Schwarzes Prisma - Brent Weeks - E-Book
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Schwarzes Prisma E-Book

Brent Weeks

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Beschreibung

Sein Leben ist eine Lüge, seine Macht nur geraubt …

Gavin Guile ist der hoch geehrte Lord Prisma. Allein seine magischen Fähigkeiten, seine Intelligenz und seine Überzeugungskraft bewahren den unsicheren Frieden im Reich. Doch Gavin bleiben nur noch fünf Jahre zu leben. Fünf Jahre, um fünf unmögliche Ziele zu erreichen. Da erfährt er, dass er einen Sohn hat, und von der Gefahr für dessen Leben. Doch um den unschuldigen Jungen zu retten, muss Gavin sein dunkelstes Geheimnis offenbaren – und damit das Reich zerreißen. Denn sein Leben fußt auf einer Lüge, und seine Macht ist lediglich geraubt. Kann er diesen Preis bezahlen, um sein einziges Kind zu retten?

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Seitenzahl: 1106

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Brent Weeks

Schwarzes Prisma

Roman

Deutsch von Hans Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Lightbringer Trilogy I. Black Prism« bei Orbit, Hachette Book Group USA, Inc., New York.
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Brent WeeksDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenKartenillustration: Chad Roberts DesignRedaktion: Alexander GroßLektorat: Urban HofstetterHerstellung: Sabine MüllerSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-05799-2V003www.blanvalet.de

Für meine Frau, Kristi, die den größeren Teil eines Jahrzehnts damit verbracht hat, zu beweisen, dass ich recht habe.

1

Kip kroch in der Dunkelheit auf das Schlachtfeld zu. Darüber lag schwer der Nebel, erstickte jedes Geräusch und verschleierte das Sternenlicht. Obschon es von den Erwachsenen gemieden wurde und den Kindern verboten war, hatte er hundert Mal auf dem freien Feld gespielt – tagsüber. Heute Nacht war sein Vorhaben ernster.

Oben auf dem Hügel angekommen blieb Kip stehen und zog sich die Hose hoch. Das Wasser des hinter ihm liegenden Flusses zischte. Vielleicht waren es aber auch die Krieger, die seit sechzehn Jahren tot auf seinem Grund lagen. Er drückte die Schultern durch und ignorierte seine Fantasien. Der Nebel gab ihm ein Gefühl von Schwerelosigkeit, als schwebe er außerhalb der Zeit. Doch auch wenn es keine Beweise dafür gab, die Sonne kam. Bis sie aufging, musste er am anderen Ende des Schlachtfelds sein. Bis dorthin hatte er seine Suche niemals zuvor ausgedehnt.

Nicht einmal Ramir kam bei Nacht mit ihm hierher. Jeder wusste, dass es bei den Getrennten Felsen spukte. Aber Ram brauchte seine Familie nicht zu ernähren; seine Mutter verrauchte ihren Lohn nicht.

Kip umfasste sein kleines Gürtelmesser mit festem Griff und setzte sich in Bewegung. Es waren nicht nur die unruhigen Toten, die ihn in die Immernacht hinabziehen könnten. Man hatte ein Rudel riesiger Javelinas durch die Nacht streifen sehen, mit grausamen Hauern und scharfen Hufen. Sie gaben eine gute Mahlzeit ab, wenn man ein Luntenschlossgewehr hatte, eiserne Nerven und einen zielsicheren Arm, aber seit der Krieg der Prismen alle Männer der Stadt ausgelöscht hatte, gab es nicht mehr viele Menschen, die für ein wenig Schinken ihr Leben riskierten. Rekton war ohnehin nur noch ein Schatten dessen, was es einst gewesen war. Die Alkaldesa war nicht erpicht darauf, dass die Bewohner ihrer Stadt ihr Leben wegwarfen. Und davon ganz abgesehen hatte Kip auch kein Gewehr.

Außerdem waren die Javelinas nicht die einzigen Kreaturen, die durch die Nacht streiften. Einem Berglöwen oder einem Goldbären würde ein gut durchwachsener Kip wahrscheinlich ebenfalls munden.

Ein leises Heulen ertönte tief aus dem Nebel und der Dunkelheit. Kip erstarrte. Oh, es gab auch Wölfe. Wie konnte er die Wölfe vergessen?

Ein anderer Wolf antwortete aus weiterer Entfernung. Ein peinigendes Geräusch, die Stimme der Wildnis selbst. Man konnte nicht anders, als zu erstarren, wenn man es hörte. Es war die Art von Schönheit, die einen dazu brachte, sich in die Hose zu machen.

Kip biss sich auf die Lippen und setzte sich in Bewegung. Er hatte das deutliche Gefühl, dass er verfolgt wurde. Dass jemand sich an ihn heranpirschte. Er blickte hinter sich. Da war nichts. Natürlich. Seine Mutter sagte immer, er habe zu viel Fantasie. Geh einfach weiter, Kip. Die Tiere haben mehr Angst vor dir als du vor ihnen. Außerdem war es ja gerade das Tückische an diesem Heulen, dass es immer viel näher klang, als es wirklich war. Diese Wölfe waren wahrscheinlich meilenweit entfernt.

Vor dem Krieg der Prismen war das Land fruchtbar gewesen. Direkt am Fluss gelegen, dem Umber, hatten die Bauern hier Feigen, Trauben, Birnen, Kratzbeeren und Spargel angebaut – alles Erdenkliche war auf dieser Erde gediehen. Es waren jetzt sechzehn Jahre vergangen seit der letzten Schlacht in dem Jahr vor Kips Geburt. Und noch immer lag die Ebene zerrissen und vernarbt da. Einige verbrannte Balken von alten Häusern und Scheunen ragten aus dem Schmutz. Granaten hatten tiefe Furchen und Krater hinterlassen. Diese Krater, die jetzt erfüllt waren von waberndem Nebel, sahen aus wie Seen, wie Schächte, wie Fallen. Grundlos. Unauslotbar.

Der größte Teil der Magie, die in der Schlacht benutzt worden war, hatte sich in den Jahren, in denen das Land der Sonne ausgesetzt gewesen war, früher oder später aufgelöst, aber hier und da glitzerten noch immer zerbrochene grüne Luxin-Speere. Splitter von massivem Gelb auf dem Boden durchschnitten das zäheste Schuhleder.

Plünderer hatten schon längst alle wertvollen Waffen und Rüstungen sowie das Luxin vom Schlachtfeld geholt, aber während die Jahreszeiten verstrichen und der Regen fiel, kamen in jedem Jahr weitere Geheimnisse zu Tage. Das war es, worauf Kip hoffte – und was er suchte, war in den ersten Strahlen der Morgendämmerung am besten zu sehen.

Die Wölfe waren verstummt. Nichts war schlimmer als ihr beängstigendes Geheul, aber wenn er es hörte, wusste er zumindest, wo sie waren. Jetzt … Kip schluckte gegen den harten Knoten in seiner Kehle an.

Im Schatten zweier großer, künstlicher Hügel – Überbleibsel von zwei der großen Scheiterhaufen, auf denen Zehntausende verbrannt waren – entdeckte Kip etwas. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Rundung einer Kettenpanzerhaube tauchte aus dem Nebel auf. Das Glitzern von Augen, die die Dunkelheit durchsuchten.

Dann wurde es von den Nebelschwaden wieder verschluckt.

Ein Geist. Gütiger Orholam. Irgendeine Seele hielt Wache am Grab ihres Leibes.

Er versuchte, seiner Entdeckung das Beste abzugewinnen. Vielleicht haben Wölfe Angst vor Geistern?

Kip wurde bewusst, dass er stehen geblieben war, um in die Dunkelheit zu spähen. Beweg dich, trieb er sich an.

Er schlich in geduckter Haltung weiter. Er mochte massig sein, aber er hatte sich immer seine Leichtfüßigkeit zugutegehalten. Er riss den Blick von dem Hügel los – nach wie vor keine Spur von dem Geist oder Mann oder was immer es war. Wieder hatte er das Gefühl, dass sich jemand an ihn heranpirschte. Er drehte sich um. Nichts.

Ein schnelles Klicken, als habe jemand einen kleinen Stein fallen lassen. Und etwas in seinem Augenwinkel. Kip warf einen Blick den Hügel hinauf. Ein Klicken, ein Funke, das Schlagen von Zündstein auf Stahl.

Während der Nebel für einen denkbar kurzen Augenblick erhellt wurde, konnte Kip einige Einzelheiten erkennen. Kein Geist – ein Soldat, der einen Zündstein anschlug und versuchte, eine Lunte anzubrennen. Sie fing Feuer und warf einen roten Schein auf das Gesicht des Soldaten, so dass seine Augen zu glühen schienen. Er befestigte die Lunte an dem Luntenhalter seiner Muskete und fuhr herum, um in der Dunkelheit sein Ziel zu finden.

Der Soldat musste sich seine Nachtsicht ruiniert haben, als er in die Flamme der Lunte gestarrt hatte, die jetzt nur noch als rote Glut schwelte, denn sein Blick glitt direkt über Kip hinweg.

