Sinfonie des Todes - Armin Öhri - E-Book

Sinfonie des Todes E-Book

Armin Öhri

4,8

Beschreibung

Wien, 1901. Wilhelm Fichtner, spielsüchtiger Beamter des kaiserlich-königlichen Kriegsministeriums, wird zu Hause von seiner Gattin Lina tot am Schreibtisch aufgefunden, den Kopf auf einem Kassenbuch liegend, die Pistole neben ihm auf dem Boden. Doch Cyprian von Warnstedt, Inspektor der k.k. Gendarmerie, bezweifelt, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Als Täter vermutet er einen der Männer aus Wilhelms letzter Kartenrunde in dem verrufenen Gasthof „Zur Kaisermühle“. Aber auch die Witwe selbst verhält sich äußerst verdächtig …

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Seitenzahl: 269

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Cover

Titel

Armin Öhri / Vanessa Tschirky

Sinfonie des Todes

Historischer Roman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrektur: Julia Franze / Katja Ernst

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Dame im gelben Kleid«;

Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Max_Kurzweil_1899_Mujer_con_un_vestido_amarillo.jpg

ISBN 978-3-8392-3654-3

Vorwort

Für unsere Eltern

Quos deus perdere vult, prius dementat.

Die Gott verderben will, schlägt er zuvor mit Wahnsinn.

(Publilius Syrus, ›Sentenzen‹)

1. Kapitel

Meran stand ihm noch immer vor Augen. Das sonnige, angenehme Meran. Voller Schwermut dachte der Sektionsrat an das mediterrane Klima, an die hohen Bergketten, die den Talkessel, in dem die Stadt lag, schützend umgaben, und an die Parkanlagen, die so weitläufig und schön waren, dass man stundenlang in ihnen verweilen konnte. Er lehnte die Stirn an das beschlagene Fenster seines Zugwaggons und wurde melancholisch. Der Regen drückte feine, dünnfadige Striche an die Scheiben. Instinktiv wich der Passagier wieder zurück, knöpfte seinen Hemdkragen zu und zupfte an dem Plaid, das über seinen Schoß ausgebreitet war. Nässe war ihm mittlerweile ein Gräuel geworden, und so sah er mit Unbill den kommenden Tagen in Wien entgegen.

Die sechs Treibräder der Lok ratterten über die Gleise, während auf dem Metall des Langkessels die Regentropfen zischend verdampften. Wie ein stählerner Lindwurm wälzte sich die Eisenbahn durch die Vororte, vorüber an Landschaften, die sich schemenhaft und verschwommen ausnahmen. Tannen und Büsche flogen vorbei – im Dunkel der Nacht kaum mehr zu erkennen –, Hütten, Tennen, windschiefe Bauernhäuser, natürlich die unvermeidlichen Telegrafenstangen, schließlich die ersten größeren Wohnungen und Arbeitersiedlungen, welche die Vorstadt ankündigten. Als das grelle Pfeifen der Klotzbremsen einsetzte, richtete sich Fichtner in seinem Sitz auf. Er war froh, das stickige Coupé verlassen zu können, wenngleich ihn die Aussicht auf die klammen Straßen der Hauptstadt betrübt stimmte.

Fauchend und brüllend fuhr der Nachtzug in den Bahnhof ein. Der Reisende erhob sich, griff nach seinem Gepäck und entriegelte die Kabinentür. Wie jedes Mal, wenn er aus der Ferne kam, aus dem Wagen trat und seinen heimwehkranken Blick über das Areal des Südbahnhofs schweifen ließ, bemerkte er die unsägliche Enge der Seiten- und der Zungenbahnsteige. Die Perrons waren schmal, viel zu schmal nach seinem Geschmack, und er fragte sich, wie man diese nachteilige Konzeption gleichzeitig mit dem eigentlichen Hallenportal hatte bauen können, das um so vieles funktionaler und deutlich auf klarere Linien ausgerichtet war.

Fichtner hustete. Die Augen waren ihm auf der Reise schwer geworden, und nun drängelte er sich träge durch die Massen. Er war am nördlichen Seitenbahnsteig angekommen. Ein glücklicher Zufall, denn der Sektionsrat rief sich ins Gedächtnis, dass von hier aus eine Stiege direkt an die Seitenfront der Halle führte, von wo aus ein Glasdach den Vorplatz zwischen den Seitenpavillons überspannte. Er lief also nicht Gefahr, nass zu werden, und so lenkte er die Schritte diesem Ziel zu.

