Schweriner Mordgeschichten - Ulrich Hinse - E-Book

Schweriner Mordgeschichten E-Book

Ulrich Hinse

3,8

Beschreibung

Ist es in und um Schwerin wirklich so mörderisch? Nach der Lektüre dieses Bandes möchte man es fast glauben. Und man möchte auch glauben, dass Recht und Gesetz hier gute Hüter haben. Wie den Ersten Krimimalhauptkommissar (EKHK) Raschke, der sich am besten mit vier Worten charakterisieren lässt: beliebt und einigermaßen beleibt. Ein paar mehr Fakten zu diesem Polizisten, der seit Jahren das Morddezernat in der Kriminalpolizeiinspektion in Schwerin leitet, liefert der Autor gleich zu Beginn seines Buches in einer Art Personalaufstellung: Der Erste Kriminalhauptkommissar Raschke ist ein ziemlich stattlicher Mittfünfziger. Das Leben hatte ihm tiefe Furchen in das Gesicht mit den kurzen Stoppelhaaren und dem grauen Vollbart gegraben, wodurch er deutlich älter aussieht, als er tatsächlich ist. Eine Brille kaschiert die Sehschwächen, die sich im Laufe der Zeit eingestellt haben. Über den nicht zu übersehenden Bauch darf nur seine Ehefrau Karin lästern, was aber auch nichts daran ändert. Den Kollegen ist das streng untersagt und er kann empfindlich reagieren, wenn sich jemand erdreistet, ihn darauf anzusprechen. Raschke hat keinen Vornamen. Er wird von allen und jedem nur mit Raschke angesprochen. Noch nicht einmal mit Herr. Einfach nur Raschke. Sogar seine Ehefrau, mit der er zwei inzwischen erwachsene Töchter hat, nennt ihn einfach nur Raschke. Zusammen mit seiner Frau wohnt er in dem kleinen Ort Godern östlich des Schweriner Sees, wo er sich ein schönes Häuschen gebaut hat. Das Ende seiner Dienstzeit ist abzusehen, aber so richtig mag er noch nicht daran glauben. Und vielleicht sind Sie Raschke schon einmal begegnet, möglicherweise sogar in der Türkei. Denn in der Kriminalerzählung „Eine Türkeireise“ – einer von insgesamt 12 großen und kleinen Geschichten um und vor allem mit EKHK Raschke – soll er auf Weisung des Rostocker Polizeipräsidenten in der Türkei in einer delikaten Angelegenheit ermitteln, wie ihm Thomas Braum persönlich erläutert: „Ich brauche jemanden, der in der Türkei einer Sache nachgeht. Das geht nicht offiziell. Aus Rostock kann ich schon gar keinen nehmen, weil die Beamten, die in Frage kommen, möglicherweise erkannt werden. Du bist weit genug weg und zu dir habe ich auch das Vertrauen. Nicht zuletzt deshalb, weil mir Armin erzählt hat, dass du Freunde in Datça in der Türkei hast, die du fast jedes Jahr besuchst. Da fällt eine Reise in die Türkei keinem auf. Um es kurz zu machen, es geht um Antiquitäten. Hochwertige Antiquitäten.“

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Impressum

Ulrich Hinse

Schweriner Mordgeschichten

EKHK Raschke ermittelt

ISBN 978-3-95655-254-0 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-253-3 (Buch)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital ® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorstellung der Akteure

Der Erste Kriminalhauptkommissar Raschke ist in Schwerin ein bekannter Mann. Er leitet seit Jahren das Dezernat Leib und Leben, besser bekannt als Morddezernat, in der Kriminalpolizeiinspektion in Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Dieses Dezernat ist in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt für die Bearbeitung von Mordfällen zuständig. Er und seine engsten Mitarbeiter werden hier vorgestellt, weil sie in den folgenden Erzählungen immer wieder vorkommen.

Der Erste Kriminalhauptkommissar Raschke ist ein ziemlich stattlicher Mittfünfziger. Das Leben hatte ihm tiefe Furchen in das Gesicht mit den kurzen Stoppelhaaren und dem grauen Vollbart gegraben, wodurch er deutlich älter aussieht, als er tatsächlich ist. Eine Brille kaschiert die Sehschwächen, die sich im Laufe der Zeit eingestellt haben. Über den nicht zu übersehenden Bauch darf nur seine Ehefrau Karin lästern, was aber auch nichts daran ändert. Den Kollegen ist das streng untersagt und er kann empfindlich reagieren, wenn sich jemand erdreistet, ihn darauf anzusprechen. Raschke hat keinen Vornamen. Er wird von allen und jedem nur mit Raschke angesprochen. Noch nicht einmal mit Herr. Einfach nur Raschke. Sogar seine Ehefrau, mit der er zwei inzwischen erwachsene Töchter hat, nennt ihn einfach nur Raschke. Zusammen mit seiner Frau wohnt er in dem kleinen Ort Godern östlich des Schweriner Sees, wo er sich ein schönes Häuschen gebaut hat. Das Ende seiner Dienstzeit ist abzusehen, aber so richtig mag er noch nicht daran glauben.