Der Soldat drehte sich abermals abrupt um, als wähne er sich verfolgt. »Was zur Hölle soll ich hier draußen überhaupt sehen? Liebeskranke Wölfe?«

Sehr, sehr vorsichtig begann sich Kip von dem Mann zu entfernen. Er musste sich tief in den Nebel und die Dunkelheit zurückgezogen haben, bevor die Nachtsicht des Soldaten sich erholte, aber wenn der Mann ihn hörte, würde er vielleicht einfach blind feuern. Kip ging auf Zehenspitzen, lautlos, sein Rücken juckte, und er war davon überzeugt, dass jeden Moment eine Bleikugel ihn zerfetzen würde.

Aber er schaffte es. Hundert Schritte, und niemand schrie. Kein Schuss zerriss die Nacht. Weiter. Nach zweihundert Schritten sah er Licht zu seiner Linken, von einem Lagerfeuer. Es war so weit heruntergebrannt, dass es inzwischen wohl aus kaum mehr als Kohle bestand. Kip versuchte, es nicht direkt anzuschauen, um sich nicht ebenfalls von dem Licht blenden zu lassen. In der Nähe waren weder Zelte noch Decken zu sehen, nur das Feuer.

Kip probierte es mit Meister Danavis’ Trick, um in der Dunkelheit zu sehen. Er blickte entspannt in eine unbestimmte Ferne und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Rand seines Gesichtsfelds. Nichts außer einer kleinen Unregelmäßigkeit vielleicht. Er schlich sich näher heran.

Zwei Männer lagen auf dem kalten Boden. Einer war ein Soldat. Kip hatte seine Mutter viele Male bewusstlos gesehen; er wusste sofort, dass dieser Mann nicht ohnmächtig geworden war. Er hatte die Glieder unnatürlich gespreizt, lag ohne jede Decke da, und sein Mund stand offen, während seine Augen ohne einen Wimpernschlag in die Nacht starrten.

Neben dem toten Soldaten lag ein weiterer Mann, in Ketten, aber lebend. Er lag auf der Seite, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, einen schwarzen Sack über dem Kopf, der um seinen Nacken fest zugebunden war.

Der Gefangene zitterte. Nein, er weinte. Kip schaute sich um; es war niemand sonst zu sehen.

»Warum bringst du es nicht zu Ende, verdammt noch mal?«, sagte der Gefangene.

Kip erstarrte. Er hatte geglaubt, er habe sich lautlos genähert.

»Feigling«, sprach der Gefangene weiter. »Ich nehme an, du befolgst nur deine Befehle? Orholam wird dich strafen für das, was du diesem Städtchen antun willst.«

Kip hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete.

Anscheinend sprach sein Schweigen für ihn.

»Du bist keiner von ihnen.« Ein hoffnungsvoller Ton trat in die Stimme des Gefangenen. »Bitte, hilf mir!«

Kip trat vor. Der Mann litt. Dann blieb er stehen. Blickte auf den toten Soldaten hinab. Das Hemd des Soldaten war vorn von Blut durchweicht. Hatte dieser Gefangene ihn getötet? Wie?

»Bitte, lass mich gefesselt, wenn du musst, aber bitte, ich will nicht in der Dunkelheit sterben.«

Kip hielt sich zurück, obwohl es ihm grausam vorkam. »Du hast ihn getötet?«

»Ich soll beim ersten Tageslicht hingerichtet werden. Ich bin geflohen. Er hat mich überwältigt und mir, bevor er starb, den Sack über den Kopf gestülpt. Wenn die Morgendämmerung nah ist, wird seine Ablösung jetzt jeden Moment kommen.«

Kip konnte sich noch immer keinen Reim auf das Ganze machen. Niemand in Rekton traute den Soldaten, die durchkamen, und die Alkaldesa hatte den jungen Menschen im Ort eingeschärft, für eine Weile einen großen Bogen um alle Soldaten zu machen – anscheinend hatte Garadul, der neue Satrap, sich von der Chromeria losgesagt.

Jetzt sei er König Garadul, sagte er, aber er verlange die gewohnten Dienste der jungen Untertanen. Die Alkaldesa hatte seinem Stellvertreter erklärt, dass er, wenn er nicht länger der Satrap sei, kein Recht habe, Truppen auszuheben. König oder Satrap, Garadul konnte nicht glücklich darüber sein, aber Rekton war zu klein, um sich damit abzugeben. Trotzdem wäre es klug, seinen Soldaten auszuweichen, bis Gras über die ganze Sache gewachsen war.

Andererseits machte der Umstand, dass Rekton sich im Moment nicht gut mit dem Satrapen verstand, diesen Mann noch nicht zu Kips Freund.

»Also bist du ein Verbrecher?«, fragte Kip.

»Wie man’s nimmt«, sagte der Mann. Der hoffnungsvolle Ton seiner Stimme verlor sich. »Hör mal, Junge – du bist doch ein Kind, nicht wahr? Du klingst wie eins. Ich werde heute sterben. Ich kann nicht fliehen. Um die Wahrheit zu sagen, ich will es auch gar nicht. Ich bin lange genug davongelaufen. Diesmal kämpfe ich.«

»Ich verstehe nicht.«

»Das wirst du schon. Nimm mir die Kapuze ab.«

Obwohl ein vager Zweifel an Kip nagte, löste er den Halbknoten um den Hals des Mannes und zog den Sack herunter.

Zuerst hatte Kip keine Ahnung, wovon der Gefangene sprach. Der Mann richtete sich auf, die Arme noch immer hinter dem Rücken gefesselt. Er war vielleicht dreißig Jahre alt und Tyreaner wie Kip, aber mit hellerer Haut. Sein Haar war eher gewellt als kraus, und seine Glieder waren dünn und muskulös. Dann sah Kip die Augen.

Männer und Frauen, die Licht in ihren Dienst zwingen und zu Luxin wandeln konnten – Wandler –, hatten immer ungewöhnliche Augen. Ein kleiner Rückstand der Farbe, die sie wandelten, blieb in ihren Augen. Im Laufe ihres Lebens färbte dieser Rückstand die ganze Iris rot oder blau oder was immer ihre Farbe war. Der Gefangene war ein Grünwandler – oder war es gewesen. Das Grün hatte den Ring seiner Iris gesprengt und sich in das Weiß des Augapfels ergossen wie Scherben von zerbrochenem Tongeschirr. Kip schnappte nach Luft und wich zurück.

»Bitte!«, sagte der Mann. »Bitte, der Wahnsinn hält mich nicht in seinen Fängen. Ich werde dir nichts antun.«

»Du bist ein Farbwicht.«

»Dann weißt du auch, warum ich aus der Chromeria geflohen bin«, erwiderte der Mann.

Weil die Chromeria Farbwichte tötete, wie ein Bauer einen geliebten, tollwütigen Hund tötete.

Kip war drauf und dran, davonzurennen, aber der Mann machte keine drohenden Gebärden. Und außerdem war es immer noch dunkel. Selbst Farbwichte brauchten Licht, um es zu wandeln. Der Nebel wirkte jedoch schon leichter, und ein Hauch von Grau erreichte bereits den Horizont. Es war verrückt, mit einem Wahnsinnigen zu reden, aber vielleicht war es nicht allzu verrückt. Zumindest nicht bis zum Tagesanbruch.

Der Farbwicht sah Kip seltsam an. »Blaue Augen.« Er lachte.

Kip runzelte die Stirn. Er hasste seine blauen Augen. Es war eine Sache, wenn ein Fremdländer wie Meister Danavis blaue Augen hatte. Bei ihm sahen sie gut aus. Bei Kip sahen sie aus wie eine üble Laune der Natur.

»Wie heißt du?«, fragte der Farbwicht.

Kip schluckte und dachte, dass er wahrscheinlich davonlaufen sollte.

»Na, bei Orholam, denkst du, ich werde dich mit deinem Namen verhexen? Wie ahnungslos sind die Menschen in dieser Provinz denn? So funktioniert die Chromaturgie nicht …«

»Kip.«

Der Farbwicht grinste. »Kip. Nun, Kip, hast du dich jemals gefragt, warum du in einem so kleinen Leben feststeckst? Hast du jemals das Gefühl gehabt, Kip, dass du etwas Besonderes bist?«

Kip sagte nichts. Ja und ja.

»Weißt du, warum du das Gefühl hast, für etwas Größeres bestimmt zu sein?«

»Warum?«, fragte Kip, leise und hoffnungsvoll.

»Weil du ein arroganter kleiner Scheißer bist.« Der Farbwicht lachte.

Es hätte Kip nicht überraschen sollen. Seine Mutter hatte schon Schlimmeres gesagt. Trotzdem brauchte er einen Moment. Ein kleiner Fehlschlag. »Brenne in der Hölle, Feigling«, sagte er. »Du hast es nicht einmal geschafft wegzulaufen. Gefangen von Eisenfußsoldaten.«

Der Farbwicht lachte lauter. »Oh, sie haben mich nicht gefangen. Sie haben mich rekrutiert.«

Wer würde Wahnsinnige auffordern, sich ihnen anzuschließen? »Sie wussten nicht, dass du ein …«

»Oh, sie wussten es durchaus.«

Furcht senkte sich schwer in Kips Magen. »Du hast etwas über meine Stadt gesagt. Vorhin. Was haben die Soldaten vor?«

»Weißt du, Orholam hat Sinn für Humor. Das ist mir bisher noch nie aufgefallen. Du bist eine Waise, nicht wahr?«

»Nein. Ich habe eine Mutter«, erwiderte Kip. Er bereute sofort, dem Farbwicht auch nur diese kleine Information gegeben zu haben.