Zwischen steinernen Markuslöwen, die die Pavillons flankierten, warteten einige Fiaker und Einspänner auf die Neuangekommenen. Fichtner wollte eines der Gefährte heranpfeifen, besann sich aber eines Besseren und winkte einfach mit der Hand. Danach räusperte er sich, griff sich an den Hals und massierte mit festen rhythmischen Bewegungen seinen Adamsapfel. Sobald der Kutscher die Koffer verstaut hätte, so nahm sich Fichtner fest vor, würde er einen Schluck Milch trinken …

Der Führer eines alten, luxuriösen Janschky-Wagens hatte ihn erblickt. Zwei gutmütig glotzende Pferde trabten heran und blieben schnaubend neben dem Sektionsrat stehen. Behände sprang der Kutscher vom Bock, übernahm das Gepäck und meinte: »Kommen S’, steigen S’ ein, wir stehen der Tramway im Wege.«

Der Mann stieg ein, nachdem er seinen Bestimmungsort angegeben hatte, und ließ sich auf die Polster fallen. Die Kutsche war elegant, sogar viersitzig, und Fichtner öffnete sein Handgepäck, sowie er sicher war, von dem Kutscher nicht mehr beachtet zu werden. Er nahm eine Flasche, deren trüber weißer Inhalt ihn leicht zum Gespött machen könnte, und setzte zu einem Schluck an. Der Sektionsrat verzog das Gesicht: Wie er doch all diese diätetischen Mittel verabscheute! Als er sein kleines Geheimnis wieder in die Tasche verschwinden ließ, holperte das Gespann gerade bei den Kassenhallen über die ins Pflaster eingelassenen Umkehrschleifen der Straßenbahn. Der Regen prasselte auf das Kutschendach, sobald sie die schützende Glasüberdachung des Bahnhofs hinter sich gelassen hatten.

Soll ich noch ins Café Hochleitner gehen, überlegte er, eine Hasardpartie wagen oder Tarock spielen? Dann aber verwarf er den leichtsinnigen, jedoch so verlockenden Gedanken, der in ihm aufgekeimt war, und nahm sich fest vor, den Rat seiner Ärzte fortan ernsthaft zu befolgen.

Er war 36 Jahre alt, eigentlich von kräftiger Statur, aber die Schwindsucht hatte ihn ausgezehrt. Die eingefallenen bleichen Wangen vermochte er nur noch durch einen Backenbart zu verbergen. Das Tragen solcher Haarpracht entsprach glücklicherweise der gängigen Mode, da wuchernde Barthaare als Attribut der Männlichkeit angesehen wurden, und so wusste der Kranke diese Maskerade zu seinen Gunsten zu nutzen. Mühe bereitete schon eher der Gemeinplatz, dass ein Mann forsch, ritterlich und aggressiv aufzutreten habe – eine Haltung, die dem von Nachtschweiß und Kopfschmerzen Geplagten einiges abverlangte. Das Gefährt polterte indes durch die Gassen, hatte den Ghega-Platz und den zehnten Bezirk längst hinter sich gelassen und folgte nun der Bubenbergerstraße bis zum Opernring. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde bogen bei der Albertina und dem höfischen Operntheater ab.

Robert Fichtner war müde. Es war spät geworden in dieser Novembernacht des Jahres 1901. Er schätzte die Uhrzeit auf einige Minuten nach Mitternacht. Seine Müdigkeit wäre mit der langen Zugfahrt zu erklären gewesen, doch irgendetwas in seinem Inneren sträubte sich dagegen, diese matte Abgeschlagenheit nur mit den Strapazen der Reise in Verbindung zu bringen. Für einen Augenblick lang pochte es in seinem Schädel, er machte ein altbekanntes Zerrbild aus, das in seinem Geist erschien: einen hässlichen schwarzen Skorpion, dessen kräftige Scheren nach ihm griffen, ihn packten und zermalmten. Die Beklemmung war wieder da, drohte, sich Bahn zu schlagen in seinem Körper, doch bevor es so weit war, verschwand sie sogleich wieder und verflüchtigte sich auf geisterhafte Weise. Robert atmete erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Erneut öffnete er sein Handgepäck und sondierte den Inhalt, bis er das gewünschte Päckchen gefunden hatte, das den Abessinischen Tee enthielt. Der Sektionsrat wunderte sich über den irreführenden Namen, da er die Khatblätter ja nicht trank, sondern lediglich kaute, und er griff sich zwei der größeren Exemplare heraus. Er rollte sie zu kleinen Kügelchen, die er in den Mund nahm und mit der Zungenspitze in die rechte Wange schob. Als der Janschky-Wagen vor dem Haus mit Fichtners Mietwohnung hielt, hatte sich bei ihm bereits ein wohliges Gefühl eingestellt. Das Kopfweh war verschwunden, die Müdigkeit verflogen.

