Schweizer Logout - Armin Öhri - E-Book + Hörbuch

Schweizer Logout E-Book und Hörbuch

Armin Öhri

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Beschreibung

In der Schweiz kommt es zu einer beispiellosen Häufung von Internetstörungen: gelöschte Webseiten, geleakte Passwörter, ungewollt verschickte Pornografie. Das lässt die aufstrebende Online-Journalistin Mia Abderhalden und den jungen Hacker Maxi Winter aufhorchen. Was hat es mit den groben Sicherheitslücken auf sich? Die beiden ermitteln. Dabei bahnt sich eine Gefahr an, welche die Eidgenossenschaft in eine Katastrophe stürzen könnte. Was passiert, wenn jemand das Internet im gesamten Land lahmlegt?

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Seitenzahl: 284

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Zeit:6 Std. 50 min

Sprecher:Sascha Tschorn
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Armin Öhri

Schweizer Logout

Thriller

Zum Buch

Digitaler Blackout Mit Interesse verfolgt die aufstrebende Online-Journalistin Mia Abderhalden das gehäufte Aufkommen diverser Internet-Bugs: Private Nacktfotos verteilen sich ungewollt, während ganze Webseiten verschwinden und gleichzeitig Passwörter geleakt und Klarnamen veröffentlicht werden. Auch der junge IT-Security-Analyst Maxi Winter beobachtet die Störungen mit Sorge. Als sich die beiden zusammentun, um der Sache auf den Grund zu gehen, kommen sie einer ominösen App auf die Spur. Diese hat bereits in Bundesbern die Aufmerksamkeit von Militär und Geheimdienst auf sich gezogen. Bald stellt sich heraus, dass sich mit der App ein Virus verbreitet, der dabei ist, die Eidgenossenschaft in eine Katastrophe zu stürzen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn Stück für Stück fällt die Internetversorgung des Landes in sich zusammen …

Der Schriftsteller Armin Öhri, geboren 1978, lebt in Grabs im St. Galler Rheintal. Bekannt sind die historischen Kriminalromane um seinen Protagonisten, den jungen Tatortzeichner Julius Bentheim. Der Autor erhielt den »European Union Prize for Literature«, seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Alexander Limbach / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7168-1

Widmung

Für Milo

Zitat

»Wenn ich einen Computer nicht im Griff habe, muss er sich nicht gleich selbstständig machen. Er läuft dann nur unkontrollierte Wege.«

(Konrad Zuse, Interview im ›Spiegel‹, Ausgabe 25 | 1985)

Personen der Handlung

Abderhalden, Mia: Journalistin beim Online-Magazin ›GigaBites‹

Abderhalden, Toni: Vater von Mia Abderhalden

Baumann, Andreas: NDB-Mitarbeiter

Casanelli, Alfredo: SBB-Zugbegleiter

Caviezel, Andrin: Teilnehmer einer Gamer-Convention

Eggenberger, Lara: Teilnehmerin einer Gamer-Convention

Emmenegger, Valérie: Polizistin der Luzerner SiPo Süd

Eugster, Kilian: Teilnehmer einer Gamer-Convention

Gerber, Stefan: Vizedirektor der Operativen Cyber-Sicherheit

Grüter, Yvette: Prostituierte

Grüter, Noëmi: Tochter von Yvette Grüter

Hollenstein, Markus: Journalist beim Online-Magazin ›GigaBites‹

Hugentobler, Alex: TV-Journalist

Khader, Hamid: Teilnehmer einer Gamer-Convention

Kostić, Mirko: Polizist der Luzerner SiPo Süd

Oesch, Anita: Empfangsdame bei der Operativen Cyber-Sicherheit

Opliger, Martin: Politiker

Opliger, Mirjam: Ehefrau von Martin Opliger

Reusser, Marco: Militärpolizist

Salmedani, Liridona: TV-Journalistin

Sommerhalder, Larissa: Tochter von Peter Sommerhalder

Sommerhalder, Manuela: Ehefrau von Peter Sommerhalder

Sommerhalder, Peter: Chemielehrer

Thielemann, Joachim: IT-Beauftragter bei der Deutschen Bahn

Weber, Thorsten: Mitglied der Konzernleitung SBB CFF FFS

Wernli, Jules: Brigadier beim Militärischen Nachrichtendienst

Winter, Maxi: IT-Security-Analyst

Zgraggen, Maria: Assistentin von Stefan Gerber

Zuberbühler, Lena: TV-Journalistin

IN NAHER ZUKUNFT TAG 1 | Zürich

1

Die Spezialeinheit Skorpion stürmte das Haus um 3.27 Uhr. Maxi Winter war zufällig wach, als der Zugriff des Zürcher Kommissariats Intervention erfolgte. Vor über einer Stunde war er aufgestanden und durch den Flur zum Badezimmer geschlurft, wo er sich schlaftrunken auf den Toilettensitz sinken ließ. Aus Gewohnheit hatte er das Smartphone mitgenommen, um sich im Dunkeln den Weg zu leuchten. Meist schlief er nackt, und er hasste es, für den nächtlichen Gang aufs Klo die volle Deckenbeleuchtung anzuschalten. Wäre ja noch schöner, wenn ihn alle Nachbarn im Adamskostüm zu sehen bekämen.

Tags zuvor war er mit Freunden zum Chinesen gegangen, was ihm Krämpfe und eine veritable Verstopfung eingebracht hatte: zu viel weißer Reis, zu viel Glutamat. Mit Bauchgrimmen saß er also auf dem kalten Plastik-Toilettensitz. Um die Zeit zu überbrücken, spielte er ein paar Runden ›Slither.io‹. Obwohl die Handyvariante bei Weitem nicht so gut zu bedienen war wie die App auf seinem Multimedia Pad, schaffte Maxi einen Score von 14.655 Punkten, bevor es ihn zum ersten Mal erwischte. Seinem Avatar hatte er den großspurigen Namen ›The Great Deworming‹ gegeben, was er irgendwie lustig fand. Gerade als er den High-Speed-Modus aktivierte und einen anderen Mitspieler mit seiner Schlange einschnürte, um dessen Punkte zu fressen, drang von außen ein grellblauer Lichtschein durchs Badezimmerrollo und warf seinen Schattenriss an die Klotür.

