Schweizer Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725-1825 - Rudolf Mumenthaler - kostenlos E-Book

Schweizer Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725-1825 E-Book

Rudolf Mumenthaler

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Beschreibung

Schweizer Wissenschaftler spielten beim Aufbau der 1725 gegründeten St. Petersburger Akademie der Wissenschaften eine massgebliche Rolle. Mathematiker aus Basel, namentlich Daniel Bernoulli und Leonhard Euler, sorgten für die wissenschaftliche Ausstrahlung ins gelehrte Europa und dafür, dass weitere Schweizer ihr Glück im Zarenreich und an der Akademie versuchten. Gleich drei von ihnen prägten als Sekretäre die Geschicke der jungen Institution. Rudolf Mumenthaler untersucht in seiner Studie die Gründe für die Auswanderung und zeichnet anhand von Originalquellen das Leben und Arbeiten der Schweizer Wissenschaftler in St. Petersburg im 18. Jahrhundert nach.

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Schweizer Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725-1825

Rudolf Mumenthaler

buch & netz Kölliken

Schweizer Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725-1825 Copyright © 2023 by Rudolf Mumenthaler is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International, except where otherwise noted.

Für wissenschaftliche Zitate gelten die üblichen Zitierregeln. Bitte referenzieren Sie die Texte, die Sie gemäss der CC-BY Lizenz nutzen, auf folgende Weise:

Quelle: «Schweizer Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725-1825».Autor: Rudolf MumenthalerVerlag: buch & netz – http://buchundnetz.comISBN:978-3-03805-044-5 (Softcover)978-3-03805-045-2 (Hardcover)978-3-03805-224-1 (PDF)978-3-03805-225-8 (ePub)Version: 1.04 – 20230728

Das Werk ist als gedrucktes Buch und in verschiedenen digitalen Formaten verfügbar:http://buchundnetz.com/werke/schweizer-gelehrte-an-der-st-petersburger-​akademie-der-​wissenschaften-1725-1825.

1

Inhalt

Editorische Notiz

1. Einleitung

1.1 Quellen

2. Ursachen der Auswanderung

2.1 Wissenschaft in der Schweiz im 18. Jahrhundert (Push-Faktoren)

2.2 Die Basler Mathematiker

2.3 Die Ausbildung der schweizerischen Gelehrten

2.4 Alternativen im Ausland

2.5 Wissenschaft in Russland (Pull-Faktoren)

2.6 Zur Geschichte der Akademie St.Petersburg

3. Vermittlungskanäle

3.1 Drittpersonen als Vermittler

3.2 Vermittlung durch Russlandschweizer

4. Auswanderungsmotive im Einzelnen

4.1 Niklaus und Daniel Bernoulli: Aufbruch ins Land der Mathematik

4.2 Leonhard Euler: Ins Paradies der Gelehrten

4.3 Johann Ammann: von der Themse an die Neva

4.4 Niklaus Fuss: Auf den Spuren des grossen Meisters

4.5 Abgelehnte Berufungen

4.6 Die Motive im Modell

5. Die Schweizer in der Aufbauphase der Akademie

5.1 Jakob Hermann, Professor primarius

5.2 Niklaus und Daniel Bernoullis Tätigkeit in St. Petersburg

5.3 Leonhard Euler in seiner ersten St. Petersburger Zeit

5.4 Johann Ammann

5.5 Frédéric Moula

6. Leonhard Euler in seiner zweiten St. Petersburger Zeit

7. Johann Albrecht Euler

7.1 Tätigkeit als Akademiesekretär

7.2 Andere Tätigkeiten Johann Albrecht Eulers

7.3 Wissenschaftliche Bedeutung J.A. Eulers

8. Niklaus Fuss: Vom Gehilfen Eulers zum Leiter der Akademie

8.1 Arbeit als Gehilfe Eulers bis zur Wahl zum Adjunkt

8.2 Tätigkeit als Adjunkt

8.3 Tätigkeit als Professor

8.4 Tätigkeit als Sekretär der Akademie

8.5 Reorganisation des Schulwesens

8.6 Andere Tätigkeiten

Exkurs: Schweizer als Sekretäre der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften

9. Jakob Bernoulli

10. Schweizer Beteiligung an den Forschungsreisen der Akademie

11. Johann Kaspar Horner als Astronom auf Krusensterns Weltumsegelung

12. Leben der Schweizer Gelehrten in St. Petersburg am Ende des 18. Jahrhunderts

12.1 Wohnung in St. Petersburg

12.2 Finanzielle Situation

12.3 Haushalt und gesellschaftliches Leben in St. Petersburg

12.4 Tagesablauf

12.5 Kleidung

12.6 Rolle der Frau, Familienleben

12.7 Zwischen Assimilation und Integration

12.8 Deutsch-reformierte Kirchgemeinde

13. Schlussbetrachtungen

Bibliografie

2

Editorische Notiz

Diese Geschichte der Schweizer an der St. Petersburger Akademie ist in der umfangreichen Studie «Schweizer Gelehrte im Zarenreich» enthalten (Mumenthaler, 1996), doch war sie in meiner Dissertation nur das wichtigste Kapitel einer grösseren Untersuchung, die zudem stark aus dem Blickwinkel der Wanderungsforschung geschrieben ist. Anlässlich von zwei Jubiläen wurde die Thematik wieder aktuell – dem 300-jährigen Jubiläum der Stadt St. Petersburg 2003 sowie dem 300. Geburtstag von Leonhard Euler 2007. In diesem Zusammenhang entstand im Rahmen verschiedener Konferenzen die Idee, eine russische Übersetzung der Arbeit herauszugeben, wobei diese sich auf die Geschichte der Schweizer an der Akademie im 18. Jahrhundert konzentrieren sollte. Es sind also gegenüber der Studie über die Schweizer Gelehrten im Zarenreich keine grundlegend neuen Erkenntnisse zum Thema zu erwarten, sondern eine leicht überarbeitete, konzentrierte und somit leserfreundliche Zusammenfassung der Kapitel über die Schweizer Wissenschaftler an der St. Petersburger Akademie im 18. Jahrhundert. Die russische Publikation «Švejcarskie učënye v Sankt-Peterburgskoj akademii nauk. XVIII vek.» erschien 2009 im Verlag Nestor-Istorija in St. Petersburg.

Und schliesslich beschloss ich, den der russischen Ausgabe zugrunde liegenden deutschen Text herauszugeben, was hiermit geschieht. Zugunsten der besseren Lesbarkeit habe ich für die E-Book-Ausgabe die Fuss- bzw.  Endnoten aufgelöst und in den Text integriert. Für die russische Ausgabe hatte ich die französischen Zitate ins Deutsche übersetzt. Dies habe ich hier beibehalten und die Zitate entsprechend markiert (Übersetzung aus dem Französischen). Zudem habe ich gegenüber der russischen Ausgabe den Zeithorizont bis 1825 und somit bis zum Tode von Niklaus Fuss erweitert. Dadurch ist noch der Zürcher Astronom Johann Kaspar Horner mit seiner Teilnahme an Krusensterns Weltumsegelung und anschliessender Tätigkeit an der Akademie mit in das Buch aufgenommen worden.

Mit der Publikation im Verlag buch & netz wähle ich ein möglichst offenes Modell. Der Text wurde als E-Book konzipiert, wird aber auch gedruckt in den Verkauf gelangen. Das Werk wird unter einer offenen Creative-Commons-Lizenz CC-BY-NC und ohne technischen Schutz veröffentlicht. Dies erlaubt die freie Nutzung des Inhalts. Verkauft wird das Werk über die Website des Verlags sowie die üblichen kommerziellen Kanäle – von der lokalen Buchhandlung bis zu den bekannten Online-Plattformen.

1. Einleitung

In der Wohnung Johann Albrecht Eulers an der 7.Linie auf Vasil’evskij Ostrov in St. Petersburg herrscht an diesem Mittag des 29. April 1789 Hochbetrieb. Gefeiert wird die Heirat der blutjungen Tochter Charlotte mit Jakob Bernoulli, dem allseits beliebten Kollegen und Landsmann aus Basel. Anwesend sind zahlreiche Verwandte und Bekannte, auch Niklaus Fuss, der mit einer Schwester der Braut verheiratet ist. Die Vorgesetzten Bernoullis, Graf Anhalt vom Kadettenkorps und die Direktorin der Akademie, Fürstin Daschkowa, haben sich entschuldigen lassen. Es ist zwar kein rauschendes, aber ein fröhliches Fest. Der glückliche Vater der Braut hat es sich nicht nehmen lassen, seine etwa 30 Gäste mit verschiedenen Likörs, erlesenen Weinen, die er jeweils aus Südfrankreich bezieht, und mit kulinarischen Leckerbissen zu verwöhnen. In diesem gediegenen Rahmen vollzieht der holländische Pastor die Trauung, weil die deutsch-reformierte Gemeinde wieder einmal auf Pfarrersuche ist. Am Abend begleiten die Verwandten das frischvermählte Paar nach Hause. Am nächsten Tag geht das Fest weiter, diesmal mit Tanz bei den Schwiegereltern.

