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Eine Jugend im Zweiten Weltkrieg: Hermann Kronemeyer, Jahrgang 1927, wächst an der deutsch-niederländischen Grenze in unmittelbarer Nähe zum Emslandlager Bathorn auf. Lange herrschte in der Grenzregion ein freundschaftlich-nachbarschaftliches Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern, doch schon bald prägen die Anwesenheit der Kriegsgefangenen, der Überfall auf die Niederlande und der tägliche Luftkrieg das Leben der Menschen. Auch Kronemeyer wird als Siebzehnjähriger eingezogen und als Soldat an die Westfront verlegt, wo er den Nachbarn unversehens als Besatzer gegenübersteht und schließlich mit seinen gleichaltrigen Kameraden gegen eine weit überlegene kanadische Armee kämpft. Authentisch und eindrucksvoll schildert er seine Erinnerungen aus einer Zeit, in der oft nur das eigene Überleben zählte: wie er unter Eigenbeschuss geriet, Tieffliegerangriffe erlebte und die erbarmungslose Feindseligkeit gegenüber den Deutschen zu spüren bekam. Ebenso berichtet er aber auch von Menschlichkeit und Zusammenhalt inmitten eines grausamen Krieges. Hermann Kronemeyer ist ein national wie international gefragter Zeitzeuge. Nun hat seine Urenkelin seine Erzählungen zu Papier gebracht.
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Seitenzahl: 260
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Celina Keute
Schüsse in der Stille
ÜBER DIE AUTORIN
Celina Keute, geboren 1996 in Hamburg, wuchs in Henstedt-Ulzburg im Süden Schleswig-Holsteins auf und studierte Linguistik an der Universität Hamburg. Nebenbei absolvierte sie ein Fernstudium an einer Autorenschule. Für ihr erstes Buch »Schüsse in der Stille: Hermann Kronemeyers Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg« setzte sie sich intensiv mit Ahnenforschung und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auseinander.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Auflage
© 2022 Celina Keute
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Softcover: 978-3-347-56711-5
ISBN Hardcover: 978-3-347-56712-2
ISBN E-Book: 978-3-347-56713-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Lektorat: Christiane Saathoff, www.lektorat-saathoff.de
Korrektorat: Silke Leibner, www.silbenschliff.de
© Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Satz: Laura Newman
Karte: Thomas Bachrach
Autorenfoto: ad Photographie Kaltenkirchen
Offizielle Website zum Buch: www.schuesseinderstille.de/
E-Mail: [email protected]
Für Uropa
»Im Grunde sind alle Menschen gleich,
denn wir alle teilen dieselben Bedürfnisse.
Doch manchmal werden uns andere
als Feinde gegenübergestellt.«
Kurt Braune, mein Urgroßvater mütterlicherseits,
1942 als Soldat an der Ostfront
INHALT
Vorwort
Wie alles begann
Der Krieg in der Grafschaft
Militärische Ausbildung
An der Front
In Kriegsgefangenschaft
Unter britischer Besatzung
Erinnerung
Nachwort
Eine kleine Bitte
Danksagung
Bildteil
Glossar
Zeittafel
Anmerkungen
Quellenangaben
Bildnachweis
VORWORT
Liebe Leserinnen und Leser,
die meisten von uns mussten die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs nicht mehr miterleben und kennen sie nur aus dem Schulunterricht, aus Büchern, Filmen und Erzählungen. Viele Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben, haben ihre Erlebnisse jedoch nie weitergegeben, dabei lässt sich ein möglichst umfassender Überblick über diesen Zeitraum nur erreichen, wenn auch die persönlichen Erinnerungen festgehalten und für die Zukunft bewahrt werden.
Deshalb fragte ich vor einigen Jahren meinen Urgroßvater, der während des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen war, nach seinen Erlebnissen. Er gab mir bereitwillig Auskunft, und nachdem ich zahlreiche Interviews mit ihm geführt und viele spannende, schockierende und berührende Geschichten gehört hatte, entschloss ich mich, ein Buch darüber zu schreiben. In dieser Zeit zeichnete ich insgesamt um die fünfzig Stunden Tonmaterial auf, das ich anschließend transkribierte und zu einem zusammenhängenden Text verarbeitete.
Mein Urgroßvater und ich verbrachten viele gemeinsame Stunden mit Gesprächen, sahen uns alte Fotoalben an und fuhren ins Moor, wo er mir die Absturzstelle eines britischen Lancaster-Bombers zeigte. Er war immer bestrebt, mir das Thema »Krieg« anschaulich nahezubringen, und nahm sich die Zeit, alle meine Fragen zu beantworten. Sein Motto dabei war: »Ich erzähle dir alles, was du wissen möchtest.«
Ich bin sehr dankbar für diese einmalige Chance und noch immer beeindruckt, wie lebendig und detailgetreu er mit seinen über neunzig Jahren seine Erlebnisse fließend und zusammenhängend schildern konnte.