Maxi legte das Handy beiseite, wischte sich den Hintern ab und hob mit der Rechten den Baumwollstoff an. Er wohnte im dritten Stock, und verblüfft blickte er auf das nächtliche Treiben unter ihm. Die Kreuzung, an der sich die Zypressenstraße und die Agnesstraße schnitten, war vollständig für den Verkehr gesperrt. An allen vier Ecken des Straßenschnittpunktes standen Einsatzwagen der Stadtpolizei. Einige Beamte schritten die verschneiten Bürgersteige ab. Etwas weiter weg erkannte er zwei abgestellte Kleinbusse sowie einen Sanitätskraftwagen. Das Blaulicht der Kennleuchte war es, das Maxi hatte aufmerksam werden lassen.

»Was zum Teufel …?«, entfuhr es ihm.

Unwillkürlich wich er mit dem Kopf zurück. Waren sie ihm auf die Schliche gekommen? Er hatte stets alle Spuren verwischt, war immer vorsichtig gewesen. Immer. Sowohl im normalen Internet, im Deepnet wie auch im Darknet. Oder doch nicht? Gedankenverloren drückte er die Toilettenspülung, während sein Hirn noch verarbeitete, was seine Augen soeben gesehen hatten. Die Polizisten … Wenn ihn nicht alles täuschte, waren sie nicht auf sein Mietshaus zugekommen. Nein, sie hatten die andere Richtung eingeschlagen. Und die Streifenwagen? Er hatte ausschließlich ihre Hecks gesehen. Die Kühlerhauben der geparkten Autos zeigten also von seinem Haus weg, die Straße hinunter. Kein durchschnittlich intelligenter Polizist würde dem Zielobjekt den Rücken zukehren. Die blöden wahrscheinlich auch nicht, dachte Maxi.

Sich zusammenreißend, hob er erneut das Rollo an. Vorsichtig spähte er hinaus. Tatsächlich: Mindestens drei Männer – schwarz maskiert, schwarzer Anzug, schwarzer Helm, Maschinenpistolen im Anschlag – rückten auf dem Gehweg vor, von Baumstamm zu Baumstamm huschend, immer wieder hinter Autos und den Verteilerkästchen der Stadtwerke Deckung suchend. Auf ihren Helmen waren herunterklappbare Nachtsichtgeräte angebracht. In sicherer Entfernung, circa 20 bis 30 Meter weiter die Straße hinab, standen ein zusätzlicher Notarztwagen und die Sanität von ›Schutz & Rettung Zürich‹. Die ganze Palette, die der Produzent eines typischen Hollywood-Actionfilms aufgefahren hätte.

So irreal sich die Szene auch ausnahm, so beruhigend war es zu wissen, dass nicht er das Ziel der Polizeiaktion war. Irgendwo – vielleicht im ›Tages-Anzeiger‹? – hatte Maxi einen Artikel über die ›Skorpione‹ gelesen. Im Schnitt rückten sie jeden zweiten Tag aus. Dass sie einmal in diesem Jahrzehnt just vor seinem Haus anzutreffen waren, konnte ein Zufall sein und wäre wohl von jedem halbwegs begabten Statistiker vorhergesagt worden, wie Maxi sich zu beruhigen versuchte. Ohne sich die Hände zu waschen, huschte er in den Gang zurück, eilte ins Schlafzimmer, wo er seine auf dem Boden verstreut liegenden Kleidungsstücke aufsammelte und sich anzog. In seiner Hast bemerkte er gar nicht, dass er das T-Shirt verkehrt herum trug: Die Vorderseite mit dem Aufdruck einer Guy-Fawkes-Maske und dem Spruch ›I went outside once, but the graphics weren’t very good‹ spannte am Rücken.

Laptop, Tablet und ein Ersatzhandy lagen immer griffbereit auf dem Nachtkästchen. Maxi schnappte sich die Geräte und trug sie ins Wohnzimmer. Dann betrat er das Büro, um sich seine HD-Webcam zu schnappen, und kam mit ihr zurück zur Fensterfront, die – wie das Toilettenfenster – ebenfalls auf die Zypressenstraße hinausging. Er kurbelte die Storen hoch, nur etwas mehr als zehn Zentimeter, und befestigte die Kamera mit einem Vakuumring an der Scheibe. 15 Megapixel Auflösung, eine Full-HD-Videoaufnahme in 1920×1080 Pixeln – das war reinste Kinoqualität, die ihm da geboten werden würde.

Während auf dem Sofatisch die drei Geräte hochfuhren, holte Maxi eine XL-Packung Kartoffelchips aus der Küche. Sich gemütlich in eine Decke einmummelnd, setzte er sich schließlich auf die Couch.

Wenn sie es nicht auf ihn abgesehen hatten, dann auf den Chemielehrer, dessen war sich Maxi gewiss …

2

Der Chemielehrer hieß Peter Sommerhalder. Durch die Medien wurde er jedoch mit dem weit verbreiteten Vor- und Nachnamen Klaus Meier landesweit bekannt. Am Ende der Zeitungsberichte folgte stets in Klammern der Vermerk: ›Name durch die Redaktion geändert‹. Er war 48 Jahre alt und stammte ursprünglich aus dem Kanton Solothurn, wo er 15 Jahre lang eine Stelle als Chemielehrer an einem Gymnasium innegehabt hatte.

Als er durch eine Unachtsamkeit ein Foto mit pornografischem Inhalt über den WhatsApp-Klassenchat teilte, wurde er fristlos entlassen. Trotzdem gelang es Sommerhalder, nach den Sommerferien eine Stelle in Zürich anzutreten. Gemäß Schulgesetz hätte ihm der Kanton Solothurn die Unterrichtsbewilligung entziehen und ihn auf die schwarze Liste der EDK, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, setzen können. Da dies nicht geschah, wurde die Information über Sommerhalders Kündigung und das laufende Strafverfahren nicht aktenkundig. Mit seiner Familie – er war verheiratet und hatte zwei Töchter im Alter von acht und 14 Jahren – wechselte er über die Kantonsgrenze und unterrichtete weiter, erhitzte Kaliumnitrat, erklärte die Wirkung von Alkohol und Säuren auf Eiweiß und stellte leuchtende Eiswürfel aus chininhaltigem Tonicwater her, die er in den brütend heißen Augusttagen an die dankbaren Schülerinnen und Schüler verteilte. Sommerhalder war beliebt.

