sofort dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Dass Frau Baumann am Chemikerarbeitsmarkt ebenso chancenlos sei wie er, Cruse, ändere nichts an der Rechtslage.

Die eigene Schulzeit.

Lehrer werden? Wie wäre das? Andreas versuchte sich an die eigene Schulzeit auf dem Gymnasium zu erinnern. Klar, seine ehrgeizige Mutter hatte ihn dort angemeldet. Obwohl die Grundschullehrerin am Ende der 4. Klasse gemeint hatte, es sei auch nicht unbedingt sicher, dass der Andy die Hauptschule nicht vielleicht doch schaffen könnte. Sein Vater stellte in Aussicht, ohne Abitur könne Sohnemann höchstens Müllmann werden. Aber nicht Müllautofahrer, denn der müsse ja Grips haben, weil er die LKW-Führerscheinprüfung bestehen müsse.

»Dann hättest Du mir intelligentere Eltern aussuchen müssen!« Aber dieser Hinweis gehörte selbstverständlich in die Shootout-Phase der Vater-Sohn-Beziehung. On n‘oublie jamais. On ne s‘y habitue jamais. Doch noch sind wir in der Sexta:

»Guten Tag, Frau Cruse, bitte nehmen Sie doch Platz.«

»Guten Tag, Herr Jörgens. Woher wissen Sie-?«

»Dass Sie die Mutter von Andreas sein müssen, sieht man doch sofort.«

Andreas konnte sich gut an den stolzen Livebericht seiner Mutter erinnern. Herr Jörgens, äußerlich ein Mittelding zwischen Hans-Joachim Kulenkampff und Klaus Havenstein, war Andreas’ erster Panzerkommandant gewesen. Ein wirklich freundlicher, jovialer Mann, der früher Deutschlehrer war und die hübsche, blauäugige, besorgte Mutter mit dem unverdächtigen, niederdeutschen Familiennamen, die ja auch ungefärbtes Hochdeutsch sprechen konnte, sofort beruhigte. Ach, auf die Gutachten gerade von der Wichernschule gebe er fast gar nichts. Andreas sei ein gut erzogener und sehr fleißiger Schüler. Frau Cruse hatte zu Hause berichtet. Die Stimmung am Abendbrotstisch nach diesem Elternsprechtag war gut gewesen.

Wie gesagt, es gab kaum Schläge im Elternhaus, dafür viele Drohungen; immer mal wieder plagte Andreas die Vorstellung, in Schrebergartenhäuschen und alten Scheunen unterkriechen zu müssen.

Alles in allem kam er recht gut klar und ging ab der Oberstufe definitiv gerne zur Schule. So lächerlich schlecht wie Tucholsky in Ein Kind aus meiner Klasse es darstellte waren seine eigenen Lehrer nicht.

Wie diese Lehrer zueinander standen, bekam man als Schüler kaum mit. Klar, dass die ›Damals auf der Wevelsburg und rechts von mir ist nur noch die Wand‹ – Fraktion in Opposition zu den jüngeren Geschichtslehrern um die rote Siggi stand, war nicht zu überhören. Typischerweise im Geschichtsunterricht.

Da waren die farblosen, harmlosen Typen. But don’t judge a book by its cover. Der sanfte, leise Englischteacher hatte Andreas beim Tischtennis auf der Betonplatte draußen beim Sportplatz aber sowas von abgezogen.

Lederjackenschmidt mit Buffalo Bill Frisur, Sport und Englisch. »Lauft euch schon mal warm … « »Wollt ihr Fußball spielen?« Nicht der Fleißigsten einer, schien es.

Sport in Einzelstunden in der engen, kleinen Halle, verschwitzt wieder in die Klamotten, Raubtierkäfigduft in der Umkleide und dann wieder im Klassenraum, puh!

Gut, beim Turnen taten die Sportlehrer schon etwas für’s Geld, aber der einzige, der mal die Regeln für Mannschaftsspiele erklärte und Techniken lehrte, war Freddy, ein Referendar.

