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Über 2,6 Millionen verkaufte Bücher von Michael Robotham allein im deutschsprachigen Raum.
Seine Kindheit birgt ein schweres Trauma, sein Leben hat er dem Kampf gegen das Verbrechen gewidmet: Der Psychologe Cyrus Haven berät die Polizei bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen. Während er einen brutalen Mordfall untersucht, lernt Cyrus Evie Cormac kennen. Evie, die als Kind aus den Fängen eines Entführers gerettet wurde, ist zu einer hochintelligenten, aber unberechenbaren jungen Frau herangewachsen. Und verfügt über ein untrügliches Gespür dafür, wenn jemand lügt. Als Cyrus‘ Ermittlungen sich zuspitzen, bringt sie damit nicht nur sich selbst in tödliche Gefahr …
Der Auftakt zur neuen Serie von Michael Robotham.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 560
Buch
Vor sechs Jahren wurde sie gefunden, dreckig und halb verhungert, versteckt in einer geheimen Kammer. Was ihr Entführer ihr angetan hat, hat sie nie zu enthüllen vermocht, ebenso wenig wie ihren wahren Namen. Mittlerweile ist Evie Cormac zu einer ebenso verstörten wie verstörenden jungen Frau herangewachsen: hochintelligent, aber unberechenbar.
Der forensische Psychologe Cyrus Haven hat selbst mit einer traumatischen Vergangenheit zu kämpfen. Dabei hilft ihm sein Beruf: Er berät die Polizei bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen. Als er mitten in den Ermittlungen zum Mord an der jungen Eiskunstläuferin Jodie Sheehan steckt, trifft er zum ersten Mal auf Evie – und ist fasziniert. Denn Evie verfügt über ein untrügliches Gespür dafür, wenn jemand lügt. Und bei Cyrus‘ Mordermittlungen sagt kaum jemand die Wahrheit …
Weitere Informationen zu Michael Robotham sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Michael Robotham
Schweige still
Psychothriller
Aus dem Englischen von Kristian Lutze
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Good Girl, Bad Girl« bei Sphere, einem Imprint der Little, Brown Book Group, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2019
Copyright © 2019 by Bookwrite Pty.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Stadtansicht: © Arcangel/Mark Owen, Frau: © Stephen Mulcahey / Trevillion Images
Th · Herstellung: Han
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-23124-8V004
www.goldmann-verlag.de
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Für Jonathan Margolis
Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.
Oscar Wilde
»Welche ist es?«, frage ich und beuge mich näher zum Observationsfenster.
»Die Blonde mit dem weiten Pullover, die ein wenig abseits sitzt.«
»Und du erzählst mir nicht, warum ich hier bin?«
»Ich möchte deine Entscheidung nicht beeinflussen.«
»Was entscheide ich denn?«
»Beobachte sie einfach.«
Ich betrachte erneut die gemischte Gruppe von Teenagern. Die meisten tragen Jeans und Oberteile mit langen Ärmeln, um sämtliche selbst zugefügten Verletzungen zu verbergen. Einige ritzen oder kratzen sich, andere fügen sich Verbrennungen zu, sind bulimisch, magersüchtig, zwangsgestört oder hyperaktiv, zählen zu den Pyromanen, Soziopathen oder Narzissten. Einige missbrauchen Drogen oder Nahrungsmittel. Andere schlucken Fremdkörper, rennen vorsätzlich gegen Wände oder gehen absurde Risiken ein.
Evie Cormac hat die Knie an den Körper gezogen, beinahe so als würde sie dem Boden nicht trauen. Sie ist hübsch mit einem Schmollmund; sie könnte achtzehn oder vierzehn sein. Noch nicht ganz Frau, aber auch kein Mädchen, das sich von seiner Kindheit verabschiedet, stattdessen hat sie etwas Altersloses und Unveränderliches, als hätte sie das Schlimmste schon gesehen und überlebt. Ihre braunen Augen werden von künstlich dichten Wimpern und einem fransigen blondierten Bob gerahmt. Sie hält die langen Ärmel ihres Pullovers in den geballten Fäusten, reckt den Hals und entblößt ein Muster aus roten Flecken unterhalb ihres Kiefers, Knutschflecken vielleicht oder Fingerabdrücke.
Adam Guthrie steht neben mir und betrachtet Evie wie den jüngsten Neuzugang im Twycross Zoo.
»Warum ist sie hier?«, frage ich.
»Aktuell wegen schwerer Körperverletzung. Sie hat jemandem mit einem halben Ziegelstein den Kiefer gebrochen.«
»Aktuell?«
»Es war nicht ihre erste Straftat.«
»Wie viele?«
»Noch nicht der Rede wert.«
Er versucht, witzig zu sein, oder stellt sich absichtlich dumm. Wir sind in Langford Hall, einer geschlossenen Einrichtung für Minderjährige, wo Guthrie als Sozialpädagoge arbeitet. Er trägt weite Jeans, Armeestiefel und einen Rugby-Pullover und gibt sich alle Mühe, auszusehen wie »einer von ihnen«; jemand, der die Kriminalität und die Konflikte der Jugend versteht, und nicht wie ein kleiner unterbezahlter öffentlicher Angestellter mit Frau, zwei Kindern und einer Hypothek. Wir haben zusammen studiert und im selben College gewohnt. Ich würde ihn nicht als Freund bezeichnen, eher als flüchtigen Bekannten, obwohl ich vor ein paar Jahren bei seiner Hochzeit war und mit einer der Brautjungfern geschlafen habe. Ich wusste nicht, dass es Guthries jüngste Schwester war. Hätte es einen Unterschied gemacht? Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht übel genommen.
»Bist du bereit?«
Ich nicke.
Wir betreten den Raum, nehmen zwei Stühle und setzen uns in den Kreis von Teenagern, die uns mit einer Mischung aus Argwohn und Langeweile ansehen.
»Wir haben heute einen Besucher«, sagt Guthrie. »Das ist Cyrus Haven.«
»Wer ist er?«, fragt eins der Mädchen.
»Ich bin Psychologe«, antworte ich.
»Noch einer!«, sagt das Mädchen und verzieht das Gesicht.
»Cyrus ist hier, um zu beobachten.«
»Uns oder dich?«
»Beides.«
Ich achte auf Evies Reaktion. Sie mustert mich ausdruckslos.
Als Guthrie die Beine übereinanderschlägt, rutscht der Saum seines Hosenbeins hoch und entblößt einen blassen, unbehaarten Knöchel. Er ist der Typ munteres Dickerchen, der sich, wenn er etwas anfängt, die Hände reibt in Erwartung des Spaßes, den er haben wird.
»Beginnen wir mit einer Vorstellungsrunde, ja? Ich möchte, dass ihr Cyrus euren Namen sagt, woher ihr kommt und warum ihr hier seid. Wer möchte anfangen?«
Niemand antwortet.
»Wie wär’s mit dir, Alana?«
Sie schüttelt den Kopf. Ich sitze Evie direkt gegenüber. Sie weiß, dass ich sie ansehe.
»Holly?«, fragt Guthrie.
»Nee.«
»Evie?«
Sie reagiert nicht.
»Schön zu sehen, dass du heute mehr anhast«, sagt Guthrie. »Und du auch, Holly.«
Evie schnaubt.
»Das war ein legitimer Protest«, entgegnet Holly und wird lebhafter. »Wir haben gegen überkommene Vorstellungen von Klasse und Gender protestiert, die in diesem von weißen Männern dominierten Gulag herrschen.«
»Danke, Genossin«, sagt Guthrie und wechselt rasch das Thema. »Willst du dann den Anfang machen, Nathan?«
»Nenn mich nicht Nathan«, sagt eine Bohnenstange von einem Jungen mit Pickeln auf der Stirn.
»Wie soll ich dich denn nennen?«
»Nat.«
»Wie ein Insekt?«, fragt Evie.
Er buchstabiert es: »N … A … T.«
Guthrie zieht einen kleinen Strickteddybär aus der Tasche und wirft ihn Nat zu. »Du fängst an. Denkt dran, wer immer den Bär hat, hat das Rederecht. Niemand darf ihn unterbrechen.«
Nat lässt den Teddy auf seinem Oberschenkel wippen.
»Ich bin aus Sheffield, und ich bin hier, weil ich in den VW meines Nachbarn gekackt habe, als er ihn offen gelassen hat.«
Allgemeines Gekicher. Evie stimmt nicht mit ein.
»Warum hast du das getan?«, fragt Guthrie.
Nat zuckt nonchalant die Schultern. »Es war lustig.«
»Auf den Fahrersitz?«, fragt Holly.
»Ja. Klar. Wohin sonst? Der Vollpfosten hat sich bei der Polizei beschwert, da haben meine Kumpel und ich ihm eine Abreibung verpasst.«
»Hast du deswegen ein schlechtes Gewissen?«, fragt Guthrie.
»Eigentlich nicht.«
»Ihm mussten Metallplatten in den Schädel eingesetzt werden.«
»Ja, aber er hatte eine Versicherung und bekam eine Entschädigung. Meine Mum musste eine Strafe zahlen. Meiner Meinung nach hat der Wichser daran noch Geld verdient.«
Guthrie will widersprechen, überlegt es sich dann aber anders, vielleicht weil er die Aussichtslosigkeit erkennt.
Der Teddybär wird weitergegeben an Reebah aus Nottingham, die quälend dünn ist und sich die Lippen zusammengenäht hat, weil ihr Vater sie dazu zwingen wollte, etwas zu essen.
»Was solltest du denn essen?«, fragt eins der anderen Mädchen, das so dick ist, dass ihre Oberschenkel ihre Knie auseinander drücken.
»Essen.«
»Was für Essen?«
»Geburtstagskuchen.«
»Du bist bescheuert.«
Guthrie interveniert. »Bitte keine kritischen Bemerkungen, Cordelia. Du darfst nur sprechen, wenn du den Bären hast.«
»Dann gib her«, sagt sie und reißt ihn aus Reebahs Schoß.