Nicht einmal dreieinhalb Monate hielt seine Anstellung, bis er erneut Nachrichten sexuellen Inhalts verschickte, diesmal an einen 14-jährigen Knaben. Bei der folgenden Hausdurchsuchung stellte die Polizei kinderpornografisches Material sicher. Zu dem noch laufenden ersten Verfahren gesellte sich ein zweites. Hatte Sommerhalders Frau bis anhin noch zu ihm gestanden, so packte sie nun ihre Koffer, nahm die beiden Töchter und zog mit ihnen zu ihren pensionierten Eltern nach Rümlang.

Der Beschuldigte indes gestand nicht. Er akzeptierte zwar jegliche Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen, ohne dies als Schuldeingeständnis gewertet sehen zu wollen. Vehement bestand er darauf, unschuldig zu sein. Seine Anwältin beantragte eine bedingte Freiheitsstrafe, wohingegen der Staatsanwalt, ein aufstrebender lokaler SVP-Politiker, drei Jahre Freiheitsentzug forderte.

Dies alles war vor vier Monaten geschehen. Die Berichte der Boulevardpresse waren schwammig gewesen und hatten sich in nebulösen Andeutungen und Mutmaßungen ergangen. Von einem Tag auf den anderen jedoch war die Sache für Maxi fassbar geworden. Im Coop am Albisriederplatz, dem nächstgelegenen Supermarkt zu seiner Wohnung, stand er vor der Kasse Schlange, als die zwei Frauen hinter ihm aufgeregt zu tuscheln begannen.

»Das ist der, der Pädo!«

Die ältere zeigte auf einen verhärmt wirkenden Kunden, der soeben das Geschäft betreten hatte.

So war Maxi auf den Fall aufmerksam geworden. Er kannte den Mann vom Sehen, hatte ihn sogar schon mehrfach gegrüßt. Auch wusste er, in welchem Block er ein und aus ging. Auf dem Nachhauseweg blieb Maxi mit gezücktem Handy vor den Briefkästen des Wohnblocks stehen und ließ die Kamera bei eingeschalteter Videofunktion über die Adressschilder schweifen. Als er wieder daheim war und seine Einkäufe verstaut hatte, googelte er systematisch alle aufgenommenen Namen. Die fremdländisch klingenden ließ er weg, denn der Mann war eindeutig das, was die Amerikaner in ihren Thrillern und Polizeifilmen ›Caucasian‹ nennen. Die verbliebenen fünf Namen versah Maxi mit dem zusätzlichen Suchbegriff ›Schule‹. Beim dritten Versuch wurde er bei einer Kantonsschule fündig: Die Liste der Lehrpersonen führte unter dem Stundenplankürzel SOP einen Peter Sommerhalder. Dessen Foto wies ihn eindeutig als »den Pädo« aus.

Maxi lehnte sich zurück und überlegte.

An den Broterwerb war nun nicht mehr zu denken. Noch als Minderjähriger hatte Maxi mit Website-Gestaltung begonnen und für Freunde und seinen Bekanntenkreis Blogs und Internetpräsenzen eingerichtet. Nach und nach war aus dem Hobby schleichend ein Beruf geworden. Er bot die Open Source CMS an und entwickelte zudem Online-Marketingkonzepte. Alles vom Homeoffice aus. Manchmal arbeitete er bis spät in die Nacht hinein, um am nächsten Tag bis in die Mittagsstunden auszuschlafen. Er war solo, hatte keine Kinder und konnte sich seine Kunden aussuchen. Ein Job, ganz nach seinem Geschmack. Hin und wieder fragten ihn auch Firmen an, ob er ihre Websites und die Softwaresicherheit testen wolle. Im Schnitt wurden ihm dann zehn Tage bis zwei Wochen zugestanden, um die gesamte IT zu überprüfen. Dann kontrollierte Maxi die Passwortrichtlinien und schlich sich mit gefälschten Mails ins Intranet der Firmen. Alles legal und gegen gute Bezahlung. Auf seinen Visitenkarten stand ›IT-Security-Analyst‹, doch letztlich war er das, was man in der Popkultur einen Hacker nannte.

Auf den Bildschirm starrend, rief er sich die wenigen Male ins Gedächtnis, an denen sich Sommerhalders und seine Wege gekreuzt hatten. War der Mann nicht verheiratet? Ihm war, als hätte er ihn im Sommer oft mit einer Frau zusammen gesehen. Auch zwei Mädchen waren ab und zu dabei gewesen. Auf dem Briefkasten stand: ›Fam. Sommerhalder‹. Wieso wurde jemand pädophil? Oder war das schon die falsche Fragestellung? Ist man es bereits von Geburt an? Oder gibt es einen Auslöser – im übertragenen Sinn so etwas wie einen Schalter in der Psyche, den man anklicken konnte?

Maxi griff zum Tablet.

Zwei Stunden lang surfte er von einer Website zur nächsten, aber einen wirklich schlüssigen Erklärungsversuch zu seiner Fragestellung fand er nicht. Die Forschung ging davon aus, dass ungefähr ein Prozent der Männer diese Störung der sexuellen Präferenz aufwies. Studien zum weiblichen Teil der Bevölkerung existierten nur vereinzelt, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene. Pädophile Frauen gab es, doch nahm deren Anzahl niemals solche Ausmaße an wie beim sogenannten ›starken Geschlecht‹.