Der Kutscher trug ihm das Gepäck ins Gebäude und Fichtner spendierte ein großzügiges Trinkgeld.

Sowie er allein war, zwei Lampen angezündet hatte und den menschenleeren Salon betrachtete, der sich verstaubt und düster präsentierte, wurde ihm die Elendigkeit seiner Situation mit einem Schlag bewusst. Die roten Polstersessel waren abgenutzt, die Lehnen durchgescheuert. Die Bilder, die an der Wand hingen, waren mittlerweile vergilbt. Die sich spärlich einfindenden Besucher seiner Wohnung mokierten sich stets über die Nachdrucke von Gemälden der Secessionisten oder über die Fotografien einiger der erotisierenderen Werke Koloman Mosers. Fichtner schritt zum Fenster, um die schweren Kretonnevorhänge aufzuziehen und ein wenig frische Luft ins Zimmer zu lassen. Dabei fiel ihm ein Briefkuvert aus der Manteltasche und flatterte zu Boden. Er bückte sich, um den Umschlag aufzunehmen, und entsann sich des eigentlichen Grunds für den Abbruch seines Kuraufenthalts.

Was sein Bruder wohl von ihm wollte? Hatte er womöglich wieder einmal Spielschulden gemacht?

Fichtner wendete das aufgerissene Kuvert, überflog die krakelige Handschrift, die seine Meraner Hoteladresse wohl in aller Hast oder zumindest in geistiger Aufgelöstheit geschrieben haben musste, und er überlegte ernsthaft, gleich jetzt noch, zu solch nachtschlafender Stunde, Wilhelm aufzusuchen. Er verwarf den Gedanken, da ihn ein anderes Vorhaben gepackt hatte. Schleichend war dieses aufgetaucht, hatte sich in seinem Hinterkopf festgekrallt und plötzlich den Weg in sein Inneres gefunden. Die Entschlossenheit aber, bis zur letzten Konsequenz zu gehen, fehlte noch. Unwirsch schritt er auf und ab, warf den schwereren seiner Reisekoffer auf den Tisch, ließ die Schlösser aufschnappen und wühlte in seinen Kleidern, bis er das Bündel gefunden hatte, das seinem Khatpäcklein ähnelte. Er riss die Verpackung weg, die er umsichtig mit Rosmarinwasser besprüht hatte, und entnahm die Pilze, die ihm in Meran ein Kurgast anempfohlen hatte. Sie waren dünn, mit leicht gebogenem Stil und mit Lamellen an der Außenseite des Hutes. Ein rettich- bis grasartiger Geruch entströmte ihnen und Fichtner, der sich nun mit überzeugter Gewissheit ans Werk machte, ließ den Salon hinter sich und begab sich ins Schlafzimmer. Der Sektionsrat musterte den Raum und erkannte mit dem geübtem Blick des Polizeibeamten die Gefahren, die es zu meiden galt. Er räumte den Nachttisch auf, warf alles, was lose war und als Waffe missbraucht werden konnte, in den Kleiderschrank und schloss diesen ab. Den Schlüssel selbst deponierte er im Salon, wo er ihn zwischen zwei Polster steckte. Er entledigte sich seiner Kleider, kam danach ins Schlafzimmer zurück, legte sich aufs Bett und griff nach den Pilzen.

2. Kapitel

Auch nach ungefähr zehn Minuten war noch immer nichts geschehen. Nichts hatte sich verändert, nichts war eingetreten, das irgendwie von Belang gewesen wäre. Alles war wie zuvor. Robert spürte plötzlich das Bällchen aus Khat, das ausgesaugt und spröde in seinem Mund lag, und spuckte es in seine Handfläche. Teile der zerkauten Lamellenhüte der Pilze waren zu erkennen, als er sein Sputum betrachtete.