»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, es gäbe eine Prophezeiung über dich?«

»Es war schon beim ersten Mal nicht komisch«, bemerkte Kip. »Was wird mit meiner Stadt geschehen?«

Der Tagesanbruch nahte, und Kip hatte nicht die Absicht, hier zu verweilen. Im Morgengrauen würde nicht nur die Ablösung des Wachpostens kommen, Kip hatte auch keine Ahnung, was der Wicht auszurichten vermochte, sobald er Licht hatte.

»Weißt du«, begann der Wicht, »du bist der Grund, warum ich in dieser Lage bin. In Ketten, meine ich.«

»Was?«, fragte Kip.

»Es liegt Macht im Wahnsinn, Kip. Natürlich …« Seine Stimme verlor sich, und er lachte über einen unausgesprochenen Gedanken. Dann konzentrierte er sich wieder auf Kip. »Sieh mal, dieser Soldat hat einen Schlüssel in der Brusttasche. Ich konnte ihn nicht herausholen, nicht mit …« Er schüttelte die hinter seinem Rücken gefesselten Hände.

»Und warum sollte ich dir helfen?«, fragte Kip.

»Für einige klare Antworten vor Tagesanbruch.«

Verrückt und schlau. Perfekt. »Gib mir zuerst eine«, sagte Kip.

»Frag.«

»Wie sieht der Plan für Rekton aus?«

»Feuer.«

»Was?«, fragte Kip.

»Tut mir leid, du sagtest eine Antwort.«

»Das war keine Antwort!«

»Sie werden deine Stadt auslöschen. Ein Exempel statuieren, damit niemand sonst König Garadul trotzt. Andere Dörfer haben sich dem König natürlich ebenfalls widersetzt. Seine Rebellion gegen die Chromeria gefällt nicht jedermann. Für jede Stadt, die darauf brennt, Rache am Prisma zu üben, gibt es eine weitere, die nichts mit dem Krieg zu tun haben will. Deine Stadt wurde eigens auserwählt. Wie dem auch sei, ich hatte einen kleinen Gewissenskonflikt und habe Einwände erhoben. Worte wurden gewechselt. Ich habe meinen Vorgesetzten geschlagen. Nicht ausschließlich meine Schuld. Sie wissen, dass wir Grünen nicht auf Regeln und Hierarchie stehen. Insbesondere dann nicht, wenn wir den Lichtring durchbrochen haben.« Der Farbwicht zuckte die Achseln. »So, das war es in klaren Worten. Damit habe ich mir doch wohl den Schlüssel verdient, hm?«

Es waren zu viele Informationen, um sie sofort aufzunehmen – den Lichtring durchbrochen? –, aber es war eine klare Antwort gewesen. Kip ging zu dem toten Mann hinüber. Seine Haut war bleich im heraufdämmernden Licht. Reiß dich zusammen, Kip. Frag, was immer du fragen musst.

Kip spürte die Morgendämmerung kommen. Unheimliche Gestalten traten aus der Nacht hervor. Die große, hoch aufragende Zwillingsmasse der Getrennten Felsen war aber immer noch mehr zu ahnen als zu sehen – sie befand sich dort, wo die Sterne am Himmel verdeckt waren.

Welche Frage muss ich stellen?

Er zögerte, weil er den toten Mann nicht berühren wollte. Er kniete sich hin. »Warum meine Stadt?« Er durchstöberte die Tasche des Toten, sorgfältig darauf bedacht, keine Haut zu berühren. Da waren sie, zwei Schlüssel.

»Sie glauben, du hättest etwas, das dem König gehört. Ich weiß nicht, was es ist. Auch diese Information habe ich nur aufgeschnappt, weil ich gelauscht habe.«

Kip brauchte eine Sekunde. Er griff sich an die Brust. »Ich? Ich soll etwas haben, das dem König gehört? Ich besitze gar nichts!«

Der Farbwicht schenkte ihm ein verrücktes Grinsen, aber Kip hielt es für Heuchelei. »Dann ist es ein tragischer Fehler. Ihr Fehler, deine Tragödie …«

»Was, du denkst, ich lüge?!«, fragte Kip. »Du denkst, ich wäre hier draußen, um Luxin zu sammeln, wenn ich eine andere Wahl hätte?«

»So oder so, im Grunde schert es mich nicht. Wirst du diesen Schlüssel herbringen, oder muss ich dich ganz nett darum bitten?«

Es war ein Fehler, ihm die Schlüssel zu bringen. Kip wusste es. Der Farbwicht war labil. Er war gefährlich. So viel hatte er selbst zugegeben. Aber er hatte Wort gehalten. Wie konnte Kip etwas Geringeres tun?

Kip schloss dem Mann die Fesseln auf und dann das Vorhängeschloss an den Ketten. Er wich vorsichtig zurück, wie man vor einem wilden Tier zurückweichen würde. Der Farbwicht tat so, als bemerke er es nicht. Rieb sich lediglich die Arme und reckte sich. Er ging zu dem Wachposten, tastete noch einmal dessen Taschen ab und brachte aus einer davon eine grüne Brille mit einem gesprungenen Glas zum Vorschein.

»Du könntest mit mir kommen«, meinte Kip. »Wenn das, was du gesagt hast, wahr ist …«

»Was denkst du, wie nah ich an deine Stadt herankäme, bevor jemand mit einer Muskete auf mich anlegt? Außerdem, sobald die Sonne aufgegangen ist … Ich bin bereit, es hinter mich zu bringen.« Der Farbwicht holte tief Luft und starrte zum Horizont hinüber. »Sag mir eins, Kip, wenn du dein Leben lang schlimme Dinge getan hast, aber stirbst, indem du etwas Gutes tust, denkst du, das macht all die schlimmen Dinge wett?«

»Nein«, antwortete Kip aufrichtig, bevor er sich bremsen konnte.

»Ich auch nicht.«

»Aber es ist besser als gar nichts«, bemerkte Kip. »Orholam ist barmherzig.«

»Ich frage mich, ob du das auch noch sagen wirst, wenn sie mit deiner Stadt fertig sind.«

Im aufkeimenden Licht sah Kip, was im Nebel und in der Dunkelheit verborgen gewesen war. Hunderte von Zelten waren mit militärischer Präzision errichtet worden. Soldaten. Unmengen von Soldaten. Und noch während Kip dastand, keine zweihundert Schritte vom nächsten Zelt entfernt, begann die Ebene zu blinken. Funken glitzerten auf Trümmern von zerborstenem Luxin wie Sterne, die auf die Erde gefallen waren und es doch ihren Brüdern am Himmel gleichtun wollten.

Das war der Grund, weshalb Kip hierhergekommen war. Wenn ein Wandler Luxin freisetzte, löste es sich im Allgemeinen einfach auf, ganz gleich, welche Farbe es hatte. Aber in der Schlacht hatte solches Chaos geherrscht, es waren so viele Wandler beteiligt gewesen, und ein wenig versiegelte Magie war vergraben und vor dem Sonnenlicht geschützt worden, das sie aufgelöst hätte. Der Regen der vergangenen Tage hatte etwas davon freigelegt.

Aber Kips Aufmerksamkeit wurde von dem blinkenden Luxin abgelenkt; vier Soldaten und ein Mann mit einem grellroten Umhang und roter Brille kamen vom Lager aus auf sie zu.

»Mein Name ist übrigens Gaspar. Gaspar Elos.« Der Farbwicht sah Kip nicht an.

»Was?«

»Ich bin nicht einfach irgendein Wandler. Mein Vater hat mich geliebt. Ich hatte Pläne. Ein Mädchen. Ein Leben.«

»Ich weiß nicht …«

»Das wird sich ändern.« Der Farbwicht setzte die grüne Brille auf; sie passte ihm perfekt und saß dicht an seinem Gesicht. Die Linsen waren außen beidseitig gebogen, um das ganze Blickfeld abzudecken. Wo immer der Farbwicht hinschaute, sah er durch einen grünen Filter. »Jetzt verschwinde von hier.«

Als die Sonne den Horizont berührte, stieß Gaspar einen Seufzer aus. Es war, als habe Kip aufgehört zu existieren. Es war, als beobachte er seine Mutter, wie sie diesen ersten tiefen Atemzug Nebel nahm. Zwischen den funkelnden Fetzen von dunklerem Grün verwirbelte das Weiß von Gaspars Augen, wie Tröpfchen aus grünem Blut, die auf Wasser trafen; zuerst lösten sie sich auf, dann färbten sie das Ganze. Das Smaragdgrün des Luxins blähte sich durch seine Augen auf, verdichtete sich zu einer soliden Masse und breitete sich dann aus: durch seine Wangen, hinauf zu seinem Haaransatz und dann hinunter zu seinem Hals, bis es schließlich dick seine helleren Fingernägel überzog, als seien sie mit strahlender Jade bemalt worden.

Gaspar begann zu lachen. Es war ein leises, vernunftloses Gackern. Unnachgiebig. Wahnsinnig. Keine Verstellung diesmal.

Kip rannte los.

Er erreichte den Grabhügel, wo er den Wachposten gesehen hatte, und achtete darauf, auf dessen der Armee abgewandten Seite zu bleiben. Er musste zu Meister Danavis. Meister Danavis wusste immer, was zu tun war.