«Wenn das Wetter schön bleibt, so gedenken wir morgen aufs Land zu ziehen, welches, hoffe ich, meiner Gesundheit sehr zuträglich seyn wird. Die Gegend ist hübsch, insonderheit wegen dem vielen Wasser; aber leyder fehlen die Berge.» (BEBS, Ordner Bernoulli unter sich, J.Bernoulli an seine Mutter, SPb 15./26.5.1789)

Gemeinsam zieht das junge Paar mit Niklaus Fuss, seiner Frau und drei Töchtern in eine Datscha am Ufer der Neva, genauer an der Nevka bei der Apothekerinsel. Nur 40 Minuten von ihrer Wohnung entfernt haben sie ein Häuschen für 10 R. monatlich gemietet. Hier verbringen die verschwägerten Freunde und die beiden Schwestern äusserst angenehme Wochen. Nichts trübt das junge Glück. Bis zu jenem fatalen 3. Juli, einem der heissesten Tage des Jahres. Niklaus Fuss erzählt, was seinem Schwager zugestossen ist:

«Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber des Badens, und das war mit ein Hauptgrund des Eifers, womit er einen zu Ende des Winters geäusserten Einfall, ein gemeinschaftliches Landhaus zu mieten, auffasste und betrieb. Oft ging er schon des Morgens um 5 Uhr, wenn alles noch schlief, im Schlafrock nach einem etwa eine Werst (1 Werst = 1.067 km) von unserm Hause entfernten, sehr angenehmen Badeplatz und kam mit triefendem Haar zum Frühstück. Vergebens bat ihn seine Frau, nicht so früh und nicht allein zu baden; so oft es das Wetter zuliess, badete er sich 2 Mal des Tages, des Abends zuweilen in meiner Gesellschaft. Den 3ten Julii hatten sich unsere Schwiegereltern und noch einige gemeinschaftliche Freunde vorgenommen, den Abend bei uns zu verbringen und unter freiem Himmel ein ländliches Mahl zu geniessen. Auch dass schon ein Teil der Gesellschaft Mittags gekommen war, hielt ihn nicht ab sich baden zu wollen, und da der Tag sehr heiss war, so ging ich mit. Er schwamm, nachdem er sich etwa 20 Schritt oberhalb von mir, der an der gewohnten Stelle blieb, entkleidet hatte, rasch herunter, nur schien er mir das zweite Mal sehr ermüdet. Ich bat ihn deshalb aufzuhören, umso mehr, als man mit dem Tee auf uns warten würde. Damit verliess ich das Wasser und gab nicht weiter auf ihn Acht. Während dem Anziehen hörte ich ein Keuchen, das mich aufmerksam machte, und da das Geräusch, das ein Schwimmender macht, plötzlich aufhörte, ich aber vor dem Gebüsche nichts sehen konnte, eilte ich ans Wasser hinunter und sah mit Entsetzen, das alle meine Nerven lähmte, dass er eben am Sinken war und mit starren Augen nach mir hinblickte. Ich stürzte mich ins Wasser, verwickelte mich aber, als ich eben glaubte ihn erreicht zu haben, in dem sehr langen Wassergras, das an dieser Stelle von der Länge von 1 1/2 Faden und sehr häufig war. Durch körperliche Anstrengung machte ich mich, als ich schon gesunken war, wieder los und brachte nicht ohne grosse Mühe und mit beinahe erschöpften Kräften den Gesunkenen ans Ufer.» (BEBS, Ordner Fuss S.213f., N.Fuss an seine Eltern, SPb 1./12.3.1790)

Fuss versucht in der Folge alles, um seinen Schwager wieder ins Leben zurückzuholen. Als alles nichts nützt, rennt er halbnackt zum nächsten Haus, schickt nach einem Feldscher (d.h. Chirurgen), läuft zum Haus zurück, wo er die Schwiegermutter und seine Frau holt. Während sie versuchen, einen Klistier zu verabreichen und den Ertrunkenen zur Ader lassen, rennt Fuss in die 5 km entfernte Stadt, alarmiert die Stadtchirurgen und eilt wieder zurück. Als die beiden Chi­rurgen eintreffen, erklären sie gleich, dass alle Hoffnung umsonst sei, der Verunglückte habe einen Schlaganfall erlitten, vermutlich weil er zu kurz nach dem Essen bei der grossen Hitze gebadet habe.

«[…] ein Tag, auf den wir uns alle als auf einen Tag der geselligen Freude im Voraus gefreut hatten, wurde in einen Tag des Schreckens und der Trauer verwandelt. Was es mit der guten Lotte (=Charlotte), der 9 wöchentlichen Witwe, für Szenen gab, wie sie sich mit zerstreuten Haaren, der Verzweiflung in Blick und Herzen bei der Leiche niederwarf und dieselbe vergebens durch die zärtlichsten Benennungen wieder zu beleben strebte – o, alles dieses werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Fünf Tage war ich wie gelähmt am ganzen Körper, teils von der Alteration, teils auch von der Anstrengung, die ich erst bei dem Bestreben ihn zu retten und dann bei dem Laufen nach der Stadt an einem der heissesten Sommertage gemacht hatte. Doch das waren nur Leiden des Körpers; wie nahe der Verlust dieses biedern (guten) Freundes meinem Herzen gegangen, das ist unbeschreiblich.» (Ebd. S.214f)

Das tragische Schicksal Jakob Bernoullis führt uns mitten ins Zentrum der Geschichte der Schweizer Gelehrten an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. Dabei vertreten die Protagonisten der Einstiegsszene die drei wichtigsten Gelehrtenfamilien, welche für die Geschichte der Akademie prägend waren: die Eulers, Bernoullis und Fuss. Mit Daniel und Niklaus Bernoulli sowie kurz darauf auch mit Leonhard Euler waren sie schon bei der Eröffnung der Akademie 1725 prominent vertreten. Mit Johann Albrecht Euler, Niklaus und Paul Fuss stellte sie fast ein Jahrhundert lang den Sekretär der Akademie. In dieser Funktion pflegten sie Beziehungen zu fast allen anderen Schweizern, die im Zarenreich wissenschaftlich tätig waren, nicht wenige wurden gar von ihnen berufen.

1.1 Quellen

Interessanterweise fehlt in meiner Dissertation eine explizite Quellenkritik und eine Beschreibung der wichtigsten Quellen. Dies möchte ich hier nachholen. Den Fokus legte ich in meiner Untersuchung nicht auf die bereits sehr gut erforschten Grössen Leonhard Euler und Daniel Bernoulli. Von beiden gibt es äusserst umfangreiche Archive mit Beständen an der Universitätsbibliothek Basel, wo sie im Euler-Archiv und in der Bernoulli-Edition aufbewahrt und bearbeitet werden. Zudem gibt es Briefeditionen, für die auch Briefe aus anderen Archiven aufbereitet wurden. Ich habe mich eher auf die weniger bekannten Johann Albrecht Euler und Niklaus Fuss konzentriert, deren Einfluss auf das russische Hochschulwesen ebenfalls sehr gross war. Beide haben im Schatten des grossen Leonhard Euler gewirkt, ihn tatkräftig unterstützt und dabei auch eigene Schwerpunkte setzen können. Insbesondere Niklaus Fuss hat sich als eine überaus wichtige und faszinierende Persönlichkeit erwiesen. Zu Johann Albrecht Euler fand sich eine Mikrofilm-Kopie seines Briefwechsels mit seinem Schwiegervater Samuel Formey in Berlin, der ein detailliertes Tagebuch enthält. Auf dieser Grundlage konnte ein sehr genaues Bild des Alltags eines Gelehrten in St. Petersburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezeichnet werden. Auch zu Niklaus Fuss gibt es ausgezeichnete Quellen, nämlich eine Kopie des Briefwechsels mit seinem Vater, die in der Bernoulli-Edition aufbewahrt wird sowie den Briefwechsel mit Daniel Bernoulli, seinem Lehrer in Basel. Auch hier erlauben die detaillierten Berichte ein sehr differenziertes Bild von dieser integren Persönlichkeit, ihrem Leben und ihrer Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften. Diese beiden Briefwechsel bilden quasi das Rückgrat der ganzen Darstellung. Die Lebendigkeit dieser Quellen legte es nahe, auch in der Darstellung öfters die Beteiligten im Originalton sprechen zu lassen. Ergänzt wurde dieses autobiographische Material durch Briefe in anderen Archiven oder aus Briefeditionen, durch Akten und Protokolle aus dem Archiv der Akademie der Wissenschaften.

Und noch etwas zur Zitierweise: Die Unterlagen aus der Bernoulli-Edition zitiere ich in der Form BEBS (Bernoulli-Edition, Basel) plus den jeweiligen Ordner mit Korrespondenzpartnern, den Briefwechsel Euler-Formey als SBBPK (Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz) und die Akten aus dem Archiv der St. Petersburger Filiale der Akademie der Wissenschaften mit dem Kürzel SPFARAN.

Sekundärliteratur gibt es relativ ausführlich zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften in russischer Sprache. Zu einzelnen Gelehrten finden sich Biographien. Die ganze Untersuchung fand im Rahmen des Forschungsprojekts Schweizer Auswanderung ins Zarenreich statt und behandelt darin eine der wichtigen Berufsgruppen. In meiner Lizentiatsarbeit hatte ich mich zuvor den Schweizer Ärzten gewidmet, wobei es darunter auch Wissenschaftler hatte, wie zum Beispiel Daniel Bernoulli.

2. Ursachen der Auswanderung

Das Interesse für die Ursachen der Auswanderung steht bei Laien wie bei Forschern im Vordergrund. Geht es um die Emigration aus der Schweiz ins russische Zarenreich, vermischt sich die Frage nach dem «Warum» mit einem ungläubigen Unterton: Warum sind denn diese Leute ausgerechnet nach Russland gegangen? Wir werden entsprechend in zwei Schritten zunächst die Situation in der Schweiz betrachten, um die «push-Faktoren» herauszuschälen; jene Kräfte, welche die Wissenschaftler veranlasst haben, ihr Glück im Ausland zu suchen. Konkret werden die Arbeitsmöglichkeiten und Bedingungen in der Schweiz untersucht, der Stand der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, sowie die Situation an den Hochschulen der Schweiz. Danach stellt sich die Frage nach den Vermittlungskanälen und den persönlichen Motiven. Es folgt eine Analyse der «pull-Faktoren», konkret der Situation in St. Petersburg im Allgemeinen und an der Akademie im Speziellen.

2.1 Wissenschaft in der Schweiz im 18. Jahrhundert (Push-Faktoren)

Im modernen Selbstverständnis der Schweiz bildet die hohe Qualität wissenschaftlicher Forschung ein wichtiges Element. Ein Land, das arm an Rohstoffen ist, konnte sich nur dank herausragenden Leistungen im geistigen Bereich einen Platz unter den führenden Industrienationen erkämpfen. Blättert man aber etwas weiter zurück in den Annalen der Geschichte, erkennt man, dass im 17. Jahrhundert die Wissenschaften in der Eidgenossenschaft noch ein kümmerliches Dasein fristeten. Kein Schweizer konnte sich mit Gelehrten wie Galilei, Descartes oder Bacon messen. (Fueter, Geschichte S.5f.) Der Aufbruch erfolgte erst im 18. Jahrhundert, als die Schweiz zu einem der Zentren der europäischen Aufklärung avancierte. Wie ist das zu erklären?