Da seine Erinnerungen bereits lange zurücklagen, ließen sich bestimmte Ereignisse, insbesondere die Fronterfahrungen, nicht immer zuverlässig und mit exakter Genauigkeit in die richtige Reihenfolge bringen (»Hat der Jagdbomber angegriffen, nachdem ihr über den Fluss fliehen musstet oder war das noch vorher?«). Darüber hinaus sind menschliche Erinnerungen fehleranfällig. Ich habe daher versucht, die Informationen und die zeitliche Abfolge der Geschehnisse bestmöglich zu rekonstruieren und auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Bei der Recherche halfen mir besonders Chroniken und Sachliteratur, Frontverlaufskarten sowie der Kontakt zu Historikern und Experten.
Das Buch ist aus der Sicht meines Urgroßvaters verfasst. In dem Zusammenhang möchte ich deshalb anmerken, dass mitunter Gedanken und Ansichten aus damaliger Zeit beschrieben werden, die nicht meine persönliche Meinung widerspiegeln. Manche Szenen hätten durch zusätzliche Beschreibungen weiter ausgestaltet werden können, mir war es jedoch wichtig, nichts hinzuzuerfinden und nur das wiederzugeben, was mir mein Urgroßvater tatsächlich erzählt hat. So müssen Details zu Orten und Situationen, an die er sich nicht mehr erinnern kann, unerwähnt bleiben.
Ich hoffe, mit diesem Buch einen Beitrag dafür leisten zu können, dass diese Zeit besser verstanden und niemals vergessen wird. Im Anhang des Buches befinden sich Bilder, eine Zeittafel und ein Glossar; darüber hinaus stelle ich auf der offiziellen Website zum Buch unter www.schuesseinderstille.de weitere Hintergrund- und Rechercheinformationen, Fotos und Audioaufnahmen zur Verfügung. Bei Fragen, Hinweisen oder Feedback können Sie mir gerne eine E-Mail an [email protected] schreiben. Ich freue mich, von Ihnen zu hören, und wünsche Ihnen nun eine interessante Lektüre.
Ihre Celina Keute
Henstedt-Ulzburg, im Januar 2022
WIE ALLES BEGANN
Es war dunkel. Mit den Gewehren im Anschlag lagen wir in einem Straßengraben in Deckung und blickten durch die tiefe Nacht hinüber zur anderen Seite. Ich konnte nichts erkennen, doch wir alle wussten, dass sich dort drüben feindliche Soldaten angeschlichen hatten. Wir sollten hier die Stellung halten.
»Nicht schießen, nicht schießen«, gab unser Vorgesetzter flüsternd durch. »Kommen lassen.«
Langsam näherten sie sich, die Umrisse ihrer Gestalten hoben sich kaum vom verschwommenen Hintergrund ab. Dann der Befehl: »Feuer!«
Mit rasendem Herzen schreckte ich auf. Es war nur ein Traum. Ich atmete tief durch und warf einen Blick aus dem Fenster. Fahles Mondlicht schimmerte durch die Baumkronen, alles war ruhig. In meinem Kopf hörte ich das tiefe Brummen überfliegender Bomber und die knatternden Schüsse aus den Bordkanonen der Jagdflugzeuge, doch die Geräusche blieben aus.
Der Krieg ist vorbei, sagte ich leise zu mir. Der Krieg ist vorbei.
~
Es war ein Frühlingstag im April 1927, als ich in Bathorn, einem Ortsteil von Hoogstede, in der Grafschaft Bentheim geboren wurde. In der alten Moorkolonie Bathorn, abgelegen vom Hoogsteder Ortskern und nur wenige Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt, lebten wir umgeben von Feldern und einem großen Hochmoorgebiet. Ich war das siebte von insgesamt elf Kindern. Mein Vater Harm Hindrik und meine Mutter Hille, beide gebürtige und fest in der Region verwurzelte Grafschafter, arbeiteten als Brückenwärter am Coevorden-Piccardie-Kanal, weshalb wir im Brückenwärterhaus genau an der Stelle wohnten, wo sich der Kanal und der Bathorner Diek kreuzten. Der Bathorner Diek war ein kilometerlanger, leicht höhergelegener Weg, der von Hoogstede aus über eine Kanalbrücke an unserem Haus vorbei in das Moor hineinführte. Täglich lief ich zusammen mit meinem eineinhalb Jahre älteren Bruder Heinrich und den Nachbarskindern über den Diek zur Volksschule nach Hoogstede. Den drei Kilometer langen Schulweg legten wir bei jedem Wetter in Holzschuhen zurück, die bei uns »Kloumpen« hießen.
Der eisige Ostwind, der im Winter bei minus zwanzig Grad über die Felder fegte, ließ uns die Wangen und Ohren gefrieren, weil uns die wenigen Bäume und Büsche in der kargen Landschaft kaum Schutz boten. Bevor wir morgens aufbrachen, holte meine Mutter etwas durchgebrannten Torf aus dem Herd, der in der Wohnküche stand, und legte ihn für ein paar Minuten in die Schuhe, um das Holz aufzuwärmen, damit unsere Füße unterwegs warm blieben. So schlüpften wir in die angewärmten Schuhe und machten uns auf den Weg. Obwohl wir manchmal durch hohe Schneeverwehungen stapften, konnten wir den Weg bei Frost besser passieren als an regnerischen Herbsttagen, denn dann war der Boden so matschig und schlammig, dass wir wegen der vielen Wasserpfützen oft nasse Füße bekamen und uns seitlich des Dieks einen besseren Weg suchten.