Jetzt war kein Wachposten mehr auf dem Hügel. Kip drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Gaspar sich verwandelte. Grünes Luxin ergoss sich aus seinen Händen auf seinen Körper und bedeckte jeden Teil des Mannes wie eine Hülle, wie eine riesige Rüstung. Kip konnte nicht sehen, wie die Soldaten und der Rotwandler sich Gaspar näherten, aber er sah einen Feuerball von der Größe seines Kopfes auf den Farbwicht zuschießen. Er traf ihn an der Brust, wo der Feuerball zerplatzte und Flammen in alle Richtungen warf.

Gaspar rammte sich hindurch, und flammendes rotes Luxin klebte an seiner grünen Rüstung. Er war prachtvoll, schrecklich, mächtig. Er rannte, seinen Trotz herausschreiend, auf die Soldaten zu und verschwand aus Kips Gesichtsfeld.

Kip floh, während die zinnoberrote Sonne den Nebel in Brand setzte.

2

Gavin Guile beäugte schläfrig die Papiere, die unter seiner Tür durchgeschoben wurden, und fragte sich, wofür Karris ihn diesmal bestrafte. Seine Räume belegten die Hälfte des oberen Stockwerks der Chromeria, aber die Panoramafenster waren geschwärzt, damit er, wenn er überhaupt schlief, ausschlafen konnte. Das Siegel des Briefes pulsierte so sanft, dass Gavin nicht erkennen konnte, aus welcher Farbe es gewandelt worden war. Er setzte sich im Bett auf und weitete die Pupillen, um so viel Licht wie möglich zu sammeln.

Ultraviolett. Oh, verdammte Schei …

Zu allen Seiten versanken die bis zur Decke reichenden geschwärzten Fenster im Boden, und das weiße Licht der Morgensonne durchflutete den Raum. Da er seine Augen so weit aufgerissen hatte, wurde Gavin von Magie überschwemmt. Es war mehr, als er fassen und festhalten konnte.

Licht explodierte in alle Richtungen aus ihm heraus, durchlief ihn in aufeinanderfolgenden Wellen von Ultraviolett abwärts. Das Infrarot war das letzte und wogte wie eine Welle aus Flammen durch seine Haut. Er sprang aus dem Bett, sofort schweißgebadet. Aber da alle Fenster offen waren, fegte der kalte Wind des Sommermorgens durch den Raum und machte ihn frösteln. Er stieß einen schrillen Schrei aus und sprang zurück ins Bett.

Karris musste seinen Aufschrei gehört haben und quittierte den Erfolg ihrer rüden Methode, ihn zu wecken, mit ihrem unverkennbaren Lachen. Sie war keine Ultraviolette, also musste ihr ein Freund bei ihrem kleinen Streich geholfen haben. Ein schneller Schuss von ultraviolettem Luxin auf die Kontrollschalter des Raums schloss die Fenster und stellte deren Filterwirkung auf halbe Stärke. Gavin streckte eine Hand aus, um seine Tür aufzusprengen, dann hielt er inne. Diese Befriedigung würde er Karris nicht gönnen. Die Arbeit des Laufburschen für die Weiße war ihr offensichtlich zugewiesen worden, um sie Demut und Ernst zu lehren. Bisher war das Unternehmen ein spektakulärer Fehlschlag gewesen, obwohl die Weiße immer ein tiefgründigeres Spiel spielte. Trotzdem konnte Gavin sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er sich erhob, zur Tür ging und die Post, die Karris unter der Tür hindurchgeschoben hatte, auflas.

Er öffnete die Tür. Auf einem kleinen Tisch direkt davor stand sein Frühstück auf einem Tablett. Es war jeden Morgen das gleiche: zwei kleine Laibe Brot und ein heller Wein in einem durchsichtigen, gläsernen Becher. Das Brot bestand aus Weizen, Gerste, Bohnen, Linsen, Hirse und Dinkel und war ungesäuert. Ein Mann konnte allein von diesem Brot leben. Tatsächlich lebte ein Mann von diesem Brot. Nur nicht Gavin. Tatsächlich drehte sich ihm beim Anblick des Brotes der Magen um. Er könnte natürlich ein anderes Frühstück bestellen, aber das tat er niemals.

Er brachte es hinein und legte die Post neben das Brot auf den Tisch. Einer der Briefe war ungewöhnlich – ein zusammengefaltetes Blatt, aber weder von dem persönlichen Briefpapier der Weißen noch von dem offiziellen, steifen weißen Briefpapier der Chromeria. Auf der Außenseite hatte das Postbüro der Chromeria als Absender lediglich »ST Rekton« vermerkt: Rekton in der Satrapie Tyrea. Der Name kam ihm bekannt vor; vielleicht war es eins der Städtchen in der Nähe der Getrennten Felsen? Aber dort hatte es früher so viele Städte und Dörfer gegeben. Wahrscheinlich bettelte jemand um eine Audienz, obwohl diese Briefe eigentlich aussortiert werden sollten, um sie getrennt zu bearbeiten.

Trotzdem, eins nach dem anderen. Er brach beide Brotlaibe und überzeugte sich davon, dass nichts darin verborgen war. Dann nahm er eine kleine Flasche mit blauer Farbe aus einer Schublade und tröpfelte ein wenig davon in den Wein. Er ließ den Wein im Becher kreisen, um die beiden Flüssigkeiten zu vermischen, und hielt das Glas gegen den granitblauen Himmel eines Gemäldes, das er zu diesem Zweck an der Wand hängen hatte.

Es war perfekt. Natürlich – denn er machte das jeden Morgen seit fast sechstausend Tagen. Seit fast sechzehn Jahren. Eine lange Zeit für einen Mann, der erst dreiunddreißig Jahre alt war. Er goss den Wein über die aufgebrochenen Brothälften und färbte sie blau. Einmal die Woche bereitete Gavin einen blauen Käse oder eine blaue Frucht zu, aber das erforderte mehr Zeit.

Er griff nach dem Brief aus Tyrea.

»Ich sterbe, Gavin. Es wird Zeit, dass du deinen Sohn Kip kennenlernst. – Lina«

Sohn? Ich habe keinen …

Plötzlich war seine Kehle wie zugeschnürt, und seine Brust fühlte sich an, als verkrampfe sich sein Herz, auch wenn die Chirurgen sagten, dass dem nicht so sei. Entspannt Euch einfach, sagten sie. Ihr seid jung und stark wie ein Streitross. Sie sagten nicht, reißt Euch zusammen! Ihr habt jede Menge Freunde, Eure Feinde fürchten Euch, und Ihr habt keine Rivalen. Ihr seid das Prisma. Wovor habt Ihr Angst? Seit Jahren schon hatte niemand mehr so mit ihm gesprochen. Manchmal wünschte er, jemand würde es tun.

Orholam, der Brief war nicht einmal versiegelt gewesen.

Gavin trat auf seinen gläsernen Balkon hinaus und überprüfte unterbewusst sein Wandeln, wie er es jeden Morgen tat. Er starrte auf seine Hand, zerlegte Sonnenlicht in dessen Spektralfarben, wie nur er es vermochte, und füllte jeden Finger abwechselnd mit einer Farbe, von einem unsichtbaren Ende des Spektrums bis zum anderen: Infrarot, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Ultraviolett. Hatte er eine Störung gespürt, als er Blau gewandelt hatte? Er überprüfte es ein zweites Mal und schaute kurz in die Sonne.

Nein, es war immer noch einfach, Licht zu zerlegen, es ging immer noch anstandslos. Er ließ das Luxin sich lösen, und jede Farbe glitt unter seinen Nägeln hervor und löste sich auf wie Rauch. Zurück blieb nur das vertraute Bouquet harziger Düfte.

Er hielt das Gesicht in die Sonne, deren Wärme wie die Liebkosung einer Mutter war. Gavin öffnete die Augen und sog ein warmes, wohltuendes Rot ein. Ein und aus, im Rhythmus seiner gequälten Atemzüge, während er ihnen befahl, langsamer zu werden. Dann ließ er das Rot los und nahm ein tiefes Eisblau auf. Es fühlte sich an, als gefröre es seine Augen. Wie immer brachte das Blau Klarheit, Frieden, Ordnung. Aber keinen Plan, nicht mit so wenigen Informationen. Er ließ die Farben los. Es ging ihm immer noch gut. Er hatte immer noch mindestens fünf seiner sieben Jahre übrig. Reichlich Zeit. Fünf Jahre, fünf große Ziele.

Nun, vielleicht nicht fünf große Ziele.

Trotzdem, von seinen Vorgängern in den letzten vierhundert Jahren – abgesehen von denen, die ermordet worden oder aus anderen Gründen gestorben waren – hatten die übrigen genau sieben, vierzehn oder einundzwanzig Jahre gedient, nachdem sie Prisma geworden waren. Gavin hatte es länger als vierzehn geschafft. Also, reichlich Zeit. Kein Grund zu denken, er würde die Ausnahme sein. Jedenfalls gab es nicht viele Gründe dafür.

Er griff nach dem zweiten Brief. Er brach das Siegel der Weißen auf – die alte Vettel versiegelte alles, obwohl sie die andere Hälfte dieses Stockwerks bewohnte und Karris ihre Nachrichten persönlich überbrachte. Aber alles musste an seinem geziemenden Ort sein und geziemend getan werden. Ihre blaue Herkunft war unverkennbar.