Und dann stieß Maxi auf eine Textstelle, die er einfach erschreckend fand: Internationalen Zahlen zufolge waren lediglich zwischen einem Viertel und der Hälfte der Personen, die Kinder sexuell missbrauchen, pädophil. Die anderen zwei bis drei Viertel der Täter besaßen ein schreckliches Motiv für ihre Übergriffe, nämlich das der ›Verfügbarkeit‹. Ihre Opfer hatten schlicht und einfach das Pech gehabt, in eine Situation zu gelangen, die vom Täter ausgenutzt werden konnte. Einfach so. Ohne, dass es zuvor geplant war. Es geschah in der Familie, im Sportverein, in der Kirche. Bei Freunden, bei Bekannten, in der Schule. Dass die Opfer jung waren, vereinfachte es, übergriffig zu werden. Ältere Opfer hätten sich ja wehren können …

Eine Freundin aus seinem virtuellen Zweitleben, die er vor drei Jahren über IRC kennengelernt hatte, dem Chat-System des Hacker-Kollektivs Anonymous, war gerade online. Maxi schrieb sie an, worauf sie ihn in einen speziell gesicherten Chatroom einlud. Vor einiger Zeit hatten sie gemeinsam spaßeshalber die Websites einiger Rechtsgesinnter lahmgelegt. AfD-Dumpfbacken, NPD-Spender, FPÖ-Fanpages. Klassische Wutbürger. Sie alle hatten sie massenhaft aus einem Botnetz heraus mit automatisierten Aufrufen bombardiert, einem DDoS-Angriff, der monatelang die Sicherheitsexperten alarmiert hatte. Die Spackos tappten noch immer im Dunkeln. Niemand war ihnen auf den Fersen.

Die Unbekannte, die den spöttischen Namen 73rr0r-h451m4u51 trug, kam ohne Umschweife zur Sache. Stets unterhielten sie sich im banalen Leet-Speak. Maxi war jetzt 21. Als Hacker angefangen hatte er mit 13. Zunächst war es ihm schwergefallen, immer wieder Buchstaben durch ähnlich aussehende Ziffern oder Sonderzeichen zu ersetzen, aber bereits nach wenigen Tagen hatte sich sein Teenagergehirn auf die seltsamen Schreibweisen eingestellt. Von 73rr0r-h451m4u51 – also von Terror-Hasimausi – bekam er wieder einmal Zugriff auf Spionagesoftware wie Galileo der in Mailand ansässigen Firma Hacking Team oder auf dessen Pendant Pegasus von der israelischen NSO Group.

»h457 w45 6u7 b31 m1r«, schrieb er.

»63rn 635ch3h3n«, antwortete sie, bevor sie sich ausloggte.

3

Noch in derselben Nacht hatte Maxi die Schadsoftware installiert. Über eine banale WhatsApp-Nachricht schlich er sich in Peter Sommerhalders Leben. Die Mobilfunknummer seines Zielobjekts fand er auf der Website des Gymnasiums. Es war derselbe ruchlose Trick, den der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, MbS genannt, angewandt hatte, um seinen strategischen Cyberkrieg gegen Amazon-Chef Jeff Bezos zu starten.

Mit einer präparierten Bilddatei, die der Chemielehrer bloß anzutippen hatte, provozierte Maxi ein Überlaufen des Speichers und führte eine Remote Code Execution aus: Alles, wirklich alles auf Sommerhalders Android-Handy schwappte auf einen Server, den Maxi eingerichtet hatte. Quasi ein Doppelgänger von Sommerhalders Google Drive. Sein Programm klinkte sich in alle legitimen Anwendungen des gehackten Handys ein, wo es systematisch die eigene Entdeckung verhinderte.

Maxi wunderte sich immer wieder aufs Neue darüber, wie sorglos die Leute mit ihren Daten umgingen. Da bekam der Lehrer eine Nachricht von einer ihm unbekannten Nummer – und was machte der Depp? Er öffnete sie. Na ja, zugegeben, wer würde das nicht tun? Und die einzige Entschuldigung, die Maxi durchgehen ließ, konnte Sommerhalder sogar ins Feld führen: Er war Lehrer, und da konnte es natürlich vorkommen, dass er von diversen Seiten kontaktiert wurde.

Am nächsten Morgen, es war ein Samstag, saß Maxi am Frühstückstisch und leerte einen Becher Waldbeerenjogurt von Emmi in eine Keramikschale, die er zuvor mit den ›Fitness Jogurt‹-Vollkornhaferflocken von Nestlé bis an den Rand gefüllt hatte.

Fuck Nestlé, dachte er, ganz der linksliberale Aktivist, der er war. Aber deren Cerealien knusperten einfach viel zu gut …

Während der Hacker geräuschvoll die Weizenstückchen kaute, installierte er einen direkten Link von seinem neu eingerichteten Server auf sein eigenes Handy. Er besaß nun eine Live-Schaltung in Sommerhalders Leben. Zwei Minuten benötigte er fürs Schreiben eines kleinen Programms, das ihm den Zugriff auf die Handyeinstellungen ermöglichte, und dann schob er es per Drag-and-Drop zu Sommerhalder rüber. Danach konfigurierte er dessen Einstellungen so, dass die Kamera permanent auf Video eingestellt war, ohne dass dies auf dem Display aufleuchtete.

»Oh Gott«, stöhnte Maxi auf.

Der Kerl, den er beobachtete, saß gerade auf dem Klo. Ein Blick auf den gespiegelten Bildschirm ließ Maxi erkennen, dass Sommerhalder gerade eine SMS schrieb.

Unter den Registern ›Verbundene Geräte‹, ›Sicherheit & Standort‹ und ›Konten‹ fand Maxi die abgespeicherten Benutzernamen und Passwörter für Sommerhalders Mailkonten und Computer sowie für seine Bankkonten bei der CS und der Julius Bär. Die Banken interessierten ihn nicht, er war ja kein Dieb. Aber E-Mails waren stets spannend und verheißungsvoll.

Nach einer Viertelstunde – Maxi hatte sich inzwischen einen Kaffee gegönnt – war er vollständig mit Sommerhalders Leben vernetzt. Fortan würde seine Malware die ein- und ausgehenden Anrufe mitschneiden und alle Daten von Facebook, WhatsApp und Skype abgreifen und zwischenspeichern. Sommerhalder war zum gläsernen Menschen geworden.

