SCHWARZ vs. GRÜN - Günther Beckstein - E-Book

SCHWARZ vs. GRÜN E-Book

Günther Beckstein

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Beschreibung

Als »Verbotspartei« werden die Grünen von der Union gerne betitelt. Unfähig zu längst überfälligen Reformen seien CDU und CSU, schallt es umgehend zurück. Sind diese Schlagabtausche nur eingeübte Reflexe, während sich eine modernisierte Union und pragmatisch gewordene Grüne einander eigentlich längst angenähert haben und die Weichen für eine Koalition auf Bundesebene schon gestellt sind? Wie weit Schwarz und Grün in zentralen Fragen auseinanderliegen, darüber haben zwei ihrer prominentesten Vertreter*innen, Günther Beckstein und Renate Künast, leidenschaftlich debattiert. Ihre Themen: Gleichstellung und Familie, Migration und Zivilgesellschaft, Umwelt und Klima, Landwirtschaft und Ernährung – genau jene, die die Bundesrepublik der 2020er-Jahre prägen werden. Sie finden Gemeinsamkeiten, betonen Gegensätze und suchen Kompromisse. Eine spannende Kontroverse – und ein Vorgriff auf den Wahlherbst 2021?

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Günther BecksteinRenate Künast
SCHWARZVS.GRÜN
Ein Streitgespräch über Klima,Wachstum und eine gute Zukunft
moderiert vonStefan Reinecke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 oekom verlag, MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Konstantin Götschel, MünchenKorrektorat: Silvia Stammen, MünchenTranskription: Christine Apel, BerlinUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagabbildung: Christian Thiel, Berlin
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-778-5

Inhalt

Vorwort
»Dann sind wir dem Untergang geweiht.«
KAPITEL 1: Klimawandel und Verkehr
»Die Globalisierung hat für eine Verbesserung der Lebensqualität gesorgt.«
KAPITEL 2: GENTECHNIK UND LANDWIRTSCHAFT
»Sie sind offenbar zu feige, Regeln durchzusetzen!«
KAPITEL 3: FREIHEIT UND VERBOTE
»Man braucht Härte.«
EXKURS: KARRIEREN
»Ohne Patriotismus wird die Integration nicht gelingen.«
KAPITEL 4: PATRIOTISMUS UND DEUTSCHE GESCHICHTE
»Es ist gaga, jungen Leuten die Ausbildung zu verbieten.«
KAPITEL 5: MIGRATION
»Die Grünen haben die Multikulti-Parole als Köder ausgelegt und die Union hat sehr gerne reingebissen.«
KAPITEL 6: »MULTIKULTI« UND ISLAM
»Das System hat sich bewährt.«
KAPITEL 7: KRISE DER DEMOKRATIE UND BÜRGERBETEILIGUNG
»Die wahre Gefahr geht von der AfD und ihren Netzwerken aus.«
KAPITEL 8: RECHTSEXTREMISMUS UND NSU
»Unsere Aufgabe ist es nicht, Menschen Lebensentwürfe vorzuschreiben.«
KAPITEL 9: SOZIALSYSTEME, STEUERN, GLEICHBERECHTIGUNG
»Es ist eine interessante Figur, die Grünen zum Hauptgegner zu erklären und im gleichen Atemzug die Überschrift für den Koalitionsvertrag zu entwerfen.«
KAPITEL 10: SCHWARZ-GRÜN?
Über die AutorInnen

Vorwort

An einem Sonntagabend im November 2017 trat FDP-Chef Christian Lindner vor die Kamera und sagte: »Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.« Das war das Ende der Verhandlungen über die erste »Jamaika«-Koalition im Bund.
Hätte Lindner damals anders entschieden, hätten Union, FDP und Grüne eine Regierung gebildet, dann würde es dieses Buch wohl nicht geben. Denn dieses Gespräch zwischen der Grünen Renate Künast und dem CSU-Mann Günther Beckstein umkreist die Frage, ob nun Wirklichkeit wird, was damals scheiterte: eine Bundesregierung von Union und Grünen. Wird das eine stabile, innovative Koalition, die Ökologie und Ökonomie zu verbinden versteht? Oder sind die programmatischen Gräben doch tiefer, als es scheint?
Beide Parteien können auf solide Erfahrungen mit der Zusammenarbeit in verschiedenen Bundesländern zurückblicken. In unterschiedlichen Konstellationen koalieren sie zum Beispiel in Hessen, Baden-Württemberg, Sachsen oder Schleswig-Holstein. Das Regieren in den Ländern gilt zu Recht als Probelauf für den Bund. Wenn das gemeinsame Regieren dort gelingt, ist das noch kein Beweis, dass es auch im Bund funktioniert. Aber es ist ein Zeichen, dass es gelingen kann.