Zunächst gilt es den Begriff «Schweiz» näher zu betrachten. Genaugenommen handelte es sich um die evangelisch-reformierten Städte der Eidgenossenschaft, vor allem Basel, und die Republik Genf. Hier setzte sich das neue Denken der Aufklärung, der Cartesianismus, zuerst durch (Ich beziehe mich weitgehend auf Fueter, Geschichte und Im Hof, Aufklärung). Im 17. Jahrhundert hatte der orthodoxe Protestantismus noch hemmend auf unabhängige Forschung gewirkt. Einen Höhepunkt feierte die wissenschaftsfeindliche (evangelische) Orthodoxie in der Schweiz mit der Formula consensus von 1675, welche die gültige Lehre verbindlich festschrieb.

Unter dem Einfluss des Humanismus und der Naturphilosophie Descartes’ öffnete sich der evangelisch-reformierte Glaube jedoch dem Rationalismus. Man gelangte zur Einsicht, dass sich der göttliche Wille nicht nur in der schriftlichen Überlieferung, sondern auch im Buch der Natur offenbare. Es galt daher als gottgefällig, diese Natur zu untersuchen und zu beschreiben. (Fueter, Geschichte S.8f.) Nicht zufällig finden sich unter den frühen Naturforschern viele Theologen. Sie versöhnten die Wissenschaften mit der Religion, was gerade für die Schweizer Gelehrten des 18. Jahrhunderts typisch war. (Fueter, Geschichte S.51ff.) Fueter nennt v.a. Jean-Alphonse Turretini in Genf, den Begründer der theologia naturalis in der Schweiz, Frédéric Osterwald in Neuenburg und Samuel Werenfels in Basel.

Die Bildung erhielt nun für die Bürger und Patrizier der Städte einen höheren Stellenwert, doch hatten die Naturwissenschaftler nach wie vor für ihre Anerkennung zu kämpfen. Nur Berufe mit praktischem Nutzen genossen ein hohes Sozialprestige, z.B. Theologe und Arzt. Aus diesen Kreisen rekrutierten sich denn auch die ersten Naturwissenschaftler. Als Beispiel wäre der Arzt und Botaniker Jean Antoine d’Ivernois (1703–1765) aus Môtiers zu nennen. Er lebte als Leibarzt des preussischen Königs in Neuenburg und untersuchte die lokale Flora. (HBLS, Bd.2, S.728)

Wie sah die Situation an den Hochschulen aus? Bis 1833 gab es in der Schweiz nur die 1460 in Basel gegründete Universität. Daneben existierten seit der Reformation in Zürich, Bern und Schaffhausen sogenannte Hohe Schulen, denen die Akademien in Genf und Lausanne entsprachen. Dabei handelte es sich keineswegs um Hochschulen im modernen Sinn und noch weniger um wissenschaftliche Akademien, wie wir sie aus Berlin, Paris oder St. Petersburg kennen. Die Hohen Schulen und Akademien dienten in erster Linie der Ausbildung von Theologen. Das Fächerangebot beschränkte sich denn auch lange Zeit auf die Theologie und ihre Hilfswissenschaften. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts öffneten sich diese Institutionen allmählich auch den Sozial- und Naturwissenschaften. Es entstanden Lehrstühle für Rechtswissenschaft (vor allem Naturrecht) und später auch für Geschichte, Mathematik und Physik, die allerdings kaum über ein allgemeinbildendes Niveau hinauskamen. (Capitani, Beharren S.499f.) Einzelnen Professoren gelang es manchmal, die neuen Wissenschaften im Rahmen der alten Lehrstühle zu lehren, z.B. Robert Chouet in Genf, der als Philosophieprofessor physikalische Experimente durchführte. (Im Hof, Aufklärung S.22)

Zunächst wurde z.B. Mathematik im Zusammenhang mit der Logik unterrichtet. Noch 1662 waren an der Universität Basel die «modernen Philosophen» verboten worden. 1675 untersagte man dem Mathematikprofessor Peter Megerlin, das kopernikanische Weltbild zu lehren, 1681 wurde eine entsprechende Schrift verboten. Als das Werk im folgenden Jahr bei J.J. Wettstein in Amsterdam erschien, ermahnte man Megerlin zwar, doch wurden keine Sanktionen ergriffen. Damit war der Weg frei für das rationale Weltbild. Jakob I. Bernoulli liess in seinem Erstlingswerk keinen Zweifel, dass er Kopernikus folgte. Er vermied es jedoch, die bekannten und umstrittenen Namen offen zu nennen. Nachdem er als Mathematikprofessor hohes internationales Ansehen erlangt hatte, war seine Stellung dann aber unantastbar geworden. (Fueter, Geschichte S.35ff.) Dies verdeutlicht ein Brief seines Nachfolgers Johann I. Bernoulli, der 1716 die Erde zu den Planeten rechnete. Noch 20 bis 25 Jahre früher wäre er dafür verbrannt worden, schrieb er überspitzt an J.J. Scheuchzer. Dieser konnte sich in Zürich erst 1731–35 in seiner «Physica sacra» offen für das kopernikanische Weltbild aussprechen. (Fueter, Geschichte S.439)

Die Universität Basel war die einzige Institution der Schweiz, an der stets Mathematik auf Hochschulniveau gelehrt wurde. Mit Jakob Bernoulli verpflichteten die Basler 1687 einen Mathematiker von Weltformat, der sich zudem als ausgezeichneter Lehrer einen Namen machte. (Zu seinem mathematischen Werk vgl. Fueter, Geschichte S.164) Wir werden weiter unten noch einmal auf die Basler Mathematiker zurückkommen. In Genf gelangte 1724 erstmals ein Naturwissenschaftler auf den Lehrstuhl für Mathematik. (Marcacci, Histoire S.43) Darin widerspiegelt sich das neue Verständnis für die exakten Wissenschaften, denn man schuf diese Stelle eigens dafür, um die beiden jungen Mathematiker Gabriel Cramer (1704–1752) und Jean-Louis Calandrini (1703–1758) in Genf behalten zu können. (Vgl. Fueter, Geschichte S.148f.) Die Physik wurde allerdings noch immer zusammen mit der Logik gelehrt, was den Naturwissenschaftler Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799) zwang, abwechselnd Pneumatologie und Moral zu unterrichten.

Die Einführung des Medizinunterrichts wurde erfolgreich verhindert – und zwar von den Genfer Ärzten selbst, die dem renommierten Honorarprofessor Théodore Tronchin (1709–1781), der 1755 an die Akademie berufen worden war, das Leben schwer machten. Während die Wissenschaften in Genf auf äusserst fruchtbaren Boden fielen, und die kleine Stadt mit 20’000 Einwohnern im 18. Jahrhundert gegen 60 renommierte Gelehrte hervorbrachte, verharrte die Akademie auf tiefem Stand. Zu oft wurden schwache Professoren engagiert, zu häufig mussten Koryphäen auf fremden Gebieten lehren und konnten ihrem Spezialgebiet nur wenig Zeit widmen. (Marcacci, Histoire S.51) Marcacci kommt zum Fazit, dass die Genfer Akademie die wissenschaftliche Revolution des 18. Jahrhunderts verschlafen hatte und den experimentellen Wissenschaften weder die Strukturen noch die Programme für eine echte Entwicklung bieten konnte.

Ein ähnliches Fazit muss auch für die von Bern abhängige Akademie Lausanne gezogen werden. Sie bot bis 1802 nur gerade zwei Professoren der Chemie und der Naturgeschichte einen Lehrstuhl. Naturwissenschaftler wurden in erster Linie als Honorarprofessoren in die Akademie integriert, wobei sie allerdings keinen Unterricht erteilten und kein Gehalt bezogen. Es handelte sich um reine Ehrentitel – so z.B. der berühmte Mediziner Auguste Tissot. Das Gleiche gilt für Genf, wo z.B. Jacques-André Mallet zum Honorarprofessor für Astronomie ernannt wurde. Er durfte freiwillig unbezahlt öffentliche Vorlesungen halten – und fühlte sich dadurch tatsächlich sehr geehrt.

In Zürich und Bern leistete die reformierte Orthodoxie noch länger erfolgreichen Widerstand gegen das neue Denken. Mathematik galt in Zürich als Ketzerei, seit der Pfarrer und Astronom Michel Zingg in der Mitte des 17. Jahrhunderts als Anhänger des Heliozentrismus’ verbannt worden war. (Fueter, Geschichte S.31ff.) Noch 1720 zensierte die Zürcher Obrigkeit ein Werk Johann Jakob Scheuchzers, in dem er das kopernikanische Weltbild vertrat. (Im Hof, Aufklärung S.26) Zürich verstand sich als Zentrum der schweizerischen Reformation und verteidigte seine alten Positionen deshalb umso hartnäckiger. Scheuchzers Briefwechsel mit Johann I. Bernoulli gibt einen faszinierenden Einblick in den Kampf der Weltanschauungen, der in Basel bereits entschieden war. Bis Mitte des Jahrhunderts setzte sich dann auch in der Zürcher Kirche die vernünftig-orthodoxe Haltung durch.

Der Aufschwung der Wissenschaften in der Eidgenossenschaft des 18. Jahrhunderts wurde also weniger von den öffentlichen Institutionen, als vielmehr von Privatgelehrten getragen. Den Hohen Schulen und Akademien gelang die Entwicklung zu Universitäten mit Forschungsbetrieb erst im 19. Jahrhundert. In der Elite, dem gehobenen Bürgertum und städtischen Patriziat, setzte sich eine neue Einstellung gegenüber den Naturwissenschaften durch. Verstärkt durch das hohe internationale Ansehen, das sich einige herausragende Forscher erwarben, begann man die Gelehrten mit anderen Augen zu betrachten. Besonders in Genf wuchsen das Ansehen und das Sozialprestige der Wissenschaftler, da sie massgeblich zum Aufstieg der Republik zu einem europäischen Zentrum beigetragen hatten. In Zürich, Bern und Basel verstummten jedoch die Klagen nicht, Handel und Militär gälten mehr als Wissenschaft. Als Beispiel wird jeweils Albrecht von Haller genannt, der zugunsten einer lokalen Politikerlaufbahn auf seine internationale wissenschaftliche Karriere verzichtete. Mit Befremden begegneten die Zürcher dem jungen Johann Jakob Scheuchzer, der als ausgebildeter Naturwissenschaftler in seine Heimatstadt zurückkehrte. Er musste froh sein, eine Stelle als zweiter Stadtarzt zu erhalten. Man vertröstete ihn mit dem Versprechen, er könne bald Mathematikunterricht erteilen. Eingelöst wurde es aber erst, als Scheuchzer das Angebot erhielt (und ablehnte), Leibarzt Peters des Grossen zu werden. (Fueter, Geschichte S.142; Wolf, Biographien I S.227) Johannes Gessner erging es ähnlich. (vgl. Wolf, Biographien I S.288f.)