Die Weiße schrieb: »Wenn Ihr es nicht vorzieht, die Schüler zu begrüßen, die heute am späten Vormittag eintreffen, mein lieber Lord Prisma, findet Euch bitte bei mir auf dem Dach ein.«

Gavin blickte über die Gebäude der Chromeria und die Stadt hinweg und betrachtete die Handelsschiffe in der geschützten Bucht von Großjasper. Ein offensichtlich recht mitgenommener atashischer Einmaster lief gerade ein Pier an, um dort festzumachen.

Neue Schüler begrüßen. Unglaublich. Es war nicht so, dass er sich zu schade war, um neue Schüler zu begrüßen – nun, eigentlich war es doch so. Er, die Weiße und das Spektrum sollten ein Gleichgewicht bilden. Aber obwohl das Spektrum ihn mehr fürchtete als die Weiße, bekam die alte Vettel ihren Willen häufiger als Gavin und die sieben Farben zusammen. Heute Morgen hatte sie wieder mit ihm experimentieren wollen, und wenn er etwas Lästigeres als das Unterrichten vermeiden wollte, sollte er sich besser oben im Turm einfinden.

Gavin wandelte sein rotes Haar zu einem strammen Pferdeschwanz und zog die Kleider an, die seine Kammersklavin für ihn herausgelegt hatte: ein elfenbeinfarbenes Hemd und eine gut geschnittene schwarze Wollhose mit einem übergroßen, mit Edelsteinen besetzten Gürtel, Stiefel mit Silberbeschlag und einen schwarzen Umhang mit alt-ilytanischen Runenmustern, die in Silber daraufgestickt waren. Das Prisma gehörte allen Satrapien, daher tat Gavin sein Bestes, die Traditionen eines jeden Landes zu ehren – selbst eines Landes, das im Wesentlichen aus Piraten und Ketzern bestand.

Er zögerte einen Moment lang, dann zog er eine Schublade auf und nahm sein Paar ilytanischer Pistolen heraus. Sie waren – typisch für alles Ilytanische – von fortschrittlichster Machart. Jedenfalls hatte Gavin noch nichts Besseres gesehen. Das Schloss war viel verlässlicher als ein Radschloss – man bezeichnete es als Steinschloss. Jede Pistole hatte eine lange Klinge unter dem Lauf und sogar eine Gürtelflansch, so dass sie, wenn er sie hinterm Rücken in seinen Gürtel schob, sicher hielten und so weit abstanden, dass er sich nicht selbst aufspießte, wenn er sich hinsetzte. Die Ilytaner dachten an alles.

Natürlich machten die Pistolen die Schwarze Garde der Weißen nervös. Gavin grinste. Als er sich zur Tür umdrehte und sein Blick abermals auf das Gemälde an der Wand fiel, verschwand sein Grinsen.

Er ging zu dem Tisch mit dem blauen Brot zurück. Dann packte er einen von häufiger Benutzung bereits abgegriffenen Teil des Bilderrahmens und zog. Das Bild schwang lautlos auf wie eine Tür und gab den Blick auf eine schmale Rutsche frei.

Es war nichts Bedrohliches an der Rutsche. Sie war zu eng, als dass ein Mann darin hätte heraufklettern können, selbst wenn er alles andere überwand. Es hätte eine Wäscherutsche sein können. Doch für Gavin sah sie aus wie der Schlund zur Hölle, als öffne sich die Immernacht selbst für ihn. Er warf eins der Brote hinein, dann wartete er. Es folgte ein dumpfer Aufprall, als das Brot auf das erste Schloss traf; ein leises Klicken, als es sich öffnete und wieder schloss, dann ein schwächerer Aufprall, als es auf das nächste Schloss traf, und wenige Sekunden später ein letzter Aufprall. Jedes der Schlösser funktionierte noch. Alles war normal. Sicher. Es hatte im Laufe der Jahre Fehler gegeben. Aber diesmal brauchte niemand zu sterben. Verfolgungswahn war nicht angebracht. Er knurrte beinahe, als er das Gemälde zuschlug.

3

Drei Mal ein dumpfer Aufprall. Drei Mal ein Klicken. Drei Tore zwischen ihm und der Freiheit. Die Rutsche spie dem Gefangenen einen zerfetzten Brotlaib entgegen. Er fing ihn auf, beinahe ohne hinzuschauen. Er wusste, dass der Klumpen blau war, von dem stillen Blau eines tiefen Sees am frühen Morgen, wenn die Nacht noch immer den Himmel bewacht und die Luft es nicht wagt, die Haut des Wassers zu liebkosen. Ungetrübt von jeder anderen Farbe war das Wandeln dieses Blaus schwierig. Schlimmer noch, das Wandeln dieses Blaus erfüllte den Gefangenen mit Langeweile; er fühlte sich leidenschaftslos, in Frieden und Harmonie selbst mit diesem Ort. Und heute brauchte er das Feuer des Hasses. Heute würde er fliehen.

Nach all seinen Jahren hier konnte er die Farbe manchmal nicht einmal mehr sehen, als sei er in einer Welt von Grautönen erwacht. Das erste Jahr war das schlimmste gewesen. Seine Augen, die so sehr an Nuancen gewöhnt waren, so geschickt darin, jedes Lichtspektrum zu zergliedern, hatten ihn zu täuschen begonnen. Er hatte Farben halluziniert. Er versuchte, diese Farben in die Werkzeuge zu wandeln, um aus diesem Gefängnis zu fliehen. Aber Fantasie war nicht genug, um Magie zu machen, man brauchte Licht. Echtes Licht. Er war ein Prisma gewesen, also würde jede Farbe ihren Zweck erfüllen, von Ultraviolett bis zum Infrarot. Er hatte die Hitze aus seinem Körper gesammelt, seine Augen in ihren Infrarottönen gebadet und war damit gegen die nervtötenden blauen Mauern angerannt.

Natürlich waren die Mauern gehärtet gegen solch jämmerliche Mengen von Hitze. Er hatte aus dem Blau einen Dolch gewandelt und an seinem Handgelenk gesägt. Wo das Blut auf den Steinboden getropft war, hatte es sofort seine Farbe verloren. Beim nächsten Mal hatte er sein eigenes Blut in den Händen aufgefangen, um zu versuchen, Rot zu wandeln, aber da das einzige Licht in seiner Zelle blau war, war die Ausbeute an Rot zu gering. Es funktionierte auch nicht, auf das Brot zu bluten. Sein natürliches Braun war immer blau gefleckt, also erhielt er, wenn er rot hinzufügte, lediglich ein dunkles, purpurnes Braun. Unmöglich, es zu wandeln. Natürlich. Sein Bruder hatte an alles gedacht. Aber das hatte er ja immer getan.

Der Gefangene saß neben dem Abfluss und begann zu essen. Der Kerker war wie ein unterseits nicht ganz flachgedrückter Ball geformt: die Wände und die Decke eine perfekte Kugel, der Boden nur sanft zur Mitte hin abfallend. Die Wände leuchteten von innen heraus, und jede Oberfläche gab Licht von der gleichen Farbe ab. Der einzige Schatten im Kerker war der Gefangene selbst. Es gab nur zwei Löcher: die Rutsche oben, durch die sein Essen und ein stetes Rinnsal Wasser kamen, das er auflecken musste, um Feuchtigkeit aufzunehmen, und das Abflussrohr unten für seine Exkremente. Er hatte keine Gegenstände, keine Werkzeuge außer seinen Händen und seiner Willenskraft. Mit seiner Willenskraft konnte er aus dem Blau alles wandeln, obwohl es sich auflöste, sobald seine Willenskraft es freisetzte, so dass nur Staub und ein schwacher Geruch nach Mineralien und Harzen zurückblieben.

Aber heute würde der Tag sein, an dem seine Rache begann, sein erster Tag in Freiheit. Dieser Versuch würde nicht scheitern – er weigerte sich, sein Unternehmen auch nur als einen »Versuch« anzusehen –, und auf ihn wartete Arbeit. Die Dinge mussten in der richtigen Reihenfolge getan werden. Er konnte sich jetzt nicht mehr daran erinnern, ob er immer so gewesen oder ob er nur so lange in Blau getränkt war, dass die Farbe ihn grundlegend verändert hatte.

Er kniete neben dem einzigen Teil der Zelle, der nicht das Werk seines Bruders war. Eine einzige, flache Vertiefung im Boden, eine Schale. Zuerst rieb er mit nackten Händen über die Schale und massierte die korrosiven Hautausscheidungen von seinen Fingerspitzen in den Stein, solange er es wagte. Narbengewebe brachte keine Ausscheidungen hervor, daher musste er aufhören, bevor er sich die Finger wundrieb. Er kratzte mit zwei Fingernägeln über die Furche zwischen seiner Nase und seiner Stirn, mit zwei anderen über die Haut hinter seinen Ohren und am Kopf, um mehr Hautausscheidungen zu sammeln. Wo immer auf seinem Körper er etwas von dieser Schmiere aus Talg und Fett und abgestorbenen Zellen fand, rieb er es in die Schale. Nicht dass es eine wahrnehmbare Veränderung gegeben hätte, aber im Laufe der Jahre war seine Schale zwei Fingerglieder tief geworden. Sein Kerkermeister hatte die farbverschlingenden Höllensteine im Muster eines Gitternetzes im Boden verteilt. Was immer groß genug wurde, um eine der Linien dieses Netzes zu berühren, verlor beinahe schlagartig jede Farbe. Aber Höllenstein war außerordentlich teuer. Wie tief reichten die Linien also in den Boden hinein?