Im Frühling wurde der Schulweg angenehmer. Lerchen stiegen in ihrem Singflug zum Himmel auf, Kiebitze spielten in den Wiesen und zahlreiche weitere Vogelarten flogen zwitschernd durch die Luft. Wenn die Sonne an heißen Sommertagen auf den staubigen Diek herabstrahlte und wir Durst bekamen, gingen wir in die Häuser der Anwohner zur Wasserpumpe und tranken aus einer Schöpfkelle das Wasser, das direkt aus dem Grundwasser entnommen wurde und wegen der unterschiedlichen Bodenschichten in jedem Haus anders schmeckte.
In Hoogstede besuchten wir die evangelische Volksschule, da es getrennte Schulen für evangelische und katholische Schüler gab. Die Unterrichtssprache war Hochdeutsch, sodass ich hier die ersten Wörter dieser Sprache lernte. In der Familie, unter Freunden und auf dem Schulhof sprachen wir nur Plattdeutsch miteinander und es gab viele ältere Menschen in der Region, die das Hochdeutsche überhaupt nicht beherrschten.
Meine Einschulung fiel in das Jahr 1933 – ein Jahr, mit dem eine Zeit der Veränderung begann, eine Zeit, die die Welt nachhaltig prägen würde, denn nach dem Aufstieg der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Paul von Hindenburg wandelte sich Deutschland zu einer Diktatur. An die entscheidende Reichstagswahl erinnere ich mich deutlich. Im Vorfeld war viel Wahlkampf betrieben worden und die Leute sprachen oft über Politik. Am Tag der Wahl war ich zusammen mit meiner Mutter draußen auf dem Hof, als eine Nachbarin mit ihrem Mann, der Mitglied in der NSDAP war, von der Stimmabgabe zurückkehrte und mit dem Fahrrad an unserem Haus vorbeifuhr. Die Frau erkannte meine Mutter und rief: »Hille, du musst auch noch wählen gehen!«
Meine Mutter blickte auf. Sie wollte nicht zur Wahl, denn genau wie mein Vater stand sie der Partei äußerst kritisch gegenüber.
Auch wenn ich erst knapp sechs Jahre alt war und noch nichts von Politik verstand, spürte ich an der Ausstrahlung der Menschen und an der Art, wie sie miteinander sprachen, dass etwas Bedeutsames geschah. Ich merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, konnte es jedoch nicht richtig einordnen.
Bis dahin hatte ich eine ruhige Kindheit verbracht, doch nun begann eine Zeit, in der sich allmählich die Kriegsgefahr abzeichnete. Das Einzige, was ich bis dahin von der Welt kannte, war die Umgebung um unser Haus. Mit meinen Freunden spielte ich Schlagball, baute Wassermühlen aus Stöcken und dünnen Brettern, fing Frösche und schwamm im klaren Kanalwasser.
Als Brückenwärter waren meine Eltern für zwei Brücken zuständig, die sie pflegen und bedienen mussten. Neben Torfkähnen fuhren auch Schiffe auf dem Kanal, die Kartoffeln zur Kartoffelmehlfabrik brachten oder Kunstdünger aus dem Ruhrgebiet anlieferten. Wenn ein Schiffer ins Horn stieß, eine Glocke betätigte oder mit lauter Stimme rief, lief jemand von uns zur Drehbrücke, öffnete sie und begleitete das Schiff zur nächsten Brücke, um es auch dort durchzulassen. Die Schiffsleute zahlten uns dreizehn Pfennig pro Brücke. Wenn sie Kartoffeln geladen hatten, steckten sie das Geld in eine Kartoffel und warfen die Knolle an die Uferböschung, doch meistens wickelten sie das Geld in ein Knäuel aus Zeitungspapier und warfen es auf die Brücke. Im Sommer kam es vor, dass sich die Holzbalken durch die Wärme verzogen hatten und das Geld durch den Spalt ins Wasser fiel, sodass sie erneut zahlen mussten.
Abends nach Sonnenuntergang durften wir die Brücke nicht mehr öffnen, weil die Schiffe sie im Dunkeln beim Manövrieren beschädigen konnten. So kam es, dass manche Schiffer bei Anbruch der Dunkelheit vor der Brücke am Ufer anlegten und dort bis zum Sonnenaufgang warteten. Einige von ihnen kannten wir schon. Sie kamen gewöhnlich vom Schiff herunter und besuchten uns, genau wie ein junger Niederländer, der öfter vorbeikam. Dieses Mal hatte er Weißtorf aus unserem Nachbardorf geholt und war wieder auf dem Heimweg, als er abends durch die Tür in unsere Wohnküche trat.
»Mijnheer de Vries, wie geht es?«, begrüßte mein Vater ihn.