Sein Chef ist Kriminaldirektor Armin Molra, der zusammen mit Raschke auf der Fachhochschule gewesen war, aber im Gegensatz zu seinem Dezernatsleiter die Gelegenheit genutzt hatte, in den Höheren Polizeidienst aufzusteigen. Seit einigen Jahren leitet er die Kriminalinspektion in Schwerin in der Yorkstraße. Vorher war er im Landeskriminalamt. Die zwei kennen sich seit ewigen Zeiten und Raschke ist froh, in ihm einen verständnisvollen, toleranten Vorgesetzten zu haben. Denn er leistet sich schon einige Dinge, die andere Chefs nicht so einfach tolerieren würden. Molra ist neben Karin Raschke wohl der Einzige, der genau weiß, wie Raschke mit Vornamen heißt. Aber das behält er natürlich für sich.

Einer, der es perspektivisch auf den Dienstposten von Raschke abgesehen hat, ist sein langjähriger Stellvertreter Peter Schrader. Kriminalhauptkommissar Schrader ist geschieden. Über das Warum und Wieso ließ er sich gegenüber Kollegen nicht aus. Es war eben so. Erst vor Kurzem hatte er sich für die Ausbildung zum Höheren Dienst beworben. Er setzt alles daran, den Vornamen von Raschke in Erfahrung zu bringen.

Die einzige Beamtin im Dezernat, Kriminalkommissarin Brigitte Mader, kurz von allen nur Biggi genannt, ist eine ledige, aber liierte blonde Mittzwanzigerin, die ihre langen Haare meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, was sie jünger aussehen lässt. Auf die junge Kollegin hat insbesondere Schrader ein Auge geworfen, zumal sie unendlich lange Beine hat, mit denen sie immer wieder einmal kokettiert. Sie fühlt sich aber zu Raschke hingezogen, der für sie so eine Art Ersatzvater ist.

Der frischgebackene Kriminalmeister Paul Helling hatte gerade seine Fachhochschule in Güstrow beendet. Den Lehrgang hat er mit einem Gut bestanden. Er ist mächtig stolz darauf, in Schwerin dem Morddezernat zugewiesen worden zu sein. Jetzt kann er zeigen, was er gelernt hat. Während die Kollegen ihm zeigen wollen, was er noch nicht gelernt hat.

Vor allem Kriminalhauptmeister Werner Warnke hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Grünschnabel die Fittiche zu stutzen und ihm den Unterschied zwischen Theorie und Praxis zu erklären. Warnke ist verheiratet, hat wie Raschke zwei erwachsene Kinder und blickt auf ein gerüttelt Maß an Erfahrung zurück.

Sabine Gehring ist die Dezernatsangestellte und für alle Büroarbeiten zuständig. Sie ist verheiratet, Ende Dreißig und versorgt ihren arbeitslosen Ehemann sowie einen Sohn im Halbstarkenalter. Nebenbei erledigt sie mit Routine die Büroermittlungen. In der Landesverwaltung kennt sie alle und jeden.

Polizeioberkommissar Gunnar Möller ist der ehemalige Abschnittsbevollmächtigte aus Pinnow.

Dr. Starke, der Gerichtsmediziner, wird hinter vorgehaltener Hand von den Polizeibeamten nur Albino gerufen. Das liegt an seiner blassen, hellen Haut, den schlohweißen Haaren, seinem weißen Overall, den er an jedem Tatort trägt. Mit seinen weißen Latexhandschuhen sieht er aus wie jemand, der bei einer Kostümparty als Spermazelle verkleidet ist, meint Raschke respektlos. Mit ihm gemeinsam arbeitet der Sektionsgehilfe Paul Haberlah, der seinen Chef tatkräftig unterstützt. Sein Markenzeichen ist der erloschene Zigarrenstummel, der zu ihm gehört wie der Hut zu Charlie Chaplin.

Der Leitende Oberstaatsanwalt von Beuershausen, Chef der Staatsanwaltschaft beim Landgericht in Schwerin, ist neben Dr. Schade der einzige Mensch, der Raschke als Herr Raschke titulieren darf, ohne dass sie der Kriminalbeamte nicht entsprechend korrigiert. Sein Mitarbeiter ist der Staatsanwalt Merger, der immer dann in Erscheinung tritt, wenn es um die praktische Arbeit geht.

Und last but not least sind da noch Margot und Hans, die beiden Nachbarn aus Godern, mit denen Raschkes befreundet sind.

Die Kanaille

Kriminalerzählung

Wegen des dichten Verkehrs hatte Schrader von der Yorkstraße in Schwerin fast eine halbe Stunde bis zur Rechtsmedizin am Obotritenring gebraucht. Die Sonne brannte auf den Dienstwagen nieder und verwandelte ihn in einen Backofen, gegen den selbst die Klimaanlage kaum etwas ausrichten konnte. Solche Tage gab es in Schwerin selten. Er hatte einen jungen Beamten von der Schutzpolizei gebeten, ihn zu fahren. Der Revierleiter hatte seine Zustimmung gegeben.