Renate Künast und Günther Beckstein haben sich zwischen September und Dezember 2020 vier Mal zum Gespräch getroffen. Drei Mal vis-à-vis im Bundestag, ein Mal per Zoom. Die Einschränkungen durch die Coronapandemie waren immer präsent. Die Gespräche dauerten meist mehrere Stunden. Es gab Wasser, Kaffee, mal ein Brot. Eine Klausur, keine Ablenkungen. Die Gespräche waren konzentriert, intensiv, mal kreisende, mal direkte Versuche auszuloten, wie tief die Differenzen, wie tragfähig Gemeinsamkeiten sind. Grüne und Union haben sich lange als Gegner verstanden. »Beckstein würde auch Jesus ausweisen«, haben die Nürnberger Grünen mal plakatiert. Aber das war im letzten Jahrhundert.
An die Stelle der schroffen Konfrontation ist der Dissens in Sachfragen gerückt. Früher war strittig, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder sein soll, heute streiten Grüne und Union, wie viel Migration das Land braucht und verträgt. Früher war strittig, ob das fossile Zeitalter zu Ende gehen muss, heute streiten Grüne und Union darum, wie schnell die Republik klimaneutral werden muss. Klimawandel, Artenschutz und Landwirtschaft werden für eine schwarz-grüne Bundesregierung zentrale Themen sein. Nicht zufällig handeln die ersten Kapitel dieses Buches von diesen drei Themen.
In den vier Monaten, in denen die Gespräche stattfanden, ist viel passiert. Es gab islamistische Anschläge in Wien und Dresden. In Sachsen-Anhalt drohte eine ähnlich spektakuläre Annäherung zwischen AfD und CDU, wie es sie Anfang 2020 in Thüringen gegeben hatte. Die Perspektive auf Corona wechselte – von der vagen Hoffnung im Spätsommer, dass das Schlimmste überstanden sein könnte, zu der Gewissheit des Winters, dass dies eine Illusion war. Die Gespräche streifen das nur am Rande. Es geht nicht um Tagespolitik, sondern um die langen Linien des Klimaschutzes, der Innenpolitik, des Kampfes gegen die militante rechte Bedrohung und darum, was nach Corona kommen soll. Und vieles mehr.
Renate Künast und Günther Beckstein repräsentieren die Entwicklungen ihrer Parteien. Die Union ist in der langen Merkel-Ära liberaler und offener geworden. Das grüne, früher alternative Milieu hat sich schon lange in die Mitte der Gesellschaft bewegt.
Aber dieses Buch ist nicht nur eine Debatte zwischen einem Vertreter der Union und einer Vertreterin der Grünen. Es ist ein Gespräch zwischen zwei PolitikerInnen mit individuellen Prägungen und Leidenschaften, Brüchen und Biografien.
Günther Beckstein, Protestant aus Franken, galt als CSU-Innenminister als Law-and-Order-Mann. Aber einer, der offen für Debatten mit seinen Gegnern ist. »Dass man in der Sache engagiert streiten kann und danach sagt: ›Aber du bist für mich ein interessanter Mensch‹, das ist ein demokratisches Ideal«, sagt er in diesem Buch.
Renate Künast war Fraktionschefin der Alternativen Liste zu Zeiten des rot-grünen Senates in Berlin, eine Vertreterin der Regierungslinken bei den Grünen und bis 2005 Ministerin für Landwirtschaft und Verbraucherschutz. »Herr Beckstein, Sie haben mir das Kompliment gemacht, mit Ernst über die wichtigen Fragen zu diskutieren«, sagt sie in diesem Buch. Gefolgt von einem »Aber«.
So zeigt dieses Gespräch Annäherung, wo früher Unversöhnlichkeit herrschte. Das gilt vor allem für die Themen Migration, Flucht und Islam. Dort gibt es natürlich noch Unterschiede, aber die gelegentlich aufscheinende Einvernehmlichkeit hat mich überrascht – genauso wie der heftige Streit, der bei Themen ausbrach, bei denen es kaum zu erwarten war.
Stefan Reinecke, Januar 2021
»Dann sind wir dem Untergang geweiht.«
KAPITEL 1
Klimawandel und Verkehr
Frau Künast, Herr Beckstein, wir treffen uns hier im Bundestag. Wie sind Sie hierhergekommen? Mit dem Fahrrad, dem Auto, dem Flugzeug?