Er stand auf, um in den Salon zu gehen, wo seine Kleider lagen. Zuvor suchte er das Badezimmer auf, um sich die Hände zu waschen, und kam dann zurück. Als er angezogen im Zimmer stand, fand er die ganze Angelegenheit lächerlich, wenn nicht gar idiotisch und absurd. Pilze! Pah! Robert lachte auf, als er sich seiner Naivität bewusst wurde. Wiederum machte er kehrt, ging ins Bad und trat an den Konsoltisch mit seinen Toilettenartikeln, wo er sich vor dem Trumeau in Aufstellung brachte. Stolz aufgerichtet stand er da. Er warf seinen Kopf zurück und betrachtete mit verächtlicher Neugier sein Spiegelbild. Doch sein Doppelgänger sah wider Erwarten gesund aus. Ein kräftiger Bursche, dachte Robert genügsam und zufrieden. Du bist nicht mehr malade wie auch schon … Er hob bedächtig die Linke und sein Ebenbild imitierte ihn so perfekt, als wolle Robert von ihm Rechenschaft verlangen. Der Sektionsrat war zufrieden. Vergnügt öffnete er die Tischlade und holte eine Trabucco hervor. Als er kein Feuerzeug fand, legte er ein weiteres Mal den Weg in den Salon zurück. Er stöberte umher, hob Kissen und Platzdeckchen auf, bis er auf der Wachsdecke eines Kommodentischchens eine Packung Streichhölzer fand. Diese Zigarrenart schmeckte ihm; er fand sie angenehm, liebte ihren Duft, ihr Aroma. Sie war klein, hell und leicht, und sie kostete 16 Heller das Stück. Er inhalierte den Rauch, der sich in seinem Mund mit den grasigen und pilzigen Überresten zu einer obskuren, extravaganten Melange verband, und blies ihn durch die Nase.

Ein Klingeln an seiner Wohnungstür riss ihn aus den Gedanken. Robert Fichtner warf einen Blick auf seine Taschenuhr: 1:27 Uhr. Wer mochte das wohl sein? Mit der Macht der Gewohnheit richtete er sich den Hemdkragen her, blickte kurz an sich hinunter, um sich von der Vollendung seines Erscheinungsbildes zu überzeugen, und nickte zufriedengestellt. Es klingelte just in dem Moment ein zweites Mal, als Robert bereits die Tür entriegelt hatte. Er öffnete.

Vor ihm stand sein Bruder.

»Na, bittest du mich nicht herein?«

Robert trat beiseite. Als Wilhelm eingetreten war, steuerte er die Ecke des Raumes an, wo einer der Polstersessel stand. Er setzte sich wortlos, legte die Hände auf die Knie und verharrte für geraume Zeit, in welcher er den Sektionsrat musterte. »Du siehst elend aus, richtig marode«, ging er dann sofort auf das nächstliegende Thema los, wie all die anderen Leute dieses Schlags, die Robert nicht ausstehen konnte.

Es folgte eine Minute beiderseitigen Schweigens, bis Wilhelm erneut zu einem Versuch ansetzte: »Du hast meine Nachricht bekommen?« Fichtner nickte. Ihm fiel auf, dass sein Bruder sich verändert hatte. Irgendetwas an ihm war anders geworden, er war nicht mehr so, wie er ihn in Erinnerung behalten hatte, doch ihm fiel nicht ein, was es war. Vielleicht die funkelnden Augen? Als Wilhelm plötzlich wie ein Getriebener aus seinem Sessel hochfuhr, schrak Robert zurück. Beim Zurückweichen fiel sein Blick zufällig auf den Boden und er erkannte mit wachsender Erregung, dass die Musterung der Holzdielen furchtbar nah war und sich wie Kraterlinien ausnahmen, in die man versinken konnte. Der Salon schien ihm kleiner und enger zu werden. Eine panische Beklemmung kroch in ihm hoch und er wollte Wilhelm um Hilfe bitten, doch der Bruder war verschwunden. Stattdessen lag eine geräumige altmodische Saffianbrieftasche auf der Sitzfläche des Sessels. Das schwarze Portefeuille war künstlich genarbt und mit einem Klemmöffner versehen. Ein abgestandener, modriger Geruch entströmte ihm und der Sektionsrat blickte sich verwundert nach seinem Bruder um. Weder hatte er ein Öffnen der Tür noch sonstige Geräusche gehört. Er gab sich einen Ruck. Mit tippelnden Schritten näherte er sich der Tasche. Ein wütendes Lächeln verzerrte auf einmal sein Gesicht, als er nach ihr griff.