„Warten Sie vor dem Eingang auf mich“, hatte der knapp dreißig Jahre alte, schneidige, selbstbewusste Kriminalhauptkommissar und stellvertretende Leiter des Morddezernats der Kriminalpolizeiinspektion Schwerin dem Fahrer gesagt, war ausgestiegen und schnell in das kühle Gebäude hineingegangen. Er sah ziemlich derangiert aus, die Krawatte hatte sich gelöst, der Hemdkragen war aufgegangen, das Hemd mit den Schweißflecken aus der Hose gerutscht und das Jackett hatte er sich locker über die Schulter geworfen. Die wenigen Mitarbeiter der Rechtsmedizin, denen er auf dem Gang begegnete, schienen nicht darauf zu achten. Bei dem heißen Sommerwetter heute schien es vielen so zu gehen wie ihm. Bevor er das Büro von Dr. Schade, dem Leiter der Rechtsmedizin, auch scherzhaft Albino genannt, erreichte, versuchte er, sich einigermaßen wieder herzurichten. Mit geringem Erfolg, wie er in seinem Spiegelbild in der Glaswand eines Schrankes auf dem Korridor erkennen konnte. Er klopfte an die Bürotür.

„Herein, herein“, hörte er die Stimme von Dr. Schade, „ganz schön heiß heute, was?“

„Ja und ganz schön viel Verkehr“, antwortete Schrader.

 „Ja, heute ist es überall geschäftig“, wusste Dr. Schade zu ergänzen und Schrader rätselte, was er damit meinte.

„Was ist mit Herrn Raschke?“

„Der ist noch immer im Krankenhaus.“

„So, so. Grüßen Sie ihn bitte von mir, wenn Sie ihn besuchen. Ich wünsche ihm eine gute Besserung.“

„Ja, das mache ich gern. Aber große Sorgen machen wir uns nicht. Sie wissen ja, Unkraut vergeht nicht.“

„Na ja, wenn Sie meinen. Aber sitzen wir hier nicht herum, lassen Sie uns nach unten in den Obduktionsraum gehen. Es wird Zeit. Und vergessen Sie nicht, Ihr Jackett mitzunehmen. Dort unten ist es kalt.“

Schrader wusste, dass es unten im Keller kalt war, sonst hätte er seine Jacke auch im Wagen liegengelassen. Er trottete hinter dem Doktor her. Sie durchquerten den hermetisch verschlossenen Raum mit den Kühlzellen und gelangten in den Obduktionssaal, der an einer lateinischen Schrift über der Tür zu erkennen war: hic mors gaudet succurrere vitae. Hier gefällt es dem Tod, dem Leben beizustehen, oder so ähnlich, übersetzte Schrader im Vorbeigehen.

Nachdem er sich hinter Dr. Schade durch die Tür begeben hatte, fiel ihm sofort die Leiche des Mädchens auf. Sie lag ausgestreckt auf einem der Edelstahltische in der Mitte des Saals. Eine junge, knabenhaft wirkende Frau mit zarten Gliedmaßen, kleinen Brüsten und einem kaum angedeuteten Venushügel, bedeckt mit dunklem Haarflaum. Am großen Zeh ihres rechten Fußes hing ein mit Schnur befestigtes Kärtchen, auf das irgendetwas mit schwarzem Filzstift geschrieben worden war. Auf einem der Beine war der gleiche Text zu lesen. Neben der Leiche wartete der Pathologieangestellte, Paul Haberlah. Schrader kannte ihn von seinen Besuchen im Obduktionssaal. Er hatte schon fast sein Rentenalter erreicht und die Erfahrung von Tausenden von Leichen sah man ihm an. Er war durch nichts mehr zu erschüttern. Wie immer kaute er auf einer erloschenen Zigarre herum, die von links nach rechts und wieder zurück durch den Mund wanderte. Daneben stand Staatsanwalt Merger, für den es offenbar seine erste Obduktion war, an der er teilnehmen musste. Er war ein wenig bleich. Schrader begrüßte beide mit Handschlag und musste leicht schmunzeln, als er Merger die Hand gab.

„Herr Merger, wenn Sie es nicht mehr aushalten, gehen Sie einfach hinaus. Das stört niemanden“, flüsterte Schrader ihm zu. Aber Merger ließ sich nichts anmerken.

Inzwischen hatte Dr. Schade seine Latexhandschuhe angezogen und begann mit der äußeren Leichenschau. Das, was er sah, sprach er gleich in sein Diktiergerät.

„Eine Leiche, weiblichen Geschlechts, weiß, Alter schwer zu bestimmen, ich würde sie auf etwas über vierzehn Jahre schätzen, vielleicht sechzehn oder siebzehn. Stimmen Sie mir zu?“, fragte er die anderen Anwesenden. Paul Haberlah, der auf seinem erloschenen Zigarrenstummel kaute, grunzte eine Zustimmung, Schrader wollte sich nicht festlegen und Staatsanwalt Merger schloss sich Dr. Schade an.