Stets erwartete man von der Tätigkeit der Gelehrten direkten praktischen Nutzen. Darunter litt zum Beispiel die Astronomie. Da in den Seefahrtsnationen ein vitales Interesse für die Navigation bestand, richtete man Observatorien ein und förderte die Arbeiten. Im Binnenland Schweiz hingegen diente die Astronomie höchstens der genauen Zeitbestimmung und wurde stark vernachlässigt. Als Johann III. Bernoulli 1771 die Schweiz bereiste, um über hervorragende Astronomen oder Observatorien Nachrichten zu sammeln, kehrte er mit leeren Händen nach Berlin zurück.[1] Dabei übertreibt er sicherlich, denn an anderer Stelle (Fueter, Geschichte S.187ff.) nennt Fueter eine Reihe von privaten Observatorien in der Schweiz. Eine Ausnahme bildete Genf, wo der erwähnte Jacques-André Mallet 1772 mit staatlichen Beiträgen das erste leistungsfähige Observatorium der Schweiz einrichten konnte.

Gesamthaft lässt sich sagen, dass es in der Schweiz im 18. Jahrhundert einzelne herausragende Persönlichkeiten gab, welche die europäische Aufklärung massgeblich mitprägten. Nur wenige fanden allerdings eine ihren Fähigkeiten entsprechende Stellung in der Heimat. Eine grosse Zahl von Gelehrten übte einen Beruf zum Broterwerb aus und beschäftigte sich nur in der Freizeit mit ihrer Lieblingswissenschaft. Nicht selten finden sich auch in den reichen Städten Vertreter einer angesehenen Familie, die vom Erbe lebten und sich als Privatgelehrte betätigen konnten. So bekleideten weder Abraham Trembley (1710–1784) Jean-André Deluc (1727–1817), Jean Senebier (1742–1809), Nicolas Fatio de Duillier (1664–1753) noch Charles Bonnet (1720–1793) je einen akademischen Lehrstuhl. Das Schwergewicht der Forschung lag ebenfalls im privaten Bereich, denn die besten Laboratorien befanden sich im Hause einiger vermögender und innovativer Gelehrter. Gaspard De la Rive z.B. richtete sich in Genf privat ein physikalisches Laboratorium ein, das zu den bestausgerüsteten Europas gehörte. Sein Sohn Auguste erbte es und arbeitete mit Gelehrten von Rang zusammen, wie Ampère, Arago oder Dumas, die ihre theoretischen Arbeiten in De la Rives Laboratorium überprüften. (Marcacci, Histoire S.110)

Wir haben gesehen, dass ausser für Theologen nur wenige Professorenstellen in der Schweiz vorhanden waren. Zwei Faktoren schränkten die Arbeitsmöglichkeiten als Gelehrter unter dem Ancien Régime weiter ein: Entsprechend ihrem Sozialprestige wurden die Professoren zum einen sehr schlecht entlöhnt. Ein Theologe verdiente in Genf gut das Doppelte eines Naturwissenschaftlers. In Basel wiederholten sich die Klagen über unmotivierte Professoren, die sich mit Privatstunden über Wasser halten mussten, oder Pensionäre bei sich einquartierten, um ihr bescheidenes Gehalt aufzubessern. Zum andern waren die wenigen unterbezahlten Lehrstühle oft Einheimischen vorbehalten. In Basel konnten im 18. Jahrhundert nur Basler gewählt werden, in Genf rekrutierten sich die Professoren aus einigen wenigen lokalen Patrizierfamilien, ähnlich in Lausanne. Die Chance für einen Basler, an seiner Heimatuniversität eine Professur zu erhalten, wurde mit Einführung der Losordnung zu einem Lotteriespiel. Aus den eingegangenen Bewerbungen wurden drei ausgewählt. Das Los entschied, welcher der drei eingestellt wurde.

Bei der noch geringen Spezialisierung der Wissenschaften war es üblich, dass ein universal gebildeter Gelehrter eine Professur annahm, die nicht im eigentlichen Fachbereich lag. So zum Beispiel Niklaus Bernoulli als Jurist in Bern, Daniel Bernoulli als Physiker in Basel, Leonhard Euler, der sich für eine Logikprofessur bewarb, oder Jakob Hermann als Professor für Moral in Basel. Wie bei einem Privatgelehrten verlagerte sich die Beschäftigung mit der Lieblingswissenschaft dann eher in den Freizeitbereich.

Fueter (Geschichte S.279f.) zitiert aus J.Bernoulli: Lettres astronomiques où l’on donne une idée de l’état de l’astronomie pratique dans plusieurs villes de l’Europe. Berlin 1771, S.174f. ↵

2.2 Die Basler Mathematiker

Da fast alle Schweizer Gelehrten, die im 18. Jahrhundert nach Russland gingen, aus Basel stammten, möchte ich die Situation in der Stadt am Rheinknie etwas eingehender betrachten. Meine These lautet: Die Dominanz der Basler Mathematiker hat wenig mit der Institution der Universität zu tun. Es war eigentlich nur der Gelehrtenfamilie Bernoulli zu verdanken, dass Basel plötzlich zur mathematischen Hauptstadt der Gelehrtenrepublik aufstieg. 1687 kam Jakob Bernoulli auf den Mathematiklehrstuhl. Nach seinem Tode 1705 folgte ihm sein Bruder Johann, der bis 1748 Professor in Basel blieb. Danach kam dessen Sohn Johann II. (1748–1790 Prof. für Mathematik). Daneben lehrten Daniel I. 1733–1750 Anatomie und 1750–1782 Physik und Daniel II. 1780–89 Eloquenz. (Im Hof, Aufklärung S.23) Analysieren wir den Studiengang unserer Auswanderer, fällt auf, dass eigentlich keiner ausser Euler offiziell Mathematik studiert hat. Jakob Hermann immatrikulierte sich in Basel für Theologie, ebenso zu Beginn Leonhard Euler. Niklaus Bernoulli schloss als Lizentiat der Rechte ab, und Daniel Bernoulli studierte Medizin. Sie alle hatten aber eines gemeinsam: Sie erhielten Mathematikunterricht bei den Gebrüdern Jakob (1654–1705) oder Johann Bernoulli (1664–1748), die als die besten Lehrer ihres Fachs überhaupt galten. Dies gilt für Jakob Hermann und in gewissem Sinn auch für Johann I. Bernoulli, der viel von seinem älteren Bruder lernte und später mit ihm in Konkurrenz trat. Sie alle beschäftigten sich in erster Linie mit der von Leibniz entdeckten Infinitesimalrechnung, die massgeblich von den Gebrüdern Bernoulli weiterentwickelt wurde, und mit der Reihenlehre. (Fueter, Geschichte S.164ff.) Euler brachte die Vorarbeiten der Bernoullis und Jakob Hermanns schliesslich zur Perfektion. Wichtig scheint mir hier die geistige Verwandtschaft, der gemeinsame Ausgangspunkt dieser «Basler Schule».

Betrachten wir einmal die Ausbildung Leonhard Eulers: Sein Vater Paul war Pfarrer in Riehen, seine Mutter Margaretha stammte aus der Gelehrtenfamilie Bruckner. Den ersten Unterricht erhielt er von seinem Vater, einem Mathematikliebhaber und Schüler Jakob Bernoullis. Leonhard war eigentlich für eine theologische Laufbahn bestimmt, und die Mathematik sollte eher dem Zeitvertreib dienen, doch es kam anders. (Fuss, Lobrede S.11) Der Vater wehrte sich nicht besonders gegen die Vorliebe des Sohnes für Zahlen. Als es seine Kenntnisse erlaubten, wurde Leonhard nach Basel geschickt, wo er sich 1720 immatrikulierte und die allgemeinbildenden Vorlesungen besuchte. 1723 schrieb sich Euler in die Theologische Fakultät ein. Bald erhielt er jedoch die Erlaubnis seines Vaters, sich ganz der Mathematik zu widmen. Sein grosses Talent zog die Aufmerksamkeit Johann Bernoullis auf sich, der allerdings nicht auf die Bitten Eulers einging, ihm Privatunterricht zu erteilen. Immerhin anerbot er sich, jeweils die Fragen zu besprechen, die sich Euler nach dem Studium mathematischer Werke stellten. Damit fühlte sich Euler herausgefordert, alle Probleme möglichst selbst zu lösen. (Fuss, Lobrede. S.12–14) Entsprechend schildert es Pekarskij (Istorija I S.249), der aus Eulers Autobiographie übersetzt. Diese unkonventionelle Ausbildung war für Euler die ideale, denn er lernte eigene Wege zu gehen, jedes Problem von Grund auf neu zu durchdringen. Diese anspruchsvolle Methode kam Eulers Begabung sehr entgegen.

Johann Bernoulli, der sonst niemanden neben oder gar über sich duldete, versprach sich von Euler viel und anerkannte ihn später als den «Fürsten unter den Mathematikern». Spiess (Euler S.96f.) zitiert die verschiedenen, sich überbietenden Anreden J. Bernoullis an L. Euler (hier aus einem Brief vom 23. Sept. 1745). Johann Bernoulli hatte sich schon mit seinem älteren Bruder Jakob heftige Kämpfe geliefert. Dies wiederholte sich mit seinen Söhnen, die er zwar in die Wissenschaft einführte, dabei aber stets darauf bedacht war, dass ihm keiner über den Kopf wuchs. (Vgl. Spiess, Euler S.93ff.) Vor allem bei Johann II. sei es ihm gelungen, ihn dermassen einzuschüchtern, dass der geniale Kopf kaum Arbeiten publizierte. Daniel vermochte sich in St. Petersburg zu emanzipieren. Nach seiner Rückkehr nach Basel, wo sein Vater lebte, wurde es aber wieder stiller um ihn. Der gestrenge Vater aber musste sich von Euler für seine Hydrodynamik Kritik gefallen lassen – und akzeptierte sie. Das war schon fast ein Wunder. 1742 sagte Bernoulli zu Euler: «Denn ich habe die höhere Mathematik gepflegt, wie sie in der Kindheit war, Du aber führst sie uns vor in ihrem Mannesalter.» (Spiess, Euler S.109)  Euler war selbstbewusst genug, sich 1726 an der von der Pariser Akademie gestellten Preisfrage nach der besten Bemastung eines Schiffes zu beteiligen. Mit seiner Dissertation über den Schall bewarb er sich 1727 um die freigewordene Physikprofessur in Basel. Trotz der Empfehlung seines einflussreichen Lehrers kam er nicht ins Los, das unter den drei favorisierten Bewerbern entschied. (Fellmann, Euler S.24) Damit war für Euler die einzige Hoffnung auf eine mathematische Laufbahn in der Schweiz schon vertan.

