Der Bund der Okkultisten - Armin Öhri - E-Book

Der Bund der Okkultisten E-Book

Armin Öhri

4,3

Beschreibung

Silvester 1865: Im Landschloss Buckow feiert man den Ausgang des Jahres mit einer Séance. Der Zufall will es, dass dreizehn Gäste anwesend sind - eine Unglückszahl! Prompt liegt am nächsten Morgen eine Leiche im Schlosspark. Da die Berliner Presse reißerisch von einem Fluch spricht, gründet Albrecht Krosick spaßeshalber einen Bund der Okkultisten, der bewusst aus dreizehn Leuten besteht. Wider Erwarten gibt es weitere Tote. Albrecht und sein Freund, der Tatortzeichner Julius Bentheim, ermitteln.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 241

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,3 (40 Bewertungen)
21
13
2
4
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Armin Öhri

Der Bund der Okkultisten

Julius Bentheims zweiter Fall

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:1827_Oehme_Burg_Scharfenberg_bei_Nacht_anagoria.JPG

ISBN 978-3-8392-4294-0

Widmung

Für Edwin

Zitat

Er stürzt auf mich in entsetzlicher Wut,

er saugt aus Gliedern und Wangen das Blut;

aus Lippen und Mund er den Atem mir saugt

und Grabesluft in die Brust mir haucht.

(Johann August Apel: ›Das Schreckbild‹)

Erstes Kapitel

Am Silvesterabend 1865 trafen sich die Gäste zur Geisterbeschwörung, und niemand unter ihnen ahnte, dass sie am Ende der Nacht tatsächlich Kontakt mit einer Leiche haben würden. Als Schauplatz der Feierlichkeiten diente das Landschloss Buckow, dessen zeitweiliger Mieter, Baron Valentin von Falkenhayn, zu einem reichhaltigen Dinner mit anschließender spiritistischer Sitzung geladen hatte. Die Zufahrt des zweistöckigen Herrenhauses mit Wendeplatz für Droschken und Reisewagen war leicht erhöht und führte zum Eingangsportal. Über einer schmalen zweiflügligen Tür war eine halbkreisförmige Fensterrose angebracht, wodurch die Halle tagsüber an Licht gewann.

Es ging auf 19 Uhr zu, als ein von zwei Pferden gezogener Landauer von der Hauptstraße auf das Grundstück des Schlosses einbog. Der junge Herr, dessen Gesicht im Seitenfenster sichtbar wurde, betrachtete die vom Mond beschienene Gegend. Über den Gartenanlagen lag Schnee, eine weiße Pracht, die im Glanz des Nachtgestirns flimmerte und den Passagier in der Kutsche in eine Märchenwelt versetzte. Wie mit Puder bestäubte Tannenwipfel huschten am Wagen vorbei, die Pferde wirbelten mit ihren Hufen das frische Pulver auf. Die Parkanlage mit ihren streng geometrisch angelegten Blumenbeeten mutete barock an. Der Landauer nahm eine Kurve, um auf die ersten Wirtschaftsgebäude zuzuhalten, die dem Schloss vorgelagert waren, und der Insasse wandte den Blick ab, da ihn sein Gefährte angesprochen und aus den Gedanken gerissen hatte.

»Es war nett von Gideon, uns an seiner statt aufs Land zu schicken«, meinte der Reisende in unverfänglichem Plauderton. »Er hat es nicht leicht als Polizeikommissar: immer im Dienst, stets zur Stelle, wenn andere dem Vergnügen nachjagen. Ach, was sage ich, Julius! Andere? Wir! Wir amüsieren uns, wir sind es, die die Korken knallen lassen.«

Ein sanftes Lächeln kräuselte Julius Bentheims Lippen, als er seinen Freund so reden hörte. Am späten Nachmittag waren sie in Berlin aufgebrochen, die beiden Studienkollegen, die in der Nähe der Friedrich-Wilhelms-Universität gemeinsam unter dem Dach einer verwitweten Offiziersgattin wohnten. Albrecht Krosick hieß der ältere von ihnen, und er hatte seinen Kommilitonen dazu überredet, den Ausflug aufs Land zu wagen. Der Vorschlag, Silvester in der Märkischen Schweiz zu feiern, war von Gideon Horlitz gekommen, einem Kommissar der preußischen Gendarmerie, mit dem die beiden Studenten der Rechte befreundet waren.

»Eigentlich sind meine Gattin und ich eingeladen«, hatte Horlitz erklärt, als Albrecht ihm im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow am Molkenmarkt über den Weg gelaufen war, »aber ich bin zum Dienst eingeteilt, und meine Clara möchte nicht allein reisen.«

»Und der Herr des Hauses ist darüber informiert, dass Sie Ersatz schicken?«

»Ich kann ihm ein Billett senden, wenn Sie dies möchten. Er wird nichts dagegen haben, Albrecht. Sie sind von mir empfohlen.«

»Das ehrt mich. Aber werden wir nicht fehl am Platze sein?«

»Wir?«

»Pardon. Es versteht sich von selbst, dass ich Julius mitnehme. Der arme Kerl soll endlich auf andere Gedanken kommen. Es ist nicht auszuhalten mit ihm, seit seine Freundin verschwunden ist. All diese Verdrießlichkeit, Herr Kommissar. Es ist ein Jammer.«

Gütig klopfte ihm Horlitz auf die Schulter.