„Gut, das ist im Moment auch nicht so wichtig“, brummte Dr. Schade und öffnete den Mund der Leiche, um die Zähne zu begutachten.

„Sobald wir die Analyse vom Stadium der Knochenverkalkung vorliegen haben, können wir das Alter genauer eingrenzen, aber aus den Zähnen schließe ich, dass die junge Lady nicht älter als siebzehn und nicht jünger als vierzehn Jahre ist. Die Körperlänge beträgt einhundertachtundfünfzig Zentimeter; die Haut weist keinerlei Verletzungen, Prellungen oder Blutergüsse auf. Ausgehend von Größe und Gewicht von 48 Kilogramm und 345 Gramm kann der Ernährungszustand als normal angesehen werden.“ Anschließend untersuchte er aufmerksam beide Arme.

„An den Armen sind keinerlei Einstichmerkmale zu sehen, die auf den Gebrauch von Spritzen hindeuten, abgesehen von frischen Malen, die auf Infusionen beziehungsweise auf Blutabnahmen vom Notarzt zurückzuführen sein dürften. Ob die Lady Drogen zu sich genommen hat, wird die Untersuchung von Haaren, Leber und Galle ergeben.“ Dr. Schade ging dazu über, die Extremitäten zu überprüfen.

„Unter den Fingernägeln und den Fußnägeln befinden sich weder Erde noch sonstige feste Partikel.“

„Ist das nicht ein wenig seltsam, wenn man bedenkt, wo sie gefunden wurde?“, fragte Schrader verwundert.

„Was soll ich sagen?“, brummte Dr. Schade, ohne einen Blick von der Leiche zu lassen, „wir wissen nicht, wie sie dorthin gekommen ist oder was sie dort gemacht hat.“ Er wandte sich nunmehr bei seinen Untersuchungen den Geschlechtsorganen zu, tastete sorgfältig die äußeren Schamlippen ab und führte mit gerunzelter Stirn einen Finger in die Vagina ein.

„Das Hymen ist zerrissen und, falls die Untersuchung nichts anderes ergibt, bereits geschrumpft.“

„Was bedeutet das?“, fragte Staatsanwalt Merger.

„Dass sie keine Jungfrau mehr ist, und zwar schon seit längerer Zeit. Entgegen dem landläufigen Volksglauben verschwindet das Jungfernhäutchen nicht nach dem ersten Verkehr und auch nicht bei den folgenden. Die Schrumpfung des Hymens ist ein allmählicher Prozess.“ Während er sprach, hatte Dr. Schade das Becken der Leiche ein Stück angehoben und inspizierte den analen Schließmuskel.

„Die Falten um den Anus weisen Spuren von Blutergüssen auf und trotz der Leichenstarre stelle ich eine deutliche Erschlaffung des Schließmuskels und eine trichterförmige Dehnung fest. Das heißt, sie hat wiederholt sexuelle Praktiken von hinten durchgeführt.“

„Sie ist vergewaltigt worden“, stellte Staatsanwalt Merger sachlich fest.

„Das kann ich so nicht bestätigten“, antwortete der Obduzent, „Zeichen von Gewalteinwirkung sind nicht erkennbar und die Vermutung drängt sich auf, dass das Mädchen kein Unschuldsengel war.“

„Kann es sein, dass sie unter Drogen gesetzt wurde, um sie sexuell zu missbrauchen?“, fragte Schrader.

„Ich bin Arzt und kein Polizist“, antwortete Dr. Schade, „das sind Fragen, über die Sie nachdenken müssen. Das mit den Drogen werde ich klären, ob die möglicherweise Ursache für sexuelle Handlungen waren, nicht. Aber ich hatte ja schon gesagt. Vor ihrem Ableben hatte sie keine unmittelbaren sexuellen Kontakte.“

„Ist es möglich, noch Spermaspuren zu finden?“, wollte Schrader unbeirrt weiter wissen.

„Vermutlich ja. Sperma verbleibt sehr lange, gut zehn Tage in der Gebärmutterschleimhaut und im Labor ist man in der Lage, das festzustellen, falls das Mädchen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte.“ Er winkte dem Sektionsgehilfen.

„Umdrehen“, ordnete er an. Paul Haberlah fasste die Tote an den Schulterblättern und Albino an den Füßen. Eine geschickte Bewegung und das Mädchen lag auf dem Bauch. Dr. Schade tastete vorsichtig durch die Haare.

„Haare und Haaransatz verletzungsfrei. Schmaler Bluterguss an der Halsrückseite, fünf bis sechs Zentimeter lang, einen Zentimeter breit. Schultern und Rücken ohne äußerliche Schadensmerkmale, von den Leichenflecken abgesehen. Ebenso Beckenbereich und Schenkelrückseiten ohne Befund. Füße sauber.“

„Heißt das, sie wurde getragen?“, wollte der Staatsanwalt wissen.