Wenn das Gitter nur einige Daumenbreit in die Tiefe reichte, könnten seine wunden Finger es jeden Tag hinter sich lassen. Die Freiheit würde dann nicht mehr weit sein. Aber wenn sein Kerkermeister so viel Höllenstein benutzt hatte, dass die sich überkreuzenden Linien dreißig Zentimeter tief in den Boden reichten, dann hatte er sich fast sechstausend Tage lang für nichts und wieder nichts die Finger wundgerieben. Er würde hier sterben. Eines Tages würde sein Bruder herunterkommen, die kleine Vertiefung im Boden der Zelle sehen – die einzige Spur, die er in der Welt hinterlassen hatte – und lachen. Mit dem Widerhall dieses Lachens in den Ohren glomm ein kleiner Funke des Zorns in seiner Brust auf. Er blies in diesen Funken hinein und schwelgte in seiner Wärme. Es war Feuer genug, um ihm zu helfen, weiterzumachen, genug, um dem beruhigenden, entkräftenden Blau hier unten entgegenzuwirken.

Als er fertig war, urinierte er in die Schale. Und schaute zu. Für einen Augenblick wurde das verfluchte blaue Licht, gefiltert durch das Gelb seines Urins, von grünen Schlieren durchzogen. Ihm stockte der Atem. Die Zeit dehnte sich, während das Grün grün blieb … grün blieb. Bei Orholam, er hatte es geschafft. Er war tief genug gekommen. Er hatte das Gitternetz des Höllensteins durchdrungen!

Und dann verschwand das Grün. In genau den gleichen zwei Sekunden, die es jeden Tag dauerte. Er schrie seine Enttäuschung heraus, aber selbst seine Enttäuschung war schwach, und sein Schrei diente mehr dazu, sich selbst zu versichern, dass er noch hören konnte, als echtem Zorn Luft zu machen.

Der nächste Teil trieb ihn immer noch in den Wahnsinn. Er kniete sich neben die Vertiefung. Sein Bruder hatte ihn in ein Tier verwandelt. In einen Hund, der mit seinem eigenen Kot spielte. Aber dieses Gefühl war zu alt, zu viele Male ausgebeutet worden, um ihm noch echte Wärme zu schenken. Sechstausend Tage später war er zu erniedrigt, um seine Erniedrigung zu verübeln. Er legte beide Hände in seinen Urin und schrubbte damit die Schale ab, wie er sie mit seinen Ölen abgeschrubbt hatte. Selbst aller Farbe beraubt war Urin immer noch Urin. Er sollte immer noch ätzend sein. Er sollte den Höllenstein schneller aushöhlen, als Hautöle allein es vermochten.

Vielleicht neutralisierte der Urin aber auch die Hautsubstanzen, mit denen er sein Werk begonnen hatte. Möglicherweise schob er den Tag seiner Flucht so nur immer weiter und weiter in die Ferne. Er hatte keine Ahnung. Das war es, was ihn verrückt machte, nicht der Umstand, dass er die Finger in warmen Urin tauchte. Nicht mehr.

Er schöpfte den Urin aus der Schale und trocknete sie mit einem Bündel blauer Lumpen: Seine Kleider, seine Kissen, alles stank jetzt nach Urin. Stank so lange nach Urin, dass der Gestank ihm nichts mehr ausmachte. Es spielte keine Rolle. Was zählte, war lediglich, dass die Schale bis morgen trocken sein musste, damit er es abermals versuchen konnte. Ein weiterer Tag, ein weiterer Fehlschlag. Morgen würde er es wieder mit Infrarot versuchen. Es war eine Weile her. Er hatte sich von seinem letzten Versuch hinreichend erholt. Er sollte stark genug dafür sein. Wenn schon nichts anderes, so hatte sein Bruder ihn gelehrt, wie stark er wirklich war. Und vielleicht war es das, was ihn dazu brachte, Gavin mehr zu hassen als irgendetwas sonst. Aber es war ein Hass, der so kalt war wie seine Zelle.

4

In der frühmorgendlichen Kühle lief Kip über den Stadtplatz – so schnell es sein unbeholfener Körper zuließ. Sein Schuh verfing sich an einem Pflasterstein, und Kip flog kopfüber durch Meister Danavis’ Hintertor.

»Alles in Ordnung mit dir, Junge?«, fragte Meister Danavis vom Platz an seiner Werkbank, die dunklen Brauen hochgezogen über kornblumenblauen Augen, deren Iris halb gefüllt waren mit dem grellen Rubinrot, das ihn zu einem Wandler machte. Meister Danavis war Anfang vierzig, bartlos und drahtig. Bekleidet war er mit dicken, wollenen Arbeitshosen und einem dünnen Hemd, das trotz des kalten Morgens hagere, muskulöse Arme entblößte. Auf seiner Nasenspitze saß eine rote Brille.

»Au, au.« Kip betrachtete seine aufgeschürften Hände. Auch seine Knie brannten. »Nein … das ist es nicht.« Er zog seine Hose hoch und zuckte zusammen, als seine zerkratzten Hände über das schwere, einst schwarze Leinen rieben.

»Gut, gut, denn – ah, hier. Sag mir, sind beide gleich?« Meister Danavis streckte die Arme aus. Beide waren leuchtend rot, von den Ellbogen bis zu den Fingern überzogen mit Luxin. Er streifte sich die Hemdärmel ein Stück herunter, damit seine helle, milchkopifarbene Haut Kip bei seiner Begutachtung nicht störte. Wie Kip war Meister Danavis ein Halbblut – obwohl Kip nie gehört hatte, dass jemand dem Wandler deshalb das Leben schwer machte, so wie es ihm immer wieder schwer gemacht wurde. Der Färber war zur Hälfte Blutwäldler, sein Gesicht markiert mit einigen seltsamen Punkten, die sie Sommersprossen nannten, und einem Anflug von Rot in seinem ansonsten normalen, dunklen Haar. Aber zumindest machte seine ungewöhnlich helle Haut Kip seine Aufgabe leicht.

Kip deutete auf einen Bereich zwischen dem Unterarm des Färbers und dessen Ellbogen. »Hier nimmt das Rot einen anderen Ton an, und dort ist es etwas heller. Kann ich, ähm, mit Euch reden, Herr?«

Meister Danavis ließ beide Hände angewidert sinken, und rubinfarbenes Luxin klatschte auf den Boden, der bereits bespritzt war mit hundert Rottönen. Das klebrige Luxin zerbröckelte und löste sich auf. An den meisten Nachmittagen kam Kip her, um die Überreste zusammenzukehren – rotes Luxin war brennbar, selbst wenn es zu Staub zerfallen war. »Superchromaten! Es ist eine Sache, dass meine Tochter eine Superchromatin ist, aber der Ehemann der Alkaldesa? Und du? Zwei Männer in einem kleinen Städtchen, das eher ein Dorf ist? Warte, was ist los, Kip?«

»Herr, da ist, äh …« Kip zögerte. Das Schlachtfeld war nicht nur verboten, Meister Danavis hatte auch einmal gesagt, dass er es für nichts anderes als schweren Diebstahl halte, dort auf Raubzug zu gehen. »Habt Ihr etwas von Liv gehört, Herr?« Feigling. Vor drei Jahren war Liv Danavis fortgegangen – wie ihr Vater vor ihr –, um sich in der Chromeria ausbilden zu lassen. Und nur in ihrem ersten Jahr hatte es sich ihr Vater leisten können, sie wenigstens einmal, während der Ernteferien, nach Hause kommen zu lassen.

»Komm her, Junge. Zeig mir deine Hände.«

Meister Danavis griff sich einen sauberen Lumpen, tupfte das Blut ab und wischte den Dreck mit energischen Bewegungen weg. Dann entkorkte er einen Krug und hielt den Lumpen über die Öffnung. Als Nächstes rieb er mit dem brandygetränkten Lumpen über die Innenflächen von Kips Händen.

Kip schnappte nach Luft.

»Sei kein Baby«, sagte Meister Danavis. Obwohl Kip, seit er denken konnte, gelegentlich Arbeiten für den Färber verrichtet hatte, hatte er manchmal immer noch Angst vor ihm. »So, jetzt die Knie.«

Mit einer Grimasse zog Kip ein Hosenbein hoch und stellte den Fuß auf eine Werkbank. Liv war zwei Jahre älter als Kip. Fast siebzehn jetzt. Nicht einmal der Mangel an Männern in der Stadt hatte sie veranlasst, in Kip mehr zu sehen als ein Kind, aber sie war immer nett zu ihm gewesen. Ein hübsches Mädchen, das nett war und nur gelegentlich herablassend, war so ziemlich das Beste, worauf Kip hoffen konnte.