Maxi Winter schenkte sich ein Glas Orangensaft ein und schlenderte damit in die Stube. Er wischte ein paar Zeitschriften vom Sofatisch, um die Beine hochzulegen, und fläzte sich so, wie er es immer tat, auf die Couch. Gebannt verfolgte er nun den Live-Stream, der ihm das Geschehen aus dem Haus von der anderen Straßenseite mitten ins Wohnzimmer lieferte.

Der Chemielehrer hatte inzwischen sein Geschäft erledigt. Sein Handy musste er irgendwo auf einer Ablage deponiert haben, denn der Bildausschnitt, den Maxi zu sehen bekam, war starr zur Decke gerichtet. Diese bestand aus weiß gestrichenem, getäfeltem Kiefernholz; am oberen linken Bildrand war der Abschluss eines Wandpaneels auszumachen: Dekorelemente aus Beton, allesamt unterschiedlich lang und unterschiedlich breit, sodass der typische 3D-Effekt der aus der Mauer herausragenden Ziegel entstand.

Der Herr Pauker wohnte also modern.

Da sich im Bild nichts tat, ging Maxi mit dem Volume nach oben. Im Hintergrund waren Geräusche zu vernehmen: Explosionen, Musik, Maschinengewehrsalven, schließlich die unverwechselbare Stimme von Manfred Lehmann, dem deutschen Synchronsprecher von Bruce Willis, Gérard Depardieu und Kurt Russell.

»Nix zu tun am Samstagmorgen«, stellte Maxi fest, »keine Tests mehr zu korrigieren, keine Stunden vorzubereiten, seit du freigestellt wurdest. Alle faulen Hunde schauen dann fern.«

Und plötzlich hatte er eine Eingebung.

Welche TV-Box besaß der Typ? Wie konnte er das herausfinden? Maxi spulte die bereits aufgenommenen Videosequenzen zurück zum Anfang. Er beobachtete Sommerhalder auf dem Klo, bevor es dunkel wurde, als dieser das Handy in die Hosentasche steckte. Wenig später wurde das Handy wieder herausgenommen und irgendwo auf einer Ablagefläche deponiert. Seither hatte sich nichts am Bildausschnitt geändert. Dieser Weg führte also in eine Sackgasse.

In die Bankkonten einzudringen, um die Transaktionen durchzugehen, wäre zu aufwendig gewesen. Letzten Endes wäre der Hack zwischenzeitlich zum Stillstand gekommen, da das Programm wahrscheinlich einen QR-Code zum Abfotografieren angezeigt hätte. Die meisten Anbieter von Online-Banking lieferten zudem eine externe Access Card oder etwas Ähnliches mit – und die besaß Maxi nun mal nicht.

Also loggte er sich auf Sommerhalders Tablet ein, um dessen gedownloadete Dateien zu durchwühlen. Vielleicht fand sich darunter etwas. Er suchte spezifisch nach PDFs, ging alles durch, was irgendwie nach Rechnung oder Kontoauszug aussah, bis er auf eine Benachrichtigung der Swisscom stieß: eine automatisierte Push-Nachricht, die sich bei den Kundinnen und Kunden für den Kauf der neuen Swisscom-Box des ›Smart Home‹-Systems bedankte.

»Bingo!«, murmelte Maxi.

So etwas hätte er einem IKA-Lehrer zugetraut, aber keinem Chemiefritzen. Sommerhalders Wohnung war ein ›Smart Home‹, ein intelligentes Refugium, in welchem alle elektronischen Geräte über eine Zentrale verbunden waren und untereinander kommunizierten. Die wichtigsten technischen Prozesse ließen sich so steuern. Auch von außen. Ein Griff zum Handy, und schon konnte man die Heizung auf die gewünschte Temperatur einstellen, die Lampen dimmen, die Storen ausrichten, die Waschmaschine starten oder auf dem Nachhauseweg den Timer für den Latte macchiato stellen, damit ihn die Kaffeemaschine punktgenau aufs Eintreffen zu Hause zubereitet. Mit extra Sahnehäubchen und Karamellgeschmack. Das Internet der Dinge – ein Geschenk der Götter, das ein Janusgesicht trug.

Energieeffizienz und digitale Vernetzung waren die Eltern dieser Entwicklung, und Maxi Winter startete Schritt für Schritt die feindliche Übernahme. Alle kompatiblen elektronischen Geräte kamen nacheinander unter seine Kontrolle: Hätte er es gewollt, so hätte er Sommerhalders elektrische Oral-B-Zahnbürste beherrscht. Dank der intelligenten Positionserkennungs-Technologie erfuhr Maxi de facto sogar, dass Sommerhalder die linken Backenzähne im Vergleich zur rechten Mundpartie zu oberflächlich und viel zu kurz putzte.

Nach weiteren 30 Minuten überflog der Hacker die ›TV Air‹-App seines Nachbarn, wodurch er herausfand, welche Sendungen dieser neulich angeschaut beziehungsweise aufgenommen hatte. Außerdem stieß er auf einen Netflix-Anschluss sowie einen aktivierten HDMI-Ausgang für die neueste PlayStation VR.

Damit konnte man doch was anfangen.

Wenn der Typ eine VR besaß, hatte er auch ein Virtual Reality-Headset und, was weitaus wichtiger war, eine Kamera. Diese war schließlich die Grundvoraussetzung dafür, dass die Kopfbewegungen der Spieler ermittelt und kalibriert werden konnten. Das Beste daran: Dafür musste sie direkt auf dem TV-Gerät montiert sein, sodass ihr Bildausschnitt gezwungenermaßen den ganzen Raum zeigte.

»Fiat lux«, jubilierte der Hacker, als er die VR-Kamera auf ›On‹ stellte.

Der zuvor tote Bildschirm füllte sich mit Farben.

Peter Sommerhalder saß auf einem Schaukelstuhl, seine nackten Füße steckten in De Fonseca-Pantoffeln mit hässlichen weißen Bommeln an der Seite, die er wohl im Manor erstanden hatte. Der Stuhl wippte vor und zurück, vor und zurück. An den Wänden hingen diverse Kunstdrucke, die weitaus geschmackvoller waren als seine Hausschuhe: ein blau-weißes Zermatt-Poster von Henry Rivers im Vintage-Stil, aber auch Albert Ankers ›Schlafender Knabe im Heu‹ als Posterdruck auf Premium-Fotopapier. Die restlichen Bilder waren ebenfalls dazu angetan, dass Sommerhalder vom Blocher-Clan wohl ohne mit der Wimper zu zucken adoptiert worden wäre.