»Ja, nehmen Sie ihn mit, eine vorzügliche Idee …«

Vom Küstriner Bahnhof aus waren die Studenten nach Osten gefahren, indem sie die Strecke nahmen, die künftig Königsberg mit der Hauptstadt verbinden sollte. Kurz vor Strausberg, wo das Schienennetz zu Ende war, stiegen sie aus und winkten einen Landauer heran. Nun holperten die Kutschenräder über den knirschenden Schnee, und im Licht einer tranigen Laternenfunzel beobachtete Albrecht Krosick seinen Begleiter.

Julius Bentheim würde bald seinen 20. Geburtstag feiern. Seine braunen Haare hatte er mit Pomade eingestrichen, was ihn daran hinderte, einen Hut zu tragen, doch die Konturen seines Gesichts und vor allem der leicht melancholische Stich in den Augen kamen somit zur Geltung und verliehen ihm ein Flair sonderbarer Eleganz und Anziehung. Albrecht war nur wenig größer als sein Freund, dabei etwas hagerer und von fröhlichem Naturell, was er an diesem Tag wohlweislich unterdrückte.

Draußen tauchte ein Wirtschaftsgebäude vor ihnen auf, eine Fachwerkscheune mit Unterstand für Leiterwagen und Lagerplätzen für Getreidegarben. Wenig später teilte ihnen der Kutscher durch das Sprachrohr mit, man erreiche in Kürze Schloss Buckow.

Der Landauer verlangsamte die Fahrt, bis er schließlich auf einem von Fackeln und Gaslaternen erhellten Vorplatz hielt. Bentheim öffnete den Verschlag und stieg aus dem Wagen. Als er sich umsah, erblickte er weitere Kutschen – mehrere einfache Kaleschen, aber auch eine pompös ausgestattete Berline mit Wappen am Kutschkasten. Daneben stand ein Stallbursche, angelegentlich damit beschäftigt, ein sich aufbäumendes Pferd im Zaum zu halten. Der Student verfolgte das Geschehen, bis sein Augenmerk auf zwei in dicke Paletots gehüllte Diener fiel, die an sie herantraten. Während der eine von ihnen den Kutscher instruierte, wo er sein Gefährt abstellen könne, begrüßte der andere die beiden Neuankömmlinge.

»Wenn Sie mir bitte folgen möchten, die Herren«, meinte er schließlich. »Der Herr Baron erwartet Sie.«

Bentheim flüsterte Albrecht zu: »Du hast nichts von einem Baron gesagt, als du mich eingeladen hast.«

»Valentin Baron von Falkenhayn. Ich dachte, es sei nicht von Belang.«

»Nicht von Belang?«, zischte er. »Wie spricht man einen Baron an? So etwas sollten wir wissen.«

»Mit: Seine Hochwohlgeboren. Oder einfach als Herr von Falkenhayn. Sei unbesorgt, Julius, der Abend wird köstlich. Es werden einige Freunde von uns anwesend sein. Wir sind nicht gänzlich unter Fremden.«

Bentheim atmete tief durch, als er ins Gebäude geführt wurde.

Über der Halle, die sie betreten hatten, nur durch eine geschwungene Treppe erreichbar, befand sich eine Bildergalerie mit Porträts von Mitgliedern der pommerschen Grafenfamilie Flemming. Inmitten der Gemälde prangte ihr Stammwappen: ein springender Wolf mit roter Zunge und bewehrt mit roten Klauen. Der Diener deutete nach rechts, wo einfache Wandnägel aus der Mauer ragten und einige Kleiderhaken für die Mäntel angebracht waren. Die Einlegebretter eines offenen Schranks, dem die Türen fehlten, dienten als Hutablage.

»Hier, mein werter Nomenclator«, meinte Albrecht schalkhaft, als er dem Mann ein paar Münzen in die Hand regnen ließ und ihm seinen Überwurf reichte. »Gehe er und melde unsere Ankunft.«

»Zu gütig«, erwiderte der Mann ungerührt und beschied ihnen mit ausholender Armbewegung, ihm zu folgen. Der Domestike führte sie in einen auf angenehme Temperatur aufgeheizten Saal, der sich als rundgewölbte Halle quer durch die Mitte des Gebäudes zog. Links befanden sich zwei gedeckte Tafeln. Rechts, neben einer Doppeltür, erhob sich eine Standuhr. Zur Gartenseite hin schloss eine Glasfront den Raum ab, die bei Tageslicht den Blick auf die unvergleichliche Anmut der Buckowschen Natur freigegeben hätte. Der Ort lag in einem Talkessel, der in der Eiszeit entstanden war, umgeben von fünf Seen und einer bewaldeten Hügelkette. Da man das Innere des Saals nur spärlich ausgeleuchtet hatte, glitzerte das schneebedeckte Panorama umso heller und entfaltete einen Reiz, dem sich der Betrachter nur schwer entziehen konnte. Eine kleine Ansammlung von Leuten – etwa ein Dutzend Männer in Damenbegleitung – stand an den Fenstern und genoss die Aussicht. Einige drehten sich um, als der Diener die Studenten ankündigte, und ein blondhaariger Mann in Frack und Röhrenhose löste sich von der Gruppe und trat auf sie zu.

