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Berlin 1865. Julius Bentheim, junger Student der Rechte, verdient sich ein Zubrot als Tatortzeichner. Als eine Prostituierte bestialisch ermordet wird, begleitet er die Ermittlungen. Da alle Beweise gegen den Philosophieprofessor Botho Goltz sprechen, wird dieser vor Gericht gestellt. Julius verfolgt die Verhandlung gegen den vermeintlichen Mörder. Schon bald erkennt er die undurchsichtige Strategie des Professors, an deren Ende die Kapitulation des preußischen Rechtsapparats stehen könnte …
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Seitenzahl: 288
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Armin Öhri
Die dunkle Muse
Historischer Kriminalroman
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© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book (2014): Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Frau in der Badewanne« von Edgar Degas; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edgar_Germain_Hilaire_Degas_032.jpg
ISBN 978-3-8392-3910-0
Für Wilkie
Herbei, herbei, der Tag bricht an,
Der Tag voll Furcht und Schrecken,
Der Tag, der alles auf die Bahn
Wird bringen und entdecken.
Der Tag des Grimms, der Tag des Zorns,
Der Tag der ernsten Rache,
Der Tag des Stachels und des Dorns,
Der ungerechten Sache.
(Angelus Silesius: ›Das jüngste Gericht‹)
Den Tag ihrer Ermordung begann Lene Kulm auf gewohnte Art und Weise. An jenem 12.Juli des Jahres 1865 schlief sie bis 11 Uhr und machte sich dann auf den Weg zum Schlachthof, wo sie bis in den späten Nachmittag hinein die wertlosen Knochen und Sehnen der abgestochenen Schweine und Kühe einsammelte und in massiven Eisenkübeln entsorgte. Es war eine üble, schlecht bezahlte Tätigkeit. Aber der Arbeitsplatz wurde ihr von niemandem streitig gemacht, und das Geld brauchte sie für ihre Wohnungsmiete. Lene war jung, knapp über die 20 hinaus. Sie sah nicht so verlebt aus, wie es ihr Lebenswandel vermuten ließ, und mit ihrem ovalen Gesicht und den dunkelgrünen Augen konnte man sie sogar als hübsch bezeichnen.
Mechanisch sammelte sie die Reste auf, die von den Schlachtern übrig gelassen worden waren, und bespritzte die Eisengitter am Boden mit frischem Wasser. Rötliche Seen bildeten sich um die Abflussrohre. Einige ihrer Arbeitskollegen wechselten ein paar Worte mit ihr, doch Lene nickte bloß geistesabwesend. Das in die Kanalisation rinnende Tierblut erinnerte sie an die Wortgefechte der letzten beiden Nächte. Wie immer, wenn sie ihre Regelblutung hatte, wurde sie von ihrem Freund beleidigt, verprügelt und gedemütigt. Sie dachte wehmütig an den Abend, an die Zeit nach Sonnenuntergang, wenn sie versuchen würde, ein paar Freier anzuwerben.
Naturgemäß war ihr zweites Einkommen während ihrer Menstruation geschmälert. Doch es fanden sich immer wieder Kunden, die weniger wählerisch waren. An diesem Tag nahm sie ihr Abendbrot in einer verrauchten Kaschemme ein. Als sie bezahlt hatte, suchte sie den Abort auf, um sich frisch zu machen. Der Vorraum war eng und besaß nicht einmal einen Spiegel über dem Waschbecken. Lene griff in ihre linke Rocktasche und zog einen Taschenspiegel, eine Quaste und eine billige Puderdose hervor. Sie schminkte sich hinreichend und öffnete die oberen Knöpfe ihrer Bluse. Mit fahrigen Bewegungen zupfte sie an ihrem Unterhemd, bis der Graben zwischen ihren Brüsten deutlich zu sehen war. Daraufhin bewegte sie die Schultern, erst nach rechts, dann nach links, und vergewisserte sich, dass die Warzenvorhöfe sichtbar, die Brustwarzen selbst aber bloß zu erahnen waren.
Sie beugte sich vor, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Bauchpartie verdeckt war, falls das Unterhemd verrutschte. Niemand sollte die Blutergüsse bemerken; sie würden die Kunden nur abschrecken. Gregor, ihr Freund, schlug sie meist so, dass man die Verletzungen nicht sah. Naiv und geistlos, wie sie war, liebte sie ihn in ihrer Unbedarftheit sogar für diese Umsicht.
Lene Kulm betrachtete ihr Spiegelbild. Unmerklich nickte sie, als sie fand, dass ihr Aussehen für diesen Abend seinen Zweck erfüllen würde.
Nachdem sie die Kneipe verlassen hatte, schlug sie den Weg zur Spree ein. Sie schlenderte den Damm entlang, bis sie zum Friedrichswerder gelangte. Neben dem würfelförmigen Gebäude der Bauakademie standen früher die Packhöfe und einige Bürgerhäuser, doch Karl Friedrich Schinkel, der berühmte Architekt, hatte sie abreißen lassen. Im Lichtkreis einer Laterne hielt Lene inne. Ihre Beine taten weh und sie rieb sich die Unterschenkel. Links lag der Fluss mit seinen vertäuten Lastkähnen, rechts erhoben sich die Fassaden einiger Mietshäuser, geradeaus erblickte die junge Frau die Akademie. Sie mochte diesen modernen Stil nicht. Der viergeschossige Komplex mit seinen geometrisch angeordneten Fenstern ließ sie an das Rastersystem amerikanischer Straßen denken. Sie war noch nie aus Berlin herausgekommen, doch genau so kühl und unnahbar stellte sie sich die fortschrittliche Neue Welt vor. Der einzige Grund, diesen Platz aufzusuchen, war der Park, dessen Sträucher und Bäume ausreichend Schutz boten, damit Lene ihrer Arbeit nachgehen konnte.
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