RENATE KÜNAST: Mit dem Fahrdienst des Bundestages. Ich nutze den regelmäßig.
GÜNTHER BECKSTEIN: Ich wohne in Nürnberg. Ich bin von zu Hause mit dem Bus zur U-Bahn gefahren, mit der U-Bahn zum Bahnhof, mit dem ICE nach Berlin und vom Bahnhof hierhergelaufen. Vorbildlich, nicht?
Eins zu null für die ergrünte CSU?
KÜNAST: Das fängt ja schon mal gut an. Ich zweifle, ob das typisch für die CSU ist.
Haben Sie ein Auto?
KÜNAST: Nein, in Berlin braucht man eigentlich kein Auto. Ich bin begeisterte Zugfahrerin. Fliegen geht gar nicht.
BECKSTEIN: Meine Frau und ich haben ein Auto.
Also haben Sie zwei.
BECKSTEIN: Ja. Wir brauchen sie. Ich bin noch immer viel beruflich unterwegs. Und meine Frau will auch weiterhin selbst mobil sein. Mit einem eigenen Pkw.
KÜNAST: In Berlin höre ich oft von Autobesitzern, dass sie den ÖPNV oder Carsharing gut und preiswerter finden, allerdings erst bei der nächsten größeren Reparatur ihr Auto verkaufen wollen. Ich finde: Auto ja, aber es muss einem nicht gehören. Das ist mit Parkplatzsuchen, TÜV und Reparatur teuer und zeitaufwendig. Es gibt Wohngebiete mit Ladestationen und Elektrosharing-Autos, die man vorab buchen kann. Das ist die Zukunft, wenn auch derzeit erst für Teile der Städte.
BECKSTEIN: Carsharing oder Leasing scheiden für mich aus, weil ich nicht sehr sorgfältig mit meinem Auto umgehe. Kleinere Dellen immer reparieren zu lassen, geht schnell ins Geld. Deswegen ist mir das eigene Auto lieb. Übrigens ein Diesel …
KÜNAST: … jetzt steht es eins zu eins …
BECKSTEIN: … der nur 4,7 Liter verbraucht.
Können Sie sich ein Leben ohne Auto vorstellen?
BECKSTEIN: Ich sage ganz offen: nein.
Warum nicht?
BECKSTEIN: Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauert es in Nürnberg länger als in Berlin oder München. Und ich kenne viele Menschen, die auf dem Land wohnen – dort lässt sich der Alltag ohne Auto gar nicht bewältigen. Gerade für die Älteren ist das Auto oft gleichbedeutend mit sozialer Teilhabe. Man hat durch Corona doch deutlich gesehen, wie schnell sich solche Menschen abgehängt fühlen und vereinsamen.
Künast: Da will ich gar nicht widersprechen. Aber auch wenn niemand das Auto abschaffen will, muss sich in Herstellung und Nutzung doch einiges ändern. Deshalb lautet die Frage: Wie wird das Auto produziert, und welche Schadstoffe stößt es aus? Vor allem aber: Wie kann es Teil eines anderen Mobilitätssystems werden, in dem verschiedene Mobilitätsangebote besser verknüpft und klimafreundliche besonders gefördert werden?
Auf dem Land brauchen wir zum Beispiel mehr Rufbusse. Diese neue Infrastruktur muss endlich auf den Weg gebracht werden. Noch länger abzuwarten, können wir uns nicht erlauben.
BECKSTEIN: Der öffentliche Personenverkehr muss sich deutlich verändern. Das Rufbussystem ist da nur eine Möglichkeit. Ich vertraue darauf, dass gerade durch die zunehmende Digitalisierung ganz neue Konzepte entwickelt und umgesetzt werden können.
Achten Sie auf Ihren ökologischen Fußabdruck? Wissen Sie, wie viel CO2 Sie emittieren?
BECKSTEIN: Ich kann es nicht genau sagen, aber es ist sicher zu viel. Ich achte nicht immer darauf. Wenn es keine großen Umstände macht, wähle ich die umweltfreundlichere Variante. Das Rindersteak ist sehr viel umweltschädlicher als die Nürnberger Bratwurst, mein Lieblingsfleisch. Da passt es sowieso. Aber ein ethisches Schuldgefühl, weil mein ökologischer Fußabdruck höher ist als bei anderen Menschen, habe ich nicht. Zumal ich weiß, wie wenig ich ernsthaft beeinflussen kann. Wenn man beruflich viel reist, emittiert man zwangsläufig viel mehr CO2.