»Willkommen, die Herren! Gerade noch pünktlich für das Hors-d’œuvre. Sie müssen Kommissar Horlitzens Ersatz sein. Jung und kräftig, der preußische Nachwuchs eben«, meinte er jovial und reichte beiden die Hand. Ein heller Streifen an seinem Hals zeigte die vernarbte Stelle einer alten Verwundung an. »Gestatten, Baron Falkenhayn. Gesellen Sie sich zu unserer Gruppe, Herr … Krosick?«

»Bentheim. Julius Bentheim. Mein Freund hier ist Herr Krosick.«

»Wunderbar. Prächtig. Kommen Sie, ich mache Sie mit den Damen und Herren bekannt.«

Mit der Grandezza eines Mannes von Welt dröhnte die Stimme des Barons durch den Saal: »Meine Freunde, ich darf vorstellen: die Herren Bentheim und Krosick. Preußens Jugend, unsere Zukunft.«

»Hört, hört!«, vernahm man die Stimme eines Mannes, der an sie herantrat. »So sieht man sich wieder. Ich hoffe, Sie beide sind nicht beruflich hier. Unser letztes Treffen stand ja unter keinem guten Stern, wenn man den Ort der Begegnung bedenkt.«

»Sie kennen sich?«, fragte der Baron.

»Wir verkehren bei Frau Lewald«, antwortete der Mann, dessen Augen jugendlich funkelten. Die Haare seines Schnurrbarts waren ein wenig länger als bei ihrem letzten Treffen, und die Koteletten wucherten wie wildes Torfmoos. »Vor drei Monaten hatten wir das letzte Mal durch die Affäre Goltz miteinander zu tun.«

»Oh, der Mordfall Kulm. Scheußliche Sache das«, meinte der Gastgeber. »Da Sie Salongäste bei Frau Lewald sind, werde ich Anweisung geben, die Tischorder zu ändern. Es sind noch einige Literaten hier, wenn ich mich nicht irre, nicht wahr, Theodor? Doch nun entschuldigen Sie mich, ich möchte mich erkundigen, wann die Vorspeisen aufgetischt werden.«

Er verbeugte sich, und Julius, Albrecht und Theodor Fontane sahen ihm nach.

»Ein Mann nach meinem Geschmack«, äußerte Krosick. »Kennen Sie sich schon lange?«

Fontane, der Schriftsteller und Journalist der Neuen Preußischen Zeitung, die ihres eisernen Kreuzes im Titel wegen bloß die Kreuz-Zeitung genannt wurde, schüttelte den Kopf. »Mitnichten, der Herr Baron ist ja auch erst seit wenigen Monaten im Land. Ich wurde durch Balduin Möllhausen in diese Kreise eingeführt. Er ist heute Abend übrigens auch hier.«

»Dieser Reichtum«, entfuhr es Julius staunend, »ist bemerkenswert.«

»Bemerkenswert, aber gemietet«, erklärte der Dichter. »Der Herr Baron ist nur zeitweilig hier. Das Schloss gehört der Familie Flemming. Betrachten Sie die Kassetten an der Decke – eine Arbeit von Karl Friedrich Schinkel. Da war er noch jung und hatte sich noch nicht die Flausen in den Kopf gesetzt, ganz Berlin mit seinem Klassizismus zuzupflastern.«

»Woher sind Sie nur so bewandert in diesen Dingen?«

Fontane lächelte: »Ich zitiere mich selbst, junger Bentheim. Schlagen Sie in meinen ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ nach; ich glaube, da habe ich geschrieben, Buckow und sein Schloss verleiten zum Schwärmen, Träumen und Dichten. Aber wir sprachen eben über Falkenhayn …«

»Genau, was wissen Sie über ihn?«

Der Mann ließ den Blick über die Menschengruppe gleiten, die sich allmählich von der Fensterfront löste, kraulte sich den Backenbart und deutete auf die Tafel. »Unterhalten wir uns doch bei Tische weiter.«