Die Losordnung war in Basel 1718 eingeführt worden, um Missbräuche bei Beamtenwahlen zu verhindern. Bernhard Merian, Basler an der Berliner Akademie, kritisierte sie in einem Brief an Daniel Bernoulli 1782 heftig und meinte, ihr verdanke die Universität ihren Niedergang. Er selbst war übrigens vier Mal am Lospech gescheitert. (Spiess, Euler S.155) Gleichzeitig verurteilte er auch die Einschränkung, dass nur Basler Bürger einen Lehrstuhl an der Universität bekleiden durften:

«Dies alles steht im Gegensatz zum Rest des zivilisierten Europas, und überall, wo man wirklich von Herzen die Wissenschaften blühen lässt. Aber es scheint, als ob sich unsere lieben Landsleute darum am wenigsten kümmerten.» (Burckhardt, Autobiographie S.300 zitiert einen Brief von Merian. Übersetzung aus dem Französischen)

Über das Phänomen der Mathematikerfamilie Bernoulli ist schon viel geschrieben worden. Ein Auszug aus dem Nekrolog Daniel Bernoullis auf seinen Bruder Niklaus soll zeigen, auf welche Weise im Kreise der Familie die Mathematik gepflegt und weitergegeben wurde.

«Sein Vater entlastete sich durch ihn auch von einem grossen Teil seiner Korrespondenzen. Aber er wurde Mathematiker ohne Wissen und gegen den Willen des Vaters; nicht dass er die Mathematik nicht geschätzt hätte und dass er sie nicht mit Leichtigkeit begriffen hätte, aber dass jede Anwendung ihn genierte. Möglicherweise hätte er all seine Fortschritte selbst nicht bemerkt, wissend, wie wenig sie ihn gekostet hatten, wenn nicht seine brüderliche Freundschaft ihn gezwungen hätte, mich die Mathematik zu lehren, der ich damals nur 11 Jahre alt war. Er glaubte zunächst, er könne mir in kurzer Zeit all das beibringen, was er vom Vater gelernt hatte uns was er selbst herausgefunden hatte ; er investierte dafür all seine Kräfte, um anschliessend unsere Studien gemeinsam treiben zu können. Aber trotz all seiner Anstrengungen mich als Studiengenossen zu haben, blieb ich immer, seit jener Zeit, sein Schüler, so dass er eine ziemlich gute Meinung von sich selbst erhielt und sich als ganz ausgebildeter Mathematiker verstand, indem er sich dermassen über seinem Schüler sah.» (D. Bernoulli, Notice biographique, in: Fuss, Correspondance, Bd.II, S.267f. Übersetzung aus dem Französischen)

Erst als Lehrer seines Bruders wurde sich Niklaus seiner Fähigkeiten bewusst. Zusammen mit Daniel und oft im Widerstreit mit dem Vater entwickelte er sich weiter. Trotzdem studierte er weiter Jura und schloss 1715 mit seiner Arbeit De jure detractionis mit dem Lizentiat ab.

In der Autobiographie ihres Bruders Johann II. Bernoulli wird deutlich, wie abgehoben vom öffentlichen Schulsystem die Familie das Wissen weitergab. Zu seiner Erziehung schreibt er:

«Von diesen meinen Eltern bin ich gleich meinen Geschwistern mit aller Sorgfalt erzogen und zu allem guten angehalten worden, also dass wann ich zu fortpflantzung des von unserem Geschlecht erworbenen Ruhms nicht beitrage, solches nicht meiner Erziehung, sondern mir selbst zuzuschreiben sei.» (Burckhardt, Autobiographie S.291)

Johann Bernoulli übt sich zwar in Bescheidenheit, doch er gestand immerhin ein, sich in der Kindheit durch einen regen Geist ausgezeichnet zu haben. Er begriff alles, was man ihm beibrachte, mit Leichtigkeit. Seine Ausbildung erhielt er nicht an öffentlichen Schulen – er besuchte nicht das Gymnasium –, sondern im Privatunterricht. Sein Vater vertraute der öffentlichen Schule zu wenig und engagierte Privatlehrer. Später wurde übrigens Johann I. Bernoulli mit einer Untersuchung des Basler Gymnasiums beauftragt und 1724 zum Inspektor gewählt. Unter seiner gewissenhaften Aufsicht habe sich die Situation zumindest vorübergehend gebessert. (Burckhardt, Autobiographie S.292.)

Das Gymnasium verfügte über sechs Klassen, die aber nicht alle absolviert werden mussten. Besonders fähige Schüler konnten einzelne Klassen überspringen. Die Philosophische Fakultät der Universität hatte die Aufsicht über die Abiturientenprüfungen und bot im Anschluss an das Gymnasium zwei Jahreskurse an, die sog. lectiones publicae (lateinisch: öffentliche Vorlesungen). Der erste Jahreskurs wurde abgeschlossen mit der prima Laurea, der zweite mit dem Magisterexamen. (Burckhardt, Autobiographie S.292 nach S.Th. Burckhardt-Biedermann. Geschichte des Gymnasiums zu Basel, S.74)

Johann I. Bernoulli liess seinen Sohn bereits mit neun Jahren die Prüfungen ablegen, «doch ware mein Vater zufrieden, dieses Muster meiner Fortschritte an den Tag gelegt zu haben» und liess ihn erst 1721 die lectiones publicae besuchen und als studiosus philosophiae (lat. Student der Philosophie) immatrikulieren. (Burckhardt, Autobiographie S.292) Kurz darauf schickte Johann seinen Sohn nach Vevey, wo er Französisch lernen sollte. Nach seiner Rückkehr erhielt er 1723 die prima Laurea und ein Jahr später den Magistergrad, zusammen mit Leonhard Euler.

Der Vater bestimmte weiter das Tempo und die Richtung der Studien: Sein Sohn begann mit dem Studium der Rechte, doch weil der Vater befand, Johann II. sollte sich noch der Philosophie widmen, konnte er erst 1729 die Prüfungen ablegen. Anschliessend nutzte er die Gelegenheit zu mathematischen Studien, als Maupertuis für ein Jahr nach Basel kam, um sich bei Johann I. Bernoulli weiterzubilden. Maupertuis galt damals bereits als fähiger Mathematiker und war schon Mitglied der französischen Akademie. Johann II. durfte an den gelehrten Unterredungen der beiden Mathematiker teilnehmen. (Burckhardt, Autobiographie S.293) Vermutlich 1731 bewarb er sich um die vakante Jusprofessur an der Universität Basel, doch rechnete er sich angesichts seiner Jugend wenig Chancen aus. Immerhin erhielt er einige Stimmen. Für diesen Lehrstuhl fanden sich 15 Bewerber, was einen Eindruck davon gibt, wie dünn entsprechende Stellen gesät waren. (Euler, Briefwechsel S.186, No.1050, J.Hermann an LE, 30.1.1731)

Diese Fälle weisen ein einheitliches Muster auf: Man begann ein ordentliches Studium mit dem Ziel, einen Beruf zu erlernen. Das mochte Arzt, Pfarrer oder Jurist sein. Für andere Gelehrtenberufe bestand kaum Nachfrage. Neben dieser ordentlichen Ausbildung pflegte man jedoch die Mathematik. Bei ihrer zweifellos aussergewöhnlichen Begabung fiel es den ausgewählten Bernoulli-Schülern leicht, die Pflichtstunden mit minimalem Aufwand zu absolvieren und sich dafür mit grosser Energie auf ihre Lieblingsbeschäftigung zu stürzen. In der fruchtbaren Konkurrenz der Brüder mit einigen wenigen Aussenstehenden lernten die Schüler selbst, Wissen weiterzugeben und eigene Wege einzuschlagen. Auf diese Weise erlangten die Bernoulli-Schüler ein Niveau, wie es kein Universitätslehrgang bieten konnte. Nach Abschluss des Studiums bewarben sich alle Genannten mindestens einmal in Basel für eine Professur. Sie waren aber entweder zu jung oder hatten das Pech, beim Losentscheid durchzufallen. Dieses Schicksal ereilte übrigens Jakob II. Bernoulli, Sohn von Johann II. und Schüler Daniel Bernoullis, in den 1770er Jahren gleich zweimal. Danach blieben nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder man suchte eine Stelle im erlernten Beruf (N. Bernoulli wurde Jusprofessor in Bern) oder versuchte sein Glück im Ausland (in unserem Fall natürlich alle).

2.3 Die Ausbildung der schweizerischen Gelehrten

Nach dem im vorangehenden Kapitel Gesagten kann man konstatieren: Nicht-Basler mussten sich im 18. Jahrhundert ihre Hochschulbildung im Ausland aneignen. Aber auch nach der Gründung von Universitäten in der Schweiz kommen in fast jeder Gelehrtenbiographie ein paar Semester Auslandstudium vor. Es gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu einer guten Ausbildung, bei Koryphäen im Ausland den letzten Schliff zu holen. Dies war ohne jegliche Formalitäten möglich. Man brauchte weder Pass noch Aufenthaltsgenehmigung. Leicht wird vergessen, dass die heutigen rigorosen Ausländergesetze aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammen und dass der freie Personenverkehr vor hundert Jahren eine Selbstverständlichkeit war. Wer selbst für sich sorgen konnte, unterlag keinen Einschränkungen. (Vgl. Schläpfer, Rudolf: Die Ausländerfrage in der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg. Zürich 1969)

Ein typisches Beispiel dafür ist der Botaniker Johann Ammann, der bei dem berühmten Lehrer Hermann Boerhaave in Leiden Medizin und Botanik studierte.