»Mir geht es gut«, antwortete der Niederländer. »Und was gibt es bei euch Neues?«
»Hier ist alles beim Alten.«
Wir boten ihm Kaffee an und unterhielten uns auf Plattdeutsch, auf diese Weise konnten wir uns einwandfrei mit unseren niederländischen Nachbarn verständigen. Vieles hatten wir mit ihnen gemeinsam: einerseits die Sprache, die sich auf beiden Seiten der Grenze nur geringfügig voneinander unterschied, andererseits waren wir uns in kultureller Hinsicht ähnlich, da die Traditionen, Bräuche und alltäglichen Gewohnheiten größtenteils miteinander übereinstimmten. Auch wirtschaftlich bestanden enge Verbindungen zwischen der Grafschaft und den Niederlanden; viele Niederländer arbeiteten in den Nordhorner Textilfabriken oder kamen als Tagelöhner nach Deutschland, weil sie hier mehr verdienen konnten. Oft sprachen sich die Tagarbeiter mit ihren Auftraggebern ab und bekräftigten ihre Vereinbarung mit einem Handschlag, der auch im Viehhandel üblich war. Ein Handschlag galt damals genauso viel wie heute eine Unterschrift auf Papier.
Immer wieder passierten Schmuggler mit Kaffee, Tee, Tabak oder Speiseöl die Grenze, um diese Waren in Deutschland teurer zu verkaufen. Normalerweise mieden sie den offiziellen Grenzübergang, durchquerten stattdessen das seichte Flusswasser der Grenzaa und nutzten einen Schmugglerpfad durch das Moor. So versuchten sie, den Zöllnern zu entgehen, die meistens abends und nachts bei uns vor der Brücke standen oder sich in unserer Torfscheune versteckten, um den Weg zu beobachten. Einmal erlebte ich eine ungewöhnliche Schmuggelmethode, als ein unbekannter Niederländer mit seinem Fahrrad an unserem Haus vorbeifuhr und fragte: »Darf ich mal eben bei euch reinkommen?«
»Ja, sicher, das kannst du wohl«, antwortete mein Vater.
Der Mann stieg ab, schob sein Fahrrad neben sich her und begleitete uns auf unsere Diele, wo er Sattel und Lenker abmontierte und sein Fahrrad auseinandernahm. Ich staunte. In die hohlen Stangen und Rohre hatte er unzählige Zigaretten gesteckt und sie auf diese Weise über die Grenze geschmuggelt. Kein Zöllner war auf die Idee gekommen, sein Fahrrad genauer zu inspizieren.
Ohnehin waren die holländischen Fahrräder anders gebaut als unsere. Es sah so aus, als würde man steiler auf ihnen sitzen, daher konnten wir die Niederländer schon von Weitem ausmachen. Auch anhand ihrer bunten Kleidung konnten wir sie erkennen, weil die Deutschen sich im Vergleich zu ihnen eher konservativer und dunkler kleideten. Insgesamt nahmen wir uns gegenseitig als gute Nachbarn wahr, es herrschte ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern in der Grenzregion.
Neben der Arbeit als Brückenwärter verfügten meine Eltern als Nebenerwerb über eine kleine Landwirtschaft auf unserem Grundstück. Wir bauten Getreide, Kartoffeln und Gemüse an und besaßen einige Tiere. Die Arbeiten, die wir zu verrichten hatten, wie Korn dreschen, Kartoffelernte und Torfstechen, wurden durch die Jahreszeiten bestimmt. Dabei waren wir wetterabhängig und mussten uns der Natur fügen.
Hinter unserem Grundstück erstreckte sich das Moor, so weit das Auge reichte. Der Boden fühlte sich weich unter den Füßen an, wenn ich darauf lief. Unser Hund Terry lag tagsüber in der Wohnküche am Herd und wärmte sich, doch gegen Abend, wenn es dunkel wurde, trieb es ihn nach draußen. Dann streunte er in der Heide herum und jagte bellend Hasen hinterher, fing aber nie einen. Wenn das Wetter umschlug, flöteten die Regenpfeifer im Moor und manchmal, wenn ich morgens noch im Bett lag, hörte ich das Gurren der Birkhähne in der Balzzeit.
Wir alle waren auf das Moor angewiesen, denn wir benötigten den Torf, um den Herd zu betreiben und das Haus zu heizen, da es nur wenig Holz gab und wir keine Kohle zum Verbrennen besaßen. Daher zogen wir jeden Frühjahr ins Moor, stachen mit den Spaten tief durch den Torf und legten die einzelnen, nassen Torfstücke mit vielen Lücken und Hohlräumen übereinander, damit der Wind hindurchziehen konnte. Sobald die Sonne und der Wind den Torf vollständig getrocknet hatten, transportierten wir ihn mit einem Pferdewagen, den unser Wallach Kirre zog, nach Hause und lagerten ihn in der Torfscheune. Jeder Haushalt sorgte dafür, sich mit ausreichend Torf als Heizmaterial für das ganze Jahr zu bevorraten. Die Menschen in der Gegend führten ein ruhiges, aber hartes und arbeitsreiches Leben, das sie selbst jedoch nicht als solches bezeichneten.
Im Laufe der Jahre kamen immer mehr Fremde nach Bathorn – Arbeiter und Ingenieure aus ganz Deutschland und Österreich, deren Dialekte mir unverständlich waren. Fremd war für mich jeder, der kein Plattdeutsch sprach. Die Männer arbeiteten im Kulturbauamtsgebäude, das gegenüber von unserem Haus auf der anderen Straßenseite lag. Sie vermaßen das Land, um die Entwässerung der Moore und den Straßenbau zu organisieren, da bei uns vielfach nur miserable Wege vorhanden waren, auf denen es teilweise kein Durchkommen gab, wenn es stark regnete.