Wenig später, als die beiden Studenten und der Literat Platz genommen hatten, griff Fontane den Faden seines Berichtes wieder auf. Sie saßen am unteren Ende des Tisches, flankiert von zwei jungen preußischen Soldaten in Uniform und einem 40 Jahre alten komischen Kauz mit wallendem Bart in einer Art nordamerikanischer Trapperkleidung. »Der Baron stammt aus Frankfurt«, erklärte Fontane. »Nicht aus dem hessischen Frankfurt, sondern aus dem an der Oder. Alter Adel, lange Zeit verarmt, aber dem guten Valentin ist es gelungen, das Familienvermögen aufs Neue anzuhäufen und zu konsolidieren. Er hat ein glückliches Händchen bewiesen, indem er in den Fremdenverkehr investierte. Wären Sie nachmittags angekommen, hätten Sie die vielen Villen im Heimatstil bemerkt. Die meisten davon gehören dem Baron. Vor zwei Jahren ließ er sie bauen, und nun, da die Ostbahn reiche Ausflügler von Rang und Namen zur Sommerfrische in die Märkische Schweiz führt, klingelt die Kasse.«

»Und gibt es denn auch eine hübsche Baronin?«

Bentheim schmunzelte, denn es war wohl unvermeidlich gewesen, dass sein Freund Albrecht nach einer Frau fragen musste. Fontanes Antwort kam zögernd. Ein Diener trat an sie heran, um kleine Häppchen zu servieren und den leicht herben Berliner Wein einzuschenken.

»Es gab eine«, erklärte er schließlich. »Leider ist sie verstorben. Das muss vor einigen Jahren gewesen sein, als der Baron für längere Zeit in Übersee weilte. Aber er hat eine Tochter, Babette, ein junger Wildfang von 14 Jahren, die sein ganzer Sonnenschein ist.«

»Fürwahr, ein prächtiges Dämchen«, meldete sich der Herr in der seltsamen Aufmachung zu Wort. »Reif und verspielt zugleich – ich habe sie heute kennengelernt.«

Er deutete mit einem Kopfnicken zum zweiten Tisch hinüber, an dem der Baron die anderen Gäste unterhielt. Ein Mädchen in einem weit geschnittenen roten Kleid, das mit Spitze verziert war, saß neben ihm. Sie lachte herzhaft, fuhr sich mit den Fingern durch die braunen Locken, die bis auf ihre Schultern fielen, und hakte sich mit dem Arm bei ihrem Vater unter. Eine Geste, die mancher Herr insgeheim mit neidischem Blick verfolgte.

»Ein Bild für die Götter!«, meinte ihr Tischnachbar, den Julius unschwer als Balduin Möllhausen erkannt hatte, den berühmten Amerikareisenden und Schriftsteller von Abenteuerromanen. »Bei den Indianern wäre sie bereits mannbar.«

»Aber nicht doch …«

»Ist doch wahr, Theodor. Bei den Mohave hätte man sie längst am ganzen Körper tätowiert und danach an einer Biegung des Colorado-Rivers stundenlang beglückt.«

»Die Mohave, ist das ein Verein, bei dem ich Mitglied werden kann?«, sagte Albrecht grinsend und hob sein Glas.

»Hört, hört! Auf die Mohave!«, rief einer der beiden Soldaten neben ihnen und stieß mit dem Studenten an.

Das Gespräch nahm seinen Gang, und im Verlauf des Abends machten sich alle miteinander bekannt. Julius und Albrecht erfuhren die Namen der zwei Militärs: Es waren Sekondeleutnant Friedrich Caspari sowie Grenadier-Hauptmann Anton Birkholz, beide aus dem Regiment von Braunschweig. Von ihnen erfuhr die Gruppe, dass der Herr am Nebentisch, der links vom Baron Platz genommen hatte, Helmuth Karl Bernhard von Moltke war, der Chef des preußischen Generalstabes. Somit trug er den Titel Generalmajor von Moltke.

Weitere namentlich bekannte Gäste der Soirée waren Joachim Arnd, der feiste Dorfapotheker, dessen Pausbäckchen rot leuchteten, und Nikolaus Gruben, ein im Seidenhandel tätiger Geschäftsmann. Ihnen beigesellt hatte sich Herrmann Goedsche, ein Literat mit prächtigem Schnurrbart samt Koteletten, aber von schmächtiger Statur. Er war ein wenig jünger als Fontane und alle sprachen sie ihn ausnahmslos als Sir John Retcliffe an, denn unter diesem Pseudonym veröffentlichte er prächtige Sensationsschmöker voller Liebeswirren und gefährlicher Situationen.

Während des Hauptgangs – es wurde ein Frikassee Berliner Art aufgetischt, ein Ragout aus Hühnerfleisch mit Kalbszunge und Kalbsbries – beugte sich Balduin Möllhausen zu Fontane und meinte: »Es soll heute Abend eine Unterhaltung geboten werden, eine von der eher spiritistischen Art. Ein extra hypnotisiertes Medium wird für uns Kontakt mit der Geisterwelt aufnehmen.«

»Ich habe davon gehört. Alter Humbug von anno 1800, wenn Sie mich fragen«, bemerkte Fontane.

»Sie sind kein Anhänger des Animalischen Mesmerismus?«, fragte Bentheim.