Das Auslandstudium scheint mir in einer Beziehung besonders wichtig. Der Aufenthalt an einer ausländischen Hochschule führte die Studenten oft ein erstes Mal für längere Zeit weg von ihrer Heimat. Sie schnupperten den Duft der grossen weiten Welt und traten in Kontakt mit interessanten Menschen und Ideen. Alte Beziehungen wurden gelockert, neue geknüpft. Manche trieb das Heimweh frühzeitig wieder in die vertraute Umgebung, doch andere fanden Geschmack am erweiterten Horizont. Für sie wurde das Auslandstudium zum Sprungbrett für eine berufliche Laufbahn fern der Heimat.

2.4 Alternativen im Ausland

Bevor wir uns der Auswanderung nach Russland zuwenden, müssen wir fragen, wie denn die Alternativen für auswanderungswillige Schweizer Gelehrte ausgesehen haben. Eine detaillierte Untersuchung zu dieser Frage gibt es nicht. Einzelne Schwerpunkte kennt man, die wichtigsten Auswanderer des 18. Jahrhunderts ebenfalls.

Wohl bekanntestes Beispiel dafür, wie ein in der Heimat verkannter Gelehrter im Ausland glänzende Karriere machte und dabei doch nicht glücklich wurde, ist Albrecht von Haller. Seine medizinisch-naturwissenschaftlichen Publikationen während seiner Zeit als Arzt in Bern trugen ihm einen Ruf an die Universität Göttingen ein. Er sollte die Medizinische Fakultät nach modernen Vorstellungen einrichten. Die wissenschaftlich erfolgreiche Zeit war getrübt durch persönliche Verluste und Streitereien mit seinen Kollegen. Als er 1753 in den bernischen Grossen Rat gewählt wurde, kehrte er in die Heimat zurück. Als Gründe für die Rückkehr werden Heimweh und das Sozialprestige seiner neuen Tätigkeit genannt. (Im Hof, Aufklärung S.31)

Hinzu kommt, dass er als Privatmann mehr Zeit für seine wissenschaftlichen Studien aufwenden konnte als an der Universität. Erst jetzt verfasste er sein medizinisches Hauptwerk und führte eine ausgedehnte Korrespondenz. Als er 1777 starb, galt er als grösster Mediziner, Physiologe und Botaniker seiner Zeit.

Doch wohin emigrierten denn die Schweizer Gelehrten, wenn nicht nach St. Petersburg? Neben St. Petersburg war Berlin wichtigstes Ziel für Gelehrte aus der Eidgenossenschaft: Die Schweizer stellten zeitweise einen Drittel der Mitglieder an der Berliner Akademie.

«Die Schweizer, sagte man, wollen alles dominieren und alles allein machen. ‹Ich habe gesehen›, schreibt Thibault, ‹wie Sulzer, Béguelin, Wéguelin u.s.w. die ganze Akademie regierten. Ich habe gesehen, wie die Deutschen nicht daran dachten, sich zu beklagen, und wie die Franzosen bloss dazu lachten, solang das Joch sie selbst nicht drückte.›» (Lang, Gelehrte S.107)

Neben den erwähnten Johann Georg Sulzer, Nicolas Béguelin und Jakob Wegelin waren auch die Basler Leonhard und Johann Albrecht Euler, Johann Jakob Huber, Johann III Bernoulli, Johann Bernhard Merian, Reinhard Battier und Daniel Passavant an der Akademie tätig. Aus der Westschweiz stammten Pierre Prevost, Louis Bertrand und Pierre François Boaton. Jean Trembley kam 1793 an die Berliner Akademie, nachdem er kurz zuvor zum korrespondierenden Mitglied der St. Petersburger Akademie ernannt worden war. Der Mülhauser Johann Heinrich Lambert zählte damals auch zu den Schweizern, denn der Mathematiker Lambert (1728–1777) stammte aus Mülhausen, das bis 1815 zur Eidgenossenschaft gehörte. Im Hof betrachtet die Berliner Akademie zur Zeit Friedrichs II. als «eigentliche schweizerische Akademie […] – ähnlich wie die Petersburgs». (Im Hof, Aufklärung S.77) Entsprechend der Vorliebe des Königs wurden vor allem reformierte Schweizer und Franzosen nach Berlin berufen.

Ein Vorteil der Schweizer bestand darin, dass sie sich in der Regel besser französisch ausdrückten als ihre deutschen Kollegen. Zudem soll Friedrich II. die Weltanschauung der Schweizer zugesagt haben, die einen rational-christlichen Humanismus vertraten, der sich in ihrer praktischen Tätigkeit äusserte. Für die fachlich erfolgreichsten Wissenschaftler der Aufklärung war charakteri­stisch, dass sie die Religion nicht in Frage stellten, sondern versuchten, die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit ihr in Einklang zu bringen. Fueter (Geschichte S.VI,) nennt neben den Bernoullis, Euler, Haller etc. auch Leibniz und Newton. In der Folge öffnete sich die in der Orthodoxie erstarrte Reformation hin zu einer rationaleren Lehre, in der Kritik und Neuinterpretationen erlaubt waren. Dieser Rationalismus wurde in den 1770er Jahren durch den Sturm und Drang wieder in Frage gestellt, der auch in der Schweiz die Jugend begeisterte.

Die deutschen Länder boten noch weitere attraktive Betätigungsfelder für Schweizer Gelehrte: Jakob Hermann in Frankfurt an der Oder, Albrecht von Haller in Göttingen, Johann Georg Zimmermann in Hannover, Johannes von Müller (Schweizer Lexikon, Bd.IV, S.673) und Jacques Mallet in Kassel. (Wolf, Mallet S.266) Mallet stammte aus Genf (1749–1800) war Literat und wurde Professor der schönen Wissenschaften. Reinhard Battier lehrte als Mitglied der Berliner Akademie in Schlesien, der bekannte Mediziner Johann Konrad Brunner war Professor in Heidelberg. Johann Rudolf Fäsch wurde als kursächsischer Ingenieur-Oberst zum Mitglied der Königlich-preussischen Societät der Wissenschaften ernannt.

In den Niederlanden waren Jakob Bernoulli, Pierre de Crousaz und Niklaus Engelhard (alle in Groningen) sowie Samuel König (in Franeker und in Den Haag), Jean-Nicolas-Sébastien Allamand (in Leiden) und Johann Jakob Wettstein tätig. Théodore Tronchin (1709–1781) aus Genf liess sich in Amsterdam gar einbürgern und siedelte später nach Paris über, wo er Mitglied der chirurgischen Akademie wurde. Tronchin wurde 1755 zum Ehrenprofessor der Genfer Akademie, 1778 zum Ehrenmitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften ernannt. (Modzalevskij, Spisok S.133) Der Sprachforscher Johann Konrad Ammann war ebenfalls in den Niederlanden als Taubstummenerzieher tätig.

Nach Italien zog es einige der Bernoullis, nämlich Niklaus I. (1687–​1759), der zunächst Mathematikprofessor in Padua, danach Prof. für Logik und Rechte in Basel war, sowie Daniel Bernoulli und auch Jakob Hermann (nach Padua). Auguste Tissot lehnte zahlreiche Angebote aus dem Ausland ab; nur 1781–83 wirkte er als Medizinprofessor in Pavia.

In England lebten neben Johann Ammann auch Rudolf von Valtravers, Louis Bonnet und Nicolas Fatio: Letzterer wurde 1688 a.o. Prof. bei der Royal Society.

Paul-Henri Mallet aus Genf (1730–1807) brachte es zum Professor der Rechte und Geschichte in Kopenhagen und Genf. Auch Lorenz Spengler machte Karriere in Dänemark: Der Naturforscher wurde 1743 Bibliothekar in Kopenhagen und gründete hier die naturforschende Gesellschaft. In Stockholm wirkte der Schwyzer Medailleur Johann Karl Hedlinger, als er zum auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannt wurde.

Nach Polen kamen z.B. der Arzt Johann Friedrich von Herrenschwand, der Pfarrer und Naturwissenschaftler Elie Bertrand und der Mathematiker Simon L’Huilier (1750–1840) aus Genf. Dieser beteiligte sich 1775 an einem Wettbewerb der Militärakademie Warschau und wurde mit seinem Werk ausgezeichnet. Darauf engagierte ihn Fürst Czartoryski als Hauslehrer nach Warschau, wo er bis 1789 blieb. In dieser Zeit wählte ihn die St. Petersburger Akademie zum korresp. Mitglied. 1795 wurde L’Huilier Prof. für Mathematik an der Genfer Akademie. (Vgl. Wolf, Biographien, Bd.1, S.401–422)

Aus diesen Angaben wird vor allem klar, dass wir von einigen Wenigen zufällig Bescheid wissen. Fueter bezog sein Wissen hauptsächlich aus Wolfs Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz, in denen die wichtigsten Schweizer Wissenschaftler bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeführt sind.

2.5 Wissenschaft in Russland (Pull-Faktoren)

Die Regierungszeit Peters des Grossen brachte dem bislang sehr stark abgeschotteten Zarenreich eine Öffnung nach Westen. Versinnbildlicht wurde der Wandel durch die Gründung der neuen Hauptstadt St. Petersburg an der Ostsee. Zunächst stiessen die sich an den westeuropäischen Grossmächten und Gesellschaften orientierenden Reformen in der russischen Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Peter wollte zu schnell und zu radikal alte Zöpfe, oder besser gesagt Bärte, abschneiden. Im Kontakt mit der ausländischen Bevölkerung in Moskau, wobei vor allem sein Freund und Berater François Lefort aus Genf zu erwähnen ist, und auf seinen Auslandreisen lernte er die vorindustrielle westeuropäische Kultur kennen und schätzen. In vielen Bereichen versuchte Peter den Westen, vor allem Holland, zu kopieren. Er war in erster Linie an praktischen Fragen interessiert, die seinem Reich direkt Nutzen bringen sollten. Entsprechend warb er zunächst Fachkräfte zur technischen Ausbildung in Nautik an, dann eröffnete man die ersten Ingenieur- und Artillerieschulen. 1703 folgte die erste Lateinschule in Moskau, an der bis 1715 hauptsächlich deutsche Lehrer russische Schüler ausbildeten. (Amburger, Anwerbung S.31f) Für unser Thema ist entscheidend, dass er in seiner neuen Hauptstadt eine Akademie der Wissenschaften gründete.