KÜNAST: Ich achte darauf. Aber als Europäerin verursache ich im Alltag einen viel, viel höheren CO2-Ausstoß als jemand, der in Indonesien, Indien oder Tansania lebt. Ich habe für dieses ethische Problem keine Lösung, aber so zu tun, als gäbe es diese moralische Frage nicht, führt auch nicht weiter. Es ist für mich Ansporn, zu überlegen, was ich anders machen kann. Als Landwirtschaftsministerin ist mir klar geworden, welche CO2- oder Treibhausgasimplikationen welche Lebensmittel haben. Im Kern geht es also nicht so sehr darum, was die Kunden kaufen, sondern ganz grundsätzlich darum, wie wir unsere Lebensmittel produzieren.
Ich selbst ernähre mich im Wesentlichen mit Ökolebensmitteln und kaufe oft ökozertifizierte Kleidung. Ich bin im letzten Jahr innerhalb Deutschlands nicht geflogen und nutze die Bahn. Mitunter sage ich auch Terminen nicht zu, wenn der zeitliche Aufwand zu groß wäre. Und wenn mich der Hafer sticht, kann es schon mal vorkommen, dass ich das Personal im Lebensmittelladen anspreche, in dem zwei Paprikaschoten und vier Tomaten in Plastik verpackt sind.
Was sagen Sie dann?
KÜNAST: Ich mache dem Personal keinen Vorwurf. Ich spreche es aber an. Und ich sage klipp und klar: »Wenn das so bleibt, kaufe ich woanders ein. Sagen Sie das Ihrem Chef oder Ihrer Chefin.«
Ich finde es erschreckend, wenn ich zu Hause in die Mülltonne schaue: Wie habe ich es geschafft, dass da so viel Verpackung drin ist, obwohl ich doch darauf geachtet habe? Es ist nicht akzeptabel, dass Ketten inzwischen groß mit der Vermeidung von Plastik werben, in der Auslage dann aber doch fast jedes Produkt eingeschweißt ist. Diese Plastikschwemme müssen wir dringendst in den Griff kriegen – und zwar weltweit. Wir dürfen nicht auf die Lobbyisten des Öl- und Gassektors reinfallen.
BECKSTEIN: Man muss aber doch berücksichtigen, dass die Hygieneanforderungen bei offenen Lebensmitteln sehr hoch sind. Das hat gute Gründe, weil es vielen Leuten an grundlegendem Anstand fehlt.
Umweltschonend zu leben ist auch für einen CSU-Mann meiner Generation selbstverständlich. Die Schöpfung zu bewahren, ist ein erzkonservatives Anliegen! Die Grünen tun das eher ideologisch.
KÜNAST: Wenn Sie mir Ideologie unterstellen, werden wir wohl nicht gut miteinander klarkommen.
BECKSTEIN: Ich habe es vorsichtig formuliert: eher ideologisch. Ich erinnere an den Veggie-Day.
Zu der Frage, ob und wo Verbote sinnvoll sind, kommen wir später. Wann ist Ihnen persönlich klar geworden, dass Klimaschutz eine zentrale Frage ist? Gab es ein Schlüsselerlebnis?
BECKSTEIN: Das ist mir um die Jahrtausendwende klar geworden. Ich war Innenminister in Bayern. Mein Kollege, der Umweltminister, hat von internationalen Konferenzen berichtet und von der intensiven Arbeit, Klimaziele vertraglich zu vereinbaren. Die Verhandlungen zur Umsetzung des Kyoto-Protokolls habe ich durchaus aufmerksam verfolgt, auch wenn ich fachlich nicht zuständig war. Heute sehe ich das Thema »Klima« natürlich als dringlicher an als damals. Aber ich bin überzeugt: Den Akteuren der damaligen Koalition aus SPD und Grünen, einem ehemaligen Bundesumweltminister Trittin, geht es da nicht anders.
KÜNAST: Eine absurde These! Wer sich dafür interessieren wollte, hätte schon vor mehr als vierzig Jahren wissen können, was auf uns zukommt.
Für mich gab es zwei Phasen: Ich habe mich im Rahmen der Anti-AKW-Bewegung mit dem Club of Rome und den Grenzen des Wachstums beschäftigt. Man hat zwar damals schon im Bioladen eingekauft, versucht regionale Märkte zu organisieren, auf Schiene statt Auto zu setzen, wofür wir ja massiv von der Union kritisiert wurden. Aber es war doch eher ein Kopfthema. Wie drängend und existenziell die ökologischen Probleme sind, die alle mit Klimaschutz zu tun haben, ist mir als Ministerin nach 2001 klar geworden. Es gab die Jahrhunderthochwasser, extreme Trockenheit und extremen Regen. Es war klar: Die Klimafrage ist keine theoretische mehr. Die Klimakrise ist auch in Europa Realität.