Er zog den Verschluss auf, spürte dabei, wie sich das feine, weiche Ziegenleder an seine Handflächen schmiegte. Robert fuhr mit den Fingern in den Beutel hinein, tastete mit den Fingerspitzen die Innenseite ab, bemerkte die Stellen, an denen das Leder nur fahrlässig appretiert worden war, und erschauderte voller Ekel. Als er die Hand wieder aus der Tiefe der Tasche zog, hatte sich die Schere eines Skorpions daran verfangen. Der Sektionsrat betrachtete das Tier mit einer Mischung aus Verblüffung und Unbehagen. Nur undeutlich konnte er den Ansatz des Vorderkörpers erkennen, während der zweigeteilte Hinterleib mit seiner schwanzartigen Verlängerung ihm offenkundig vor Augen trat. Robert hielt sich die Hand vor das Gesicht, beugte sich zu dem Tier vor, um es besser betrachten zu können, und sah die Kieferklauen in grotesker Vergrößerung vor sich.

Der Skorpion fixierte ihn mit seinem Augenpaar und der Sektionsrat fühlte immer stärker den Druck, den die Scheren an seinem Handballen verübten, bis ihm das Blut über die Handfläche rann und zu Boden tropfte. Ein schauerlicher Aufschrei, bar alles Menschlichen, entrang sich seiner Brust, als über den Kopf des Ungeheuers hinweg der Stachel zum Einsatz kam und sich in sein Fleisch bohrte. Alle entsetzlichen Eindrücke dieses Augenblicks durchwühlten Fichtners Geist, ließen ihn erstarren und geradewegs auf die Diele fallen. Es war ihm, als täte sich für einige Sekunden etwas vor ihm auf, ein Licht oder zumindest ein kleiner Funke, der seine Seele erhellte, doch dann herrschte nur noch eine tiefe und dunkle Finsternis um ihn herum. Ab und zu öffnete er noch die Augen und konnte beobachten, wie der muskulöse Schlund des Vieches wie eine Pumpe den breiigen Fetzen, der eben noch Haut, Sehnen und Fleisch an seinen Fingerknochen gewesen war, in den Magen saugte.

Als Robert Fichtner langsam erwachte, kam er noch ziemlich lange nicht zu vollem Bewusstsein. Erst nach zwei Stunden begann der Sektionsrat allmählich zu verstehen, dass er in seiner Wohnung nackt hingestreckt auf dem Boden lag, neben ihm eine Lache Erbrochenes, deren säuerlicher Geruch ihm in die Nase fuhr. Er hustete, kam mühsam auf die Beine, zog sich an und schleppte sich zum nächstbesten Sessel, in den er sich erschöpft fallen ließ.

Fichtners Blick schweifte durch den Salon. Keine Spur von einem Skorpion, auch keine Saffianbrieftasche. Einzig umgekippte Möbel und der Gestank von Tabak, Galle und halbverdauten Nahrungsresten. Durch die geöffneten Vorhänge drang die Helligkeit des neuen Tages, und das hereinfallende Licht ließ warm und belebend die Staubpartikel in der Luft tanzen.

Er hielt sich den Schädel, da dieser pochte, als ob man ihm mit einem Hammer gegen die Stirn geschlagen hätte, und verfluchte in einem geheiligten Zorn den Meraner Kurgast, der ihm die Pilze angedreht hatte. Darauf trottete er ins Badezimmer, wo er Wasser ins Lavabo einlaufen ließ und sich das Gesicht wusch. Als er sich gerade daranmachen wollte, den Unrat der vergangenen Nacht wegzukehren, vernahm Fichtner erneut ein Klingeln an der Haustür.

Erfüllt von melancholischen Gedanken schlurfte er zum Eingang.

»Robert?«, klang es dumpf durch das dicke Holz der Tür. »Robert Fichtner? Bist du da? Hier ist von Warnstedt. Mach auf, Robert, es ist wichtig!«

3. Kapitel

Wilhelms Blick hatte sich getrübt, seine Augen brannten. Ein heiseres Husten schüttelte ihn schmerzhaft und rief ein unangenehmes Stechen hervor. Seine Mitspieler erkannte er nur noch vage durch den rauchgeschwängerten Raum, der Alkohol hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und den Körper in dichten Nebel gehüllt. Er rieb sich über die Stirn, betrachtete das Blatt, das er in der Hand hielt, und seufzte tief. Eine kleine Chance hatte er, eine winzig kleine – seine letzte.

Die Nacht war schon längst hereingebrochen. Die Petroleumlampe, an einer Kette über dem Tisch hängend, verströmte trübes Licht, die Schatten in den Ecken erschienen tief und unergründlich. Sie saßen alle schon seit Stunden in diesem engen, kleinen Zimmer, spielten, rauchten, tranken und sprachen wenig.

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