Beim Fußball draußen auf dem großen Aschenplatz jagten die bereits etwas o-beinigen jungen Kicker in ihren Stollenschuhen brüllend und schwitzend umher, während die Sportluschen wie Andreas sich so langsam auf ihren »Verteidigerpositionen« bewegten, dass sie, wie die Atomrümpfe im Bezug zur Elektronenbewegung, in guter Näherung als ortsfest angesehen werden konnten. Basketball war noch viel schlimmer. Aber die in Sport schlechten Schüler kamen nicht auf die Idee, dass ihre Sportlehrer gefälligst hätten angemessen unterrichten sollen, wie man z.B. Basketball spielt. Die Vereinsbasketballer jagten dribbelnd und passend umher, und die anderen guckten staunend in die Luft.

Latein. Gelbe oder hellblaue Heftumschläge, passend zum Grammatikbuch. Rüsing mit seinen breiten, ein wenig schiefen Schultern knallte die Klassenarbeitshefte bei der Rückgabe auf die Tische. Den besten, fast dezent als erste. Die schlechtesten unter den jungen Altphilologen bewarf er zum Schluss beinahe mit den Heften.

Bei anspruchsvollen Fragestellungen, damals fragten Lehrer zumeist noch schlicht, anstatt operationalisierte Arbeitsaufträge zu stellen, übersah Rüsing ritualisiert epigonale Wortmeldungen. Michael Paldrammes neigte das Haupt ein wenig und blickte unglücklich auf den Tisch, er rang mit sich, denn er musste noch allerletzte Zweifel an seiner, selbstverständlich richtigen Antwort ausräumen. So kam dann meist John F. zu Wort: »Das ist dem Kasus nach ein Genitiv Singular, der Funktion nach ein Prädikatsnomen.« Oder: »Den Infinitiv Futur Passiv bildet man folgendermaßen … « Und Paldrammes nickte Zustimmung.

Der Lateinlehrer gab so an die 300 Vokabeln zum Repetieren am Wochenende vor dem nächsten Test auf und dann kamen davon höchstens 2 auch vor.

Andreas sah Rüsings markante Züge noch vor sich. Peng, 4! »Hat er wieder Thomas Mann gelesen, anstatt die Lateinvokabeln zu lernen! Aber das ficht ja den Cruse überhaupt nicht an! Was nützt ihm später der ganze Thomas Mann, wenn er nicht richtig Latein kann?« Waren das noch Zeiten … Freiwillig Thomas Mann lesen.

In der Sexta hatten sie Karl von Sommerfeldt als class teacher gehabt. Damals hatten alle Lehrkräfte die Beachtung des neuen Prügelerlasses unterschreiben müssen. Er verbot ausdrücklich, Schüler zu schlagen. Cunning Charly hatte nun herausgefunden, dass der besagte Erlass rein gar nichts über das An-den-Haaren-Ziehen und Ausreißen enthielt. Dann war das wohl erlaubt. Und auf der Grundlage dieser Gesetzesauslegung gestaltete er seinen Unterricht in den Anfangsklassen. Und das wussten die Kollegen und Kolleginnen nicht? Der Schulleiter? Der ätherische Hartmann, der lieber Mathematikschulbücher verfasste und eher wie der Geist eines Schulleiters wirkte oder eben nicht wirkte? All diejenigen, die etwas mehr Verantwortung trugen? Das fragte Andreas sich natürlich erst viel später, als er selber Lehrer war. Als Sextaner hatten sie einfach nur Angst, was zu sagen.

Mathehefte natürlich in rotem Umschlag. Kopetzki war allgemein gefürchtet. »Falsch, eben kein rechter Winkel, wer die Koordinaten sauber eingezeichnet hat, hat das gemerkt. Genau 89 Grad!« Und die ganze Konstruktion war falsch. Und Matheunterricht musste selbstverständlich ein pausenloser Intelligenztest sein.