Der Dichter führte eine Gabel zum Mund und meinte schmatzend: »Wie gesagt, Franz Anton Mesmer liegt unter der Erde und ich setze keinen Kreuzer auf die Wirksamkeit seiner Theorien.«

Möllhausen lachte lautstark, säuberte mit der Serviette die Mundwinkel und sagte: »Meine Rede, lieber Theodor, aber amüsant wird es allemal werden.«

Sie aßen zu Ende, wobei sie sich angeregt über die neuesten Auswüchse von Bismarcks Politik unterhielten und gleichzeitig gespannt darauf warteten, dass der Herr des Hauses das Signal für die spiritistische Sitzung geben würde.

Nach dem Dessert war es soweit: Baron von Falkenhayn schlug mit der Klinge seines Messers an ein Sektglas. »Meine liebreizenden Damen, meine Herren! Dürfte ich um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten? Jene unter Ihnen, die an einem Kontakt mit der jenseitigen Welt interessiert sind, mögen mir sogleich zur Bildergalerie folgen; in der oberen Etage wurde hierfür ein Zimmer eingerichtet. Alle anderen werden weiterhin verköstigt, und natürlich gibt es auch hier ein passendes Rahmenprogramm.«

Er klatschte in die Hände, woraufhin eine Flügeltür geöffnet wurde und zwei Diener ein schwarzes Klavier hereinrollten, das sie leicht abgewinkelt an die Glasfront stellten. Der eine Bedienstete deponierte einen Kerzenleuchter auf dem Gehäuse und entfachte die Lichter. Ein junger Pianist in weißem Hemd mit Vatermörder und schwarzer Bauchbinde trat heran und setzte sich.

Applaus brandete auf, und einige der weiblichen Gäste umringten den Musiker.

Der Baron lächelte, als er bemerkte: »Nun, die Damen scheinen ihre Wahl getroffen zu haben. Wem aber der Sinn nach Übersinnlichem steht, der schließe sich mir an.«

Julius sah es als ausgemachte Sache, die spiritistische Sitzung zu besuchen. Im Salon von Fanny Lewald hatte er zur Genüge das Geklimper von mehr oder minder begabten Pianisten erlebt. Eine Geisterbeschwörung war da schon eher etwas Einmaliges, etwas, worüber man in den kommenden Tagen und Wochen noch reden würde. Er stand auf und gesellte sich mit Albrecht zu der kleinen Gruppe, die sich um den Baron zu bilden begann. Sie waren zu zehnt, als sie schließlich ins obere Stockwerk stiegen, vorbei an dunklen, schweren Ölgemälden. Valentin von Falkenhayn postierte sich vor einer Eichentür, deren Klinke er umgriff. Dicht gedrängt standen seine Gäste im Flur und warteten gespannt. Mit einer theatralischen Bewegung ließ der Baron die Tür aufschwingen …

Später an diesem Abend, als sich alle wieder unten im Speisesaal eingefunden hatten, diskutierte man das Erlebte. Die Literaten waren sich darüber einig, Zeugen eines amüsanten Schabernacks gewesen zu sein, und auch die restlichen Gäste sahen das Spiritistische eher als einen weiteren Punkt auf der Liste der abendlichen Unterhaltungen. Bald hing man anderen Gedanken nach und verfolgte erregt das viel zu langsame Vorrücken des Zeigers an der großen mechanischen Standuhr. Ein jeder hielt ein Sektglas in der Hand, um beim mitternächtlichen Glockenschlag mit den Nächststehenden anzustoßen.

»Irgendwelche Vorsätze fürs neue Jahr gefasst, Albrecht?«

»Ich werde weniger dichten.«

Julius lächelte in sich hinein, doch Theodor Fontane machte ein betrübtes Gesicht. »Nicht doch, Herr Krosick. Nichts geht über einen Leberreim.«

»Aber sie hängen einen zum Hals raus«, warf Julius ein. »Und nicht nur mir. Auch unsere Vermieterin Frau Losch kann sie nicht mehr hören.«

»Falls Sie diese urdeutsche Tugend aufgeben, müssen Sie zuerst passenden Ersatz finden. Das sind Sie der Tradition schuldig. Wenn Herr Bentheim Sie da nicht eben auf eine Idee gebracht hat, indem er Ihre Hauswirtin erwähnte, weiß ich mir nicht zu helfen.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Ihre Frau Wirtin, Herr Krosick, Ihre Frau Wirtin.«

»Herrje, Herr Fontane, jetzt haben Sie mir was Schönes angerichtet«, seufzte Julius und nippte verdrossen an seinem Glas. Albrecht hingegen strahlte wie ein Mondkalb.