»Hey, ich war noch nicht fertig!«
Die Mädchen ringen um den Teddy, bis Guthrie dazwischengeht, aber Reebah hat vergessen, was sie sagen wollte.
Der Bär ist auf einem neuen Schoß. »Ich heiße Cordelia, ich bin aus Leeds, und wenn jemand mir blöd kommt, gibt’s Krieg, verstehst du. Dann muss er bezahlen.«
»Du wirst wütend?«, fragt Guthrie.
»Ja.«
»Was macht dich denn zum Beispiel wütend?«
»Wenn Leute sagen, ich wär fett.«
»Du bist fett«, sagt Evie.
»Halt dein verdammtes Maul!«, brüllt Cordelia und springt auf. »Wenn du das noch mal sagst, kriegst du auf die Fresse.«
Guthrie hat sich zwischen die beiden gestellt. »Entschuldige dich, Evie.«
Evie lächelt süß. »Es tut mir leid, dass ich dich fett genannt habe, Cordelia. Ich bin sicher, du hast abgenommen. Du siehst regelrecht grazil aus.«
»Was heißt das?«, fragt sie.
»Dünn.«
»Leck mich.«
»Okay, wir sollten uns alle wieder beruhigen«, sagt Guthrie. »Cordelia, warum bist du hier?«
»Ich bin zu früh erwachsen geworden«, antwortet sie. »Ich hab meine Unschuld mit, was, elf verloren. Ich hab mit Typen geschlafen und mit Mädchen geschlafen und eine Menge Gras geraucht. Mit zwölf hab ich Heroin probiert und mit dreizehn Crystal Meth.«
Evie verdreht die Augen.
Cordelia starrt sie wütend an. »Meine Mom hat mir die Polizei auf den Hals gehetzt, deshalb hab ich versucht, sie mit Putzmittel zu vergiften.«
»Um sie zu bestrafen?«, fragt Guthrie.
»Kann sein«, sagt Cordelia. »Es war mehr wie ein Experiment. Ich wollte irgendwie sehen, was passiert.«
»Hat es geklappt?«, fragt Nat.
»Nee«, erwidert Cordelia. »Sie hat gesagt, die Suppe schmeckt komisch, und hat ihren Teller nicht leer gegessen. Sie musste bloß kotzen.«
»Du hättest Eisenhut nehmen sollen«, sagt Nat.
»Was ist das?«
»Eine Pflanze. Ich hab von einem Gärtner gehört, der gestorben ist, nur weil er die Blätter berührt hat.«
»Meine Mum mag keine Gartenarbeit«, sagt Cordelia, ohne zu begreifen, dass es darum überhaupt nicht geht.
Guthrie gibt Evie den Teddybär. »Du bist dran.«
»Nee.«
»Warum nicht?«
»Die Details meines Lebens sind irrelevant.«
»Das ist nicht wahr.«
Evie beugt sich seufzend vor, stützt die Unterarme auf die Knie und drückt den Bär mit beiden Händen. Ihr Akzent verändert sich.
»Mein Vater ist ein von Ehrgeiz zerfressener Zuckerbäcker aus Belgien gewesen. Er litt unter minderschwerer Narkolepsie und hatte eine Schwäche für kleine Jungen. Meine Mutter war eine fünfzehnjährige Prostituierte namens Chloe mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen …«
Ich lache laut los. Alle sehen mich an.
»Das ist aus Austin Powers«, erkläre ich.
Weitere leere Blicke.
»Der Film … Mike Myers … Dr. Evil.«
Nach wie vor nichts.
Evie setzt einen barschen schottischen Akzent auf. »Ich bin todessexy! Sieh dir mal diesen Adoniskörper an!«
»Fieser Fettsack«, sage ich.
Evie lächelt. Guthrie sieht mich ärgerlich an, als würde ich zu Ungehorsam aufstacheln.
Er ruft einen anderen Teenager auf, ein Mädchen mit blauer Strähne im Haar und Piercings in Ohren, Brauen und Nase.
»Was führt dich hierher, Serena?«
»Tja, das ist eine lange Geschichte.«
Allgemeines Stöhnen.
Serena erzählt eine Episode aus ihrem Leben, in der sie mit sechzehn als Austauschschülerin nach Amerika kam und bei einer Familie in Ohio lebte, deren Sohn wegen Mordes im Gefängnis saß. Sie zwangen Serena, ihn alle vierzehn Tage möglichst aufreizend gekleidet zu besuchen. Kurze Röcke, tief ausgeschnittene Oberteile.
»Er war auf der anderen Seite der Scheibe, und sein Vater hat ständig gesagt, ich solle mich noch näher ran beugen und seinem Sohn meine Titten zeigen.«
Evie niest in ihre Armbeuge, ein kurzes, heftiges Ausatmen, das fast klingt wie »Schwachsinn!«.
Serena starrt sie wütend an, fährt jedoch mit ihrer Geschichte fort. »In dieser Nacht ist der Vater in mein Zimmer gekommen, als ich geschlafen habe, und hat mich vergewaltigt. Ich hatte zu viel Angst, es meinen Eltern zu erzählen oder die Polizei anzurufen. Ich war allein in einem fremden Land, Tausende von Meilen von zu Hause entfernt.« Sie blickt in die Runde und hofft auf Mitleid.
Evie niest erneut und macht wieder das gleiche Geräusch.
Serena versucht, sie zu ignorieren.
»Zurück zu Hause bekam ich Probleme – Alkohol und Ritzen. Meine Eltern haben mich zu einem Therapeuten geschickt, der anfangs auch einen echt netten Eindruck machte. Bis er versucht hat, mich zu vergewaltigen.«
»Oh, verdammte Scheiße!«, sagt Evie und seufzt angewidert.
»Wir sind nicht hier, um zu beurteilen«, warnt Guthrie sie.
»Aber sie denkt sich den Scheiß bloß aus. Welchen Sinn hat diese Gesprächsrunde, wenn die Leute Lügen erzählen?«
»Du kannst mich mal!«, brüllt Serena und zeigt Evie den Stinkefinger.
»Leck mich!«, sagt Evie.
Serena springt auf. »Du bist ein Freak! Das weiß jeder!«
»Bitte setz dich«, sagt Guthrie und versucht, die beiden Mädchen voneinander getrennt zu halten.
»Sie hat mich eine verdammte Lügnerin genannt.«
»Nein, habe ich nicht«, erwidert Evie. »Ich hab dich eine verdammte irre Lügnerin genannt.«
Serena duckt sich unter Guthries Arm, stürzt sich auf Evie und reißt sie vom Stuhl. Die beiden ringen auf dem Boden, aber Evie scheint die Schläge beinahe lachend abzuwehren.
Ein Alarm ist ausgelöst worden, und eine Truppe von Sicherheitsleuten platzt in den Raum und zerrt Serena weg. Die anderen Teenager werden zurück auf ihre Zimmer geschickt, alle bis auf Evie. Sie klopft sich Schmutz von den Kleidern, berührt ihren Mundwinkel und verreibt eine Blutspur zwischen Daumen und Zeigefinger.
Ich gebe ihr ein Taschentuch. »Alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut. Die schlägt wie ein Mädchen.«
»Was ist mit deinem Hals passiert?«
»Jemand hat versucht, mich zu erwürgen.«
»Warum?«
»Ich hab so ein Gesicht.«
Ich ziehe einen Stuhl heran und mache Evie ein Zeichen, Platz zu nehmen. Sie gehorcht, schlägt die Beine übereinander und entblößt eine elektronische Fußfessel um ihren Knöchel.
»Warum trägst du die?«
»Die denken, ich will abhauen.«
»Und willst du das?«
Evie legt den Zeigefinger auf die Lippen.
»Psst. Bei der ersten Gelegenheit.«
Ich bin mit Guthrie in einem Pub verabredet, das nach den Stanton Ironworks in der Nähe benannt ist, die schon vor Jahren dichtgemacht haben. Er sitzt auf einem Hocker, ein leeres Pintglas zwischen seinen auf den Tresen gestützten Ellbogen, und beobachtet, wie sein frisches Bier gezapft wird.
»Bist du öfters hier?«, frage ich und nehme neben ihm Platz.
»Mein Zufluchtsort«, antwortet er. Er hat pummelige blasse Finger, verziert mit einem Dreifach-Ehering.
Der Barkeeper fragt, ob ich etwas möchte. Ich schüttele den Kopf. Guthrie wirkt enttäuscht, allein trinken zu müssen. Über seine Schulter hinweg sehe ich einen Bereich mit einem Billardtisch und Spielautomaten, die blinken und klingeln wie ein Karussell.
»Du siehst gut aus«, lüge ich. »Wie ist das Leben als verheirateter Mann?«
»Toll. Super. Es macht dick.« Er tätschelt seine Plauze. »Solltest du auch mal versuchen.«
»Dick werden?«
»Heiraten.«
»Wie geht es den Kindern?«
»Die wachsen wie Unkraut. Wir haben jetzt zwei, ein Junge und ein Mädchen, acht und fünf.«
Ich weiß den Namen seiner Frau nicht mehr, kann mich aber erinnern, dass sie aus Osteuropa stammt, mit breitem Akzent spricht und ein Hochzeitskleid getragen hat, das aussah wie ein furchtbar verunglücktes Handarbeitsprojekt. Guthrie hatte sie kennengelernt, als er in Teilzeit Englisch an einer Sprachenschule in London unterrichtete.
»Und, was hältst du von Evie?«, fragt er.
»Sie ist ein richtiger Sonnenschein.«
»Sie ist eine von ihnen.«
»Eine von wem?«
»Den Lügendetektoren.«
Ich unterdrücke ein Lachen. Er wirkt gekränkt.