Angela Merkel ist als Klimakanzlerin angetreten. Wie bewerten Sie die Bilanz von 16 Jahren Merkel-Klimapolitik, wenn wir auf Mobilität und die Autoindustrie blicken?
KÜNAST: Sie hatte als Umweltministerin und Wissenschaftlerin das Thema zwar erkannt. Aber der nötige Umbau ist ausgeblieben. Das ist nicht nur ihre Schuld – die SPD hat häufig ebenfalls eine unrühmliche Rolle gespielt.
BECKSTEIN: Angela Merkel hat meines Erachtens so viel gemacht, wie man überhaupt auf den Weg bringen konnte. Sie hat eine Menge erreicht, zum Beispiel, dass Klimaschutz zu einem gemeinsamen europäischen Ziel geworden ist.
KÜNAST: Ein Kernbereich ist hier der Umstieg von Verbrennungsmotoren auf Elektrotechnologie. Da ist zu wenig passiert. Ich erinnere mich an 2007. Damals gab es einen Shitstorm, weil ich gesagt habe: Wenn die deutsche Autoindustrie zu blöd ist, moderne ökologische Autos zu bauen, muss man den Leuten sagen: Kauft einen Toyota Prius. Damals kämpften Angela Merkel als Kanzlerin und Sigmar Gabriel als Umweltminister in Brüssel für möglichst hohe Emissionswerte für die großen deutschen Autos. Ich erinnere mich an die Schwüre der Vorstände der Autokonzerne: »Frau Künast, in zehn Jahren baut die deutsche Autoindustrie ganz andere Wagen, kleiner und ökologischer.« Das wäre 2017 gewesen. 2017 hat Merkel genau das gleiche Stück in Brüssel wieder aufgeführt und die deutsche Autoindustrie vor schärferen Grenzwerten geschützt. Aber auch die SPD hat lange so getan, als könnte man trotz des Klimawandels alte Arbeitsplätze mit Verbrennungsmotoren und ihrer Fertigung erhalten. Ein Elektroauto braucht keinen aufwendigen Motor. Viele, die in der Autobranche arbeiten, werden sich für andere Branchen qualifizieren, zum Beispiel die der erneuerbaren Energien. Das ist schon lange klar. Dafür hätten wir Geld ausgeben und die Industrie mit einem Ordnungsrahmen dazu bringen müssen, in Deutschland andere Autos herzustellen und Teil der Mobilitätswende zu werden.
Der Verkehr macht in Deutschland ein Fünftel der CO2-Emission aus. Hat die Union strukturkonservativ zu lange auf alte, umweltschädliche Verbrennertechnologien gesetzt?
BECKSTEIN: Es ist ein riesiges Problem, dass die deutsche Automobilindustrie überwiegend von solchen Autos lebt, die wir politisch bekämpfen. BMW lebt nicht vom Einser-BMW. Und schon der ist im Vergleich zu französischen oder italienischen Autos groß. Mercedes und BMW leben von SUVs, die immer stärker, immer größer, immer teurer werden. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das eine Fehlentwicklung ist. Ich glaube aber nicht, dass es die Aufgabe der Politik ist, technologische Entscheidungen zu treffen. Die Frage, ob sich in 30 oder 40 Jahren das Elektroauto oder das Wasserstoffauto durchgesetzt haben werden oder ob nicht biologischer Treibstoff, Biogas und Biodiesel vernünftige Lösungen sind, kann die Politik nicht entscheiden. Die Frage, ob das Elektroauto in 20 Jahren das global dominierende Auto ist, halte ich für offen – und wir leben in Deutschland auch davon, dass wir mehr als zwei Drittel der Fahrzeuge exportieren. Ist es sicher, dass es in 20 Jahren überall auf der Welt Elektrotankstellen gibt? Oder setzt sich doch Wasserstofftechnik durch? Ich habe dienstlich eines der ersten Wasserstoffautos, einen BMW Hydrogen, gefahren. Dann ist irgendwo ein Wasserstoffauto explodiert und die Forschung wurde beendet.
Soll der Staat überhaupt keine bestimmten Technologien fördern, sondern dies dem Markt überlassen?
BECKSTEIN: Es wäre klug, wenn der Staat Emissionsfreiheit als Ziel vorgeben würde, aber Wasserstofftechnologie und grüne Treibstoffe mehr im Blick hätte. Elektromobilität ist bei Lastwagen im Moment keine ernsthafte Alternative. Ich würde mir derzeit kein Elektroauto kaufen.