Sprüche für die Ewigkeit. »Sibirische Toilette?« »Zwei Stöcke und ein Eckchen Papier.« »Einer zum Draufsitzen und der andere gegen die Wölfe.«? »Das Papierchen ist für die Fingernägel.«

»Malt einer eine Kugelstoßkugel wie einen kleinen Fußball an und legt ihn auf den Rasen vor dem Haus. Kommen die Nachbarskinder. – So kann man schon mit kleinen Sachen, Kindern eine Freude machen.«

Assessor Wüllner war für einige Wochen Vertretungslehrer in Mathe. Ein sehr hellhäutiger (zumindest dort, wo man Haut sah, um mathematisch korrekt zu sein), sehr blonder junger Mann im hellen Anzug, mindestens –7 Dioptrien, tat, was ein Mann eben tun muss und unterrichtete in der Quarta algebraische Strukturen und Gruppentheorie. Doch, an Restklassen, das gab es einmal!

Genervt von der Begriffsstutzigkeit der erdrückenden Mehrheit, begann er nach kurzer Zeit zu schreien: »Ruhe jetzt aber mal, keinen Zwergenaufstand, macht bloß keinen Zwergenaufstand hier!« Dabei unterstützte er seine Abwehr von Revolten Kleinwüchsiger, indem er heftig mit seinem Schlüsselbund auf das Lehrerpult oder auch gegen die Wandtafel schlug. Solange, bis er eines Tages – Klack – ein Stück aus der Tafel herausgeschlagen hatte.

An was für Belanglosigkeiten man sich so erinnert – Wüllner hatte erklärt: »Die Multiplikationsoperation ist kommutativ bezüglich der Multiplikation gewöhnlicher Zahlen.«

Wie gewohnt schlagfertig, hatte der gewitzte John F. Neumann gerufen: »Und nicht etwa bei ungewöhnlichen Zahlen.«

»Ja genau, was sonst?« hatte Wüllner nur gemeint und vermutlich an Matrizen oder Quaternionen gedacht.

Neumann wurde übrigens, was denen, die ihn kannten, sofort einleuchtete, Philosophieprofessor.

Und Wüllner wurde herausgetan und wieder in sein vertrautes Habitat an der mathematischen Fakultät eingesetzt.

Pöhlmann, Englisch und Irgendwas, pedantisch, kalt, unnahbar, die Mundwinkel in leichter Verachtung heruntergezogen, erschien er stets in einem anthrazitgrauen, zu weiten Anzug, krawattiert, mit schlechter, leicht vornüber gebeugter Haltung. Und doch, eines Tages, kurz vor den großen Ferien, las er hem sümst Tucholskys Laternenanzünder vor. Dies war die unscheinbare, kleine Quelle von Cruses dauerhafter Liebe zu Tucholsky.

Maiermitai, Englisch und Irgendwasanderes, im Sammelsuriumsenglischgrundkurs 11, nahm jedes Lebenszeichen aus dem Kurs dankbar entgegen.

Religion hatten sie bis einschließlich Untersekunda gehabt, ein Fach Ethik als Ausweichmöglichkeit gab es noch nicht. Mit Pfarrer Rademacher, strotzend vor konfessioneller Glaubensgewissheit, hatte sich Cruses erwachender Widerspruchsgeist so richtig angelegt. »Ich bitte Sie, der mit den 450 Baalspfaffen, für den Toleranz gar keinen Raum mehr haben kann, weil andere Religionen als seine eigene bloßer Aber-, Irr- und Unglaube sind? Und das ist der große evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts? So einer?«

Herr Rademacher möge doch bitte, hatte Cruse verlangt, darauf hinweisen, dass in seiner Religion die Wörter Barmherzigkeit, Verantwortung, Vertrauen und vor allem Liebe nichts, aber auch gar nichts von der Bedeutung hätten, die diese Begriffe in der normalen Sprache hätten. Die Sprache des ganz Anderen halt! Der sein ganz eigenes Sprachspiel mit uns treibt. War nicht schlimm, für’s Abi war Reli irrelevant.