»Du hast sie gesehen. Sie wusste, wann sie gelogen haben. Sie ist ein Truth-Wizard – genau der Typ, den du beschrieben hast.«
»Du hast meine Doktorarbeit wirklich gelesen?«
»Jedes Wort.«
Ich verziehe das Gesicht. »Das ist acht Jahre her.«
»Sie wurde veröffentlicht.«
»Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keine Truth-Wizards gibt.«
»Nein, du hast gesagt, dass sie einen winzigen Teil der Bevölkerung ausmachen – vielleicht einer von fünfhundert – und dass die Besten in achtzig Prozent der Fälle richtiggelegen haben. Du hast weiter geschrieben, dass jemand auch noch größere Fähigkeiten entwickeln könnte; jemand, der nicht durch Gefühle oder mangelnde Vertrautheit mit dem Thema beeinträchtigt ist. Jemand, der auf einem höheren Level funktioniert.«
Mein Gott, er hat sie wirklich gelesen!
Ich will das Gespräch abwürgen und Guthrie erzählen, dass er sich irrt. Ich habe zwei Jahre lang an meiner Doktorarbeit über Truth-Wizards geschrieben, die Fachliteratur gelesen, ihre Geschichte erforscht und Tests an mehr als dreitausend Freiwilligen durchgeführt. Evie Cormac ist zu jung, um ein Truth-Wizard zu sein. In der Regel sind sie mittleren Alters oder älter und können auf Erfahrungen in bestimmten Berufen wie Ermittler, Richter, Anwalt, Psychologe oder Geheimagent zurückgreifen. Teenager sind zu beschäftigt damit, in den Spiegel oder auf ihr Handy zu schauen, um die feinen, fast unmerklichen Veränderungen im Gesichtsausdruck eines Menschen zu deuten, die Nuancen seiner Körpersprache oder den Klang seiner Stimme.
Guthrie wartet auf meine Antwort.
»Ich glaube, du irrst dich«, sage ich noch einmal.
»Aber du hast gesehen, wie sie es gemacht hat.«
»Sie ist ein sehr intelligenter, manipulativer Teenager.«
Der Sozialarbeiter seufzt und blickt in sein halbleeres Glas. »Sie hat mich hierzu getrieben.«
»Was?«
»Zum Trinken. Laut meiner Ärzte habe ich den Körper eines Sechzigjährigen; ich habe zu hohen Blutdruck, Fettgewebe ums Herz und Leberwerte an der Grenze zur Zirrhose.«
»Inwiefern ist das Evies Schuld?«
»Jedes Mal wenn ich mit ihr rede, will ich mich zusammenrollen und heulen. Ich war Anfang des Jahres für zwei Monate krankgeschrieben – wegen Überlastung, aber es hat nicht geholfen. Jetzt droht meine Frau, mich zu verlassen, wenn ich nicht einer Paartherapie zustimme. Das habe ich keiner Menschenseele erzählt, aber Evie wusste es trotzdem irgendwie.«
»Wie?«
»Was glaubst du denn?« Guthrie wartet meine Antwort nicht ab. »Glaub mir, Cyrus. Sie erkennt, wenn Menschen lügen.«
»Selbst wenn das wahr wäre, verstehe ich nicht, warum ich hier bin.«
»Du könntest ihr helfen.«
»Wie?«
»Evie hat bei Gericht einen Antrag auf Entlassung gestellt, aber sie ist noch nicht so weit, Langford Hall verlassen zu können. Sie ist Legasthenikerin. Asozial. Aggressiv. Sie hat keine Freunde. Niemand kommt sie besuchen. Sie ist eine Gefahr für sich und andere.«
»Wenn sie achtzehn ist, hat sie das Recht, weiterzuziehen.«
Guthrie zögert und zupft an seinem Hemdkragen.
»Niemand kennt ihr wahres Alter.«
»Was soll das heißen?«
»Es gibt keine Unterlagen über ihre Geburt.«
Ich blinzele ihn an. »Es muss doch irgendwas geben – eine Krankenhausakte, einen Hebammenbericht, Schulanmeldungen …«
»Es gibt keine Unterlagen.«
»Das ist unmöglich.«
Guthrie leert sein Bier und macht dem Barkeeper ein Zeichen, ihm ein neues zu zapfen. Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Was ich dir jetzt erzähle, ist streng vertraulich. Und ich meine, unter Verschluss! Du darfst kein Sterbenswörtchen davon zu irgendjemandem sagen.«
Ich möchte lachen. Guthrie ist nicht direkt die Idealbesetzung für einen Geheimagenten.
»Ich meine es ernst, Cyrus.«
»Okay, okay.«
Sein Bier wird serviert. Er positioniert es genau in der Mitte des Bierdeckels und wartet, bis der Barkeeper wieder außer Hörweite ist. Ein Sonnenstrahl fällt durch das Fenster und verleiht dem Pub die Atmosphäre eines Kirchenschiffs; es fühlt sich an, als wären wir in einer Kirche und ich nähme Guthrie die Beichte ab.
»Evie ist das Mädchen aus der Kammer.«
»Wer?«
»Angel Face?«
Ich begreife sofort, wen er meint, will jedoch widersprechen. »Das kann nicht sein.«
»Sie ist es.«
»Aber das war …«
»Vor sechs Jahren.«
Ich erinnere mich an die Geschichte. Ein Mädchen, das in einem Geheimzimmer eines Hauses im Norden von London gefunden worden war, geschätzt elf oder zwölf Jahre alt, obwohl sie weniger wog als ein halb so altes Kind. Eine Kreatur mit wilder Mähne und wirrem Blick, mehr Tier als Mensch, die auch unter Wölfen groß geworden sein könnte.
Ihr Versteck war nur wenige Meter von der Stelle entfernt, wo die Polizei die verwesende Leiche eines Mannes gefunden hatte, der aufrecht auf einem Stuhl sitzend zu Tode gefoltert worden war. Das Mädchen hatte Monate lang mit der Leiche gelebt und sich nur aus dem Haus geschlichen, um Nahrung zu stehlen. Die teilte sie sich dann mit den beiden Hunden, die in einem Zwinger im Garten lebten.
Erste Bilder gingen um die Welt. Sie zeigten eine Special Constable außer Dienst, die ein kleines Kind durch die Tür eines Krankenhauses trug. Das Mädchen ließ sich von niemand anderem anfassen und sprach nur, um nach Nahrung und dem Wohlbefinden der Hunde zu fragen.
Die Krankenschwestern tauften sie Angel Face, weil sie sie irgendwie nennen mussten. Die Details ihrer Gefangenschaft beherrschten wochenlang die Nachrichten. Wer war sie? Woher war sie gekommen? Wie hatte sie überlebt?
Guthrie hat gewartet, bis ich mir den Fall in Erinnerung gerufen habe.
»Ihre Identität konnte nie festgestellt werden«, erklärt er. »Die Polizei hat alles versucht – Vermisstenakten, DNA, Röntgenuntersuchung der Knochen, stabile Isotopenanalyse … Ihr Foto ist um die ganze Welt gegangen, doch es gab keine Rückmeldung.«
Wie kann ein Kind aus dem Nichts auftauchen – ohne Unterlagen zu seiner Geburt und seinem weiteren Lebensweg?
»Sie wurde unter gerichtliche Vormundschaft gestellt und bekam einen neuen Namen – Evie Cormac. Der Innenminister hat eine Section 39 Order erlassen, die es verbietet, ihre Identität oder ihren Aufenthaltsort zu enthüllen und Fotos oder Filmaufnahmen von ihr zu machen.«
»Wer weiß es?«, frage ich.
»In Langford Hall – nur ich.«
»Warum ist sie hier?«
»Es gibt nichts anderes.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie wurde in einem Dutzend verschiedener Pflegefamilien untergebracht und ist jedes Mal entweder weggelaufen oder zurückgeschickt worden. Außerdem hatte sie vier Individualfürsorgerinnen, drei Psychologen und weiß der Himmel wie viele Sozialarbeiter. Jetzt bin nur noch ich übrig.«
»Wurde ihr Geisteszustand untersucht?«
»Sie hat jeden Psychotest von Balthazar bis Winslow bestanden.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum ich hier bin.«
»Evie ist wie gesagt Mündel des Gerichts, was bedeutet, dass der Hohe Gerichtshof alle wichtigen Entscheidungen bezüglich ihrer Wohlfahrt trifft, während die lokale Behörde ihre tägliche Pflege regelt. Vor zwei Monaten hat sie beantragt, für volljährig erklärt zu werden.«
»Wenn man zu der Auffassung kommt, dass sie achtzehn ist, ist das ihr gutes Recht.«
Guthrie sieht mich flehend an. »Sie ist eine Gefahr für sich und andere. Wenn sie Erfolg hat …« Ihn schaudert sichtlich, und er bringt den Satz nicht zu Ende. »Stell dir vor, man hat ihre Fähigkeit.«
»Das klingt, als verfüge sie über irgendwelche Superkräfte.«
»Das tut sie auch«, sagt er ernst.
»Ich glaube, du übertreibst.«
»Sie hat dich sofort durchschaut.«
»Nur weil jemand aufmerksam und einfühlsam ist, macht ihn das noch nicht zu einem Truth-Wizard.«
Er zieht die Brauen hoch, als hätte er mehr von mir erwartet.
»Ich glaube, du versuchst, sie loszuwerden«, sage ich.
»Mit Vergnügen«, erwidert er. »Aber das ist nicht der Grund. Ich habe ehrlich gedacht, du könntest ihr helfen. Alle anderen sind gescheitert.«
»Hat sie je darüber gesprochen, was ihr passiert ist – in dem Haus, meine ich?«
»Nein. Laut Evie hat sie keine Vergangenheit, keine Familie und keine Erinnerungen.«
»Sie hat sie verdrängt.«
»Kann sein. Gleichzeitig lügt sie, vernebelt und verdunkelt und führt einen in die Irre. Sie ist ein Albtraum.«
»Ich glaube nicht, dass sie ein Truth-Wizard ist«, sage ich.