»Sie sind ein Genie!«, rief er jovial. Der viele Alkohol, dem er bereits zugesprochen hatte, begann seine Wirkung zu entfalten. »Wahrlich, ein originäres Jahrhundertgenie. Sie hätten im Sturm und Drang leben sollen, Herr Poet. Das Jahr 1866, so will ich es hier und jetzt kundtun, wird unter dem Banner der Frau-Wirtinnen-Sprüche stehen.«

»Beginnen Sie noch heute mit einem«, forderte ihn Fontane auf, wobei ein schelmischer Zug seine Augen umspielte. »Bald schlägt es Mitternacht. Sie müssen üben, Krosick. Üben, üben und nochmals üben!«

»Gleich jetzt? Aus dem Stegreif?«

»Gleich jetzt«, unterstützte ihn Balduin Möllhausen mit sichtlichem Vergnügen. »Ein schlichtes Reimschema, Herr Krosick: aabxb. Lediglich fünf Verse – das werden Sie wohl noch hinkriegen?«

»Nun gut, ich will mir nicht nachsagen lassen, ein Angsthase zu sein.«

Er räusperte sich mit der entschlossenen Miene eines sündenfreien Christen beim Anblick des Teufels. Einige der Gäste verstummten und wandten ihr Augenmerk dem Studenten zu, der gewichtig mit dem Finger an sein Sektglas schnippte. Erwartungsvoll sahen sie ihn an. Albrecht Krosick schaute in die Runde, kratzte sich nachdenklich an der Schläfe und hüstelte mit gespielter Verlegenheit, bevor er lautstark deklamierte:

»Frau Wirtin feierte Silvester

mit 15 Mann und ihrer Schwester.

Und an Neujahr war sie besoffen,

da stand ihr Allerheiligstes

für alle Gäste offen.«

Eine ältere Dame, die eine Krinoline zur Schau trug, deren Rockstoff am Bund in tiefe Falten gelegt war, sah ihn entsetzt an. Ihr Begleiter, ein ebenso alter Herr mit am Auge eingeklemmtem Monokel, schüttelte kaum merklich den Kopf. Möllhausen und Fontane unterdrückten ein Lachen. Hilflos, nach Unterstützung heischend, blickte Albrecht seinen Freund an.

Doch bevor Julius etwas unternehmen konnte, um die Situation zu retten, erscholl ein jauchzendes, die Peinlichkeit überspielendes Jungmädchenlachen von der Tochter des Gastgebers. Babette von Falkenhayn rief übermütig in die Runde: »Noch ein Vers! Hurra! Noch ein Vers!«

Sie musste sich seit dem Dinner umgezogen haben, denn sie war nun in eine dunkelrote Zuavenjacke gewandet, taillenkurz und boleroähnlich mit schräg geschnittener Front. Albrecht lächelte sie an und zwinkerte voller Erleichterung mit dem Auge, und die restlichen Minuten bis kurz vor Mitternacht frönte die Abendgesellschaft einem lustigen Zeitvertreib: dem Improvisieren neuer Frau-Wirtinnen-Verse.

Als das neue Jahr gerade einmal vier Stunden alt war, verabschiedeten sich die ersten Besucher. Generalmajor von Moltke ließ Sekondeleutnant Caspari nach einer Kutsche rufen, und der Grenadier-Hauptmann Birkholz gesellte sich ihrer Fahrgemeinschaft hinzu, sodass die drei Militärs als Erste die Zufahrt des Landschlosses hinabrollten und im aufgekommenen Dunst verschwanden.

Wenig später verließen die nächsten Gäste das Fest. Eine Gruppe junger Damen – allesamt Vertreterinnen der Buckower Dorfschönheiten – stand frierend auf dem Wendeplatz. Joachim Arnd, der pausbäckige Apotheker, trat ins Freie, rieb sich kurz die Hände und biss etwas von einer schneckenförmigen Rolle ab: Es war ein Priem von der größten deutschen Kautabakfirma, der Grimm & Triepel Kruse GmbH aus Kassel. In Schwaden trat der Atem aus dem Mund des Mannes und vermengte sich mit dem Nebel.

Julius und Albrecht gesellten sich dazu, in Begleitung des Mädchens, dem beinah die Augen vor Müdigkeit zufielen. Grinsend beobachteten die beiden Studenten die plumpen Versuche des Apothekers, bei den Damen Eindruck zu schinden. Arnd schmatzte unüberhörbar und ließ verlauten, er werde schon für eine Mitfahrgelegenheit sorgen, er sei schließlich ein Mann, ein Prachtkerl, der sein eigenes Gespann zu lenken wisse. Und als Beweis dafür, wie es um seine Männlichkeit bestellt war, spuckte er eine zähflüssige, klebrige Masse auf den mit Neuschnee bedeckten Vorplatz.

»Bleiben Sie, meine Schönheiten, meine Prinzessinnen, bleiben Sie«, sagte er lallend, »ich hole Ihnen meine Kutsche.«

Kräftig ausschreitend, stapfte er in den Nebel hinein, direkt auf die Wirtschaftsgebäude zu, während die Zurückgebliebenen plaudernd die Zeit überbrückten. Eine Feuerwerksrakete, irgendwo im Dorf abgeschossen, vermochte für ein paar Augenblicke den diesigen Dunst zu durchdringen und das Firmament zu erhellen, wobei das Buckower Landschloss in ein irisierendes Licht getaucht war. Von den Gesindehäusern her hörte man das Knirschen von Rädern auf Schnee, als der fidele Apotheker mit seinem Einspänner vorfuhr.