Dann natürlich Suttrup, Mathe und Physik mit seinem nikotingelben Kinnbart und dem Kugelbauch, der ihn zwang, sich ständig die Beinkleider hochzuziehen. Anders als Kopetzki machte er aus seinem Unterricht keinen Dauerintelligenztest, sondern tat alles, um seinen Schülern in der Oberstufe Mathe und Physik und wenn’s irgendwie ging, Mathematik mit Physikanwendungen, aber jenseits bloßer Rumrechnerei, beizubringen. Andreas war sehr gut mit ihm gefahren.

Sicher, der Schüler hat nicht nur ein Fach, sondern er hat ein Fach bei einem bestimmten Lehrer. Der doofe Potthoff hatte ihm die Biologie vermiest. Der hatte doch selber nicht verstanden, warum auch bei mehrfachem crossing over die Rekombination nicht mehr als

50 % betragen konnte. Allein schon deshalb, weil nämlich die äußeren Chromatiden eines Bivalents in der Prophase I der Meiose nicht am Crossingoverprozess teilnehmen. Das wäre sofort einleuchtend gewesen. Und die Wahrscheinlichkeit für ein Chisma zwischen zwei Genloci die 100% nicht übersteigen kann.

Lorentz hatte Andreas viel später dann erklärt, nur wer richtig Ärger mit seinem Kurs haben wolle, lasse heutzutage noch Klausuren über klassische Genkartierung schreiben. Selbst der Dings habe damit aufgehört.

Aber Suttrup in Mathe und Physik hatte das mehr als ausgeglichen. Er ließ schon mal einen strengen Beweis sausen und argumentierte mit Anschaulichkeit und Plausibilität. »Wir hier wollen mit der Mathematik Probleme lösen und nicht, Probleme suchen. Die Mathematik, in der die einzigen Zahlen die Seitenzahlen im Buch sind, findet der, der sie sucht, dann auf der Uni«, hatte er mal gesagt.

Suttrup meinte, selbst Einstein habe nach eigenem Bekunden die Infinitesimalrechnung aus einem Buch ohne allzu große mathematische Strenge gelernt und aus dem sei ja auch was Ordentliches geworden.

Er liebe die offene Landschaft unter einem heiteren Himmel mit tiefer Perspektive. Anders als der harte Mathemann im Hause, der seine Schüler in grell erleuchtete Zellen einschließe, wo jede Kleinigkeit mit schwindelnder Helligkeit hervorsteche.

Das war natürlich eine Spitze gegen den Chef, dessen kleine Unrichtigkeiten in seinen Lehrschriften Suttrup genüsslich im eigenen Matheunterricht diskutierte.

Conradi konnte auch Orgelspielen und versuchte, seine Schüler nicht selten nach dem Läuten am Klavier mit Organistengarn, wie er es nannte, beschleunigt aus dem Saale zu bekommen.

Telgmann, Andreas’ alter Klavierlehrer, hatte dem schließlich freundlich geraten, sich doch voll auf das kommende Abitur und seine naturwissenschaftlichen Stärken zu konzentrieren. Stärken war doch nett gesagt. Es müsse und könne auch nicht ein jeder Pianist werden.

Conradi ließ immer mal jemanden im Musikunterricht vorspielen und fragte denn auch Andreas, woran der denn gerade übe. Andreas druckste herum und gestand schließlich, dass der alte Telgmann ihn freundlich entlassen habe.

Und nun spiele er nicht mehr?

Na ja, was soll’s, dachte Andreas. Er wisse schon, dass eigentlich viel zu schwer, also kurzum: Schnell und spielend. »Das ist der Inbegriff romantischer Klaviermusik und gehört zur Essenz des Menschseins.« Das hatte auf der Plattenhülle gestanden.