»Okay.«
»Welche Akten kannst du mir zeigen?«
»Ich schick sie dir zu. Einige der frühen Details sind geschwärzt, um ihre neue Identität zu schützen.«
»Du hast gesagt, Evie hätte jemandem den Kiefer gebrochen. Wem denn?«
»Einem Mitarbeiter der Einrichtung, der zweitausend Pfund in ihrem Zimmer gefunden hat. Er war überzeugt, Evie müsse das Geld gestohlen haben, und hat es ihr abgenommen, angeblich um es der Polizei zu übergeben.«
»Was ist passiert?«
»Evie wusste, dass er lügt.«
»Woher hatte sie das Geld?«
»Sie hat gesagt, sie hätte es beim Pokern gewonnen.«
»Ist das möglich?«
»Ich würde jedenfalls nicht gegen sie spielen.«
Ich genieße die Mathematik des Rauchens. Laut einem Poster, das ich in einer Arztpraxis gelesen habe, verkürzt jede Zigarette mein Leben um vierzehn Minuten. Zusammen mit den sechs Minuten, die ich brauche, um sie zu rauchen, macht das zwanzig Minuten. Eine Stunde für drei Zigaretten. Ich mag diese Zahlen.
Erlaubt sind nur vier am Tag, die ich draußen auf dem Hof rauchen muss, beobachtet von einem der Mitarbeiter, der bereitsteht, um das Feuerzeug wieder einzukassieren, damit ich nicht versuche, den Laden abzufackeln.
Ich ziehe hart an dem Filter, halte den Rauch in der Brust und stelle mir vor, wie die toxischen Chemikalien und der schwarze Teer meine Lungen verstopfen, Krebs oder Emphyseme verursachen und meine Zähne verfaulen lassen. Ein langsamer Tod, ich weiß, aber das ist das Leben, oder nicht – ein langer, sich hinschleppender Selbstmord.
Ich sitze auf einer Bank, auf der ich die Kälte des Betons durch meine zerrissene indigofarbene Levis (die ich bei Supré geklaut habe) spüren kann. Ich schiebe einen Zeigefinger durch eins der ausgefransten Löcher und erweitere den Riss bis zur Naht. Ich drücke mit dem Daumen auf meine Haut und beobachte, wie das Blut in den blassen Fleck zurückströmt. Obwohl ich barfuß bin, spüre ich die Kälte nicht. Ich war schon an kälteren Orten. Ich hatte schon weniger Kleidung.
Ich ziehe einen Fuß auf den Schoß und fange an, meinen Nagellack abzuknibbeln, weil mir die Farbe nicht mehr gefällt. Sie ist zu mädchenhaft. Dumm. Ich sollte keine Pastellfarben tragen – keine Rosa- und Violetttöne. Einmal habe ich Schwarz ausprobiert, aber damit sahen meine Zehen irgendwie krank aus.
Ich denke an die Gruppensitzung. Guthrie hat einen Gast mitgebracht – einen Psychologen mit einem komischen Namen: Cyrus. Für einen Typen seines Alters – mindestens dreißig – sah er gut aus, mit dichtem schwarzem Haar und grünen Augen, die traurig wirkten, als hätte er Heimweh oder würde jemanden vermissen. Er hat nicht viel gesagt. Er hat nur beobachtet und zugehört. Die meisten Männer reden zu viel und hören fast nie zu. Sie reden über sich, geben Befehle oder treffen Entscheidungen. Sie haben grausame oder hungrige Augen, aber selten traurige.
Davina klopft an das Fenster und schüttelt ihre Dreadlocks. »Mit wem redest du, Evie?«
»Mit niemandem.«
»Komm jetzt rein.«
»Ich bin noch nicht fertig.«
Davina ist eine der »Hausmütter«, ein Titel, der sich anhört, als wäre Langford Hall ein Internat und keine »gesicherte Einrichtung für Kinder und Jugendliche«, was so viel bedeutet wie ein Gefängnis. An den Türen sind Schlösser, die Flure werden von Sicherheitskameras überwacht, und wenn ich jetzt losrennen würde, würde mich ein dreiköpfiges »Kontroll- und Disziplinierungsteam« zu Boden ringen und verschnüren wie eine Weihnachtsgans.
Davina klopft noch einmal an die Scheibe und bewegt pantomimisch ihre Hand zum Mund. Das Mittagessen ist fertig.
»Ich hab keinen Hunger.«
»Du musst essen.«
»Ich fühle mich nicht gut.«
»Willst du noch eine rote Karte kriegen?«
Rote Karten bekommt man für Fehlverhalten oder Beschimpfungen des Personals. Ich kann mir keine weitere leisten, sonst verpasse ich unseren Sonntagsausflug. Diese Woche gucken wir uns einen Film im Cineworld an. Mein Leben kommt mir immer besser vor, wenn ich mit einem warmen Eimer Popcorn zwischen den Schenkeln im Dunkeln sitze und das beschissene Leben von jemand anderem vor meinen Augen vorbeiziehen lasse.
Eine grüne Karte bekommt nie jemand. Dafür müsste man Krebs heilen, den Weltfrieden herstellen oder sich von Mrs Porter nackt in der Dusche begaffen lassen – nur Mädchen natürlich, Jungs guckt sie nicht auf dieselbe Weise an.
Ich drücke meine Zigarette an der Mauer aus und beobachte, wie die Funken fliegen und verlöschen, bevor ich die Kippe in den schlammigen Garten schnippe. Davina klopft ans Fenster. Ich verdrehe die Augen. Sie zeigt mit dem Finger. Ich sammele die Kippe wieder ein, halte sie hoch und sage stumm: »Zufrieden?«, bevor ich sie in den Mund stecke, kaue und herunterschlucke. Ich mache den Mund auf. Alles weg.
Davina schüttelt angewidert den Kopf.
In meinem Zimmer putze ich die Zähne und trage frische Mascara und Grundierung auf, um meine Sommersprossen zu überdecken. Ich werde keine weiteren Minuspunkte ernten, es sei denn, ich komme eine Viertelstunde zu spät zum Essen. Im Speiseraum beenden die meisten anderen gerade ihr Essen, weil die Langeweile sie hungrig macht. Es riecht nach überbackenem Käse und zu weich gekochtem Rosenkohl. Ich hole ein Tablett, gehe an den warmen Speisen vorbei und nehme zwei Becher Joghurt, eine Banane und eine Packung Müsli.
»Die sind fürs Frühstück«, sagt eine der Frauen an der Essensausgabe.
»Ich hatte kein Frühstück.«
»Und wessen Schuld ist das?« Sie nimmt mir das Müsli wieder ab.
Ich halte Ausschau nach einem Platz, aber jedes Mal wenn ich einen freien Stuhl entdecke, rutscht schnell jemand darauf. Alle machen bei dem Spiel mit. Irgendwann reagiert eins der Mädchen nicht schnell genug, und ich erreiche den Stuhl zuerst.
»Freak!«, murmelt sie.
»Danke.«
»Lesbe!«
»Zu freundlich von dir.«
»Spasti.«
»Gern geschehen.«
Ich ziehe die Folie von einem der Becher und esse den Joghurt mit dem Löffel, den ich im Mund umdrehe, um mit der Zunge in die Wölbung zu stoßen. Ich spüre, dass sich in meinem Rücken Menschen bewegen, deshalb lege ich einen Arm über mein Tablett, damit es niemand umkippen kann.
Ich kann sie nicht daran hindern, in mein Essen zu spucken oder Popel hineinzumischen, aber das ist in letzter Zeit nicht mehr so oft passiert, weil die meisten inzwischen Angst vor mir haben. Das Gleiche gilt für die Angestellten, vor allem für Mrs Porter, die mich »Teufelskind« nennt.
Die Beschimpfungen sind mir egal, weil ich härter gegen mich selbst bin als alle, die hier arbeiten. Niemand kann hassen wie ich. Ich hasse meinen Körper. Ich hasse meine Gedanken. Ich bin hässlich, dumm und schmutzig. Niemand wird mich je wollen.
Der Tyrann bellt. Der Tyrann lacht. Der Tyrann gewinnt.
Die Sonne geht unter. Es ist herbstkühl. Ich laufe die Parkside hinunter und im Zickzack durch den Eingang in den Wollaton Park, wo mich ein Schild warnt, dass ich ein Wildschutzgebiet betrete, in dem Hunde angeleint werden müssen. Der Himmel ist von einem Rand zum anderen mit den blassen Kondensstreifen überzogen, die Jets in der Stratosphäre hinterlassen haben.
Ich jogge unter einem Tunnel kahler Bäume, der Asphalt bewegt sich unter meinen Füßen wie ein Laufband. Sachen kommen und gehen – Parkbänke, Beete, Fußgänger und Radfahrer. Ich laufe zweimal um den See und dann den Anstieg zu dem elisabethanischen Landhaus hinauf, nach dem der Park benannt ist. Früher fand ich Wollaton Hall einmal atemberaubend, doch ich bin seiner Pracht überdrüssig geworden, weil es so wirkt, als würde es angeben.
Rehe heben den Kopf und halten mit Grasen inne, als ich über eine Lindenallee an ihnen vorbei zum Osteingang des Parks geistere. Meine rechte Hüfte zwickt, aber ich mag den Schmerz, weil er mir hilft, mich zu konzentrieren. Ich trage Joggingshorts, eine wattierte rote Windjacke, eine Wollmütze und leichte Laufschuhe und bewege mich in einem lockeren Rhythmus. Am Middleton Boulevard mache ich kehrt und laufe auf demselben Weg zurück durch den Park.
Laufen ist für mich vieles. Ruhe. Einsamkeit. Strafe. Überleben. In einer Welt, die von Problemen geplagt wird, auf die ich keinen Einfluss habe, kann ich meinem Körper sagen, was er tun soll, und er wird gehorchen, so lange er kann. Wenn ich laufe, werden meine Gedanken klarer. Wenn ich laufe, stelle ich mir vor, dass ich Schritt halte mit einem Planeten, der sich zu schnell für mich dreht.