Um die damit verbundene Moorkultivierung zu verwirklichen, entstanden ab 1935 in der näheren Umgebung zahlreiche Lager für den Reichsarbeitsdienst. Unter dieser Bezeichnung wurden ab Juni desselben Jahres junge Männer verpflichtet, sechs Monate lang bei der Arbeit an Bauprojekten mitzuwirken. In unserer Gegend wurden Preußen-, Bayern-, Schwaben-, Sachsen- und Friesenlager errichtet; vier Bayernlager befanden sich entlang des Kanals, darunter »Bayern III«, das direkt neben unserem Grundstück lag.
Ich beobachtete oft, wie die bayerischen Arbeitsdienstmänner, die mit weißen Drillichanzügen bekleidet waren, morgens in Marschordnung antraten. »Ein Lied!«, rief dann jemand mit lauter Stimme, woraufhin ein anderer einen Titel nannte. Nun begannen alle zu singen und marschierten mit geschulterten Spaten zu ihren Arbeitsstellen. Sie verlegten Feldbahngleise, damit Loks und Loren ins Moor fahren konnten, bauten Wege und zogen Grüppen – Entwässerungsgräben –, durch die das Wasser abfließen konnte. Es war eine riesige Aufgabe, da sie all das ohne Bagger mit Hand und Spaten erledigten. Zudem mussten ihre Drillichanzüge nach der Moorarbeit bis zum nächsten Tag wieder weiß sein. Deshalb standen sie am Abend gewöhnlich auf der breiten Mauer des Dükers am Kanal und schrubbten ihre Kleidung mit Wasser und Seife. Die Bevölkerung begrüßte ihre Anwesenheit, weil der Ausbau der Infrastruktur eine große Erleichterung für die Anwohner darstellen würde.
Die Arbeitssoldaten, wie wir sie nannten, bekamen pro Tag 25 Pfennig und erhielten jeden Freitag ihren Sold. Als ein junger Bayer bei der ersten Auszahlung seine Münzen in die Hand bekam, fing er vor Freude an zu weinen, weil er noch nie eigenes Geld verdient hatte. Die Männer kamen ebenfalls aus armen Gegenden.
Einige der Bayern besuchten uns täglich nach Feierabend. Manchmal saßen wir zusammen in der Küche und aßen Bratkartoffeln, während sie uns fröhlich Gesellschaft leisteten und sich mit uns unterhielten, mit uns Kindern spaßten oder musizierten und sangen. Da sie kein Plattdeutsch verstanden, machten sie sich manchmal über unsere Sprache lustig. Sie erzählten, dass sie mit den schlimmsten Vorstellungen angereist seien und jeder zu Hause sie bedauert habe. »Da oben gibt es nichts als Einsamkeit, da leben noch Wilde. Hunderte Menschen versinken jährlich im Moor und sterben einen grausamen Tod«, hatte man sie gewarnt. Deshalb hatten sie von zu Hause Abschied genommen, als würden sie nie wieder zurückkehren, doch nun versicherten die Bayern uns, dass es viel besser sei, als sie es sich vorgestellt hatten. Sie blickten über die endlose Weite der platten Landschaft und staunten, als der Mond an der klar gezogenen Horizontlinie aufging. Beeindruckt erzählten sie, dass die Sonne und der Mond bei ihnen immer erst hinter einem Berg oder Hügel hervorkämen. Am Abend ertönte ein Horn zum Zapfenstreich, der das Ende des Tages und die Bettzeit der Arbeitsdienstmänner verkündete.
Im selben Jahr hatte im Saarland, das seit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 Mandatsgebiet des Völkerbunds war, eine Abstimmung stattgefunden, bei der die Bevölkerung darüber entscheiden konnte, ob sie zu Deutschland oder Frankreich gehören oder den Status quo beibehalten wollte. Die eindeutige Mehrheit hatte für Deutschland gestimmt, woraufhin das Saargebiet wieder dem Reich angegliedert worden war. Kurz darauf wurde die Wehrpflicht eingeführt und bald auf zwei Jahre verlängert. Darüber hinaus marschierten deutsche Truppen in das entmilitarisierte Rheinland ein.
»Oh, wenn das mal nicht auf einen Krieg hinausläuft«, hörte ich die Menschen immer häufiger sagen, da viele dieser Maßnahmen einen Bruch des Versailler Vertrags darstellten und es deutlich wurde, wie stark die deutsche Politik inzwischen auf das Militär ausgerichtet war.
»Was wollen sie denn damit erreichen?«, fragten einige. »Wenn das mal gutgeht und nicht zum Krieg führt.«
Alle hatten Angst vor dieser Gefahr, das spürte ich deutlich, denn der Erste Weltkrieg lag nicht weit zurück, er steckte tief im Bewusstsein der Menschen und für die Erwachsenen war diese Zeit noch sehr präsent.