Es war das scheuende Pferd vom Vorabend, das bei der Ankunft der beiden Studenten kaum zu bändigen gewesen war, das Joachim Arnd nun mit seinen prankenhaften Händen am Zügel hielt. Er rollte vor den Eingang, erhob sich zu voller Größe und meinte mit angesäuselter Heiterkeit: »Einmal Buckow Zentrum, einfache Fahrt. Alles einsteigen!«

Albrecht war beflissen zur Stelle, als es darum ging, einer hübschen Blonden auf den Wagen zu helfen, und sie dankte es ihm, indem sie verschämt die Augen niederschlug. Arnd winkte die Nächste heran, und während er gestikulierte, erhob sich eine zweite Rakete in den Nachthimmel. Ein Surren kündete ihr Emporsteigen an, doch die erhoffte Schönheit ihrer Lichteffekte blieb aus. Stattdessen sauste sie von den fernen Dächern des Dorfes aus über den Schlosspark. Der Feuerwerkskörper – an einem hölzernen Stiel befestigt und aus losem, in eine Papphülse verpacktem Schwarzpulver bestehend – erreichte über dem Rosengarten den Scheitelpunkt seines Aufstiegs und explodierte mit einem durchdringenden Knall.

»Der Gaul!«, rief Julius intuitiv.

Doch es war zu spät …

Das Pferd, ein Kohlfuchs mit schwarzem Fell, Stichelhaar und leicht hellerem Langhaar, bäumte sich auf. Mit der Vermessenheit des Betrunkenen packte Joachim Arnd die Zügel fester und wickelte sie sich um die Hände. Für kurze Zeit begann sich die fieberhafte Erregung der Gäste zu legen, als der Apotheker sein Ross völlig in der Gewalt zu haben schien.

»Brr! Alarich, brr!«

Mit all seiner Kühnheit behauptete er seinen Platz und rief dem Pferd beruhigende Worte zu. Alarich schnaubte tief, seine Nüstern blähten sich, die Hufe klapperten auf dem Untergrund. Julius Bentheim tätschelte ihm den Rücken, und just als das Tier sich beruhigt hatte, verließen weitere Gäste das Haus – und das Zufallen der Tür, das sich in der morgendlichen Stille wie ein zweiter Knall ausnahm, ließ das Pferd mit einem Sprung nach vorn schießen.

Von seiner kaltblütigen Ruhe zu unwiderstehlicher Tätigkeit übergehend, stand der Apotheker im einen Augenblick noch mit gerötetem Gesicht auf dem Kutschbock, während er im nächsten bereits durch die Luft flog und hart auf eine der zwei hölzernen Anzen schlug, die bei einem Einspänner die Deichsel ersetzen.

Als der Karren einen Ruck tat, schrie die blonde Dame auf.

»Gott im Himmel!«, rief jemand aus der Gruppe, die im Schatten unter der Türlaibung stand. Ironischerweise war es John Retcliffe, der bisweilen religionskritische Autor, und er löste sich auch als Erster aus der allgemeinen Erstarrung, die von allen Besitz ergriffen hatte. »Ein Arzt!«, befahl er einem der Hausdiener. »Schicken Sie nach einem Arzt!«

Julius Bentheim blickte hilflos auf das Knäuel aus Armen, Beinen, zersplitterten Holmen und verwickelten Zugseilen. Joachim Arnd atmete schwer. Unter gewaltiger Kraftanstrengung hob er den Kopf und blickte dem Studenten ausdrucklos in die Augen. Als er zu sprechen anheben wollte, quoll ihm ein Strahl Blut aus dem Mund, während Alarich, zwei oder drei Meter vor ihm, abwechselnd buckelte und mit den Hinterbeinen ausschlug. Mit aller Vorsicht bückte sich Bentheim, um dem Apotheker die um die Handgelenke gewickelten Zügel zu lösen.

Arnd ächzte auf, als Julius ihn anfasste. Ein Unterarm stand in seltsamem Winkel vom Körper ab: Elle und Speiche waren gebrochen.

»Seien Sie unbesorgt«, sprach er ihm Mut zu, »das wird schon wieder.« Er begann die Zugseile abzuwickeln, aber schaffte nicht einmal zwei volle Umdrehungen, als ein weiterer Blindgänger pfeifend und sirrend über die Anlagen des Schlosses Buckow flog. Alarich, der noch immer nicht zu beruhigen war, galoppierte los.

Seine Hochwohlgeboren Baron von Falkenhayn, von seiner Dienerschar über das Malheur auf dem Vorplatz unterrichtet, trat – für alle Eventualitäten mit einem Jagdgewehr gerüstet – nach draußen und bekam gerade noch mit, wie der Kohlfuchs an ihm vorüberjagte, den feisten Apotheker hinter sich herziehend wie einen plumpen Mehlsack.