Ich denke an Evie Cormac. Mir sind weitere Details eingefallen. Sie wurde hinter einer falschen Mauer an der Rückwand eines begehbaren Kleiderschranks in einem Schlafzimmer im ersten Stock gefunden. Das Haus im Norden Londons war von einem Kleinkriminellen namens Terry Boland gemietet worden. Es war seine Leiche, die die Polizei sechs Wochen zuvor in demselben Schlafzimmer gefunden hatte. Er war mit Gürteln um Hals und Stirn an einen Stuhl gefesselt. Der oder die Mörder hatten mit einer Pipette Säure in Bolands Ohren geträufelt, die seine Trommelfelle durchgeätzt und seine Cochlea sowie seine Hörnerven zerstört hatte. Nachdem er taub war, hatten sie mit einer Lötlampe einen Schürhaken erhitzt und damit seine Augenlider verbrannt, bis seine Augäpfel in ihren Höhlen kochten. Ich erinnere mich daran, weil die Boulevardpresse damals lüstern über jedes Detail herzufallen schien.
Der Mordfall wurde noch ermittelt, als Angel Face aus ihrem Versteck kam. Krankenschwestern wuschen ihr den Dreck von der Haut und aus den Haaren und stießen auf ein blasses kleines Ding mit Feengesicht, Sommersprossen und schmutzig braunen Augen, ein Kind, das zu klein war, um seine eigene Geschichte zu fassen.
In den darauffolgenden Tagen beherrschte sie die Nachrichten. Es war, als hätte die ganze Nation sie adoptiert, ihr Schicksal wurde an Abendbrottischen, in Hotelbars, über Gartenzäune hinweg und in Supermarktschlangen diskutiert. Es gab öffentliche Appelle, von Zeitungen ausgesetzte Belohnungen und Angebote, sie zu adoptieren.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, im Mittelpunkt eines medialen Sturms zu stehen. Ich war auch einmal der Überlebende – der einsame kleine Junge, dessen Eltern und Schwestern ermordet worden waren. Ich war dort, ich hab es erlebt, ich kenne den Film und habe ihn bis zum Ende des Abspanns gesehen. Ist das ein weiterer Grund, warum Guthrie sich an mich gewendet hat?
Auf den letzten anderthalb Kilometern ziehe ich das Tempo an. Am Eingangstor muss ich mein Handgelenk stabilisieren, um auf die Uhr zu blicken, weil ich so schwer atme. Vierzig Sekunden über meiner Bestzeit. Damit bin ich zufrieden.
Ich öffne das Tor und gehe den Weg zu dem großen schmalen Haus. Das Heim meiner Vorfahren. Ursprünglich gehörte es meinen Großeltern, die sich vor einigen Jahren an die Südküste zurückgezogen haben, weil sie einen bescheidenen Bungalow in Weymouth einem denkmalgeschützten Haus mit sechs Schlafzimmern vorgezogen haben, das aussieht, als müsste es darin spuken oder auf dem Speicher wenigstens eine verrückte Frau leben. Es bröckelte schon damals, heute verrottet es – ein Prachtstück urbanen Verfalls.
Im Erdgeschoss gibt es zwei große Erkerfenster und einen hübschen Eingang mit geriffelten Halbsäulen und Bleiglasfenstern, die rote und grüne Muster auf den Teppich im Flur werfen, wenn die Sonne im richtigen Winkel steht. Die Garage neben dem Haus ist fast völlig von Efeu überwuchert, und nach hinten hinaus liegt jenseits einer Steinmauer eine ruhige Ecke des Wollaton Parks mit einer ungemähten Wiese.
Als Kind kannte ich jedes Kabuff, jedes Schlupfloch, jeden verschrobenen Winkel in diesem Haus. Ich habe sie mit meinem Bruder und meinen Schwestern erkundet. Wir haben Verstecken gespielt oder andere Spiele mit Fantasiegewehren und -schwertern, Verliesen und Drachen. Wir haben geübt, von einem Möbelstück zum anderen zu springen, ohne den Boden zu berühren, der mit geschmolzener Lava oder Spinnen bedeckt war. Jetzt gehört das Haus mir. Mein Erbe. Meine Torheit. Meine letzte Verbindung zur Vergangenheit.
In regelmäßigen Abständen klopfen Bauunternehmer oder Immobilienmakler an meine Tür oder schieben ihre Visitenkarten durch den Briefschlitz und versuchen, mich zum Verkauf zu überreden. Nur einmal habe ich den Fehler gemacht, einen von ihnen hereinzulassen. Er fing an, von Tageswohnzimmern, Zweitküchen und Wintergärten zu reden, und warf Angebote und Sonderkonditionen in den Raum.
»Sie sitzen auf einer Goldmine«, sagte er. »Aber wir müssen schnell handeln, solange der Markt noch heiß ist.«
»Bevor das Haus zusammenfällt«, hätte er sagen sollen.
Ich taste nach dem Ersatzschlüssel unter einem der Blumentöpfe. Als ich mich wieder aufrichte, bemerke ich ein ziviles Polizeifahrzeug, das gegenüber dem Haus parkt. Dass es ein Polizeiwagen ist, erkenne ich an den beiden Antennen auf dem Dach und dem Typen mit dem vierkantigen Gesicht hinterm Steuer.
Ich schließe die Tür auf und gehe in die Küche, einen großen Raum mit hoher Decke, einem alten, unbehandelten Holztisch und nicht zueinander passenden Stühlen. Ich fülle ein Glas mit Wasser aus dem spuckenden Hahn.
Es klingelt. Wasser tropft auf mein Kinn. Ich will beides ignorieren, aber das wird nicht passieren.
Der Schatten hinter der Tür ist ein Detective in einem schlecht sitzenden Anzug oder vielleicht ist es auch seine Statur. Mittelgroß mit kurzen Armen und stacheligem Haar.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte vorher anrufen, aber niemand wusste Ihre Telefonnummer.«
»Ich habe kein Telefon.«
»Was für ein Mensch hat kein Telefon?«
»Ein Mensch mit einem Pager.«
Er sieht mich verstohlen an, als wäre ich geistig minderbemittelt.
Ich drehe mich um und gehe den Flur hinunter. Er folgt mir und stellt sich vor.
»Ich bin Detective Sergeant Alan Edgar. Lenny hat mich geschickt, um Sie abzuholen.«
»Sie nennen sie Lenny?«
Er sieht mich verlegen an. »Chief Inspector Parvel.«
Ich trinke ein weiteres Glas Wasser. Das Schweigen strapaziert seine Nerven.
»Wir haben die Leiche eines Mädchens im Teenageralter gefunden, das seit gestern Abend vermisst wurde.«
»Wo?«
»In Clifton … neben einem Fußweg.«
Ich spüle das Glas aus und stelle es auf den Abtropfständer.
»Ich muss erst duschen.«
»Ich warte im Wagen«, sagt er und blickt zur Decke, als könnte das Haus jeden Moment zusammenbrechen.
Im Badezimmer im ersten Stock ziehe ich mich aus und drehe den Hahn auf. Die Rohre klappern und ächzen, während ich darauf warte, dass der Duschkopf hustend und spuckend tröpfelt. An manchen Tagen bleibt das Wasser kalt, als wollte es mich auf die Probe stellen, oder es ist brühend heiß, wie um mich zu bestrafen; aber jedes Mal wenn ich einen Klempner rufe, empfiehlt er, das komplette Heizungssystem herauszureißen und ein neues zu installieren, was ich mir nicht leisten kann.
Schließlich fließt heißes Wasser. Ich bin für einen weiteren Tag sauber.
Ich ziehe eine alte Jeans, ein Flanellhemd und meinen grünen Armeeparka an und stecke Lippenpflegestift, Schlüssel, Kaugummi sowie meinen Geldclip ein. Ich habe keine Haustiere, die ich zu versorgen, keine Pflanzen, die ich zu gießen, und keine anderen Termine, die ich einzuhalten habe.
DS Edgar öffnet mir die Wagentür. Ich frage mich, ob seine Kumpel ihn »Poe« nennen. Es gibt schlimmere Spitznamen. Ich hatte selbst ein paar. In der Schule hieß ich »Virus«, wegen des Reims im Englischen.
»Sie sind Psychologe«, sagt Edgar. Es ist keine Frage. »Sie haben einen Kumpel von mir aus der Spezialkräfteeinheit behandelt. Sie haben gesagt, er würde unter einem posttraumatischen Stresssyndrom leiden, und empfohlen, ihn aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand zu versetzen. Er war stinksauer.«
»Ich kann nicht über meine klinischen Fälle sprechen.«
»Klar. Sicher. Wahrscheinlich hatten Sie recht.«
»Wahrscheinlich« bedeutet, er denkt, ich hätte mich geirrt.
Diese Reaktion bekomme ich häufig von Polizisten, wenn sie herausfinden, was ich mache. Ich bin der Spezialist, den sie aufsuchen, nachdem sie angegriffen oder beschossen wurden, selbst eine Feuerwaffe betätigt oder eine Tragödie miterlebt haben. Ich beurteile ihren psychischen Zustand, suche nach Anzeichen eines Traumas. Ich verhindere Selbstmorde. Die dünne blaue Linie kann mental brüchig sein.
DS Edgar wird das Schweigen unbehaglich.
»Woher kennen Sie die Chefin?«
»Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten.«
»Sind Sie sich beruflich begegnet?«
»Als ich noch ein Kind war.«
Er reagiert nicht, aber ich begreife, was er tut. Er bohrt nach Details. Er weiß, was mit meiner Familie geschehen ist. Ich bin der Junge, der von einem Fußballtraining nach Hause kam und seinen Vater tot im Wohnzimmer, seine Mutter auf dem Küchenfußboden und seine beiden Zwillingsschwestern zu Tode gehackt in ihrem gemeinsamen Zimmer im ersten Stock gefunden hat. Habe ich meinen Bruder wirklich Fernsehen guckend auf dem Sofa angetroffen, die Füße auf der Leiche meines Vaters?