Zur Schweizer Auswanderung ins zaristische Russland habe ich einen Überblicksbeitrag verfasst, der online zugänglich ist. (Mumenthaler 2003)

2.6 Zur Geschichte der Akademie St. Petersburg

Es soll an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Geschichte der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg eingegangen werden. Es gibt eine ganze Reihe russischer Publikationen, die dieses Thema ausführlich behandeln. Dank ihrer Bedeutung für die kulturelle Entwicklung Russlands ist die Akademie ein oft untersuchtes Objekt russischer wie sowjetischer Wissenschaftler:innen. Symbolhaft steht sie für die Europäisierungspolitik Peters des Grossen, stellte die Akademie doch das geistig-kulturelle Fenster zum Westen dar.

Gleichzeitig verkörpert die Akademie aber auch die Tendenz der petrinischen Politik, mit gutgemeinten Reformen am falschen Ort zu beginnen, quasi das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Nur das Beste war dem Zaren gut genug, doch für eine Hochschule fehlte jegliche Basis. Ohne die vorbereitenden Grund- und Mittelschulen machte eine Akademie wenig Sinn. Sie war ein Prestigeobjekt und blieb lange Zeit ohne Einfluss auf das russische Bildungswesen. Doch ging die Saat mit der Zeit auf. Unter den ersten Mitgliedern der Akademie fanden sich noch keine russischen Gelehrten. Erst zwanzig Jahre nach der Gründung wurden die ersten russischen Professoren ernannt: M.V. Lomonosov, V.K. Trediakovskij und S.P. Krašeninnikov.

Auch die Gründer der Akademie waren sich des Mangels an Vorschulen bewusst. Die Akademie wurde deshalb als Forschungs- und Lehranstalt gegründet, bestand also anders als in Westeuropa aus einer Universität in Verbindung mit einer Gelehrtenversammlung. (Istorija AN S.30ff.) Da ein eigener Nachwuchs fehlte, wurde den ausländischen Gelehrten empfohlen, einen oder zwei Studenten mitzubringen. Um möglichst schnell eigene Spezialisten heranzubilden, waren die Studenten bzw. Adjunkte verpflichtet, am Akademiegymnasium zu unterrichten. (Istorija AN S.33)

Im Aufbau folgte die Akademie keinem westeuropäischen Vorbild, sondern ging eigene Wege. Geschaffen wurden drei Klassen mit mehreren Professuren: die mathematische (Mathematik, Astronomie/Navigation, zwei Lehrstühle für Mechanik), die physikalische (theoretische und experimentelle Physik, Anatomie, Chemie, Botanik) und die geisteswissenschaftliche Klasse (Rhetorik, alte und neue Geschichte, Recht/Politik/Ethik). Auffallend ist, dass Religion vollständig fehlte. Die Akademie war eine rein säkulare Institution und genoss Autonomie – auch darin ein echter Fremdkörper in Russland. Dafür wurde mit der Mechanik und der Akademie der Künste das Handwerk besonders gefördert. (Istorija AN S.34) Aus den Aufgaben der Professoren (vgl. unten) wird der Zweck der Akademie ersichtlich: Neben dem Prestige ging es Peter besonders um die Vermittlung des aktuellen Wissens und moderner Technologie und um die Ausbildung russischer Gelehrter.

Nachdem das Projekt anfangs des Jahres 1724 genehmigt worden war, machte sich Laurentius Blumentrost, der spätere erste Präsident der Akademie, daran, Gelehrte aus dem Ausland anzuwerben. Deutschen und französischen Zeitungen gab man eine Notiz über das Projekt, die z.B. in den Leipziger «Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen», 1724, abgedruckt ist (http://​resolver.​sub.​uni-​goettingen.​de/purl?PPN729171116).

…als haben höchstgedachte Jhr. Kaiser. Maj. allergnädigst befohlen, einen Auszug aus derselben Stiftung zu verfertigen und solchen der gelehrten Welt bekannt zu machen, damit ieder welcher daran Teil zu nehmen gedencket, wissen könne, wohin sie ziele. (Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 1724, S.311)

Abbildung 1: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 1724, S.311

An russische Residenten im Ausland und an ausländische Gelehrte wandte sich Blumentrost ebenfalls. (Istorija AN S.35) Auf die zentrale Rolle Christian Wolffs bei der Berufung werden wir im Kapitel über die Vermittlung noch eingehen. Im Durchschnitt wurde den Professoren 1000 Rubel jährlich angeboten, doch schwankte die Summe im Einzelfall. Jakob Hermann erhielt 1500, später sogar 2000 Rubel, was einem Zehntel des Akademiebudgets entsprach. (Istorija AN S.35)

Nach dem Tode Peters war es Katharina I. vorbehalten, die Institution zu eröffnen. In den Jahren 1725–1727 traten 22 Ausländer, hauptsächlich Deutsche, in die Akademie ein. Dabei geniessen heute Leonhard Euler und Daniel Bernoulli auch in Russland das höchste Ansehen. «Unter ihnen bildeten L. Euler und D. Bernoulli, die künftigen grössten Mathematiker der Welt, den dauerhaften Stolz der Akademie. Sie beide verbanden ihre Tätigkeit mit Russland.» (Übersetzung aus dem Russischen aus Istorija I, S.43) Von den insgesamt 111 Mitgliedern der Akademie im 18. Jahrhundert stammten 59 aus deutschen Ländern, 31 aus dem Zarenreich (darunter je ein Grieche, Finne, drei Deutschbalten), neun aus der Schweiz, vier aus Schweden, vier waren Franzosen sowie je einer Däne, Holländer, Engländer und Spanier. (Vgl. Amburger, Beziehungen S.45) Damit stellten die Schweizer 8.1% der Akademiemitglieder des 18. Jahrhunderts. Damals galt der fünfzigjährige Hermann als grösste Koryphäe und Aushängeschild der jungen Institution. Ihm oblag die Ehre, bei den öffentlichen Sitzungen, an denen auch die Kaiserin teilnahm, die Festrede zu halten. (Spiess, Euler S.56f)

Die ersten Jahre der Akademie waren geprägt von optimistischer Aufbruchstimmung. Während die ersten Gebäude, die Kunstkammer und ein Palast mit Sitzungsräumen, entstanden, begannen die öffentlichen Vorlesungen und Versammlungen. Alle machten sich grosse Hoffnungen für die Zukunft. (Kopelevič, Euler S.374. Vgl. das Kapitel III.1)

Ohne weiter auf die Details einzugehen, kann man die Geschichte der Akademie als ein ständiges Auf und Ab bezeichnen. Dem hoffnungsvollen Beginn folgte schnell die Ernüchterung. Als 1741 auch Euler St. Petersburg verliess, bedeutete dies einen ersten Tiefpunkt. Schweizer hatten die Anfangsphase geprägt, doch 1745 verliess mit dem Adjunkten Moula der letzte die kriselnde Institution. Die zweite Periode war geprägt von der Tätigkeit des grossen russischen Universalgelehrten Lomonosov und seiner Auseinandersetzung mit dem starken Mann an der Akademie, Daniel Schumacher. Einen erneuten Aufschwung leitete Zarin Katharina II. ein, als sie 1766 Euler dazu bewog, nach St. Petersburg zurückzukehren. Mit ihm hielt der alte Glanz Einzug. Grosses Ansehen erwarben sich die aufgeklärte Herrscherin und ihre höchste Bildungsanstalt mit den grossen Forschungsreisen, die zwischen 1769 und 1774 durchgeführt wurden. Die vierte Periode von 1783 bis 1800 ist geprägt durch einen gewissen Verfall der wissenschaftlichen Tätigkeit nach dem Tode Leonhard Eulers. (Učenaja korrespondencija S.3) Aus Schweizer Sicht stehen in den letzten beiden Abschnitten die Übernahme des Sekretärenamtes durch Johann Albrecht Euler und der Aufstieg von Niklaus Fuss im Vordergrund.

Diese Ausführungen müssen zur Erläuterung der «pull-Faktoren» genügen. In St. Petersburg war also eine Institution entstanden, die fremden Gelehrten trotz aller Unsicherheiten attraktive und recht lukrative Stellen bieten konnte. Der ganz grosse Vorteil, den Euler besonders zu nutzen verstand, bestand darin, dass man sich besser als an anderen Orten auf die wissenschaftliche Tätigkeit konzentrieren konnte. Die Lehrtätigkeit stand zwar im Pflichtenheft der Professoren, doch sie beschränkte sich auf ein Minimum. Wir werden allerdings zeigen, dass im Alltag doch viele Geschäfte von der wissenschaftlichen Betätigung ablenkten. Mitschuldig daran waren die Gehälter, die nur sporadisch der Teuerung angepasst wurden. Die meisten Professoren waren deshalb auf Nebenbeschäftigungen angewiesen. Nicht zuletzt die glanzvolle Karriere Eulers und die enge Verbundenheit der Bernoullis mit der Akademie liessen sie den Zeitgenossen trotzdem als lohnendes Auswanderungsziel erscheinen.

Interessanterweise vermochte dagegen die 1755 gegründete Universität Moskau im 18. Jahrhundert keine Schweizer anzulocken. In der Anfangsphase wurden mehrere deutsche Gelehrte nach Moskau berufen, danach rekrutierten sich die Professoren aus Russen oder aus Deutschen, die meist als Hauslehrer bereits in Moskau tätig gewesen waren. (Vgl. Stieda, Gelehrte, S.3f.; Amburger, Beziehungen S.36 und 165f) Ebensowenig führte die Gründung einer ganzen Reihe von neuen Universitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Engagement eines Schweizers.

3. Vermittlungskanäle

Bei der Auswanderung von Gelehrten spielten Vermittlerpersonen eine entscheidende Rolle. Im Zusammenhang mit den Schweizer Gelehrten an der Akademie lautet die konkrete Fragestellung:

Wie kam der Kontakt zwischen dem interessierten Gelehrten und der Akademie zustande? Welcher Personenkreis spielte bei der Vermittlung die entscheidende Rolle? Handelte es sich um bereits in Russland tätige Schweizer Gelehrte oder um Drittpersonen? Gab es institutionelle Zusammenarbeit oder bestimmte Kanäle? Wie erfolgte eine Berufung? Wer verhandelte mit wem über die Bedingungen?