Mein Vater war damals als Husar bei der Kavallerie gewesen. An der Ostfront hatte er in Lettland an der Düna gekämpft, hatte an der Schlacht um Riga und der Befreiung von Livland und Estland teilgenommen. Danach wurde er an die Westfront verlegt und bei Stellungskämpfen in Frankreich und im belgischen Flandern eingesetzt, wo er nur knapp dem Tod entkam. Das geschah bei Ypern. Mit seiner Einheit lag er in einem Unterstand und verbrachte die Nacht geschützt unter der Erde. Am frühen Morgen erwachte mein Vater und konnte nicht wieder einschlafen, die Luft war stickig und verbraucht. Er stand auf und begrüßte einen Kameraden, der ebenfalls wach war, dann traten sie gemeinsam hinaus ins Freie und liefen einige Schritte an der frischen Morgenluft. Plötzlich ertönte ein lautes Pfeifen. Eine Granate schlug in den Unterstand ein und tötete alle, die sich noch im Inneren befanden, es gab keine Überlebenden. Ein durch die Luft geschleuderter Granatsplitter zerschmetterte dabei den linken Ellenbogen meines Vaters. Schwer verwundet kam er ins Lazarett und erhielt ein künstliches Gelenk, weshalb er seitdem mit einem verkürzten Arm lebte. Darüber hinaus hatte sich mein Vater an der Front mit Malaria infiziert und litt immer wieder unter Fieberschüben.
Im Alltag sprachen meine Eltern nicht viel über den letzten Krieg. Wenn uns jedoch Verwandte oder Nachbarn besuchten, vor allem zu den jährlichen Neujahrsvisiten, unterhielten sich die Männer ausgiebig über diese Zeit, wobei es in erster Linie nicht um die Kampfhandlungen ging, sondern vielmehr um das Kriegsende und die schwere Zeit, die folgte. Der Versailler Vertrag sei eine große Last gewesen, betonten sie, weil in dessen Folge eine Inflation eingetreten sei, wodurch Armut geherrscht und die Bevölkerung Hunger gelitten habe.
Auch über die NSDAP diskutierten die Erwachsenen viel. Die Partei stellte ihr Programm in einem positiven Licht dar und versprach, dem Volk ein besseres Leben zu ermöglichen. Man solle ihr zehn Jahre Zeit geben und Deutschland wäre nicht mehr wiederzuerkennen.
Wie sehr sich das bewahrheiten würde.
Manche Menschen waren für die Partei, wussten jedoch nicht einmal genau, wofür die Nationalsozialisten überhaupt standen. Sie wussten nur, dass sie sich für das Wohl des Volkes einsetzen und die Wirtschaft aufbauen wollten, was genau dem entsprach, was sich alle wünschten. Es war eine ungewisse Zeit, in der niemand einschätzen konnte, was in der Zukunft geschehen würde. Die einen jubelten, die anderen zogen sich zurück.
Meine Eltern unterstützten diese Politik nicht, durften als Gegner des NS-Regimes aber keinerlei Kritik äußern und ihre Meinung nicht offen kundgeben. Jeder, der sich dem System entgegenstellte, hatte immense Nachteile zu befürchten, was vergleichsweise harmlos zum Beispiel damit begann, dass das Kindergeld nicht genehmigt wurde. Das war für unsere Familie allerdings wichtig, da meine Eltern für meinen ältesten Bruder Gerhard, der studierte und Lehrer werden wollte, gelegentlich einen Zuschuss erhielten, ohne den sie sein Studium nicht hätten bezahlen können. Da die ländliche Bevölkerung arm war und unser Geld gerade zum Leben reichte, passten wir auf, was wir sagten, um nicht aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen zu werden und zu riskieren, dass man uns verfolgte. Meine Familie, in der niemand von der Ideologie überzeugt oder Parteimitglied war, musste schweigen und das Geschehen dulden.
~
Nachdem wir uns an das Arbeitsdienstlager Bayern III westlich unseres Grundstücks gewöhnt hatten, begannen auf der anderen Seite unseres Hofes, fünfhundert Meter die Kanalstraße hinunter, bald Bauarbeiten für ein weiteres Lager. Niemand gab öffentlich bekannt, worum es sich dabei handelte, doch im Laufe der Zeit erfuhren wir von den Ingenieuren und Arbeitern, dass es ein Strafgefangenenlager der Justiz werden sollte und dass noch weitere Lager in der Region entstehen würden.
Dieses Lager, XIV Bathorn, gehörte zu den Emslandlagern, genau wie das Konzentrationslager I Börgermoor, in dem Häftlinge das bekannte Lied »Die Moorsoldaten« schrieben. Insgesamt gab es fünfzehn solcher Lager in der Grafschaft Bentheim und im Emsland, die zentral von Papenburg aus verwaltet wurden. Die Bevölkerung verfolgte den Bau des Lagers mit Erstaunen und fragte sich, wie viele solcher Lager noch geplant waren und wo sie entstehen sollten, aber niemand wusste Genaueres. Wir erfuhren lediglich, dass man sie im Rahmen der Projekte zur Moorkultivierung errichtete.