Ich biete ihm gar nicht erst die Gelegenheit. »Was wissen Sie über das Opfer?«
»Jodie Sheehan, fünfzehn Jahre alt, wurde zuletzt gestern Abend beim Feuerwerk bei den Clifton Playing Fields gesehen. Ihre Eltern haben sie heute Morgen vermisst gemeldet. Ihre Leiche wurde kurz nach Mittag in einem Waldstück am Silverdale Walk gefunden.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Eine Frau, die ihren Hund spazieren führte.«
Warum ist es immer jemand, der seinen Hund spazieren führt?
Wir fahren durch zwei Kreisverkehre und kommen in ein kleines Dreieck aus Straßen zwischen der Clifton Lane und Fairham Brook. Die kleinen Häuser und Doppelhäuser stammen aus der Nachkriegszeit, die Dächer haben geringe Neigung, die Fassaden sind flach, die Gärten briefmarkengroß.
Ich kenne Gegenden wie diese, voller hart arbeitender ehrbarer Menschen, die sich gegen geringe Bezahlung, unsichere Arbeitsverhältnisse und den Sparkurs der Regierung gestemmt haben, gebrauchte Autos fahren und sich lieber erreichbare als ehrgeizige Ziele setzen.
Als wir um eine Ecke biegen, sehe ich eine Menschenmenge, die bis auf die Straße reicht; Menschen drängeln vorwärts in der Hoffnung, einen Blick auf das gefallene Mädchen zu erhaschen oder mitzuerleben, wie eine echte Tragödie ihren Lauf nimmt, eine, die nicht über ihre Fernsehbildschirme flimmert. Zwei Polizeiwagen parken vor dem Eingang des Bürgerzentrums. Kriminaltechniker in hellblauen Overalls laden silberne Koffer aus der Seitenschiebetür eines Transporters.
Eine Handvoll uniformierter Polizisten drängt die Menge hinter eine Reihe von Pollern und Polizeiabsperrband zurück. DS Edgar zeigt seinen Dienstausweis und hebt das Absperrband über meinen Kopf. Ein großer Mann löst sich aus der Menge und ruft: »Ist sie es? Ist es unsere Jodie?«
Er trägt einen rehfarbenen Regenmantel, der über seiner Brust spannt, und sein Kopf scheint wie eine Steinkugel auf seinen Schultern zu ruhen.
»Bitte gehen Sie nach Hause, Mr Sheehan«, sagt Edgar. »Wir sagen Ihnen Bescheid, sobald wir etwas wissen.«
Der Mann versucht, sich an den Polizisten vorbeizuschieben, wird jedoch zurückgedrängt. Ein zweiter, jüngerer Mann packt seinen Arm. »Komm, Dad«, sagt er. »Lass gut sein.« Er sieht aus wie eine weniger aufgeblähte Version seines Vaters mit kurzem Haar und langen Koteletten.
»Die armen Schweine«, murmelt Edgar, als wir hintereinander über einen Asphaltweg in ein kleines Wäldchen gehen, das mitten in einer Wildblumenwiese liegt. Vor uns werfen drei Straßenlaternen Pfützen aus Licht, das unsere Schatten verlängert oder verkürzt. Nach einer Weile kommen wir zu einer Fußgängerbrücke mit einem geschweißten Metallgeländer, unter der Wasser rauscht. Ich blicke zur Seite und sehe, dass der Fairham Brook sich zu einem von Schilf gesäumten Teich erweitert. Keine hundert Meter entfernt schimmern Baumstämme auf einer kleinen Lichtung silbern im hellen Licht, und tragbare Generatoren rattern wie ein geloopter Drumtrack. Am Fuß einer steilen Böschung ist ein weißes Zelt errichtet worden. Von innen beleuchtet strahlt es wie ein chinesisches Papierlampion, in dem sich Motten gefangen haben.
Auf der anderen Seite der Fußgängerbrücke parken zwei Land Rover. In einem sitzt Lenny Parvel und spricht in ein Funkgerät. Ich warte, bis sie fertig ist.
Sie schüttelt mir die Hand und will mich in eine Umarmung ziehen, aber das hier ist beruflich. Ihre hellbraunen Augen werden weich. »Normalerweise würde ich dich nicht stören.«
»Würdest du doch.«
Sie trägt eine Barbour-Jacke und kniehohe Gummistiefel. Sie hat feine Gesichtszüge und schwarz gefärbtes Haar, das ihre Schultern knapp streift. Lenny ist nicht ihr richtiger Name. Ihre Eltern nannten sie Leonore Eustace Mary Parvel, weil sie dachten, dass ein langer Name ihrer Tochter zusätzlichen Status verleihen würde, obwohl Lenny dem widersprechen würde. Sie hat mir einmal erklärt, sie hätte in der Abiprüfung mehr Punkte gemacht, wenn sie nicht so lange gebraucht hätte, ihren Namen einzutragen.
Lenny war die erste Polizistin am Tatort, nachdem meine Eltern und Schwestern ermordet worden waren. Sie fand mich versteckt im Gartenschuppen, wo ich mich mit einer Hacke verschanzt hatte, überzeugt, als Nächster sterben zu müssen. Lenny war es, die mich herausgelockt und in ihren Mantel gewickelt hat, bis die Kavallerie eintraf. Ich erinnere mich noch daran, wie ich neben ihr in der offenen Tür eines Streifenwagens gesessen habe und sie mich nach meinem Namen gefragt hat. Sie hat mir ein Tic Tac angeboten und meine zitternde Hand gehalten, als sie es auf meine Handfläche schüttete. In diesem Moment, durch diese Berührung erkannte ich, dass es noch Wärme in der Welt gab.
In den folgenden Tagen saß Lenny während der polizeilichen Befragungen neben mir und wachte über mich, wenn ich in einem Faltbett in der Polizeistation schlief. Während der Verhandlung zur Beweisaufnahme und des Prozesses schirmte sie mich vor den Medien ab, begleitete mich zum Gericht und leistete mir Gesellschaft, während ich darauf wartete, in den Zeugenstand gerufen zu werden. Sie saß hinten im Gerichtssaal, während ich schwor, die Wahrheit zu sagen, und versuchte, nicht zu meinem Bruder auf der Anklagebank zu blicken.
Damals war sie Constable, seit nicht einmal einem Jahr im Dienst. Inzwischen leitet sie das Dezernat für Schwere und Organisierte Kriminalität der Nottinghamshire Police; verheiratet, geschieden und wiederverheiratet mit zwei erwachsenen Stiefkindern. Ich bin wie ein drittes.
»Wie viel hat Edgar dir erzählt?«
»Jodie Sheehan, fünfzehn Jahre alt, seit gestern Abend vermisst.«
Lenny zeigt mir ein Foto von zwei Mädchen und weist auf Jodie, einen dunkeläugigen Teenager mit dichtem braunem Haar und einer Lücke zwischen den Schneidezähnen, die die Klammer nicht richten konnte.
»Zuletzt gesehen wurde sie von ihrer Cousine Tasmin Whitaker um fünf nach acht bei dem Feuerwerk, gut einen Kilometer entfernt von hier.« Lenny zeigt auf das zweite Mädchen auf dem Bild, das größer und kräftiger ist mit einem runden Gesicht und einem schiefen Lächeln.
»Jodie hat Tasmin erzählt, dass sie zu einem Imbiss im Christchurch Drive wollte. Sie hatten vor, sich später bei Tasmin wiederzutreffen. Aber Jodie ist nicht gekommen.«
Sie führt mich über einen gewundenen, stellenweise steil abschüssigen, schlammigen Pfad. In der Nähe sind Holzroste ausgelegt wie Trittsteine, Bogenlampen sorgen für helle Lichtinseln, in denen die Tautropfen in den Spinnweben glitzern wie Juwelen an einer Schnur.
Eine Klappe des Zeltes wird zurückgeschlagen, und ich sehe die Leiche. Jodie liegt auf der rechten Seite und hat die Knie an die Brust gezogen. Jeans und Slip knüllen sich über ihren Wildlederstiefeln um die Knöchel, ihr Pullover ist bis zum Kinn hochgezogen worden. Ihr BH ist aufgehakt und zur Seite gezerrt, sodass ihre Brüste entblößt sind, klein, blass und mit Schlamm oder Blut bespritzt. Ihre ein wenig hervortretenden Augen sind offen, die Pupillen mit einem matten Glanz überzogen wie von Grauem Star.
Ihre Blöße macht mich verlegen. Ich möchte ihre Jeans hoch- und ihren Pullover herunterziehen und ihr sagen, wie sehr ich es bedauere, dass wir uns so kennen lernen. Ich will mich dafür entschuldigen, dass Menschen Fotos machen, unter ihren Fingernägeln kratzen und ihre Körperöffnungen abtupfen. Es tut mir leid, dass sie mir nicht sagen kann, wer ihr das angetan hat, oder bei einer Gegenüberstellung mit dem Finger auf ihn zeigen oder seinen Namen auf einen Zettel schreiben kann.
Ich gehe in die Hocke und bemerke die Blätter und das Gras in ihren Haaren. Sie hat Kratzer an Händen und Unterarmen, einen Bluterguss am rechten Auge und eine Beule an der Stirn. Sie trägt nur einen Ohrring – einen feinen Silberstecker, der im Licht glitzert. Wo ist der andere? Wurde er im Kampf verloren oder als Souvenir mitgenommen?
Eine gespensterhafte Gestalt betritt das Zelt. Von Kopf bis Fuß in einen formlosen Overall gehüllt ist Robert Ness kaum zu erkennen, doch seine massige Statur lässt den Raum kleiner wirken.