Und daran doktere er nun schon ein paar Monate immer mal wieder herum. Das Stück sei doch sehr schwierig. Das Notenbild und das, was er von Kempff auf Schallplatte höre, passe nach Mit aller Kraft nicht zusammen.

Und der Conradi setzt sich an den verschrammten, scheppernden Schulflügel mit der fleckigen, speckigen Segeltuchdecke drüber und legt los!

»Da wär ich doch fast aus der Kurve geflogen, müsste ich ein bisschen üben. Aber eigentlich ist dieses Kreislerianum nur rhythmisch ein wenig diffizil.«

Cruse war sprachlos. Und nahm sich etwas fest vor. »Das will ich auch können. Das ist machbar, das schaffe ich.«

Viele, viele Jahre später recherchierte Andreas dann. Wenn die Arbeit getan war, entspannte er sich gelegentlich am Rechner und gab den einen oder anderen Namen aus seiner Vergangenheit zur Internetsuche ein. Dr. Giselher Conradi. Ja, da hatte ein Stapel verstaubter, verblichener Dissertationen unbeachtet hinten im Schrank gelegen, begraben unter Notenständern: Das romantische Klavierlied. Die Stanford Library hat ein Exemplar?! Die Dissertation von Conradi war unter der älteren Literatur zum Thema immer noch die Referenzarbeit? Ein richtiger Musikwissenschaftler also. War der Conradi unglücklich gewesen? Jahrein, jahraus Freischütz und Matthäus- oder Johannespassion? Ein Lehrerschicksal eben.

Mittelstufenphysik bei Dr. Erich Wulfflitz. Im Kriege war er Ingenieur beim RLM gewesen und mit passiver Luftabwehr befasst. Der Lehrerberuf war nicht seine allererste Wahl gewesen.

Legendär. Von gedrungener Gestalt, glatzköpfig, kurzsichtig wie der Wüllner. Kurzatmig, keuchende Sprechweise. Immer im weißen Laborkittel. Unter modernen, heutigen Menschen käme ihm äußerlich Minister Altmeyer nahe. Unsinnige Beschuldigungen. Man habe eines der Gummifüßchen von einem der Beine seines Laborhockers gestohlen. Klassenbucheinträge: Lütkemeyer hat kein sauberes Taschentuch dabei. Heiliger Rechenschieber, duftend, weil leichtgängig zu machen durch Babypuder, wehe, wer den nicht dabei hatte. Musste nachsitzen. Und Mattscheiben schmirgeln. Die Scheiben wurden dann im Optikunterricht verwendet.

Testfragen: Wie sieht der Mond von hinten aus? Was ist der Unterschied zwischen Katakaustik und Katarakt?

Ein optisches Experiment, die qualmende Bogenlampe mit dem monströsen fahrbaren Gleichrichter, die stinkende, schwarze Verdunkelung, lautloses Scheißbauen im Schutze der Dunkelheit. Wulfflitz besorgte das Ausmessen des an die Kästchentafel projizierten Schattenbildes, dann ein kurzer Wortwechsel mit den Physikcracks. »Also schreibt auf.« Alles wurde diktiert. »Die Stange biegt sich parabelförmig, wenn der Wellensittich darauf sitzt.« »Herr, Wulfflitz, und wenn’s ein Geier ist?« »Schreibt auf: Der Parabel ist die Vogelart vollkommen gleichgültig.«

Und zu gegebener Jahreszeit: »Schreibt auf: Mein liebster Weihnachtswunsch. Wilhelm von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes.«

Zu Wohlstand mit Latein, der modus operandi nach Dr. Wulfflitz: Man begibt sich in einen Bestand von Silberpappeln. Und ruft laut: Silentium! Dann spricht man Silentium und zuletzt flüstert man Silentium. Dann hören die Silberpappeln auf zu pappeln, und zurück bleibt lauteres Silber.