»Sagen wir einfach, dass nicht alle Haie und Seedämonen im Meer leben. Seit dem Krieg ist die Chromeria für einen Tyreaner kein angenehmer Platz mehr.«

»Also denkt Ihr, sie möchte vielleicht nach Hause kommen?«

»Kip«, sagte Meister Danavis, »steckt deine Mutter wieder in Schwierigkeiten?«

Meister Danavis hatte sich rundheraus geweigert, Kip als Färber in die Lehre zu nehmen, mit der Begründung, es gebe in dem kleinen Rekton nicht genug Arbeit, um Kip eine Zukunft zu ermöglichen. Außerdem hatte er darauf beharrt, dass er selbst nur deshalb ein halbwegs anständiger Färber sei, weil er wandeln konnte. Er war vor dem Krieg der Prismen natürlich etwas anderes gewesen, denn er war in der Chromeria ausgebildet worden. Eine solche Ausbildung war nicht billig, und die meisten Wandler mussten ein Gelübde ablegen, später zu dienen, um die Kosten zu begleichen. Also musste Meister Danavis’ eigener Meister während des Krieges ums Leben gekommen sein, so dass Danavis nicht gewusst hatte, was er tun sollte. Aber nur wenige Erwachsene sprachen von jenen Tagen. Tyrea hatte verloren, und die gesamte Situation war schlimm geworden, das war alles, was Kip oder die anderen Kinder wussten.

Trotzdem bezahlte Meister Danavis Kip für Gelegenheitsarbeiten, und wie die Hälfte der Mütter in der Stadt setzte er ihm jedes Mal eine Mahlzeit vor, wenn er vorbeikam. Und besser noch, er ließ Kip immer die Kuchen essen, die die Frauen in der Stadt schickten, um die Aufmerksamkeit des gutaussehenden Junggesellen zu erregen.

»Herr, auf der anderen Seite des Flusses steht eine Armee. Sie kommen, um die Stadt auszulöschen und ein Exempel an uns zu statuieren, weil wir König Garadul getrotzt haben.«

Meister Danavis hob an, etwas zu sagen. Dann sah er, dass Kip es ernst meinte. Einen Moment lang schwieg er, und dann veränderte sich sein ganzes Verhalten.

Er begann, Kip mit Fragen förmlich zu bombardieren: Wo waren sie genau, wann war er dort gewesen, woher wusste er, dass sie die Stadt auslöschen würden, wie hatten die Zelte ausgesehen, wie viele Zelte hatte er gezählt, waren Wandler dabei? Kips Antworten klangen selbst in seinen eigenen Ohren unglaubwürdig, aber Meister Danavis akzeptierte alles.

»Er sagte, König Garadul rekrutiere Farbwichte? Bist du dir sicher?«

»Ja, Herr.«

Meister Danavis rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Oberlippe, wie ein Mann über einen Schnurrbart streichen würde, obwohl Danavis glattrasiert war. Er ging zu einer Truhe, öffnete sie und nahm eine Börse heraus. »Kip, deine Freunde sind heute Morgen zum Fischen zur Grünen Brücke gegangen. Du musst dort hinrennen und sie warnen. Die Männer des Königs werden diese Brücke besetzen. Wenn du sie nicht warnst, werden deine Freunde getötet oder versklavt werden. Ich werde alle hier in der Stadt warnen. Wenn es zum Schlimmsten kommt, benutze dieses Geld, um dich zur Chromeria durchzuschlagen. Liv wird dir helfen.«

»Aber … aber meine Mutter! Wo …«

»Kip, ich werde mein Bestes tun, um sie und alle anderen hier zu retten. Niemand sonst wird deine Freunde retten. Willst du, dass sie Isabel zur Sklavin machen? Du weißt, was geschieht, richtig?«

Kip erbleichte. Isa war noch immer ein Wildfang, aber es war ihm nicht entgangen, dass sie sich in eine schöne Frau verwandelte. Sie war nicht immer sehr nett zu ihm, aber der Gedanke, jemand könnte ihr wehtun, erfüllte ihn mit Zorn.

»Ja, Herr.« Kip wandte sich zum Gehen, dann zögerte er. »Herr, was ist ein Superchromat?«

»Eine verfluchte Nervensäge. Geh jetzt!«

5

Da würde einiges auf ihn zukommen. Der Brief, der Du-hast-einen-Sohn-Brief, war nicht versiegelt gewesen. Gavin war sich ziemlich sicher, dass die Leute der Weißen seine gesamte Korrespondenz lasen. Aber Karris hatte gelacht, nachdem sie ihm den Brief unter der Tür durchgeschoben hatte, und das bedeutete, dass sie ihn nicht gelesen hatte. Also wusste sie es nicht. Noch nicht. Sie war gegangen, um der Weißen Bericht zu erstatten, die Gavin erwartete.

Er ließ die Schultern kreisen, reckte den Hals in die eine Richtung und dann in die andere, was ihm jedes Mal ein befriedigendes kleines Knacken bescherte, dann setzte er sich in Bewegung. Seine Schwarzgardisten schlossen sich ihm an; jeder der Männer trug eine Radschlossmuskete und einen Ataghan oder eine andere Waffe. Er stieg die Treppe zu der offenen Dachterrasse der Chromeria hinauf. Wie immer bemerkte er zuerst Karris. Sie war klein und von der Natur mit fülligen Kurven ausgestattet, aber nach jahrelangem, anstrengendem Training wirkte sie vor allem muskulös und sehnig. Ihr Haar war heute glatt, lang und platinblond. Gestern war es rosa gewesen. Gavin gefiel es blond. Blond bedeutete im Allgemeinen, dass sie in guter Stimmung war. Die Veränderungen ihrer Haarfarbe waren nichts Magisches. Sie wechselte sie einfach gern regelmäßig. Oder vielleicht fand sie, dass sie derart aus der Masse herausragte, dass sie sich geradeso gut den Versuch sparen konnte, darin unterzugehen.

Wie die anderen Schwarzgardisten, die die Weiße beschützten, trug Karris eine feine, schwarze Hose und eine Bluse, die zum Kämpfen geschnitten und schlicht war bis auf die Goldstickerei an der Schulter und am Hals, die ihren Rang offenbarte. Die Schwarzgardisten trugen je einen schmalen schwarzen Ataghan – ein leicht nach vorn gebogenes Schwert mit einer Schneide – und statt eines Schildes eine stählerne Parierstange mit einem kurzen Dolch in der Mitte. Sie waren ausgiebig in der Benutzung von beidem sowie einer Anzahl weiterer Waffen ausgebildet. Im Gegensatz zu ihren Kameraden hatte Karris allerdings nicht die tiefschwarze Hautfarbe eines Parianers oder Ilytaners.

Und sie schien tatsächlich noch in guter Stimmung zu sein. Ein schelmisches kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Gavin zog eine Augenbraue hoch und sah sie an, wobei er so tat, als sei er leicht verärgert über ihren Streich mit den Fenstern seines Zimmers. Dann trat er vor die Weiße hin.

Orea Pullawr war eine eingefallene alte Frau, die immer häufiger den fahrbaren Stuhl benutzte, in dem sie jetzt saß. Ihre Schwarzgardisten sorgten dafür, dass es bei jedem Wachwechsel mindestens einen stämmigen Mann gab, für den Fall, dass sie die Treppe hinauf- oder hinuntergetragen werden musste. Aber trotz ihrer körperlichen Gebrechlichkeit hatte Orea Pullawr seit mehr als zehn Jahren keinen Herausforderer um die weiße Robe mehr bekämpfen müssen. Die meisten Menschen konnten sich nicht einmal an ihren richtigen Namen erinnern; sie war einfach die Weiße.

»Seid Ihr bereit?«, fragte sie. Selbst nach all den Jahren hatte sie immer noch Mühe zu akzeptieren, dass dies für ihn nicht schwer war.

»Ich werde zurechtkommen.«

»Das tut Ihr immer«, sagte sie.

Ihre Augen waren einmal grau gewesen, aber jetzt füllten zwei breite, blasse, farbige Bögen jede Iris aus, oben blau und unten grün. Die Weiße war eine blaugrüne Bichromatin, aber die Farbbögen in ihren Augen waren wie ausgewaschen, entsättigt, weil sie sehr lange nicht mehr gewandelt hatte. Denn ihre Farben hatten den Halo – die äußere Grenze der Iris – erreicht. Falls sie jemals wieder wandeln sollte, würde sie den Ring sprengen: Die Farbe würde in das Weiß der Augen eindringen, und das würde ihr Ende sein. Das war der Grund, warum sie keine farbige Brille trug. Im Gegensatz zu anderen Wandlern, die sich zurückgezogen hatten, hielt sie nicht einmal an der Heuchelei fest, ihre unbenutzte Brille mit sich herumzutragen, um alle daran zu erinnern, was sie einst gewesen war. Orea Pullawr war die Weiße, und das war genug.

Gavin ging auf ein Podest zu, über dem an einer gebogenen Schiene, so dass für jede Tages- und Jahreszeit die richtige Position gewählt werden konnte, ein großer, geschliffener Kristall hing. Er brauchte ihn nicht. Hatte ihn nie gebraucht, aber alle schienen sich wohler zu fühlen, wenn sie dachten, er brauche irgendeine Art von Krücke, um mit so viel Licht fertigzuwerden. Er wurde auch niemals lichtkrank. Das Leben war einfach nicht gerecht.

»Irgendwelche besonderen Wünsche?«, fragte er.

Wie genau das Prisma das Ungleichgewicht der Magie in der Welt wahrnahm, war immer noch ein Rätsel. Verbrämt durch religiösen Unfug des Sinnes, dass das Prisma direkt mit Orholam und daher mit allen Satrapien in Verbindung stehe, hatte sich niemals jemand mit dem Thema beschäftigt, bevor Gavin zum Prisma geworden war. Selbst die Weiße war beinahe angstvoll gewesen, als sie danach gefragt hatte, und sie war die dreisteste Frau, die Gavin jemals begegnet war.