Der leitende Gerichtsmediziner, der manchmal Nessie genannt wird, ist Mitte vierzig mit einer Haut, die so dunkel ist, dass sie das Weiß seiner Augen heller leuchten lässt. Er trägt eine randlose Brille, in der sich das Licht spiegelt, wenn er den Kopf wendet.
»Kennt ihr euch?«, fragt Lenny.
Wir nicken uns zu.
»Machen wir es kurz«, sagt Ness. »Ich will sie nicht noch länger hier draußen liegen lassen.«
»Was können Sie uns sagen?«, fragt Lenny.
»Es war gestern Nacht kalt, was ihre Körpertemperatur gesenkt und die Insekten ferngehalten hat. Sie ist in den frühen Morgenstunden gestorben.«
»Todesursache?«
»Unklar. Sie hat einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, der zwar keinen Schädelbruch verursacht, sie aber vielleicht bewusstlos zurückgelassen hat. Nach der Obduktion weiß ich mehr.«
»Wurde sie sexuell missbraucht?«, frage ich.
»In ihrem Haar sind Samenspuren.«
Eine Luftblase bleibt in meinem Hals stecken.
Der Gerichtsmediziner geht in die Hocke und zeigt auf Jodies Stiefel. »Sie sind voller Wasser, und ich habe Teichgras in ihrem Haar gefunden. Direkt hinter den Bäumen liegt der Fairham Brook.« Er zeigt auf die Beule an ihrer Stirn. »Das ist eine Platzwunde, wahrscheinlich verursacht durch einen Sturz.«
»Was ist mit den Kratzern an ihren Armen?«
»Von Ästen und Brombeeren.«
Sie hat versucht zu fliehen.
Lenny wendet sich ab und ruft DS Edgar zu sich. »Ich möchte beim ersten Tageslicht Polizeitaucher hier haben. Wir suchen nach ihrem Handy und einem gepunkteten Stoffbeutel.«
Ich verlasse das Zelt der Spurensicherung und gehe auf den Holzrosten bis an den Rand des Tatorts. Ein Teppich von bröckeligem Laub matscht unter meinen Füßen und verbirgt Wurzeln, die wie Stolperfallen aus dem Boden ragen. Bei Tageslicht ist die Lichtung vom Fußweg und von der Böschung einzusehen. Nachts verschwindet sie und wird dunkler als die Weide, weil die überhängenden Äste das Licht der Umgebung abschirmen.
Lenny ist neben mich getreten. Wir hangeln uns an Bäumen nach oben, bis wir die Böschung erklommen haben.
»Wohin führt der Fußweg?«, frage ich.
»Kurz hinter der Brücke stößt er auf eine T-Kreuzung. Rechts geht es zur Farnborough Road. Der linke Abzweig überquert die Straßenbahngleise und kommt irgendwann bei der Forsyth Academy raus, Jodies Schule. Ihre Familie lebt jenseits davon in Clifton. Dies wäre eine Abkürzung nach Hause gewesen.«
»Von wo?«
»Vom Haus ihrer Cousine. Tasmin Whitaker wohnt fünf Minuten von hier.«
Unterhalb von uns haben Kriminaltechniker Jodies Leiche auf eine weiße Plastikplane gelegt, die über ihr zugeklappt und versiegelt wird. Der Reißverschluss einer zweiten Plastikhülle mit Griffen wird zugezogen, und vier Männer tragen sie zu dem wartenden Leichenwagen.
Lenny beobachtet sie schweigend, ihr schwarzes Haar bauscht sich im Nacken.
»Die Boulevardpresse wird feuchte Träume haben. Ein hübsches, frommes Schulmädchen; Eiskunstlaufmeisterin.«
»Eiskunstlauf?«
»Die Times hat im Sommer ein Porträt über sie gebracht. Man hat sie das Goldmädchen des britischen Eiskunstlaufs genannt.«
Wir überqueren die Brücke und folgen dem Asphaltweg zum Bürgerzentrum. Die meisten Einheimischen sind nach Hause gegangen, um der Kälte zu entkommen, aber die TV-Teams und Reporter haben ihre Plätze eingenommen, die Kameras geschultert, die Scheinwerfer aufgeblendet.
»Ist es Jodie?«, ruft irgendjemand.
»Wie ist sie gestorben?«
»Wurde sie vergewaltigt?«
»Irgendwelche Verdächtige?«
Unter den Umständen wirken die Fragen brutal, doch Lenny hält den Kopf gesenkt und die Hände in den Taschen.
Bei dem Streifenwagen bleiben wir stehen. »Was brauchst du?«, fragt sie.
»Kann ich mit ihren Angehörigen sprechen?«
»Sie sind noch nicht offiziell benachrichtigt worden.«
»Ich glaube, sie wissen es.«
Die Doppelhaushälfte hat ein einzelnes Erkerfenster im Erdgeschoss und einen kleinen durchgeweichten quadratischen Vorgarten, der auf drei Seiten von einer stark zurückgeschnittenen, kniehohen Hecke umgeben ist. In der Einfahrt parken zwei Fahrzeuge Heck an Front – ein schwarzes Taxi und ein neuer Lexus mit Scheiben, die dunkler getönt sind als erlaubt.
Vor der Haustür wartet eine Police Constable, die gegen die Kälte mit den Füßen stampft. Lenny klingelt. Dougal Sheehan öffnet und blickt an uns vorbei, als würde er hoffen, dass wir seine Tochter nach Hause bringen.
»Ich bin Detective Chief Inspector Leonore Parvel«, sagt Lenny. »Ich würde gerne mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen.«
Er dreht sich wortlos um und führt uns in ein zu voll gestelltes Wohnzimmer mit einem klobigen Sofa und zwei verschlissenen Sesseln. Im Fernsehen läuft Fußball, der Ton ist stumm geschaltet.
Maggie Sheehan steht in dem gewölbten Durchgang zur Küche. Alles an ihr wirkt zerknittert und geschrumpft. Die leicht vorgebeugten Schultern, die dunklen Ringe unter den Augen. Ein glänzender Holzrosenkranz zwischen ihren geballten Fäusten.
»Mrs Sheehan«, beginnt Lenny.
»Bitte nennen Sie mich Maggie«, antwortet sie mechanisch, bevor sie ihren Bruder Bryan und seine Frau Felicity vorstellt, die am Küchentisch sitzen. Die Whitakers, Tasmins Eltern, sind gekommen, um ihre Unterstützung anzubieten.
Lenny bleibt in der Mitte des Raumes stehen, breitbeinig mit gefalteten Händen, als wäre sie auf dem Exerzierplatz. Manche Menschen besitzen den Raum, den sie einnehmen, während Lenny ein Terrain mit der Kraft ihrer Persönlichkeit zentimeterweise zu erobern scheint.
Maggie nimmt auf dem Sofa Platz. Die Haut über ihrem Schlüsselbein ist fleckig, das Make-up um ihre Augen rissig. Dougal sitzt neben ihr. Sie greift nach seiner Hand. Er fasst sie zögernd, als wolle er kein Zeichen von Schwäche zeigen.
Die Whitakers sind vom Küchentisch aufgestanden und stehen jetzt nebeneinander im Türbogen zum Wohnzimmer. Ihre Mienen spiegeln ein furchtbares Wissen wider.
»Es ist meine Pflicht, Sie darüber zu informieren«, beginnt Lenny, »dass man neben dem Silverdale Walk die Leiche eines minderjährigen Mädchens gefunden hat, das der Beschreibung Ihrer Tochter Jodie entspricht.«
Maggie blinzelt und sieht Dougal an, als warte sie auf eine Übersetzung. Er hat die Augen geschlossen, doch aus einem Augenwinkel quillt eine Träne, die er mit dem Handrücken abwischt.
»Wie ist sie gestorben?«, flüstert er.
»Wir halten die Umstände ihres Todes für verdächtig.«
Dougal steht auf, schwankt unsicher und stützt sich auf der Rückenlehne des Sofas ab. Er ist ein großer Mann mit der Statur eines Bauarbeiters oder Metzgers. Kräftige Arme, mächtige Pranken.
»Einer von Ihnen muss Jodie offiziell identifizieren«, sagt Lenny. »Es muss nicht heute sein. Ich kann Sie morgen abholen lassen.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragt Maggie.
»Sie wurde ins Queen’s Medical Centre gebracht. Es muss eine Obduktion durchgeführt werden.«
»Sie wollen sie aufschneiden«, sagt Dougal.
»Wir ermitteln in einem Mordfall.«
Maggie Sheehans Finger haben ihren Rosenkranz gefunden. Sie packt das kleine Kruzifix so fest, dass man den Abdruck in ihrer Hand erkennen kann, als sie die Faust wieder löst. Nachdem sie den ganzen Tag gebetet und zu hoffen gewagt hat, wirkt sie nun völlig am Boden zerstört.
Bryan und Felicity umarmen sich. Sie scheint ihn zu stützen.
»Wir müssen ermitteln, wo Jodie sich zuletzt aufgehalten und was sie gemacht hat«, sagt Lenny. »Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Bei dem Feuerwerk«, antwortet Maggie.
»Wir gehen jedes Jahr zur Bonfire Night«, lässt sich Felicity wie ein Echo vernehmen. »Niemand nennt es mehr Guy-Fawkes-Night. Vielleicht weil es politisch inkorrekt ist. Der Gunpowder Plot und all das.«
Sie ist eine große attraktive Frau mit dichtem dunklem Haar und einer silbernen Strähne von der linken Schläfe bis zum Kragen ihrer Bluse.
»Mit wem war Jodie bei dem Feuerwerk?«, unterbricht Lenny sie.
»Mit Tasmin. Unserer Tochter.«
»Und mit wem noch?«
»Schulfreundinnen, Freunden, Nachbarn. Es war wie ein großes Straßenfest. Ich habe eine Flasche Sekt und Gläser mitgenommen.«
Maggie zieht ein Stofftaschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und schnäuzt sich die Nase. Alle drehen sich um.