Ein braunes Fellknäuel im Hintergrund, das Maxi ins Auge fiel, entpuppte sich als dösender Kater. Ein zweites Fellknäuel daneben blieb undefinierbar, woraufhin Maxi es heranzoomte. Es war ein Spielzeug, ein moderner Toy-Fi-Teddy mit USB-Anschluss, Internetverbindung, Kamera, Mikrofon und Spracheerkennungsprogramm. Maxi machte ein Standbild und gab das geschossene Foto in der Google-Bildersuche ein, deren Suchfilter er auf kommerzielle Angebote beschränkte. Nach wenigen Hundertstelsekunden spuckte der Computer ein paar Dutzend Ergebnisse aus, die Maxi alle notwendigen Herstellerangaben brachten.

Weitere zehn Minuten später hatte er den Teddy gehackt und eine zweite Kameraposition für sich installiert. Maxi konnte immer wieder bloß den Kopf schütteln, wie arglos die Leute mit ihren Daten umgingen. Sommerhalders Benutzerprofil für den Teddy war der Klarname seiner jüngsten Tochter, das sechsstellige Passwort lautete: 123456. Weder war die W-Lan-Leitung passwortgeschützt noch waren die Zugriffsrechte eingeschränkt. Obwohl das Smart Toy unbenutzt am Boden lag, waren Kamera und Mikrofon lediglich auf Standby. Nach wenigen Klicks vernahm Maxi sogar klar und deutlich das Schnurren der schlafenden Katze.

Es war schon vorgekommen, dass sich Internetkriminelle problemlos ins Kinderzimmer hackten. Sie hauchten dem Teddy Leben ein, reagierten auf das, was die Kinder plapperten, interagierten mit ihnen, freundeten sich mit ihnen an und brachten sie schließlich dazu, ihnen mitten in der Nacht die Haustür zu öffnen. Die überfallenen Eltern waren am nächsten Morgen um ihre Barschaft ärmer und um eine Erfahrung reicher. Aber vielleicht nicht einmal das …

4

In den nächsten Tagen wurde Maxi zum obsessiven Spanner. Ohne sich einzumischen, beobachtete er das banale Treiben im Haus gegenüber. Der Familienalltag als Soap Opera. Maxi war zu jung, um sich an die Diskussionen um das TV-Format ›Big Brother‹ zu erinnern, als vor dessen Sendestart diskutiert wurde, ob dieses »Menschenexperiment« überhaupt mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vereinbar wäre. Den Teilnehmenden wurde vom TV-Sender durch die Bildauswahl der Tageszusammenfassungen ein Image aufgedrückt, das sie selber nicht steuern oder beeinflussen konnten. Außerdem pushten die Medien ein Sozialverhalten, das in der Gesellschaft eigentlich geächtet war: das des Mobbings.

Doch Peter Sommerhalder wusste nichts von seiner Hauptrolle in Maxi Winters ganz privatem Menschenzoo. Er agierte unbefangen normal, wie man sich eben in den eigenen vier Wänden verhält, war weder prollig noch vulgär. Zugegeben, ab und an bohrte er in der Nase. Wer tut das nicht, wenn man sich unbeobachtet fühlt?

Sobald Sommerhalder anfing, zu seinen langweiligeren Tätigkeiten wie Putzen, Essen oder das Lösen von Kreuzworträtseln überzugehen, durchsuchte Maxi den Computer des Lehrers. Systematisch ging er die Festplatte durch, um verbotenes Material aufzuspüren. Er fand nichts.

Natürlich, fiel es ihm ein. Der Computer ist nagelneu.

Die Polizei hatte die ursprünglichen Geräte bei ihrer Razzia beschlagnahmt. In den Systemeinstellungen stolperte Maxi denn auch über das relativ neue Datum der ersten Inbetriebnahme, was seine Vermutung bestätigte. Trotzdem hatte Sommerhalder inzwischen bereits vier, fünf Dutzend Programme installiert und alle Dateien aus seiner Cloud mit den neuen Rechnern synchronisiert. Maxi ging den Browserverlauf durch. Er fand Fachportale zu Chemielaboratorien und Unterrichtsmaterial, Websites über Zinnsoldaten, diverse Anfragen zu Öffnungszeiten von Miniatur-Wunderwelten – was so einiges über Sommerhalders Hobby verriet – sowie die Internetpräsenzen der Boulevard- beziehungsweise Pendlerzeitungen ›20 Minuten‹ und ›Blick‹.

In den digitalen Fotoalben breitete sich ein ganzes Leben vor Maxi aus: Peter mit Frau, Peter mit Tochter, Peter mit der anderen Tochter. Schnappschüsse aus dem Wallis, Ferienerinnerungen aus Florenz, Rimini und Pisa. Das einzige Bild, das noch irgendwie in der Grauzone des Anrüchigen war, zeigte eine seiner Töchter, zum Zeitpunkt der Aufnahme geschätzte sieben oder acht Jahre alt, die ohne Bikinioberteil an einem Sandstrand saß. Mädchenhaft flache Brust, nichts Erotisches. Eine Alltagsszene, die laut Gesetz noch in sozialen Netzwerken hätte verbreitet werden dürfen, obgleich diverse Kinderschutzbünde mittlerweile schon davon abrieten.

Je tiefer Maxi sich in Sommerhalders Leben vergrub, desto seltsamer kam ihm vor, dass er keine Beweise für ein vermeintlich abartiges Sexualverhalten fand. Nicht eine einzige Pornoseite tauchte im Browserverlauf auf, auch keine Seite mit Kontaktanzeigen. In den ersten zehn Tagen, an denen er ihn inzwischen beobachtete, hatte der Typ nicht einmal onaniert. Ein Ausbund an Tugendhaftigkeit.