Das erste Wunderwesen, das in der Zehnten neu in unsere damals noch reine Jungenklasse kam, besah er völlig verblüfft, lange, ungläubig. Kam zu einer Hypothese und fragte: »Sind Sie vielleicht ein Mädchen?«

In Chemie trieb er viele seiner Schüler mit stöchiometrischen Gleichungen in die Verzweiflung. Eines Tages ging Herrn Cruse ein Licht auf. Der Doktoringenieur hatte die Reaktionsgleichungen als diophantische Gleichungen aufgefasst und gelöst.

Kein übler Kerl. In der Oberstufe eines Tages: »Wer hat schon den Führerschein?« Eine Meldung, unsicher, was will er denn nun wieder? »Du kennst ja meinen Käfer. Hier, fang.« Und die Autoschlüssel flogen durch den Raum.

Erst nachdem er selber schon einige Jahre Physik- und Chemielehrer – letztere unterrichtete Wulfflitz nur bis zur Untersekunda – gewesen war, wurde ihm bewusst, was Wulfflitz geleistet hatte. Er war der einzige, der, auf eigene Kosten und im Privatwagen versteht sich, flüssigen Sauerstoff holte. Eingetaucht wurden Rosenblühten am Stiel und Wiener Würstchen, die zersprangen wie aus Glas, dicke Zigarren, die rasend schnell abbrannten.

Man musste nicht mit der ganzen pubertierenden, johlenden Bande in die lange Seitenstraße ziehen, um zu zeigen, dass man die Starterklappe zuerst zuklappen sieht und erst danach den Knall hört. Für das Thermitexperiment zur Sprunggrube auf dem Sportfeld laufen.

Schüler zeigen nur sehr selten und sehr schwach Resonanz auf fachlich guten oder schlechten Unterricht. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Wen Andreas aus seiner alten Klasse auch auf Wulfflitz ansprach, stets kam nur: Mond von hinten? Dunkel! Sauberes Taschentuch und Thalheim wirft im Physikunterricht mit Stühlen um sich.

Schade, wenn man richtig Lust verspürt und Neugier, sich mit jemandem von früher über gemeinsame Fachgebiete oder Erfahrungen allgemein zu unterhalten, ist dieser jemand meist schon sehr lange tot.

Die Oberstufenverantwortlichen am Willi Glucktbald Gymnasium fanden es der Mühe nicht wert, durch Kooperation mit dem 5 Gehminuten entfernten Gymnasium Alexandrinum einen Chemieleistungskurs auf die Beine zu stellen. Aber Kurt Matthaei und Wolfgang Behrsing versorgten mit ihren ausgeklügelten Kosmos Chemiebaukastenkursen Andreas mit allem, was für die Anfangssemester Chemie nötig war.

In der zehnten Klasse hatten drei, vier Schläger, die sich von einer anderen Schulform ans Gymnasium verirrt hatten, den Klassenfrieden gestört. Das war dann aber glücklicherweise auch schnell wieder vorbei gewesen. Rüsing war mal richtig laut geworden, weil sie das Bellum-Gallicum-Buch an der Wand gelyncht hatten. Und ja, der Wüllner, sehr rot, als der, kurzsichtig wie er war, erst nach heftigem Hinsehen herausgefunden hatte, was es auf dem Poster bei dem Pinupgirl auf dem Go-Cart bei genauerer Betrachtung alles zu entdecken gab.

Cruse schien, dass es seine Lehrer nicht allzu schwer gehabt hatten. Nun, selber Lehrer werden? Ein bildungsbesessener Naturwissenschaftler?

Also lag er die Nacht, mit feiner Wolle bedecket,

Und umdachte die Reise, die ihm der Gräwe geraten.

Hochschullehrer, exemplarisch

Schließlich zog Herr Cruse für’s Zweitstudium wieder auf die Uni. Um ein bisschen Physik nachzuziehen.