»Ich hätte darauf bestehen sollen, dass sie direkt nach dem Feuerwerk nach Hause kommt«, flüstert sie mit brechender Stimme. »Ich hätte ihr nicht erlauben sollen, noch draußen zu bleiben.«
»Es ist nicht deine Schuld«, tadelt Felicity.
»Sie hätte zu Hause sein sollen. Da wäre sie sicher gewesen.«
Dougal reagiert nicht, doch ich kann die Spannung zwischen den Eheleuten spüren. Die Vorwürfe fangen gerade erst an. Irgendjemand muss schuld sein, wenn die Logik versagt.
»Wann haben Sie Jodie zum letzten Mal gesehen?«, frage ich.
»Sie ist beim Feuerwerk gegen acht auf mich zugekommen«, antwortet Maggie. »Sie hat mich gefragt, ob sie bei Tasmin übernachten könnte. Ich habe sie daran erinnert, dass sie wegen des Trainings früh aufstehen musste.«
»Wegen des Trainings?«
»Die Landesmeisterschaften stehen an«, erklärt Bryan Whitaker. »Wir sind an sechs Vormittagen die Woche um halb sieben auf dem Eis.«
»Sie sind Jodies Trainer«, sage ich.
»Ich habe ihr das Eislaufen beigebracht.«
»Fast bevor sie laufen konnte«, bestätigt Maggie.
Die beiden Geschwister haben ähnliche Augen und eine ähnliche Nase. Maggie ist runder und weicher, während Bryan schmale Hüften und zarte Hände hat. Er steht mit geradem Rücken, gestrafften Schultern und gerecktem Kinn da wie ein Tänzer.
Die Aufmerksamkeit wendet sich dem Fernseher zu, wo das Fußballspiel durch eine Nachrichtensendung ersetzt wurde. Mit Drohnen gefilmte Aufnahmen zeigen die blassen Umrisse des Zeltes der Kriminaltechniker, das von den überhängenden Ästen fast verdeckt wird. Dann sieht man Polizisten, die in einer langen, geraden Reihe das kniehohe Gras der Wiese absuchen. Einer bleibt stehen, bückt sich, hebt eine leere Softdrink-Dose auf und steckt sie in einen Beweisbeutel aus Plastik. Das Bild wechselt erneut. Jodies Leiche wird die Böschung hinaufgetragen.
»Schalt das ab!«, fleht Maggie. Dougal greift nach der Fernbedienung, fummelt herum, flucht. Der Bildschirm wird schwarz.
»Warum sollte irgendjemand unserem Baby etwas antun?«
Lenny sieht mich an, aber ich habe keine Worte, um es wiedergutzumachen. Ich weiß, was ihnen bevorsteht. In den kommenden Tagen wird Jodies Leben von den Medien zerfleddert werden. Sie werden sich an dieser Geschichte weiden: das junge »Goldmädchen« des Eiskunstlaufs, das von olympischem Ruhm geträumt hat und auf einer kalten, schlammigen Lichtung keine tausend Meter von zu Hause entfernt gestorben ist.
Als forensischer Psychologe habe ich Mörder, Psychopathen und Soziopathen kennengelernt, doch ich weigere mich, Menschen als gut oder böse zu klassifizieren. Ein Fehlverhalten ist die Abwesenheit von etwas Gutem, nicht etwas, das vom Schicksal bestimmt oder in unserer DNA festgeschrieben ist, und auch nichts, das uns von beschissenen Eltern, achtlosen Lehrern oder grausamen Freunden aufgezwungen wurde. Das Böse ist kein Zustand, sondern eine »Fähigkeit«, und wenn die »Fähigkeit«, die ein Mensch besitzt, groß genug ist, fängt sie irgendwann an, ihn zu definieren.
Würde es den Sheehans nützen, wenn ich ihnen das erzähle? Nein. Es würde ihnen keinen Trost bringen, wenn sie heute Abend nebeneinanderliegen, an die Decke starren und sich fragen, was sie hätten anders machen können. Das Herz von Menschen, die ihre Kinder verlieren, wird aufs Merkwürdigste verbogen. Ein Kind zu verlieren widersetzt sich der Biologie. Es widerspricht der natürlichen Ordnung von Geschichte und Genealogie. Es führt den gesunden Menschenverstand in die Irre. Es verletzt die Zeit. Es schafft ein großes, schwarzes, bodenloses Loch, das die Hoffnung schluckt.
Dougal gießt sich an einer Schrankbar einen Drink ein. An den meisten Flaschen kleben noch Duty-free-Sticker. Maggie wirkt entspannter, wenn seine Aufmerksamkeit nicht auf sie konzentriert ist. Sie fängt an zu reden, erinnert sich.
»Als Jodie Fahrradfahren gelernt hat, musste sie sich auf unsere Sackgasse hier beschränken, weil ich nicht wollte, dass sie außer Sichtweite radelt. Die Leute haben gesagt, ich sei überbehütend, aber ich weiß, wie so was passiert. Als sie dann zur Schule ging, habe ich sie allein bis zu Tasmin laufen lassen, aber nie im Dunkeln – nicht auf diesem Fußweg. Wir haben ihn immer den Schwarzen Pfad genannt, weil es dort früher keine Beleuchtung gab. Auch als die Stadt schließlich Laternen aufgestellt hat, haben wir ihn trotzdem noch so genannt.«
»Warum haben Jodie und Tasmin sich gestern Abend getrennt?«, frage ich.
»Jodie wollte Fish and Chips holen«, sagt Felicity.
»Allein?«
Niemand antwortet.
»Hat sie einen Freund?«, frage ich.
»Keinen richtigen«, sagt Felicity. »Manchmal hängt sie mit Toby Leith rum.«
»Dem reichen Jungen?«, fragt Dougal spöttisch.
»So reich ist er auch wieder nicht«, sagt Bryan. »Sein Vater hat ein Autohaus.«
»Wie alt ist Toby?«, frage ich.
»Zu alt«, sagt Dougal.
»Er ist achtzehn«, erklärt Felicity, die ihren Schwager nur ungern berichtigt. »Sie hängen bloß zusammen rum.«
Dougal reagiert wütend. »Was soll das überhaupt heißen? Jodie sollte beim Training sein und nicht mit irgendeinem notgeilen Proll in einem Angeberauto rumgondeln.«
Maggie verzieht das Gesicht und wirkt noch elender.
»Wann haben Sie gemerkt, dass Jodie vermisst wurde?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.
»Sie sollte bei uns übernachten«, sagt Felicity. »Tasmin hat bis elf gewartet und ist dann eingeschlafen.«
»Hatte Jodie einen Schlüssel?«
»Tasmin hat die Hintertür aufgelassen.«
»Sie war die ganze Nacht dort draußen«, sagt Dougal mit brechender Stimme.
Felicity setzt sich auf die Kante seines Sessels und streicht über seine Wange. Es ist eine intime Geste, als würde man zusehen, wie Androklus einen Dorn aus der Pfote des Löwen zieht. Diese Menschen stehen sich nahe, denke ich. Sie haben ihre Kinder gemeinsam großgezogen, Geburtstage, Taufen, Jubiläen und Meilensteine gefeiert. Die Höhen und Tiefen.
»Ich wollte Jodie zum Training wecken, aber sie war nicht in Tasmins Zimmer«, sagt Bryan. »Deshalb dachte ich, dass sie doch nach Hause gegangen sein muss, und bin dorthin gefahren, um sie abzuholen. Da wurde uns dann klar, dass sie schon die ganze Nacht weg war.«
»Und Sie haben die Polizei angerufen«, sagt Lenny.
Die Paare sehen sich an und warten, dass irgendjemand antwortet.
»Erst haben wir sie gesucht«, sagt Bryan defensiv. »Ich bin zur Eishalle gefahren. Tasmin hat angefangen, ihre Freundinnen anzurufen.«
Lenny betrachtet Dougal. »Und Sie?«
Er zeigt auf das schwarze Taxi vor dem Fenster. »Ich hab gestern Nacht gearbeitet. Ich bin gegen sieben nach Hause gekommen und direkt wieder los, um Jodie zu suchen.«
»Wo?«
»Ich bin den Fußweg abgelaufen.«
»Wieso haben Sie sofort an den Silverdale Walk gedacht?«
»Es ist der Nachhauseweg«, antwortet er, als ob das offensichtlich sein sollte. Seine Stimme bricht. »Ich muss direkt an ihr vorbeigelaufen sein.«
Maggie starrt an die Wand, als würde sie in die Vergangenheit blicken.
»Was haben Sie gemacht?«
»Ich habe gebetet.«
»Jemand musste hierbleiben, falls Jodie anrufen oder nach Hause kommen würde«, erklärt Felicity.
Lenny scheint still die zeitliche Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren. Es macht keinen Unterschied, wann die Polizei alarmiert wurde. Da war Jodie schon seit Stunden tot.
»Gibt es irgendjemanden, der Ihrer Tochter vielleicht etwas antun wollte?«, fragt Lenny.
»Wie meinen Sie das?« Maggie wirkt verwirrt.
»Hat sie mal erwähnt, dass ihr jemand gefolgt ist? Jemand, der aussah, als würde er nicht in die Gegend gehören, sodass sie sich unbehaglich oder unsicher gefühlt hat?«
Niemand antwortet.
»Gibt es irgendjemanden, der Ihrer Familie schaden möchte?«
Dougal stößt ein kurzes höhnisches Lachen aus. »Ich bin Taxifahrer. Maggie arbeitet in der Schulmensa. Wir sind keine Kleinkriminellen oder irgendwelcher Abschaum.«
Lenny sagt nichts. Vielleicht sollte sie einzeln mit den Eltern sprechen, um ihre verschiedenen Reaktionen einzuschätzen. Dougal hat die stärkere Persönlichkeit, und Maggie fügt sich ihm, stellt seine Antworten nicht in Frage und unterbricht ihn nicht. Sie ist nicht unterwürfig, aber auch kein gleichwertiges Gegenüber in dieser Partnerschaft.