„Das heißt, dass sie nicht mit bloßen Füßen über einen dreckigen Boden gegangen ist. Ob sie getragen wurde, kann ich nicht sagen. Das ist Ihr Metier.“

„Und der Bluterguss im Nacken?“, fragte Staatsanwalt Merger unbeeindruckt weiter, „welchen Grund könnte der haben?“

„Auch da gibt es mehrere Möglichkeiten. Ich möchte mich da jetzt noch nicht festlegen. Morgen ist der Bericht fertig, dann kommt auch eine Stellungnahme zu dem Bluterguss im Nacken.“

Nachdem Dr. Schade die gesamte äußere Untersuchung abgeschlossen hatte, wurde die Tote wieder umgedreht und er gab Paul Haberlah durch Kopfnicken zu verstehen, dass er mit seiner praktischen Arbeit anfangen könne. Haberlah hatte bisher neben seinem Instrumentenwagen gestanden und die gesamte Untersuchung unbewegt verfolgt. Auf das Zeichen des Obduzenten ging er zum Waschtisch und holte eine Kopfstütze, die er dem Mädchen unter den Nacken schob. Schrader wollte dem folgenden Gemetzel nicht mehr folgen. Er kannte das, was jetzt folgte. Haberlah würde dem Mädchen den Brustkorb durch einen Schnitt in Form eines Y öffnen, danach den Unterleib und dann die Kopfhaut aufschneiden, die er umstülpen würde, um die Schädeldecke aufzusägen. Gerichtsmediziner haben alle ein besonderes Verhältnis zum Tod, dachte der Kriminalbeamte und teilte mit, dass er hinausgehen würde. Dr. Schade hielt ihn noch einen Moment zurück.

„Ich habe noch was für Sie“, erklärte er und drückte Schrader eine Plastiktüte in die Hand, „das sind die persönlichen Gegenstände, die wir bei dem Mädchen sichergestellt haben.“

Schrader ging nach draußen und setzte sich im Schatten einer Linde auf eine Bank. Er öffnete die Tüte und zog eine verwaschene, blaue Jeans, ein schmuddeliges, rosa T-Shirt, ein Paar Ohrringe aus Modeschmuck und einen falschen Goldring mit violettem Glasstein, der nach Amethyst aussehen sollte, heraus. Das war alles. Was fehlte, waren ein BH und ein Slip. Nicht, dass das Mädchen unbedingt einen BH benötigt hätte, aber dass sie keinen Slip angehabt hatte, machte ihn stutzig. Schrader stopfte die Sachen wieder in die Tüte. Er ging zu dem jungen Kollegen zurück, der ziemlich gelangweilt aus dem geöffneten Fenster des Dienstwagens sah. Der Schweiß hatte ihm das Diensthemd ziemlich durchnässt. Die dunklen Flecken zeichneten sich deutlich auf dem Baumwollstoff ab. Der Kriminalhauptkommissar ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, warf die Plastiktüte mit den persönlichen Sachen der Toten auf den Rücksitz und wies den jungen Polizeibeamten an, zurück zur Dienststelle zu fahren. Unterwegs ließ er noch mal die Richtung ändern.

„Fahren Sie mich zum Bahnhof zur Bahnpolizei“, sagte er zu dem jungen Mann. Der sah ihn etwas merkwürdig von der Seite an.

„Sie meinen zur Bundespolizei.“ Wenn Schrader etwas nicht leiden konnte, dann war es schulmeisterliches Verhalten von deutlich Jüngeren. Das hatte er mit seinem Chef Raschke gemeinsam. Anfangs hatte er das bei Raschke auch immer wieder versucht. Sein Dezernatsleiter hatte ihn daraufhin mehrfach derb zusammengeschissen. Seither ließ er die Faxen und er hatte dabei festgestellt, dass ihn derartiges Verhalten von anderen auch aufregte. Deshalb fuhr er den jungen Kollegen barscher an, als er eigentlich wollte.

„Nun fangen Sie bei diesem Wetter nicht auch noch an klugzuscheißen, sondern fahren dahin, worum ich Sie gebeten habe. Sie haben doch gewusst, wo es hingehen soll und dann kommen Sie mir in Zukunft nicht mehr so belehrend. Sie haben noch eine Menge zu lernen. Und wie häufig Polizeiorganisationen ihren Namen ändern, werden Sie noch mitbekommen, wenn Sie so viele Dienstjahre auf dem Buckel haben wie ich. Die Bahnpolizei ist erst vor wenigen Jahren in Bundespolizei umfirmiert. Für mich ist das immer noch die alte Bezeichnung. Und das bleibt auch so. Haben wir uns verstanden?“

Der junge Beamte war deutlich zusammengezuckt, als er den Einlauf bekommen hatte. Klar, er war sauer auf den arroganten Kriminalbeamten, der ihn in der Sonne hatte warten lassen, dass er glaubte, gebraten worden zu sein. Aber mit einem derartigen Anschiss hatte er doch nicht gerechnet. Er hielt ab sofort den Mund. Was Schrader noch nicht einmal auffiel, weil er zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt war. Vor dem Eingangsbereich am Grunthalplatz ließ er den jungen Polizisten halten.