Andreas Cruse ärgerte sich über den Physiknobelpreisträger, der gerade im Fernsehen interviewt wurde. Zuerst kam das übliche Blablabla über die Wichtigkeit der Naturwissenschaft, die Begeisterung, die man bei den jungen Menschen gerade in unserem Lande wecken müsse. »Um dann arbeitslos zu werden, oder was?«

Ungerührt fuhr der Preisgekrönte fort, er sei leider gar nicht so sicher, dass die Schullehrer in Deutschland das notwendige Engagement aufbrächten.

»Aber die Professoren, die letzten Könige in Deutschland, was!« Cruse schrie das Fernsehbild an.

Erinnern wir uns doch einmal.

Den allgemeinen Grundstudiumsstoff, mit dem sie sich seit ihrer Kindheit, also als Studenten, nicht mehr ernsthaft befasst hatten, lasen die meisten Professoren tatsächlich einfach aus einem Buch vor. Bevorzugt aus einem, das sie selber oder auch die Frau Gemahlin übersetzt hatten. Es hieß ja auch Vorlesung.

Andreas bestellte sich die originalen und auch preiswerteren englischen Versionen. Die gleichen wissenschaftlichen Sachverhalte werden im Englischen einfach kürzer und klarer formuliert, eigenartig, aber wahr. Allerdings konnten es die deutschen Übersetzer oft nicht lassen, selber noch ein Kapitelchen hinzuzufügen. Deshalb musste man sich dann diese Zusätze kopieren.

Und im Hauptstudium?

Meier in Atom- und Molekülphysik. Der las seinen Stoff von einem antiken, handschriftlichen Skript ab. Statt das Material von Zeit zu Zeit zu überarbeiten und ein neues Skript zu erstellen, hatte er ein vielfarbiges, sogar das Papier war teilweise, bei den ältesten Stellen der Überlieferung, schon vergilbt, immer wieder ergänztes und geändertes Dokument erstellt, das an zahlreichen Stellen aufgeklebte, wobei der Kleber an einigen Stellen Schwächen zeigte, verschiedenfarbige Zettelchen zum Auf- und Zuklappen enthielt und wegen der historisch gewachsenen Anordnung der Zettelchen und der Komplexität des Ganzen geriet Meier immer öfter bei der Navigation in seinem Zauberbuch ins Abseits.

Hintzmann, der große Berater des Bundesforschungsministeriums. Statt eine zusammenhängende Vorlesung zu halten, teilte er eigentlich nur Kapitelüberschriften mit und die passenden Kopien dazu aus, letztere jedoch in überreichem Maße. Lehre mussten dann seine Assis in den Übungsgruppen machen.

Möller, der immer mit wissenschaftlichen Modewörtern und intermittierenden kleinen Würgegeräuschen um sich warf, ob die post- öh, öh, postmagmatischen Fluida – einige Hörer hatte postmathematische Fluida verstanden und auch so notiert und waren von verständnisloser Ehrfurcht ergriffen – nun zum Vorlesungsstoff passten oder nicht und so tat, als ob der wissenschaftliche Weltgeist just ihn, den Prof. Möller, gerade jetzt, öh, äh, ergriff. Inhaltlich Standardlehrbuchstoff, aber beim mächtigen Möller war Gesichtspflege enorm wichtig.

Im Wissenschaftsbetrieb hatte der allerdings durchaus den Bogen heraus. Möller war kein besonders begabter Wissenschaftler, hinter seinem Getue steckte jedoch immerhin ein wirklich gutes Gespür für aussichtsreiche Forschungsrichtungen. Und gute Doktoranden! Und er verstand es ausgezeichnet, einmal erarbeitete Resultate bei verschiedenen Journalen durch leicht veränderte Schwerpunktsetzung mehrfach unterzubringen.

Die Theoretiker allerdings waren schon ziemlich genial. Respekt. Sonnleitner, der alte Wiener Charmeur, dozierte und schrieb und rechnete ohne je ins Skript zu schauen die ganze theoretische Mechanik herunter. Toll.