3.1 Drittpersonen als Vermittler

Bei der Gründung der St. Petersburger Akademie spielten einige westeuropäische Gelehrte eine wichtige Rolle als Vermittler, allen voran Christian Wolff, Professor der Philosophie in Halle. Er selbst schwankte lange Zeit, nachdem er bereits 1720 angefragt worden war, ob er nach St. Petersburg auswandern wolle. 1723 sagte er endgültig ab, blieb aber in Verbindung mit Laurentius Blumentrost, dem designierten Präsidenten der Akademie, und übernahm dafür die Suche nach geeigneten Gelehrten in Westeuropa. In Russland selbst gab es ja noch keine Wissenschaftler. Die Aufgaben waren so verteilt, dass Wolff Vorschläge an Blumentrost sandte oder direkt mit den Kandidaten verhandelte, worauf im Falle einer Einigung die Verträge mit den russischen Auslandvertretern abgeschlossen wurden, die auch Geld für die ersten Gehaltszahlungen erhielten. Besonders aktiv war der Berliner Gesandte Graf Alexander Golovkin, der u.a. Jakob Hermann und den von diesem vorgeschlagenen Mechanikprofessor Johann Georg Leutmann engagierte. (Amburger, Beziehungen S.32ff.) Amburger beschreibt auch, wie deutsche Professoren an der Akademie weitere Gelehrte aus ihrer Heimat nach St. Petersburg holten. Im Fall des Baslers Hermann führte Blumentrost die konkreten Verhandlungen. Zunächst winkte Hermann ab. Bald erkundigte er sich aber nach den genauen Bedingungen und schrieb Golovkin, er sei bereit, in die St. Petersburger Akademie einzutreten, falls ihm dieselben Konditionen gewährt würden, wie sie Wolff angeboten worden waren. Eine Absage erhielt Golovkin hingegen vom Basler Historiker Johann Rudolf Waldkirch (1678–1757), der als Historiograph für die Akademie vorgesehen war. (Amburger, Beziehungen S.33)

Wolff wandte sich im Auftrag des Sekretärs der Akademie, Christian Goldbach, an Johann I. Bernoulli. Auch wenn dieser selbst nicht bereit war anzunehmen, hatte die Anfrage doch den gewünschten Nebeneffekt: Johann Bernoulli empfahl an seiner Stelle seinen Sohn. Da sich sowohl Niklaus als auch Daniel Bernoulli angesprochen fühlten, engagierte Goldbach beide zusammen an die neugegründete Akademie. (Vgl. Mumenthaler, Armuth S.60 und das nächste Kapitel über die Motive)

Auch die Verpflichtung des Botanikers Johann Ammann wurde bereits abgehandelt. (Mumenthaler, Armuth S.60f. und 64f) Ihn hatte 1731 das St. Petersburger Akademiemitglied Gerhard Friedrich Müller kontaktiert, als er auf einer Reise durch Westeuropa neue Professoren suchte. Der berühmte Leidener Professor Hermann Boerhaave empfahl ihm Salomon Gessner in Zürich und Ammann. Nachdem der Zürcher abgesagt hatte, wandte sich Müller an Ammann, der damals in London tätig war. Auch er lehnte das Angebot zunächst ab, kam dann aber zwei Jahre später darauf zurück, als sich seine Arbeitsbedingungen in London verschlechtert hatten.

Zahlreiche Gelehrte sorgten gleich noch für weiteren Zustrom, indem sie junge Wissenschaftler mitbrachten, die meist nach kurzer Zeit schon den Sprung vom Adjunkt zum Professor schafften. Bülffinger brachte Mayer und Gross mit, Duvernois Weitbrecht und Krafft, Bayer wurde von Paschke begleitet, Martini von Schesler. In diese Kategorie gehört die Verpflichtung Eulers durch die Gebrüder Bernoulli.

Johann Kaspar Horner wurde von seinem Lehrer, dem Astronom und Leiter der Sternwarte Gotha Baron Franz von Zach, angefragt, ob er eine Stelle in St. Petersburg annehmen möchte. Horner war ab 1799 an einer Vermessung in Hamburg tätig, doch Zach fand, dass sein Schützling eine akademische Laufbahn verfolgen sollte.

«Haben Sie Lust nach St. Petersburg als Kays. Astronom zu gehen? Salariam 1000 Roubel. Reisegehalt 400 R. Hofnung auf Avancement und Zulage. Quartier, Licht et Holz frey. Antworten Sie mir schnell darauf, nur Ja oder Nein.» (ZBZ, Ms; M 5, 130: Zach an Horner, Seeberg 13.4.1802)

Doch Horner sagte umgehend ab. Er wollte sich noch weiterbilden und reiste im Auftrag einer hamburgischen Gesellschaft nach England, um Leuchttürme zu begutachten. Die Familie zu Hause in Zürich drängte ihn, endlich einen “ordentlichen” Beruf zu ergreifen. Horner wollte sich aber noch nicht festlegen. Als sich dann Horner für den Posten eines Astronoms der cisalpinischen Republik in Bologna interessierte, hielt im Zach eine Standpauke. Er warf ihm vor, faul und desinteressiert zu sein und sich nie um seine akademische Qualifikation gekümmert zu haben.

«Aber es ergeht Ihnen wie den alten Jungfern, die so eckel im Heyrathen sind, herumklauben, die Wahl haben wollen, und am Ende ohne Männer, als alte Jungfern sitzen bleiben. Das ist ganz Ihr Fall… Wären Sie nach St. Petersburg gegangen, und hätten sich da gezeigt (welche herrliche Gelegenheit hatten Sie nicht, durch meine M.C.![1] Bedenken Sie es nur selbst. Ich, Ihr Freund, der Herausgeber dieser Zeitschrift; und Sie haben diese goldne Avantage gar nicht erkannt, nicht benutzt, vielleicht sogar verachtet.) So sässen Sie vielleicht schon warm in Bologna. [. . .] Man wird von Fähnrich nicht gleich General, und Sie haben nie von untenauf dienen wollen, daher haben Sie auch allen Rang inter Astronomos verlohren. Seitdem Sie von mir weg sind, und Sie sich selbst aus der Rangliste ausgestrichen haben. Mein Rath ist also, Sie fangen wieder an zu dienen, ganz will ich Sie um Ihre Dienstjahre nicht bringen, ich schlage Ihnen daher, die Astronomen Stelle in der neuen Universität Dorpat vor. Gewiss kann ich Ihnen diese Stelle nicht einmahl versprechen, die ich Ihnen im vorigen Jahr [. . .] hätte geben können, aber ich will mein mögliches thun.»134

Diese geharnischte Standpauke seines Lehrers verfehlte ihre Wirkung nicht. Horner versprach, sich zu bessern und eine ernsthafte Richtung einzuschlagen. Zach nahm ihn beim Wort. Allerdings ging es nun nicht mehr um ein Engagement in Dorpat.

«Sie sagten mir in Ihrem letzten Briefe, Sie giengen hin, wohin ich Sie schickte. Wohlan! ich schicke Sie um die Welt! Courage lieber Horner. Jezt oder nimmermehr! Aut Caesar aut nihil. – Doch zur Sache. Der Kayser von Russland schickt eine Expedition zu einer Entdeckungsreise um die Welt aus. Herr von Krusenstern führt sie (ein Deutscher ergo Landsmann). Verschiedene Gelehrte aus allen Fächern gehn mit. Ich habe den Auftrag, den Astronomen zu liefern, und dieser soll Dr. Horner heissen.[2] Die Conditionen werden die besten seyn, und zwar so, dass wenn Sie zurückkommen, Ihre independente Fortune gemacht ist. Frischauf! Lieber Doctor! Nur vorerst Antwort, Ja oder Nein! Ich habe Sie schon vorläufig in Vorschlag gebracht, und die Saiten hochgespannt. Welche Carrière für Sie? Drei Jahre etwas Mühseeligkeiten auf der See ausgestanden, und dann sind Sie auf Lebenszeit ein geborgener und berühmter Mann, also nur geschwinde Ja oder Nein, es ist keine Zeit zu verliehren. Fortuna audaces jurat.» (ZBZ, Ms; M 5, 130: Zach an Horner, 27.4.1803; Wolf, Horner S.364f.)

Wie schwer die Entscheidung Horner fiel, ist nicht überliefert, doch schliesslich gab er seine Zusage. Zach war begeistert, denn er hatte ziemlich hoch gepokert und schon im voraus in St. Petersburg signalisiert, Horner habe sich provisorisch einverstanden erklärt. Er gratulierte Horner zu seinem Entschluss. Andere hätten sich gewundert, dass man ihn zu einer solch grossen Sache überreden müsse, zumal er ja unverheiratet sei. Wegen seiner Mutter brauche er sich nicht zu sorgen, denn er habe sie ja mittlerweile schon länger nicht mehr gesehen und darob sei sie auch nicht gestorben. Er könne sie ja glauben lassen, er unternehme nur eine längere Promenade. Überhaupt sei heute eine Weltumsegelung bloss ein «Hasensprung» und völlig ungefährlich:

«Die Chance auf einer Reise um die Welt [umzukommen] ist nicht grösser, als auf einem deutschen Postwagen, auf letztrem können Sie eher den Hals stürzen, als auf erstrer ersaufen. Unter 50 Reisen um die Welt ist erst eine verunglückt.» (Ebd. Zach an Horner, 23.5.1803)

Zach setzte sich dafür ein, dass Horner die allerbesten Konditionen gewährt wurden: Ihm wurde ein jährliches Gehalt von 2000 R., die Rückerstattung der Kosten der Reise nach St. Petersburg und eine Pension nach der Rückkehr versprochen. Damit gab sich Zach noch nicht zufrieden. Er wollte die Pension bereits im voraus fixiert wissen. Zudem forderte er einen Vorschuss, damit sich Horner in Hamburg ausrüsten konnte.

«Die Zeit wird kommen, wo Sie mir Hände und Füsse küssen werden, dass ich Sie zu dieser Reise beredet habe», gab er sich zuversichtlich. (Ebd. Zach an Horner, 23.5.1803) Den Vorschuss konnte Horner dazu verwenden, seine Schulden in Hamburg abzuzahlen. Horners Schulden beliefen sich auf stattliche 2100 Mark, die er aber aus seinem Erbteil regelte, bevor er Hamburg verliess. (ZBZ, Ms; M 5, 140: Horner an Brüder, 26.7.1803) Tatsächlich gewährte man ihm eine lebenslängliche Pension von 300 Dukaten und ein Gehalt von 800 D. Die Pension wurde jedoch nur ausbezahlt, falls er keine Stelle in Russland fand. (ZBZ. Ms; M 5, 130: Zach an Horner, 3.7.1803)