KÜNAST: Die Frage, was der Staat darf und was nicht, ist an dieser Stelle gar nicht zentral. Die Frage ist: Was ist das Ziel? Staat, Regierung, Bundestag, Landtage, Landesregierungen und Kommunen haben die Aufgabe, von uns unterzeichnete internationale Verträge zu erfüllen und deshalb Treibhausgase massiv zu reduzieren. Der schienengebundene Verkehr und der öffentliche Nahverkehr müssen günstiger und der Autoverkehr muss emissionsärmer werden. Das macht der Markt nicht von allein. Bei Wasserstofftechnologie müssen wir davon ausgehen, dass die noch Zeit braucht, ehe sie wirklich in der Breite eingesetzt werden kann. Wir müssen also Geld in Forschung investieren. Nur auf den Markt zu hoffen, ist falsch. Denn fast alle versuchen in der Produktion die billigste Variante zu nutzen und möglichst sämtliche Umwelt- und Klima- sowie Biodiversitäts- und Sozialfolgekosten zu externalisieren. Der Staat hat die Aufgabe, Ziele des Gemeinwohls durchzusetzen – vom Kinderschutz über körperliche Unversehrtheit bis hin zum Klimaschutz.
BECKSTEIN: Man darf nicht vergessen, dass die deutsche Autoindustrie in harter internationaler Konkurrenz steht. Natürlich stehen Arbeitsplätze und Existenzen nicht über allem. Aber keine Regierung kann es sich leisten, sie zu ignorieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Transformation der deutschen Autoindustrie ist wichtig und richtig. Aber sie findet nicht in einem bedingungsfreien Raum statt. Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg beweist das doch seit vielen Jahren: Er muss als Ministerpräsident Kompromisse schließen, die er als Oppositionsführer vielleicht kritisch gesehen hätte. Die totale Freiheit der politischen Forderung gibt’s nur in der Opposition.
KÜNAST: Das ist jetzt aber ein sehr simples Oppositionsbashing. Wir denken ja gerade die neuen Jobs mit. Im Bereich der erneuerbaren Energien sind mehr und sehr gute Arbeitsplätze entstanden als bei den fossilen. Wir alle stehen in Verantwortung. Und die bedeutet nicht, das Alte zu bewahren, wenn es falsch ist, sondern Arbeitsplätze für morgen zu schaffen. Ich verstehe gar nicht, warum wir da Differenzen haben. Selbst die deutsche Automobilindustrie und der Verband der Automobilindustrie VDA, die massiv gegen den Strukturwandel in der Branche gekämpft haben, merken ja jetzt endlich, wo die Reise hingeht – weg vom Verbrenner, hin zum Elektroauto. Mercedes baut in Berlin-Marienfelde Tausende Arbeitsplätze ab, während Tesla in Grünheide Tausende Mitarbeitende sucht. Der Renault Zoe, der in Bayern zuhauf gefahren wird, ist auch kein deutsches Auto.
Da ist in Deutschland durch zu viel Beharrung etwas schiefgelaufen, obwohl wir das Wissen hatten. Auch deshalb brauchen wir einen neuen Ordnungsrahmen. Damit sich die vielen Männer in den Vorstandsetagen auf ihren Hosenboden setzen, an die Zukunft denken und nicht bloß kalkulieren, wie viel Geld man heute mit SUVs und Ledersitzen verdient. Die Forschungsabteilungen der Automobilhersteller waren stets weiter als die Vorstandsetagen, konnten sich aber nicht durchsetzen. Wir sind in vielen Technologiebereichen schon seit Langem nicht mehr vorne. Und nicht zuletzt gilt, dass auch die Automobilindustrie ihren Beitrag gegen die Klimakrise leisten muss.
Und das geht nur mit Elektromobilität?
BECKSTEIN: Ich habe mit wenig Begeisterung zur Kenntnis genommen, dass meine Partei ab 2035 Verbrenner verbieten will. Wir setzen jetzt auf diese Technik, ohne zu wissen, ob sie sich durchsetzen wird. Ausschlaggebend sind dafür politische Entscheidungen in Brüssel. Es ist legitim, ordnungspolitisch die Reduzierung von Emissionen vorzugeben, aber ich glaube nicht, dass Beamte in den Ministerien diejenigen sind, die Technikentscheidungen fällen sollten und können. Wer 2015 ein Elektroauto fuhr, beging übrigens eine schwere Umweltsünde. Der Strom kam aus Kohlekraftwerken …
KÜNAST: Aber das ist kein Argument mehr. Im Strommix spielen Erneuerbare eine immer größere Rolle. Ich habe das Gefühl: Sie sagen immer, warum etwas nicht geht. Sagen Sie doch einmal, was geht! Wie wollen Sie das Ziel, CO2 zu reduzieren, denn erreichen?