Einige Wochen später wurden die uns bekannten Arbeitsdienstlager, darunter Bayern III, unerwartet von einem Tag auf den anderen abgebaut. Die Männer zerlegten alle Baracken und bauten auch einige aus dem Lager Bathorn ab. Es handelte sich um Fertigkonstruktionen, die man leicht auseinandernehmen und an anderer Stelle wieder zusammensetzen konnte. Das gesamte Material wurde auf Schiffe verladen und an die deutsch-französische Grenze transportiert, um den »Westwall« zu errichten – eine gigantische, mit Bunkern und Panzersperren befestigte Verteidigungsanlage entlang der Westgrenze von den Niederlanden bis zur Schweiz. Er sollte dem Schutz vor einer französischen Invasion dienen, während Frankreich bereits seit Jahren eine eigene Befestigungslinie entlang seiner Ostgrenze zum Schutz vor einem deutschen Angriff besaß. So lagen sich bald zwei Verteidigungsanlagen gegenüber: die Maginot-Linie auf französischer und der Westwall auf deutscher Seite.
Die Arbeitsdienstmänner aus den aufgelösten Lagern wurden ebenfalls an den Westwall verlegt, um beim Aufbau der Anlage zu helfen. Als ich um die Mittagszeit aus der Schule kam, sah ich die Bayern auf den Brigadewagen der Feldbahn stehen, mit der sie nach Hoogstede zum Bahnhof und von dort aus mit dem Zug weiter Richtung Süden fuhren.
Kurz nachdem sie abgereist waren, wurde das Lager Bathorn im Juni 1938 fertiggestellt. Von unserem Haus aus konnten wir die länglichen Holzbaracken und hölzernen Wachtürme, die mit hohen Pfählen aufgebaut waren, gut erkennen. Da ich neugierig war, ging ich eines Tages näher heran und sah, dass der Bereich für die Gefangenen von einem doppelten Stacheldrahtzaun mit besonders langen und spitzen Stacheln umgeben war, daneben befand sich der Verwaltungsteil, der nicht umzäunt war. Am Eingang führten Feldbahngleise ins Lager hinein, über die offensichtlich die Versorgung des Lagers erfolgte.
Als die ersten Strafgefangenen kamen, war gerade Schulpause. Zusammen mit den anderen Schülern lief ich über den Schulhof, als am Zaun zwei Lastzüge mit Anhängern hielten, die mit Planen bespannt waren. Ich fragte mich, was sich wohl darunter befand. Umgehend stiegen drei Posten mit Gewehren aus dem Wagen und wandten sich dem Lehrer zu, der ebenfalls über den Hof lief.
»Wie kommen wir von hier zum Lager Bathorn?«, riefen sie.
Das war nicht leicht zu finden, da die Straßen nicht alle ausgebaut waren. Während der Lehrer ihnen den Weg beschrieb, entdeckte ich auf einmal das Gesicht eines Mannes, der unter der Plane hervorspähte.
Da sind Menschen in den Lastwagen!, stellte ich fest.
Nun wurde die Plane in der Mitte ein Stück aufgeknöpft, ein Mann steckte neugierig den Kopf heraus und blickte sich um. Einer der Posten bekam das mit, schritt sofort auf ihn zu und rammte ihm den Gewehrkolben gegen den Kopf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sich der Mann zurück. Kurz darauf bemerkte ich, dass an der gleichen Stelle Flüssigkeit aus dem Wagen lief, wahrscheinlich hatte er seine Notdurft vor Schmerz nicht mehr zurückhalten können.
Die Strafgefangenen kamen aus den Zuchthäusern. Sie mussten im Lager Bathorn ihre Zivilkleidung abgeben und erhielten stattdessen blaue Häftlingsuniformen mit breiten gelben Streifen an den Hosen. Da sie in ihrer Kleidung wie Generäle aussahen, nannten wir sie »Generalstäbler«. Die Männer arbeiteten am Diek und tauschten den Boden aus, während Wachposten, die ebenfalls blaue Uniformen trugen, sie beaufsichtigten und streng behandelten. Ein Posten erzählte uns einmal, dass ein Häftling im Lager ein Stück Eisen verschluckt habe, um in ein Lazarett verlegt zu werden. Die Gefangenen schienen alle erdenklichen Tricks zu nutzen, um aus dem Lager hinauszugelangen und eventuelle Fluchtgelegenheiten zu ergreifen.
Wir aus der Bevölkerung kamen mit den Strafgefangenen kaum in Kontakt. Man sah sie als Verbrecher an und kaum einer verspürte Mitleid mit ihnen, weil man der Ansicht war, dass die Männer ihre gerechte Strafe verdient hatten und diese nun absitzen sollten. Mein Bruder Heinrich und ich gingen dennoch zweimal die Woche ins Lager, um die dort übriggebliebenen Kartoffelschalen als Futter für unsere Schweine abzuholen. Dafür schoben wir einen Hund – eine kleine, flache Lore – über die Feldbahngleise zum Lagereingang, wo man uns das Tor öffnete. Gleich links befand sich eine Trafostation mit einem angebauten Wachlokal, auf der rechten Seite verlief der Stacheldraht und ein Stück weiter stand ein Wachturm, von dem aus ein Posten mit einem Maschinengewehr Ausschau hielt. Wir blieben nur kurz, durften die Schalen abholen und mussten das Lager dann sofort wieder verlassen. Oft kamen Strafgefangene angelaufen, die uns beim Aufladen der Kartoffelschalen helfen wollten und dabei die Gelegenheit nutzten, sich mit uns zu unterhalten und etwas von der Außenwelt zu erfahren. So kam es, dass ich einmal zwei von ihnen fragte: »Was habt ihr denn angestellt, dass ihr hier seid?«
Ich dachte mir nichts dabei, dass ich es mit Menschen zu tun hatte, die eigentlich im Gefängnis sitzen müssten.