„Warten Sie hier“, knurrte er ihn an, „und wenn eine Politesse kommt, halten Sie ihr sofort Ihren Dienstausweis unter die Nase. Damit sie nicht auf die Idee kommt, ein Knöllchen zu schreiben. Wir sind dienstlich hier.“ Schrader warf die Autotür hinter sich ins Schloss und war Sekunden später im hektischen Gewühl des Hauptbahnhofs verschwunden, das immer dann entstand, wenn gerade ein ICE ankam oder kurz bevor er nach Hamburg oder Rostock weiterfuhr. An der Pforte der Bundespolizei wies er sich aus.

„Ich muss zum Kollegen Peter Boden. Würden Sie mich bitte anmelden und mir den Weg beschreiben?“ Der Beamte hinter dem schusssicheren Schalter sah sich den Dienstausweis genauer an, als das eigentlich hätte sein müssen. In Schrader kochte schon wieder das Blut. Er hatte schon einen bissigen Kommentar auf den Lippen, als der Bundespolizist gerade noch rechtzeitig den Türöffner betätigte und Schrader hereinbat.

„Gehen Sie bitte die Treppe hinauf in den ersten Stock, dann links und die vierte Tür auf der rechten Seite.“ Schrader knurrte irgendwas und marschierte in dem im Vergleich zu draußen recht kühlen Flur langsam die Treppe hinauf. Er fand das Zimmer ohne Probleme und klopfte an. Ohne auf ein Herein zu warten, öffnete er die Tür. Die Dame hinter dem Schreibtisch legte gerade wieder den Hörer auf den Telefonapparat und sah ihn fragend an.

„Schrader mein Name. Von der Kripo Schwerin. Mordkommission. Ich möchte zu Peter Boden.“

„Ja, das habe ich bereits gehört“, antwortete sie schnippisch. Schrader schob die schnippische Antwort auf das verflucht heiße Wetter. Offenbar reagierte bei dieser Witterung jeder etwas überzogen. Nur er nicht.

„Schön. Und? Ist Kollege Boden zu sprechen?“

Das Gesicht der Vorzimmerdame Ende der Vierziger verschloss sich vor Schrader. Sie warf leicht den Kopf in den Nacken, wobei die mit Haarspray behandelten Haare ihre Form behielten, zog die Nase etwas nach oben, was ihr einen arroganten Ausdruck verlieh. Sie stand auf, drückte sich an dem Kriminalbeamten vorbei und ging in das benachbarte Zimmer, wobei sie nicht vergaß, die Tür hinter sich zu schließen. Wenige Augenblicke später erschien sie wieder in der Tür.

„Bitte, Herr Boden lässt bitten.“

„So, so, tut er das?“, griente Schrader und ging zu dem Kollegen. Die Vorzimmerdame wollte gerade die Tür zuziehen, als sie von Boden noch einmal aufgehalten wurde.

„Einen Moment. Herr Schrader, möchten Sie einen Kaffee?“

„Ein kaltes Mineralwasser wäre mir lieber.“

„Also dann, Frau Görres, bitte ein Mineralwasser für den Kollegen Schrader und einen Kaffee für mich.“ Wohl etwas heftiger als sonst schloss sie die Türe hinter sich, was Boden zu einem überraschten Blick veranlasste.

„Na, was hat sie denn? Ist wohl das Wetter“, mutmaßte der Bundespolizist, „aber worum geht’s? Was hat es mit Ihrem seltenen Besuch auf sich?“

„Tja, Herr Kollege, was soll ich sagen. Sie hatten doch gestern ein Mädchen gefunden und den Notarzt alarmiert, der die Kleine in die Klinik gebracht hat.“

„Ja, das ist richtig. Ein Fall, wie er hier mehrmals im Jahr vorkommt. Heute ist es aber das erste Mal, dass hinterher die Kripo von Schwerin erscheint und fragt.“

„Mmh. Ich komme eben von der Obduktion.“

„Von dem Mädchen? Das wir gefunden haben? Das kann nicht sein. Die Kleine wurde vom Notarzt mitgenommen.“

„Richtig. Aber in der Klinik ist sie nicht mehr angekommen. Sie ist auf dem Weg verstorben und da die Todesumstände nicht klar waren, landete sie bei Albino auf dem Seziertisch. Und damit auch auf meinem Tisch.“

„Wer um Gottes Willen ist denn Albino?“

„Dr. Schade. Der Chef der Rechtsmedizin. Wir nennen ihn so, weil er immer so blass ist und mit seinen weißen Haaren, dem weißen Bart und in seinem weißen Kittel eben so aussieht.“

„Aha, da habe ich etwas gelernt und jetzt wollen Sie von mir die näheren Umstände des Auffindens wissen. Ist es so?“

„Genau.“ Die beiden Beamten wurden unterbrochen, weil Frau Görres mit dem Kaffee und dem Wasser hereinkam. Ohne Schrader eines Blickes zu würdigen, stellte sie ihm sein Wasserglas auf den Tisch, während sie ihrem Chef schon fast fürsorglich den Kaffee servierte. Als sie wieder gegangen war, schaute Boden ihr noch einen Wimpernschlag irritiert hinterher.