Ungemein spannender wurde das Geschehen an den Wochenenden, wenn die beiden Töchter auf Besuch kamen. Eine Mitarbeiterin der KESB Zürich, der ›Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde‹, war stets anwesend und überwachte die Treffen mit Argusaugen. Erstaunlicherweise stellte sich die jüngere der beiden als umgänglich heraus. Ohne Scheuklappen herzte sie den Vater, während ihre ältere Schwester reserviert blieb. Es gelang Maxi, den Großteil des familiären Geschehens zu verfolgen. Nichts, was sich im offenen Flur, in der Küche und im Wohnzimmer respektive vor den Laptop- und Computer-Kameras abspielte, blieb ihm verborgen.

»Bekomme ich keine Umarmung?«

Sommerhalder stand vor seiner Ältesten, die Arme ausgebreitet wie ein Pfarrer, der seinen Schäfchen den Segen spendet.

Gebannt beugte sich Maxi vor. Mittlerweile hatte er die Übertragungen so eingerichtet, dass sie an der Stubenwand über seinen großen Flachbildschirm flimmerten. Heimkino par excellence. Der Ton war leicht scheppernd und auch nicht in Dolby Surround. Dennoch fühlte er sich gespensterhaft mitten ins Geschehen hineingeworfen.

Larissa, so hieß die Tochter, wandte sich ab. Sie murmelte irgendwas davon, kein kleines Kind mehr zu sein, und begann, mit quälender Langsamkeit die Jacke auszuziehen. Ein bewusster Affront, wie Maxi Winter fand. Der Vater stand hilflos daneben. Er streckte die Hand aus, um die Jacke entgegenzunehmen, doch Larissa griff selbst nach einem der Kleiderbügel, bevor sie aggressiv auftretend in die Stube stapfte.

Wenige Schritte entfernt notierte die KESB-Mitarbeiterin etwas auf einem Klemmbrett.

Die Tochter war ein typischer Teenie in verwaschenen Skinny-Jeans und orangefarbenem Longsleeve. Wahrscheinlich Bio-Baumwolle. Das pickelige Gesicht mit schlecht aufgetragener Schminke übertüncht. Die Jüngere hingegen sah richtig herzig aus. Ein unschuldiges Primarschulmädchen. Gepflegtes Aussehen. Man sah ihr an, dass sich irgendjemand – wahrscheinlich die Mutter – rührend um sie kümmerte.

»Und jetzt?«, versuchte es der Vater erneut. »Umarmung?«

Die Mimik, die Maxis Bildschirm einfing, als sich Larissa abrupt umdrehte, um zu ihrem Vater zurückzuschauen, erschreckte den jungen Hacker.

»Mich willst du auch noch umarmen? Genügt dir Luljete nicht?«

»Luljete?«

Sommerhalders Stimme ging leicht nach oben, Verwirrung huschte über sein Gesicht.

»Die albanische Tussi aus der 3c. Die kennst du doch so gut.«

»Natürlich weiß ich, wer Luljete ist.«

»Und?«

»Was ›und‹?«

Maxi schob sich eine Handvoll Popcorn in den Mund.

»Mirko hat euch gefilmt. In der ganzen Schule wird das Video rumgereicht. Irgendein Arsch hat es auf TikTok hochgeladen und mit einem Song von Gary Glitter unterlegt. Ausgerechnet Gary Glitter! Das geht viral, sag ich dir. Reicht es nicht, wenn dein Leben zerstört wird? Musst du auch noch unseres kaputt machen?«

»Es gibt einen Film, wie ich Luljete tröste?«

Peter Sommerhalders Gesichtsausdruck zeigte Verdutztheit. Mehr auch nicht. Kein Schuldeingeständnis, keine zerknirschte Ich-bin-ertappt-Mimik.

»Getröstet? Umarmt hast du sie!«

»Ihre Großmutter war an diesem Tag gestorben«, erwiderte der Pädagoge nüchtern. Es klang nach Fakt, nach Lexikoneintrag, nach Fantasielosigkeit.

»Und deshalb musst du sie knuddeln? Wie so ein alter Perversling?«

»Ich knuddle keine Schülerinnen, das weißt du.«

»Trotzdem! Musste das sein? Alle reden schon über mich. Ich bin die Tochter des Kinderschänders. Sogar die Spastis aus der Unterstufe zeigen mit den Fingern auf mich.«

Die KESB-Mitarbeiterin trat einen Schritt nach vorn.

»Herr Sommerhalder«, begann sie in einem undefinierbaren Singsang, den Maxi irgendwo zwischen Aargauer und Luzerner Dialekt verortete, »bitte erzürnen Sie Ihre Tochter nicht. Es ist niemandem damit gedient, wenn sie sich alteriert. Kinder sind sensibel.«

Bang! Das hatte gesessen.

»Nicht erzürnen? Sich alterieren? Ist das Pädagogen-Scheiß, oder was?«

»Herr Sommerhalder, bitte!«

»Lecken Sie mich! Wenn ich ein weinendes Kind nicht tröste, habe ich den Job verfehlt. Ich bin Lehrer, verdammt noch mal. Empathie. Schon mal was davon gehört? Wahrscheinlich nicht, Sie blöde Kuh.«

Das war besser als jede mexikanische Telenovela. Während die Sozialarbeiterin und der Chemiefritze sich immer mehr in die Wolle kriegten, rauschte Larissa davon. Maxi switchte auf die nächste Kameraeinstellung, doch er sah nur noch, wie ihr orangefarbener Longsleeve aus dem Bild huschte. Kurz darauf war das Zuknallen einer Tür zu vernehmen. Wahrscheinlich hatte sich das Mädchen in sein Zimmer zurückgezogen.

5

Das Einzige, was Maxis Kameras in den folgenden Tagen und Wochen ununterbrochen aufnahmen, war die Dokumentation einer stetig größer werdenden Vereinsamung. Die Besuche der Töchter wurden rarer, sonstige Sozialkontakte hatte der Lehrer keine. Je eintöniger Sommerhalders Tagesabläufe wurden, desto weniger schaltete Maxi seine illegalen Aufnahmen ein.