»Ach, was heißt ›angestellt‹ …« Der eine zuckte mit den Schultern. »Ich habe Devisen geschmuggelt.«
Darauf, das wusste ich, stand die Todesstrafe.
»Und du?«, fragte ich den anderen.
»Ich bin Bäcker und habe meine Schwiegermutter im Ofen verbrannt, weil sie nicht auf mich hören wollte«, antwortete er.
Ich bezweifelte jedoch, dass das der Wahrheit entsprach.
Kurze Zeit später nahm mein Vater zusammen mit anderen Männern an einer Luftschutzschulung teil, bei der man ihnen unter anderem beibrachte, was zu tun war, wenn Fallschirmjäger absprangen. Man forderte sie dazu auf, stets die Augen offen zu halten. Auch uns Kinder bereitete man direkt auf einen möglichen Krieg vor. In der Schule lernten wir, dass Deutschland erbitterte Feinde habe und sich rüsten müsse, um sie zu bekämpfen. Weiterhin erklärte uns der Lehrer, welche Munition und Sprengsätze es gebe und wie Brandbomben funktionierten. Um uns dies anhand einer praktischen Übung zu veranschaulichen, führte er uns nach draußen auf den Schulhof, wo er eine Konservenbüchse mit Wasser füllte, sie auf den Boden stellte und einen kleinen Brennstab hineinwarf. Sofort zischte es. Das Feuer brannte durch den Boden der Blechdose, sodass ein großes Loch entstand und das Wasser auslief.
Darüber hinaus sollten wir am eigenen Leib erfahren, wie Tränengas ohne Gasmaske auf die Augen einwirkt. Dazu führte uns der Lehrer in einen kleinen Raum, eine lange, schmale Abstellkammer, in der Kohle gelagert war. Sobald wir uns im Inneren eingefunden hatten, holte der Lehrer eine Pistole hervor, schoss von außen Tränengas in den Raum und schloss die Tür. Das Gas brannte in den Augen, jeder begann zu weinen und die Tränen liefen uns die Gesichter hinunter. Als der Lehrer die Tür wieder öffnete und uns herausbat, hatten wir alle die Arme vor die Augen gepresst.
Auch wenn all dies für meine Eltern eindeutige Vorzeichen des drohenden Krieges waren, war uns Kindern nicht bewusst, worauf wir hier vorbereitet wurden, denn wir waren viel zu jung und unerfahren, um das zu erkennen. Ein Abend, an dem meine Mutter uns beim Zubettgehen einen bestimmten Satz sagte, ist mir besonders in Erinnerung geblieben.
Mein Bruder Heinrich und ich schliefen damals oben im Giebelzimmer. Da wir im Haus weder Strom noch elektrisches Licht besaßen, brachte uns unsere Mutter jeden Abend mit einer Petroleumlampe ins Bett. Zusammen mit ihr stiegen wir die Treppe hinauf, liefen über die knarrenden Dielen und legten uns in unserem Bett, das auf Stroh gelagert war, unter die warme Gänsefederdecke. Nur das Licht der Stalllampe, die meine Mutter in der Hand hielt, erfüllte den dunklen Raum, und mit einem Mal sagte sie in ihrer ruhigen Art: »Hoffentlich kommt kein Krieg.«
Schweigend dachte ich einen Moment darüber nach. Ich fand den Gedanken ein wenig beängstigend, konnte mir aber nicht viel darunter vorstellen, was Krieg genau bedeutete.
Wie wird das? Wie schlimm ist es denn wirklich?, fragte ich mich und stellte mir den Krieg wie eine dunkle Wand vor, die langsam näherkam.
Tatsächlich rückte sie unweigerlich näher. Nachdem die deutschen Truppen im März 1938 in Österreich einmarschiert waren und viele Österreicher über den »Anschluss« an das Deutsche Reich gejubelt hatten, erfolgten unter italienischer Vermittlung Ende des Jahres Verhandlungen mit der britischen und der französischen Regierung über die Angliederung des Sudetenlandes, einer Grenzregion in der Tschechoslowakei, in der eine mehrheitlich deutsche Bevölkerung lebte. Da die beiden westeuropäischen Staaten der deutschen Regierung gegenüber eine Beschwichtigungspolitik führten, gestanden sie ihr das Sudetenland zu. Obwohl die Sudetendeutschen diese Entscheidung begrüßten, sahen meine Eltern das Ganze kritisch, weil der tschechoslowakische Staat somit gezwungen wurde, das Gebiet an Deutschland abzutreten.
Nun ist es erledigt, jetzt haben sie, was sie wollen