„Sie haben es mit ihr aber für alle Zeit verdorben“, stellte er fest, „was ist denn zwischen Ihnen passiert? Muss ich das wissen?“

Schrader winkte ab. „Ach was. Da ist nichts. Es liegt wohl an der Hitze heute.“

„Na ja, wenn Sie meinen“, murmelte Boden und schüttelte noch ein wenig ungläubig den Kopf und räusperte sich.

„Wo waren wir stehengeblieben?“

„Sie wollten mir was zur Auffindesituation und zum Auffindeort sagen.“

„Ach ja. Der Lokführer des einfahrenden ICE von Rostock nach Hamburg hatte mitgeteilt, dass direkt am Bahndamm am stillgelegten Güterbahnhof eine Person liege. Ich habe sofort eine Streife losgeschickt. Die Kollegen hatten eine Zeit lang zu tun, bis sie in dem unübersichtlichen Gelände das Mädchen gefunden hatten. Sie lag verkrümmt auf dem Boden und atmete nur noch ganz schwach. Blut haben die Kollegen vor Ort nicht gesehen. Aber den Einsatzbericht kann ich Ihnen in Kopie mitgeben. Die Beamten haben sofort den Notarzt verständigt, der die Erstversorgung am Ort gemacht und sie dann mitgenommen hat. Für uns war die Sache damit erledigt.“

„Haben die Kollegen den Auffindeort abgesucht oder untersucht?“

„Aus dem Bericht geht das nicht hervor. Es bestand wohl auch keine Notwendigkeit. Ich gehe mal davon aus, dass das nicht geschehen ist.“

„Herr Boden, ich möchte Sie bitten, mir die beiden Kollegen zur Verfügung zu stellen. Ich habe das dumme Gefühl, dass wir es mit einem Tatort zu tun haben und den ganzen Bereich noch einmal durchsuchen und untersuchen müssen. Vielleicht finden wir dabei auch Dinge, die jetzt einfach fehlen, obwohl sie jede junge Dame eigentlich mit sich führt. “

„Als da wären?“

„Handtasche mit allen möglichen und unmöglichen Utensilien, Geldbörse, Handy, Kamm, Nagellack, Lippenstift vielleicht sogar ein Ausweis oder andere Papiere. Bei den Sachen, die bei ihr sichergestellt wurden, war nichts dergleichen. Es fehlten sogar der BH, der Schlüpfer und die Schuhe. Also, ich denke, es gibt zig Sachen, die wir da noch finden könnten.“

 „Na ja“, warf Boden ein, „es soll ja etliche Frauen geben, die ohne BH und ohne Slip durch die Gegend laufen.“

„Ja, meine Freundin nicht und meine Exfrau auch nicht und gesehen habe ich das ebenfalls noch nicht“, brummelte Schrader.

„Wir müssen das Thema nicht weiter vertiefen“, gestand Boden, „wann wollen Sie die Kollegen haben, um den Tatort zu untersuchen? Heute noch?“

„Ja, heute noch. Ich fahre nur noch in die Dienststelle und alarmiere meine Leute. Ich denke, in einer Stunde treffen wir uns vor der Rechtsmedizin.“

„Abgemacht.“ Schrader verabschiedete sich, um keine Zeit zu verlieren. Er bedankte sich noch einmal für das Wasser und ging. Im Vorzimmer war niemand und so war er einige Augenblicke später unten auf dem Grunthalplatz, wo er zu dem Kollegen ins Auto stieg.

„Na, war eine Politesse da?“

„Nein“, war die lakonische Antwort, „wohin jetzt?“

„Ab zur Yorkstraße.“ Dort angekommen, sprang Schrader am Haupteingang behände aus dem Wagen und verschwand mit wehendem Jackett im Dienstgebäude. Auf dem Flur brüllte er so laut, dass nicht nur die Kollegen seines Dezernates es hören konnten.

„Alle zu mir in den Besprechungsraum.“ Wer mit alle gemeint war, wusste jeder. Auch die, die nicht dazu gehörten. Die Stimme von Schrader war jedem in der Dienststelle bekannt. Und so fanden sich nur wenige Minuten später seine Mitarbeiter komplett im Besprechungsraum ein.

Schrader, der smarte Hauptkommissar mit Ambitionen in den Höheren Dienst der Polizei, hatte sich natürlich vorne hingesetzt auf den Platz des Dezernatsleiters. Als Stellvertreter stand ihm das zu, so sein Selbstverständnis. Neben Brigitte Mader saß der mit Abstand Zweitälteste im Dezernat, Kriminalhauptmeister Werner Warnke. Er war nur unwesentlich jünger als der Chef. Daneben hatte sich Paul Helling hingesetzt und ganz am Ende saß Sabine Gehring. Schrader lehnte sich nach vorn und fixierte seine Kolleginnen und Kollegen.