Im Gegensatz zu Seifenopern gab es im Real Life keine Cliffhanger oder parallel verlaufende Handlungsstränge mit Rückblenden. Irgendwann war Maxis Motivation, täglich durch die verpassten Aufnahmen zu spulen, erschöpft. Sie wich einem neutralen Desinteresse, sodass er sich wieder aufs Geldverdienen konzentrierte und vermehrt Kunden annahm. Hauptsächlich Unternehmen, die nach einer Website-Analyse fragten, um sicherzustellen, dass ihre Seiten auf aktuelle Suchmaschinenkriterien ausgerichtet waren.

Ein einziges Wort, das in Sommerhalders Wohnung gefallen war, hatte sich jedoch in Maxis Kopf festgesaugt: »Trotzdem.«

Immer wieder kam es in ihm hoch, dieses Wort. Wie ein Stück Plastikabfall im Meer versank es bisweilen, wurde verschluckt von den Wellengängen des Alltags, nur um dann, wenn man es am wenigsten erwartete, wieder an die Oberfläche zu kommen.

»Trotzdem.«

Wochen später, nachdem er auf dem Klo ›Slither.io‹ gespielt und einen Score von 14.655 Punkten geschafft hatte, fügten sich die Puzzleteile allmählich in seinem Kopf zusammen.

Maxis Fensterkamera, die auf die Zypressenstraße zeigte, hatte die drei maskierten Männer perfekt erfasst. Ihr Vorpreschen von Baum zu Baum, von Deckung zu Deckung, kam überaus martialisch daher. Seit einiger Zeit war eine zunehmende Militarisierung des Polizeiwesens auszumachen, nicht nur im politischen Europa, sondern auch in der behaglichen Schweiz.

Die Skorpion-Spezialeinheit war so ein Beispiel. Ob Amoklauf, Geiselnahme oder Ausschreitungen links- beziehungsweise rechtsradikaler Krawallmacher: Je brenzliger die Situation, desto gefragter waren die Elite-Polizisten. Als im Herbst 2019 christliche Abtreibungsgegner zum ›Marsch fürs Läbe‹ aufriefen, starteten liberale Selbstbestimmungs-Befürworter aus dem Schwarzen Block diverse Störmanöver. Auf der Josefswiese, wo sich Anhänger der nicht bewilligten Gegendemonstration aufhielten und sich inmitten zahlreicher Familien tummelten, die mit ihren Kindern den samstäglichen Nachmittag im Park verbrachten, sei es gemäß Augenzeugenberichten zum völlig unverhältnismäßigen Einsatz von Tränengas und Schrotkugeln gekommen. Rote Kinderaugen, geschockte Papis und Mamis waren die Folge.

Interessiert hatte Maxi damals die Worte des über die Kantonsgrenze hinweg bekannten langjährigen Polizeisprechers Cortesi verfolgt, der diesen Einsatz verneinte. Vielmehr hätten sich oben auf den nahen Viaduktbögen über dem Restaurant Markthalle Polizisten mit Tränengaskartuschen zur Wehr setzen müssen, nachdem sie von Unbekannten massiv mit Gegenständen beworfen worden seien.

Für einmal glaubte Maxi dem Staat. Je nach Windrichtung mochte es einfach die Gasschwaden über die Wiese geweht haben. So etwas nannte man Kollateralschaden.

Er starrte auf den Flatscreen.

Ohne sich darüber bewusst zu werden, was er tat, schüttelte Maxi den Kopf, als er den aggressiv vorrückenden Trupp beobachtete. Manchmal gerierten die sich wie John Rambo. Aber nicht wie der wortkarge, traumatisierte Antiheld aus dem intellektuellen und gesellschaftskritischen Original-Film von Ted Kotcheff, sondern vielmehr wie der tumbe Kämpfer aus dem dritten Teil, einem der unsäglichsten Propagandafilme, die Maxi je gesehen hatte. Auf beiden Oberarmen der Schutzkleidung war in Großbuchstaben ein POLIZEI-Schriftzug aufgenäht, die dunklen Helme waren am Hinterkopf lediglich mit einer Ziffer versehen, was eine namentliche Identifizierung der Männer durch Außenstehende verhindern sollte.

Aufgeregt zappte Maxi über die Swisscom-Box in Sommerhalders Wohnung hinein.

Das Bild blieb schwarz.

»Scheiße«, fluchte der Hacker.

Er probierte es über die Kameras von Computer und Tablet aus. Ebenfalls erfolglos. Da hatten die Bullen doch tatsächlich dem Wohnblock den Strom abgedreht.

Maxi versuchte es über die Handykamera des Lehrers. Die lief. Zumindest das Internet konnte der Rechtsstaat nicht einfach so abstellen. Noch nicht. Und der Toy-Fi-Teddy funktionierte ebenfalls über Batterien.

Die letzten zwei Kameras, die ihm verblieben, offenbarten ein diffuses nächtliches Bild aus der Wohnung gegenüber. Dunkelheit, durchbrochen von herumschwenkenden Lichtstrahlen, die Maxi erst nach und nach als jene von Taschenlampen ausmachte. Wenigstens die Tonübertragung klappte reibungslos.

»Trotzdem.«

Da war es wieder, dieses Wort.

Über die Fernbedienung fuhr Maxi den Ton höher, bis er die Stimme erkannte. Genauer gesagt, waren es mehrere Stimmen: die von Larissa, die von Sommerhalder und eine dritte von Sommerhalders Frau. Wie hieß die noch mal? Ach, egal. Die jüngste Tochter war anscheinend nicht da.

»… in Teufels Küche, wenn du das machst«, hatte die Mutter gerade gesagt. »Bitte hör auf, Peter. Das bringt nichts.«

»Ich will es einfach wissen. Nur von ihr. Sie soll es gestehen. Das ist alles, was ich will. Das ist ja wohl nicht schwer zu verstehen!«

Indem sie einen Schritt zur Seite trat, gab die Mutter den Blick auf das Zimmer frei, was Maxi den Atem stocken ließ. Im Hintergrund, an den Wohnzimmerschrank gelehnt, stand der Vater, eine gläserne Phiole in der Hand. Die giftig pfirsichfarbene Flüssigkeit darin schwappte hin und her, als er heftig gestikulierend auf seine Tochter zeigte, die weinend vor ihm auf dem Boden kauerte.