Nicht dass sie große Fortschritte gemacht hätten, aber vor langer Zeit hatten er und die Weiße einen Handel geschlossen: Sie würde ihn intensiv studieren und er zu diesem Zweck mit ihr zusammenarbeiten, und als Gegenleistung würde sie ihm gestatten zu reisen, ohne dass Schwarzgardisten ihn auf Schritt und Tritt begleiteten. Meistens funktionierte es. Manchmal konnte er es sich nicht verkneifen, sie aufzuziehen, da es schien, als hätten sie in den sechzehn Jahren, seit er zum Prisma geworden war, nichts dazugelernt. Wenn er es zu weit trieb, brachte sie ihn natürlich hier herauf und sagte, sie müsse untersuchen, wie das Licht sich durch seine Haut bewegte. Also würde er ausgleichen müssen. Im Freien. Im Winter. Nackt.

Nicht angenehm. Da Gavin nun einmal Gavin war, hatte er ziemlich genau ermittelt, wo die Grenze war. Kaiser der Sieben Satrapien, wahrhaftig.

»Ich möchte, dass Ihr anfangt, den Schwarzgardisten zu erlauben, ihre Arbeit zu tun, Lord Prisma.«

»Ich meinte, was das Ausgleichen der Farben betrifft.«

»Sie trainieren ihr Leben lang, um uns zu dienen. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel. Und Ihr verschwindet, jede Woche. Wir sind übereingekommen, dass Ihr ohne sie reisen könnt, aber nur in Notfällen.«

Uns zu dienen? Das war wohl ein wenig komplizierter.

»Ich lebe gefährlich«, sagte Gavin. Sie stritten ständig über dieses Thema. Zweifellos fand die Weiße, dass er, wenn sie hier nicht einen klaren Standpunkt vertrat, auf mehr Freiheit drängen würde. Zweifellos hatte sie recht. Gavin sah die Weiße energisch an. Die Weiße sah Gavin energisch an. Die Schwarzgardisten waren sehr, sehr still.

Wärst du auch so mit ihnen umgegangen, Bruder? Oder hättest du sie einfach mit deinem Charme dazu gebracht, sich zu unterwerfen? Alles in meinem Leben dreht sich um Macht.

»Nichts Besonderes heute«, sagte die Weiße. Gavin begann.

Ein Prisma verfügte im Wesentlichen über zwei einzigartige Fähigkeiten, die es vor allen anderen Wandlern auszeichneten. Zunächst einmal konnte es ohne äußere Hilfsmittel Licht in dessen Einzelfarben zerlegen und wandeln. Ein normaler Rotwandler konnte nur mit seinem Bereich von Rot wandeln; bei einigen war dieser Spektralbereich breiter, bei anderen schmaler. Um zu wandeln, musste er etwas Rotes sehen – rote Felsen, Blut, einen Sonnenuntergang, eine Wüste, was auch immer. Oder er konnte, wie man vor langer Zeit herausgefunden hatte, eine rote Brille tragen, die das weiße Licht der Sonne so filterte, dass nur noch Rot übrig blieb. Auf diese Weise erlangte man weniger Macht, aber es war besser, als ganz und gar von der jeweiligen Umgebung abhängig zu sein.

Die gleichen Einschränkungen galten für jeden Wandler: Die Monochromaten, die die Mehrheit aller Wandler stellten, konnten nur Licht einer einzigen Farbe wandeln; Bichromaten, die etwas seltener waren, konnten mit zwei Farben wandeln. Im Allgemeinen waren es Farben, die aneinandergrenzten, wie Rot und Orange oder Gelb und Grün. Polychromaten – jene, die drei oder mehr Farben beherrschten – waren die kleinste Gruppe, aber selbst sie konnten nur Farben wandeln, die sie sahen. Einzig das Prisma brauchte niemals eine farbige Brille. Einzig Gavin konnte Licht in sich selbst zergliedern.

Das war bequem für Gavin, aber es half niemandem sonst. Was ihnen half, war dies: Wenn er oben auf der Chromeria stand und Licht durch seine Augen strömte, seine Haut mit jeder Farbe des Spektrums füllte und aus jeder Pore blutete, konnte er das Ungleichgewicht in der Magie der ganzen Welt fühlen.

»Im Süden, wie zuvor«, sagte Gavin. »Tief in Tyrea, wahrscheinlich in Kelfing, benutzt irgendjemand Infrarot, und zwar in großen Mengen.« Hitze und Feuer bedeuteten im Allgemeinen Kriegsmagie. Sie waren das naheliegendste Mittel für die meisten nicht wandelnden Kriegsfürsten oder Satrapen, um Menschen töten zu lassen. Ohne jede Raffinesse. Die Menge an Infrarot, die in Tyrea benutzt wurde, bedeutete entweder, dass dort ein stiller Krieg geführt wurde, oder es bedeutete, dass der neue Satrap, Rask Garadul, seine eigene Schule gegründet hatte, um Kriegswandler auszubilden. Seine Nachbarn würden nicht glücklich sein, davon zu erfahren. Der ruthgarische Gouverneur, der turnusgemäß Tyreas ehemalige Hauptstadt Garriston besetzt hielt, würde definitiv nicht glücklich sein, es zu erfahren.

Zusätzlich zu dem Übermaß an Infrarot war, seit Gavin die Farben zum letzten Mal ins Gleichgewicht gebracht hatte, mehr rote als blaue Magie benutzt worden und mehr grüne als orangefarbene. Ursprünglich hatte das System sich selbst reguliert. Wenn Rotwandler überall auf der Welt zu viel Rot benutzten, wurde es schwerer für sie zu wandeln, und gleichzeitig wurde es leichter für die Blauwandler. Versiegeltes rotes Luxin würde sich leichter auflösen, während blaues Luxin sich dauerhafter versiegeln lassen würde. In diesem Ausmaß war es eine Unannehmlichkeit, ein Ärgernis. Legenden erzählten von einer Epoche vor Lucidonius, der ihnen die wahre Verehrung Orholams gebracht hatte, als die Zentren der Magie über die ganze Welt verstreut gewesen waren: Grün war im Gebiet des heutigen Ruthgar verbreitet gewesen, Rot in Atash und so weiter, und überall hatte man heidnische Götter angebetet und war tief in einem Sumpf aus Aberglauben und Unwissenheit gefangen gewesen. Dann hatte irgendein Kriegsherr fast alle Blauwandler massakriert. Binnen Monaten, so hieß es, hatte sich die Azurblaue See in Blut verwandelt, war alles Leben im Wasser erstickt. Die Fischer an allen Küsten des Meeres hatten gehungert. Die wenigen überlebenden Blauwandler hatten heldenhaft versucht, allein das Gleichgewicht wiederherzustellen – sie hatten so viel blaue Magie benutzt, dass sie sich damit töteten. Das Meer wurde wieder klar, und die Rotwandler nahmen ihre Tätigkeit wieder auf wie zuvor. Aber jetzt waren keine Blauwandler mehr übrig. Nichts, wozu rotes Luxin benötigt wurde, konnte vollbracht werden, das Meer wurde wieder blutig, und Hungersnot und Seuchen griffen um sich.

Und so ging es weiter. In fast jeder Generation löschten gewaltige Naturkatastrophen Tausende aus, die in dem Glauben starben, sie hätten irgendetwas getan, das ihren kapriziösen Göttern missfiel.

Prismen verhinderten das. Gavin konnte spüren, was aus dem Gleichgewicht geraten war, lange bevor es irgendwelche äußeren Zeichen gab, und er konnte es beheben, indem er die entgegengesetzte Farbe wandelte. Wenn Prismen scheiterten, wie sie das unausweichlich nach sieben, vierzehn oder einundzwanzig Jahren taten, musste die Chromeria Katastrophen auf mühsame Art und Weise zu verhindern suchen – es mussten nicht nur Wandler ausgeschickt werden, um Feuer zu löschen (manchmal buchstäblich), bevor daraus Flächenbrände wurden, sondern es wurden auch Sendschreiben in die ganze Welt geschickt, in denen man vielleicht Blauwandler drängte, nur noch in Notfällen zu wandeln, während man Rotwandler aufforderte, mehr zu wandeln als gewöhnlich. Weil jeder Wandler in seinem Leben nur eine begrenzte Menge an Licht wandeln konnte, bevor er zu einem Farbwicht wurde, bedeutete das, die Rotwandler ihrem Tod entgegeneilen zu lassen, während die Blauwandler in allen Sieben Satrapien davon abgehalten wurden, nützliche Arbeit zu tun. Also suchte die Chromeria in solchen Zeiten mit großer Inbrunst nach einem Ersatz für das Prisma. Und Orholam schickte zuverlässig jeder Generation ein neues Prisma. Das zumindest sagte die Lehre.

Nur Gavins Generation hatte Orholam in seiner unauslotbaren Weisheit zwei Prismen geschickt – und die Welt in zwei Teile zerrissen.

Gavin drehte sich in einem langsamen Kreis, breitete die Arme weit aus und ließ Ströme von ultraviolettem Licht frei, um das Infrarot auszugleichen, dann Rot, um das Blau auszugleichen, dann Orange zum Ausgleich des Grüns. Als die Welt sich wieder richtig anfühlte, hörte er auf.