„So, Leute. Wir haben eine unbekannte Leiche. Ich war heute bei der Obduktion dabei.“ Die Beamten schauten ihren stellvertretenden Chef etwas merkwürdig an.

„Wie“, bemerkte Biggi Mader, „unbekannte Leiche? Obduktion? Davon wissen wir ja gar nichts.“

„Ja, so ist das im Leben, Biggi. Unverhofft kommt oft. Es ist so, wie es ist. Also in Kürze das Wichtigste. Die Leiche, eine junge Frau, wurde als verletzte Person von Bahnpolizisten am Güterbahnhof festgestellt und dem Notarzt übergeben. Auf dem Transport ist sie verstorben. Mehr wissen wir nicht. Sie hatte nichts dabei. Keine Papiere, keine Handtasche, keine Schuhe, keinen BH, keinen Schlüpfer.“

„Aber sie hatte was an, oder?“, warf Biggi ein.

„Ja, sie war nicht nackt. Da sie als Verletzte von den Bahnpolizisten gefunden und an den Notarzt übergeben worden war, haben die natürlich keine Tatortarbeit gemacht. Ich habe Peter Boden gebeten, mir die Kollegen zur Verfügung zu stellen. Wir treffen die beiden“, Schrader unterbrach und sah auf die Uhr, „in einer halben Stunde vor der Rechtsmedizin. Wir nehmen die Kriminaltechnik mit. Dafür sorgt Biggi. Wir müssen den Tatort durchsuchen und etwas finden, mit dem wir das Mädchen identifizieren können. Also los. Ganz normale Tatortarbeit. Ich gehe erst zum Direktor und komme dann nach. Fragen?“

Es gab keine Fragen. Jeder wusste, was in einem solchen Fall zu tun war und wer mit wem was machte. Das war Routine. Der stellvertretende Dezernatsleiter ging ein Stockwerk höher zum Leiter der Kriminalpolizeiinspektion. Kriminaldirektor Armin Molra war vor kurzem erst vom Landeskriminalamt gekommen. Er selbst hatte Schrader als Stellvertreter des noch seit dem letzten Einsatz im Krankenhaus liegenden Dezernatsleiters Raschke in die Funktion eingesetzt. Nicht zuletzt deshalb, weil der junge Kriminalhauptkommissar Ambitionen hatte, in den Höheren Dienst aufzusteigen. So praktizierte er Führungsverhalten gleich mit learning by doing. Deshalb musste er auch nicht warten, um vorgelassen zu werden. Mit wenigen Worten informierte er den Direktionsleiter und vergaß auch nicht zu sagen, dass die Staatsanwaltschaft bereits informiert war, weil sie die Obduktion veranlasst hatte. Molra hatte zugehört, ohne zu unterbrechen. Dann nickte er die Maßnahmen ab, die Schrader ihm genannt hatte.

 „Kommen Sie hinterher zu mir und informieren mich und jetzt fahren Sie hinter Ihren Leuten her.“ Damit war Schrader wieder entlassen und er eilte nach unten in den Hof, wo er seinen Fahrer noch anzutreffen hoffte. Der junge Beamte von der Schutzpolizei wollte gerade nach Hause gehen. Er hatte, nachdem Schrader ihn verlassen hatte, den Wagen auf den Hof der Dienststelle gefahren, ihn gewaschen, ausgesaugt und in aller Ruhe noch ein Schwätzchen mit den Kollegen gehalten. Dieses Schwätzchen war einige Sekunden zu lang gewesen und so lief er Schrader genau in die Arme, als dieser aus dem Bürogebäude auf den Hof wollte.

„Auf, Kollege, umdrehen, wir müssen noch mal in die Stadt.“ Und schon hatte der Kriminalbeamte die Beifahrertür geöffnet und sich auf den Sitz fallen lassen. Er sah gar nicht nach draußen, um die Reaktion des jungen Kollegen mitzubekommen. Nein. Es war für ihn selbstverständlich, dass der junge Beamte wieder einstieg und ihn fuhr. Einige Augenblicke stand der junge Mann unschlüssig vor dem Auto, grinsend beobachtet von seinen Kollegen, dann presste er schmollend die Lippen zusammen, drehte sich um und stieg ein.

„Wohin soll's denn gehen?“, fragte er wie ein Taxifahrer. Und genau so kam er sich auch vor.

„Ach ja, ich vergaß“, sagte Schrader, „wieder zurück zur Rechtsmedizin. Sie wissen, wo Sie hin müssen?“

„Ich weiß, wo das ist. Soll ich den Taxameter anstellen?“

Etwas verwundert hob Schrader den Kopf. Er drehte sich um und sah zu dem Beamten hinüber. Dann kratze er sich mit der rechten Hand am Ohr. „Ich bin überrascht. Ich habe einen Scherzkeks als Fahrer bekommen. Übertreiben Sie es aber nicht. Lassen Sie das Taxameter aus und reichen Sie ihre Überstunden am Monatsende bei mir ein. Und jetzt bitte ein bisschen Hoppla, wir haben nicht mehr viel Zeit.“