BECKSTEIN: Wir müssen mehr in Forschungsförderung investieren …
KÜNAST: Ach!
BECKSTEIN: … und nicht so technikfeindlich sein und gegen jeden Funkmast protestieren.
KÜNAST: Ich bin gegen Funkmasten?
BECKSTEIN: Nicht Sie als Person, aber die Grünen waren gegen Funkmasten und überhaupt generell skeptisch gegenüber technischen Lösungen. Das müssen Sie einräumen. Die Transformation in eine andere Gesellschaft wird nicht mit Verzicht gelingen, sondern mit technologischen Lösungen.
KÜNAST: Was soll denn das jetzt wieder? Es geht nicht um Verzicht, sondern darum, mit Klugheit auf die Erkenntnisse der Wissenschaft zu reagieren. Dazu gehört für uns aber auch die Aufgabe, Risiken, Chancen und vielleicht irreparable Folgen zu bedenken. Übrigens wäre es ja schön gewesen, Sie hätten sich den Erneuerbaren, Effizienz und Einsparung bei der Energie früher gewidmet. 
Da kann es freilich auch Irrtümer geben. Vor 15 Jahren galten Biokraftstoffe als plausible Möglichkeit, die CO2-Emissionen zu senken. Bauern sollten Energiewirte werden, die weniger Lebensmittel und mehr Biogas produzieren. Dafür wurden sie mit staatlichen Subventionen gefördert. Jetzt sieht man, dass dieser Weg zu ökologischen Schäden und noch mehr Monokulturen geführt hat. Hätte man ihn nie beschreiten sollen?
KÜNAST: Vermutlich nicht. Wir wissen, dass Maismonokulturen neue Probleme verursachen. Wir müssen infrage stellen, ob es richtig ist, Ackerfläche, die eigentlich zur Ernährung von Menschen da sein sollte, zur Energiegewinnung zu nutzen. Es war zumindest ein Fehler, nicht früher und stärker auf Klärschlamm und andere Stoffe zur Biogasproduktion zu setzen. Ackerland, das zur Maismonokultur mit wenig Fruchtwechsel wird, bringt der Umwelt so wenig wie dem Klima.
BECKSTEIN: Genau das verstehe ich unter ideologischem Denken: Es ist falsch, den Urwald abzuholzen, um Biokraftstoff zu gewinnen.
KÜNAST: Das müssen Sie aber mal intern klären. Die Beimischung von E10 war definitiv kein grüner Vorschlag. Das Geschäft den Erdölkonzernen zu überlassen war der Einstieg in den weiteren Raubbau. Das haben keine Grünen beschlossen.
Sehen wir mögliche ökologische Schäden, die die Elektromobilität mit sich bringt, heute scharf genug? Oder werden wir in 15 Jahren analog zu den Biokraftstoffen Irrwege bereuen?
BECKSTEIN: Ich teile diese Skepsis. Wie werden die Materialien für die Batterien gewonnen und wie werden die Batterien entsorgt? Beides ist aus meiner Sicht zu wenig transparent und muss in die Kalkulation mit einbezogen werden. Die Batterieherstellung erfolgt im Wesentlichen in Asien und nicht bei uns. Sie muss aber in die Umweltbilanz ebenso eingehen wie die Abfälle, die von den Batterien bleiben. Von den Arbeitsbedingungen bei der Rohstoffgewinnung ganz zu schweigen. Diese Arbeitsbedingungen sind bisweilen furchtbar, sie können uns nicht egal sein. Wir können im 21. Jahrhundert Verantwortung nicht mehr nur national denken, da gebe ich meinem Parteifreund Gerd Müller uneingeschränkt Recht. Und, ganz praktisch: Ich bezweifle auch, dass schnell genug ausreichend Elektrotankstellen entstehen werden.
KÜNAST: Sie sagen immer nur, was gegen Elektrotechnologie spricht. Es gibt Studien, die die CO2-Bilanz von Elektroautos und Verbrennern vergleichen. Da schneidet die Elektromobilität deutlich besser ab. Ich sage nicht, dass Elektromobilität unproblematisch ist – aber die Aussagen der Fachleute sind eindeutig. 
BECKSTEIN: Ich bin nicht bereit, etwas zu akzeptieren, nur weil »Fachleute« angeführt werden. Das ist kein ordentliches Argument. Man kann nicht sagen »die Wissenschaft«. Das ist unwissenschaftlich. Es sind nicht alle Fachleute dieser Ansicht, sondern eine große Mehrheit ist dieser Ansicht.
KÜNAST: Gut, einigen wir uns auf die große Mehrheit der Fachleute. Zu der Frage der Rohstoffgewinnung für Batterien: Wir brauchen Transparenz sowohl bei den Arbeitsbedingungen als auch bei den Umweltschäden. Da weist das Lieferkettengesetz in die richtige Richtung: Menschenrechte müssen nicht nur in Vereinbarungen stehen, wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie auch tatsächlich respektiert werden. Ein Lieferkettengesetz muss Kinder- und Sklavenarbeit verhindern, Frauen schützen und ebenso gegen Umweltschäden wirken. Und Deutschland sollte da vorausgehen.
BECKSTEIN: Da sind wir einer Meinung. Das Lieferkettengesetz wäre ein echter Fortschritt. Ich wollte Sie gerade damit ärgern, dass dieses Gesetzesvorhaben von einem CSU-Politiker vorangetrieben wird. Aber dann ist mir eingefallen, dass der größte Widerstand dagegen aus der CDU kommt, deswegen lasse ich’s bleiben. Darf ich in diesem Zusammenhang trotzdem kurz Werbung machen für ein fränkisches Unternehmen? Ich habe gelesen, dass Adidas für ein Lieferkettengesetz eintritt, gerne auch im europäischen Maßstab, damit der Wettbewerb fair bleibt. Das ist gar nicht mal so selten: Die Wirtschaft ist manchmal weiter als die Politik. Die Politik sollte hoch ambitionierte Ziele vorgeben, das ist ihr Job. Den Weg dorthin aber sehe ich in einer freien Gesellschaft selbst als frei an. Daher noch einmal zum Elektroauto: Ich glaube nicht, dass Ihre Behauptung, Frau Künast, tragfähig ist, dass alle nennenswerten Fachleute sagen, dass das Elektroauto in 30 Jahren die Technik der Wahl ist.
KÜNAST: … das habe ich so nicht gesagt …
BECKSTEIN: China setzt in den Megacitys auf Elektromobilität und für große Entfernungen auf andere Technologien. Ich warne vor Illusionen. In unseren Exportmärkten in Afrika und anderswo wird es in absehbarer Zeit keine große Nachfrage nach Elektroautos geben. Es ist für uns, für unsere Wirtschaft und für unseren Wohlstand wichtig, das zu erkennen. In meiner Zeit flossen etwa 30 Prozent der Steuern in Bayern in Zusammenhang mit Automobilen und Zulieferern. Wir müssen unsere Interessen schützen, ohne dass wir gleich »Germany first« rufen.
KÜNAST: Auch Afrika und andere Länder, in die Deutschland Autos exportiert, werden sich verändern. Da wird die Mittelklasse auch irgendwann Tesla kaufen wollen. Wir können – Stichwort Kreislaufwirtschaft – die Art und Weise, wie wir exportieren, nicht beibehalten. Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets und kenne solche strukturellen Umbrüche und die Widerstände und Verletzungen, die sie mit sich bringen. Es hat lange gedauert, ehe man gelernt hat und bereit war, Steinkohle wirklich durch etwas Neues zu ersetzen. Die Automobilindustrie wird zwar, anders als die Kohleförderung, bleiben, aber sie wird sich radikal verändern. Vielleicht wird sich in Afrika im ländlichen Raum nicht der Individualverkehr durchsetzen, sondern ein System von Elektrokleinbussen. Solche Innovationen, für die auch Wissen und Technologie erforderlich sind, schaffen neue Jobs.
Wie gefährlich ist der Klimawandel? Drohen, wenn kein rasches Umsteuern gelingt, apokalyptische Szenarien?
KÜNAST: Ja, dann sind wir dem Untergang geweiht.
BECKSTEIN: Nein, die Erde ist stärker.
KÜNAST: Aber ohne uns.
BECKSTEIN: Nein, auch wenn es ein paar Grad wärmer wird, ist das nicht das Ende der Menschheit. Ich vertraue darauf, dass die Kraft der Schöpfung stärker ist. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir die Energie hätten, alles zu ruinieren. Wir müssen jetzt schauen, wie wir CO2-freie Techniken, die marktfähig sind, auf den Weltmarkt bringen. Das ist der entscheidende Punkt.
KÜNAST: Wenn Sie sagen, dass wir nicht die Energie hätten, alles zu ruinieren, dann widersprechen Sie der Wissenschaft. Verzeihung: der großen Mehrheit der Wissenschaft.