Alarich hetzte die Rundung hinab, doch anstatt den Bogen zur langen Anfahrt zu nehmen, sprang er über eine Hecke. Die Zügel verhedderten sich im Geäst, sodass Arnd hängen blieb. Die Zugseile spannten an, und das Pferd wurde herumgerissen und fiel mit der hinteren Flanke gegen die schneebedeckte Statue eines Fauns. Mit dampfenden Nüstern blieb es liegen; in seinem Fleisch steckten die abgebrochenen Hörner der Marmorfigur. Seine Beine schlugen aus, und ein Huf traf den Apotheker an der Schläfe.

Fast gleichzeitig erreichten Julius, Albrecht und der Baron den Schauplatz der Tragödie. Wenige Augenblicke später umstanden auch Fontane, Retcliffe und Möllhausen sowie der Geschäftsmann Gruben die zwei Sterbenden – das Tier und den Menschen.

Bleich wie der Tod starrten die Männer auf die groteske Szenerie. Das Wiehern des Pferdes, eine alles übertönende, grauenvolle Kakophonie des Schreckens, hallte an den Wänden des Schlosses und der Gesindehäuser wider. Langsam, wie mechanisch, hob der Baron seine Flinte und setzte sie dem strampelnden Tier an die Stirn. Das Wiehern erstarb in dem Moment, als eine Masse aus Hirn und Blut über den Boden spritzte. Es war Julius, als hebe der Gastgeber die Waffe hoch, um sie ein zweites Mal zu gebrauchen, doch dies mochte nur ein kurzer Impuls des Barons gewesen sein.

Joachim Arnds Augen wurden glasig.

Sein Körper erbebte unter wiederholten Zuckungen, ein Röcheln entrang sich seiner Kehle. Der pausbäckige Kopf war völlig zerschunden. Die Nase war eingedrückt, ein abgebrochener Zweig hatte seine linke Wange durchbohrt und steckte noch immer dort. Ab und an bewegte er sich, wenn der Todgeweihte mit seiner Zunge daranstieß. Dann versuchte er etwas zu sagen, und Julius beugte sich hinab und nahm die inständige Bitte wahr: »Auch mir, auch mir die Kugel …«

»Kann man da nichts machen?«, flüsterte Bentheim Albrecht zu.

Krosick schüttelte stumm den Kopf.

Retcliffe fluchte leise: »Hat denn niemand ein Einsehen? Einem nichtsnutzigen Gaul hilft man, dieses Jammertal zu verlassen, aber bei einem Menschen verbietet dies die Ethik! Es ist zum Haareraufen!«

Noch einmal hob der Baron die Flinte, aber Fontanes mildes Kopfschütteln ließ ihn mitten in der Bewegung verharren. Wortlos sahen die Männer auf den massigen, blutdurchtränkten Fleischklumpen hinab. Eine Viertelstunde später, als Pferdegewieher und Peitschenknall die Ankunft eines Mediziners ankündigten, tat Joachim Arnd seinen letzten Atemzug.

Zweites Kapitel

Der Arzt, einMann Mitte 50 mit hängendem Augenlid, konnte nur noch den Tod des Apothekers feststellen. Indes war der Baron nicht untätig geblieben und hatte seine Dienerschaft angewiesen, in einem der Umkleidezimmer nach einem Paravent zu suchen, und nun hielt eine Stoffwand die neugierigen Blicke der Abfahrenden fern. Ein halbes Dutzend Fackeln, die man um den Pferdekadaver und die Leiche herum in den Schnee gesteckt hatte, beleuchtete den Ort des Geschehens.

Nacheinander waren die letzten Gäste aufgebrochen. Der erschütternde Jahresbeginn hatte sich wie eine bleierne Decke über das Anwesen gelegt. Die junge Babette zog sich ins Schlafzimmer zurück, und auch das Dreigespann der Dichter verabschiedete sich mit mitfühlenden, wohlgesetzten Worten.

Von jenen, die Silvester gefeiert hatten, blieben lediglich der Baron und die Studenten übrig.

»Haben Sie die Gendarmen benachrichtigt?«, erkundigte sich der Arzt, der den Namen Dalwig trug.

»Es war ein Unfall«, entgegnete der Baron sichtlich erschüttert.

»Es war ein Todesfall«, erwiderte Dr. Dalwig trocken. »Die Polizei wird gezwungen sein, Ermittlungen anzustellen. Der Tote darf auf keinen Fall bewegt und schon gar nicht entfernt werden.«

»Kann dies meiner Tochter nicht erspart werden, wenn sie aufwacht? Das arme Kind war Zeuge, wie Herr Arnd ums Leben kam. Sie können unmöglich von mir verlangen, ihr diesen scheußlichen Anblick ein weiteres Mal zuzumuten.«

»Ich arbeite als Tatortzeichner«, mischte sich Bentheim ein. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte …«