Scipios Traum - Iain Pears - E-Book
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Scipios Traum E-Book

Iain Pears

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Beschreibung

Welchen Sinn hat alles Denken, wenn es doch im Tode endet? Der internationale Bestseller »Scipios Traum« von Iain Pears jetzt als eBook bei dotbooks. Drei Jahrhunderte, drei Männer – und die ewigen Fragen der Menschheit, auf die jede Generation eine neue Antwort finden muss … »Scipios Traum«: So ist der Titel der philosophischen Schrift, die der römische Aristokrat Manlius im 5. Jahrhundert zu Papier bringt – doch kann es ihm wirklich gelingen, durch die Macht seiner Worte das römische Reich vor der Auslöschung zu bewahren? 900 Jahre später soll der Dichter Oliver de Noyen das Traktat für einen Kardinal übersetzen – und bringt dabei nicht nur sich in Gefahr, sondern auch die schöne Jüdin Rebecca … Und schließlich, in den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts, findet »Scipios Traum« seinen letzten Leser: den französischen Wissenschaftler Julien Barneuve, der sich während des zweiten Weltkriegs in den Dienst der Vichy-Regierung stellt – und nicht ahnt, welchen Preis er dafür bezahlen muss … Kraftvoll, tragisch, unvergesslich – ein Meisterwerk, das die Jahrhunderte umspannt, ein wortgewaltiges Epos über Philosophie und Vernichtung, Liebe und Macht, Religion und Verrat: »Die geschickt eingestreuten Spannungselemente, die dramatischen Schicksale der Protagonisten sowie drei fesselnde Liebesgeschichten halten den Leser beim atemberaubenden Ritt durch die Geistesgeschichte des europäischen Kontinents fest im Sattel.« Kölner Stadt-Anzeiger Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Scipios Traum« von Iain Pears verwebt drei große historische Erzählstränge zu einem fesselnden Roman, der lange in der Erinnerung nachhallt. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 859

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Über dieses Buch:

Drei Jahrhunderte, drei Männer – und die ewigen Fragen der Menschheit, auf die jede Generation eine neue Antwort finden muss … »Scipios Traum«: So ist der Titel der philosophischen Schrift, die der römische Aristokrat Manlius im 5. Jahrhundert zu Papier bringt – doch kann es ihm wirklich gelingen, durch die Macht seiner Worte das römische Reich vor der Auslöschung zu bewahren? 900 Jahre später soll der Dichter Oliver de Noyen das Traktat für einen Kardinal übersetzen – und bringt dabei nicht nur sich in Gefahr, sondern auch die schöne Jüdin Rebecca … Und schließlich, in den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts, findet »Scipios Traum« seinen letzten Leser: den französischen Wissenschaftler Julien Barneuve, der sich während des zweiten Weltkriegs in den Dienst der Vichy-Regierung stellt – und nicht ahnt, welchen Preis er dafür bezahlen muss …

Kraftvoll, tragisch, unvergesslich: Ein Meisterwerk, das die Jahrhunderte umspannt, ein wortgewaltiges Epos über Philosophie und Vernichtung, Liebe und Macht, Religion und Verrat.

Über den Autor:

Iain Pears, geboren 1955 im englischen Coventry, studierte in Oxford und arbeitete später in Rom und Paris als Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters. Heute ist er als Journalist und Kunsthistoriker bekannt – und als Autor hochgelobter Kriminalromane und historischer Romane. Sein internationaler Bestseller »Urteil am Kreuzweg« wurde in 15 Sprachen übersetzt.

Bei dotbooks veröffentlichte Iain Pears den Roman »Urteil am Kreuzweg« sowie die Kriminalromane rund um den Kunsthistoriker Jonathan Argyll und die Kommissarin Flavia di Stefano: »Giottos Handschrift«, »Caravaggios Erben« und »Die makellose Täuschung«

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eBook-Neuausgabe Juli 2020

Die britische Originalausgabe dieses Buch erschien 2002 unter dem Titel »The Dream of Scipio« bei Jonathan Cape, London.

Copyright © der Originalausgabe 2002 by Iain Pears

Copyright © 2003 der deutschsprachigen Erstausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von Adobe Stock/burnel11, shutterstock/A-R-T und shutterstock/Phoebe Yu.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96655-002-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Iain Pears

Scipios Traum

Roman

Aus dem Englischen von Klaus Fröba

dotbooks.

TEIL EINS

Julien Barneuve starb am Nachmittag des 18. August 1943 um fünfzehn Uhr achtundvierzig. Er brauchte genau dreiundzwanzig Minuten dafür, was der Zeit zwischen dem Ausbruch des Feuers und dem Atemzug entsprach, mit dem er der versengten Lunge zum letzten Mal trügerische Linderung verschaffen konnte. Er hatte nicht gewusst, dass sein Leben an diesem Tag enden würde, obwohl er damit gerechnet hatte, dass es so kommen könne.

Es war ein grausames Feuer, das plötzlich aufloderte und sich schnell ausbreitete. Julien wusste von Anfang an, dass es nicht unter Kontrolle zu bringen war und ihn und alles ringsum vernichten würde. Er kämpfte nicht dagegen an und versuchte nicht zu entkommen; es wäre ihm ohnehin nicht gelungen.

Niemand kam ihm zu Hilfe, während die Flammen wüteten und das Haus verzehrten – das alte Haus seiner Mutter, in dem er sich stets so geborgen gefühlt und, wie er fand, seine besten Sachen geschrieben hatte. Er konnte denen, die in der Nähe waren, keinen Vorwurf machen; jeder Rettungsversuch wäre blanke Torheit gewesen. Er hätte auch keinen Beistand gewollt und war dankbar für die letzte Gunst, allein sein zu dürfen. Acht Minuten vom Ausbruch des Feuers bis zu dem Moment, in dem der Qualm ihm das Bewusstsein raubte. Noch einmal drei Minuten, bis die Flammen ihn erreichten, seine Kleidung entzündeten und ihm die Haut mit Brandblasen überzogen. Alles in allem dreiundzwanzig Minuten, bis sein Herz versagte und sein Atem erstarb. Und danach noch einmal eine Stunde, bis das Feuer ausgebrannt war und die verkohlten Balken über ihm zusammenstürzten. Barneuve aber, dessen Gedanken zerfaserten und der schon bald den Versuch aufgab, sie zusammenzufügen, war es, als habe alles viel, viel länger gedauert.

Im Grunde war Olivier de Noyens Geschick besiegelt, als sein Blick unweit der Kirche St-Agricol ein paar Hundert Meter vom neuen Papstpalast in Avignon entfernt zum ersten Mal auf die Frau fiel, die er durch seine Gedichte unsterblich machen sollte. Er war sechsundzwanzig und vom Schicksal dazu verdammt, im womöglich finstersten Jahrhundert der europäischen Geschichte zu leben und zu sterben – einem Zeitalter, das manch einer ein verfluchtes nannte und in dem andere aus Angst vor Gottes Strafgericht ob ihrer Sünden dem Wahnsinn anheim fielen. Olivier, so hieß es, gehörte zu Letzteren.

Isabelle de Fréjus war gerade sechzehn, vor sieben Monaten Ehefrau geworden, aber noch nicht schwanger, was etliche alte Weiber zu boshaftem Klatsch anregte und Isabelles Mann verdross. Sie selbst war es zufrieden, da sie es keineswegs eilig hatte, an dem großen Abenteuer teilzuhaben, das so viele Frauen mit dem Tod oder ständigem Kränkeln bezahlten. Sie hatte bei ihrer Mutter mit angesehen, zu welchen schrecklichen Folgen eine Geburt führen kann – die ihre und alle, die rasch hintereinander folgten –, und das machte ihr Angst. So erfüllte sie ihrem Mann gegenüber die ehelichen Pflichten, betete aber (nachdem sie, so gut sie's wusste, Vorsorgemaßnahmen getroffen hatte) jede Nacht darum, dass seine Attacken noch eine Zeit lang erfolglos blieben. Jeden zweiten Tag ging sie in die Kirche, um dort Vergebung für ihren ungehörigen, rebellischen Eigensinn zu erflehen und sich zugleich der Heiligen Jungfrau zu weihen, in der Hoffnung, sich dadurch der Fürsprache der Gottesmutter noch eine Weile zu erfreuen.

Dieser himmlische Spagat zehrte derart an ihren Kräften, dass ihre Gedanken jedes Mal aufgewühlt waren, wenn sie die Kirche verließ, wovon ihre gerunzelten Augenbrauen und die winzige Falte über ihrer Nase beredtes Zeugnis gaben. Auch war ihr Schleier immer ein wenig verrutscht, weil sie ihn, sobald sie zum Gebet niederkniete, ein Stück zurückschob. Ihrer Zofe Marie hätte es eigentlich obgelegen, sie auf diesen kleinen Lapsus hinzuweisen, aber die kannte ihre Herrin gut und wusste, unter welchem Zwiespalt sie litt. War es doch Marie gewesen, die Isabelle jene kleinen Tricks gelehrt hatte, die Ursache für den zunehmenden Verdruss des Comte de Fréjus waren.

Ein Fältchen und ein verrutschter Schleier können vielleicht einen Künstler inspirieren, aber sie reichen gewiss nicht aus, um eine derart verheerende Wirkung auf die Seele eines Mannes auszuüben. Wir müssen also nach einer anderen Erklärung suchen. Denn als Olivier unweit der Kirche Isabelles ansichtig wurde, war ihm, als werde seine Brust von einer Bestie zerfleischt, die ihn mit unbändiger Kraft des Lebens beraubte. Das Gefühl war so überwältigend, dass er sich auf die Stufen setzen musste, wo er lange reglos hockte und der Gestalt nachstarrte, auch als sie längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Und als er schließlich mit zitternden Knien aufstand, waren seine Augenbrauen ungeachtet der frühen, noch kühlen Morgenstunde schweißnass, und er wusste, dass sich sein Leben für immer verändert hatte. Er war tagelang unfähig zu arbeiten. So begann die Geschichte von der unglücklichen Liebe zwischen einem Poeten und einem jungen Mädchen, die ein so katastrophales, grausames Ende nehmen sollte.

Vielleicht war es ihre jugendfrische Schönheit?, dachte Julien Barneuve, als er zum ersten Mal etwas über die schicksalhafte Begegnung der beiden las – eine über Jahre hinweg verfeinerte Interpretation des damals schon anderthalb Jahrhunderte zurückliegenden Geschehens, erzählt mit all der gefühlvollen Romantik, die den Empfindungen um das Jahr 1480 entsprach. Die Wurzeln der Anekdote blieben für immer zweifelhaft, wies sie doch zu frappierende Ähnlichkeit mit der Romanze zwischen Francesco Petrarca und Laura auf, als dass man ihr unbefangen glauben mochte. Sie konnte sich freilich auf traditionelle Überlieferung stützen – und darüber hinaus auf zehn von Oliviers schönsten Zeilen: ein Gedicht, das (in Frédéric Mistrals völlig inadäquater Übersetzung von 1865) mit den Worten beginnt: »Meine Augen haben meine Seele erdolcht ...« Im Kern war die Geschichte gewiss wahr, denn das schreckliche Schicksal, das Olivier wenige Jahre später erlitt, als er Isabelles Mann in die Hände fiel, wird von niemandem in Abrede gestellt. Wenn er sie nicht geliebt hätte, warum hätte er sie dann töten und das Opfer einer solch grausamen Vergeltung werden sollen?

Offensichtlich, weil er von Wahnsinn umnachtet war. Der Überlieferung nach wollte das Mädchen, um der Pest zu entkommen, mit ihrem Mann abreisen, aber Olivier habe sie angefleht, in Avignon zu bleiben, auf dass sie in inniger Umarmung gemeinsam sterben könnten. Und als sie sich weigerte, tötete er sie, weil ihm der Gedanke unerträglich war, sie zu verlieren. Die Tat enthüllte das Geheimnis der beiden, Olivier wurde zur Strafe von den Mietlingen des Comte ergriffen, die ihn schlugen und ihm die Zunge und die Hände abschnitten. So war er für immer der Stimme beraubt und zum Schweigen verdammt; er konnte mit niemandem reden, nichts niederschreiben, sich nicht einmal durch Gebärden verständlich machen. Mehr noch, der gehörnte Ehemann beging den Frevel, Oliviers sämtliche Manuskripte zu vernichten, nur ein paar wenige Gedichte blieben erhalten. So vermochte später niemand zu sagen, ob seine Dichtung tatsächlich die Blütezeit einer literarischen Renaissance einläutete und ein wegweisendes Vorbild war, neben dem Petrarca sich zweitrangig ausnimmt, oder ob das nur den wenigen so vorkam, die Oliviers Gedichte zu seinen Lebzeiten gelesen hatten. Nur etwa ein Dutzend seiner Gedichte war erhalten geblieben, zu wenige, um einen Mann wie Barneuve zu fesseln, zumindest nicht, bis er an einem kalten Tag im Februar 1928 in der Vatikanischen Bibliothek beim Studium des Nachlasses von Kardinal Annibale Ceccani, einem Sammler alter Manuskripte und dem ersten und einzigen Förderer Oliviers, auf ein bedeutendes Dokument stieß.

Es war der erste Teil der zwanzig Seiten umfassenden, von Olivier de Noyen gefertigten Kopie eines alten Manuskripts, das Julien, als er seine Bedeutung und die Zusammenhänge begriffen hatte, vor Erregung nicht schlafen ließ. »Nach dem Zeugnis des Manlius ...« – eine Floskel, die den meisten Lesern nichts gesagt hätte, ihm aber eine Offenbarung war. Später äußerte er im Scherz, das Dokument sei es wert gewesen, seine Seele dafür zu verkaufen.

Die Aufzeichnung, die Olivier kopiert hatte, war von Manlius Hippomanes im Laufe einiger Monate in seinem Landhaus ein Dutzend Wegstunden vor den Toren von Vaison, also gut sechzig Kilometer nordöstlich von Avignon, zu Papier gebracht worden. Das heißt, zu Papier gebracht hatte er sie eigentlich nicht, denn wie viele Männer seines Standes schrieb Manlius selten eigenhändig, obwohl ihm dies, wenn er gewollt hätte, ein Leichtes gewesen wäre. Er zog es aber vor zu diktieren, und sein Adoptivsohn Syagrius, der zugleich als Sekretär fungierte, schrieb alles mit, was ihn wegen der Hast, mit der Manlius alles heraussprudelte, mitunter sauer ankam. Syagrius, ein freundlicher junger Mann von gerade mal dreiundzwanzig Jahren, der sich viel Mühe gab, weil er es zu etwas bringen wollte, konnte die Worte nur flüchtig hinkritzeln, wenn er mit dem Adoptivvater Schritt halten wollte. Danach entzifferte er in langer Nachtarbeit seine Notizen und übertrug sie in Reinschrift. Dabei durfte ihm kein Fehler unterlaufen, denn Manlius hatte nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern er war auch von seinen Formulierungen in so hohem Maße angetan, dass er recht ungehalten werden konnte, wenn auch nur ein Jota geändert worden war. Und Syagrius verzehrte sich geradezu danach, es seinem Herrn recht zu machen und ab und zu ein lobendes Wort von ihm zu hören.

Was Manlius diktierte und Julien später so aufwühlte, war ein kurz gefasster, auf wesentliche Eckpunkte konzentrierter Abriss der Philosophie, gedacht zur Verteilung an seine Freunde und, sollte sich Gelegenheit dazu ergeben, auch über diesen Kreis hinaus. Wenn er alles gelesen und für gut befunden hatte, musste ein Lohnschreiber Abschriften fertigen (mitunter bis zu hundert, obwohl wahrscheinlich fünfzig vollauf genügt hätten), die er sodann seinen Freunden in ganz Gallien zustellen ließ.

Eines Abends hatte Manlius wieder einmal Gäste zu sich geladen. Er war noch mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt, als die Sonne unterging und den Himmel sanft mit rosarotem Licht überzog. Eine Ahnung abendlicher Kühle wehte durch den offenen Innenhof, in dem im Sommer die Tafel gedeckt wurde. Manlius hörte, wie einige seiner Gäste Verse aufsagten – eine Gepflogenheit, die sowohl der eigenen Kurzweil wie auch der Demonstration feiner Bildung diente. Es war ihnen zur Gewohnheit geworden, darin zu wetteifern, denn Manlius hatte sich schon immer gern mit kultivierten, gebildeten Männern umgeben, mit denen er sich verstand und die sich mit ihm verstanden. Er hatte es sein Leben lang so gehalten, es war ihm eine Verpflichtung geworden, die ihm nicht selten zum Vergnügen gereichte, insbesondere, wenn er dabei junge Talente, die es verdienten, fördern oder ebenbürtigen Freunden einen unterhaltsamen Abend bereiten konnte.

Die Höflichkeit gebot, dass er während des Essens, so wie er es unzählige Male zuvor getan hatte, die Rolle des liebenswürdigen Gastgebers spielte, obwohl ihm an diesem Abend nicht danach zu Mute war. Was die Zahl der Gäste anging, so hatte er sich stets an Varros weise Regel gehalten, sie solle größer als die der drei Grazien und kleiner als die der sieben Musen sein. Auch achtete er sehr darauf, dass die Anwesenden weder zu eloquent noch zu schweigsam waren, und er bemühte sich, die Konversation durch eingestreute Lesungen diskret so zu steuern, dass sie auf keinen Fall um triviale, freilich auch nicht um allzu pompöse Themen kreiste. Und er ergänzte dieses Bemühen, indem er weder mit den Speisen knauserte noch den Verdacht erregte, bei den Gästen durch allzu erlesene Gaumenfreuden Eindruck schinden zu wollen.

Und doch waren die Abende, all seinen Anstrengungen zum Trotz, häufig kein ungetrübtes Vergnügen mehr, weil es immer schwieriger wurde, selbst eine kleine Gruppe einander geistig Ebenbürtiger an der Tafel zu versammeln. Die Hälfte der Gäste bestand aus abhängigen Pächtern, die zwar eifrig bei den Lerchen und Rebhühnchen zulangten und sich auch später beim Karpfen und Truthahn nicht kasteiten, aber in dieser illustren Gesellschaft zu gehemmt waren, um sich lockeren Gesprächen hinzugeben. Syagrius wiederum war so ängstlich darauf bedacht, keinen Fehler zu machen und kein falsches Wort zu sagen, dass er das Essen unflätig in sich hineinschaufelte, rot anlief, wenn er angesprochen wurde, und selber gar nichts sagte. Ein anderes Beispiel waren Lucontius und Felix, zwei gute Freunde, die es dem Gastgeber leichter machen wollten, was jedoch regelmäßig damit endete, dass sie die Konversation dominierten, den anderen Gästen ins Wort fielen, die Pächter völlig unnötig ihr Geringschätzung spüren ließen und dafür umso übertriebener ihr enges Verhältnis zu Manlius herauskehrten. Und dann war da noch Caius Valerius, ein Vetter von Felix, den Manlius nur Felix zuliebe in der Runde duldete. Ein ungehobelter Bursche, mit Frömmigkeit voll gesogen wie ein tropfnasses Tuch, was freilich nur die ihm eigene Übellaunigkeit und sein vulgäres Wesen übertünchen sollte.

Manlius, Lucontius und Felix gaben an diesem Abend den Ton an, spielten sich nach Art des Goldenen Zeitalters die Anfangszeilen von Gedichten und Epigrammen zu und suhlten sich in seliger Erinnerung an ihre Schulzeit und die großen Dichter, die sie seither verehrten. Und dann war es Lucontius, der durch eine kleine Entgleisung – etwas, was ihm gar nicht ähnlich sah – dem Abend plötzlich eine unerfreuliche Wendung gab.

»Noch immer ist es Platons Atem,Der frischen Wind in Christi Kirche bläst.«

Elegant, witzig und feinsinnig. Felix reagierte mit einem leichten Lächeln, und selbst Manlius mochte sich ein anerkennendes Nicken nicht verkneifen.

Caius Valerius aber lief vor Ärger rot an. »Ich möchte annehmen, dass es ein paar Dinge gibt, die über jeglichen Spott erhaben sein sollten.«

»Habe ich gespottet?«, fragte Lucontius mit gespielter Verwunderung, weil ihm klar war, dass Caius, der nicht zwischen Anerkennung und Spöttelei zu unterscheiden wusste, auch diesmal nichts verstanden hatte. »Ich glaube, ich habe nur die Wahrheit gesagt. Ist es nicht so, dass wir die Offenbarungen unseres Herrn nur mit den Augen der Griechen erkennen? Sogar der heilige Paulus war Platoniker.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Caius. »Meine Wahrheit steht in der Bibel. Ich brauche keine griechischen Augen, um sie zu erkennen.«

Sollte Manlius intervenieren? Dem Jungen erklären, dass manche Textstellen unterschiedliche Auslegungen zulassen? Ihn darüber belehren, dass uns Mysterien wie die Fleischwerdung, die Dreieinigkeit und der Heilige Geist nur dank Platons Philosophenschule und deren Lehren nachvollziehbar sind? Aber Caius gehörte nun mal zu denen, die stolz sind auf ihre Ignoranz, mangelnde Bildung geistige Unverdorbenheit nennen und ob jeder Verfeinerung, sei es im Denken oder in der Wortwahl, in heiligen Zorn geraten. Wahrlich ein Mann seiner Zeit. Dabei war es noch nicht gar so lange her, dass jemand wie Caius aus Scham ob seiner Unwissenheit geschwiegen hätte; nun aber waren es die Wissenden, die ihre Zunge hüten mussten. »Und du, mein lieber Lucontius«, sagte Manlius schließlich, »tätest gut daran zu bedenken, dass Platon, wie viele annehmen, Zugang zu den Offenbarungen des Moses hatte und so im Grunde nur die Weisheit unseres Herrn ins Griechische übersetzt hat, nicht andersherum.« Er lugte besorgt zu seinem Freund hinüber und sah, dass Lucontius, die feinfühlige Seele, den Wink verstanden hatte, sich zerknirscht gab und mit reuigem Blick stumm um Vergebung bat. Der Kelch des potenziellen Zerwürfnisses war an ihnen vorübergegangen, sie konnten die Mahlzeit bei harmlosen Gesprächen ohne alle Spitzen und Schärfen fortsetzen.

Manlius freilich war der Abend verdorben. Da bereitete er nun seine Einladungen mit großer Sorgfalt vor und bemühte sich redlich, vulgäre Grobiane wie Caius von seiner Tafel fern zu halten, aber es wurden ihrer immer mehr, und der Kreis derer, die geistvollen Witz versprühen konnten, schrumpfte immer schneller. Wahrscheinlich lebte er in einer Traumwelt. Caius Valerius, einflussreicher Spross einer einflussreichen Familie, kannte Platon nicht einmal dem Namen nach. Vor hundert – ach was, noch vor fünfzig Jahren hätte das als unvorstellbare Absurdität gegolten. Jetzt aber wäre jeder verblüfft gewesen, wenn einer wie Caius überhaupt etwas von Philosophie verstanden hätte. Wie denn auch, da er sie doch, selbst wenn man ihm alles erklärt hätte, nicht verstehen wollte?

Als die meisten Gäste, eskortiert von Bediensteten mit Fackeln, zu Bett gegangen waren, saß Manlius noch lange im Innenhof und grübelte darüber nach, wie sehr sich die Welt doch verändert hatte. Sein Blick fiel durch die weit offenen Tore auf die Landschaft: einst ein gepflegter Park, nun durch geduckte Bauernkaten verunstaltet, deren es immer mehr wurden und die immer näher an seine Villa heranrückten – wie ein Wurf Ferkel, der Zuflucht bei der Muttersau sucht. Er hätte sie niederreißen lassen können, fürchtete aber, dass ihre Bewohner dann wegziehen und sich einen neuen Herrn suchen könnten, einen, der sich nicht an Recht und Gesetz hielt, wenn Manlius ihre Rückkehr verlangte. Er wandte sich um und sah zum alten Badehaus hinüber. Es diente jetzt als Unterkunft für Soldaten, deren ständiger Nähe man in diesen Zeiten bedurfte, wenn man sein Hab und Gut schützen wollte.

Dabei wollten doch alle, die sich ringsum angesiedelt hatten, nur in Sicherheit leben, und keiner von ihnen hatte ihm Schlimmeres angetan, als ihm den Ausblick zu verderben. Da war einer wie Caius Valerius viel, viel gefährlicher.

»Ich fürchte, niemand kann sich seine Familie aussuchen.« Felix stand plötzlich hinter ihm. »Leute vom Schlage meines lieben Vetters hat es immer gegeben. Sogar Vergil hatte, wenn ich mich recht erinnere, einen Schwager, der seine Dichtkunst verachtete.«

Manlius legte den Arm um ihn und ging im spärlichen Licht langsam mit ihm in den Garten. Felix war unter allen, die er kannte, der Einzige, dem er von Herzen zugetan war und dessen Nähe ihn alle Sorgen und Ärgernisse vergessen ließ. Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten vertraute er dem klein gewachsenen, kräftigen Mann, dessen geistige Beweglichkeit das plumpe Äußere Lügen strafte. Einer, in dem man sich leicht täuschen konnte, denn er sah aus wie ein Soldat, der für blutiges Schlachtengetümmel und das einfache Leben im Feldlager geschaffen schien. Tatsächlich aber war er von schneller Auffassungsgabe, geübt in der Kunst geschliffener Dispute und der ehrenwerteste, loyalste Freund, den Manlius sich wünschen konnte. Er redete nie schlecht über andere – eine Unsitte, bei der Manlius sich hin und wieder ertappte. Felix dagegen brach über niemanden den Stab, sondern suchte immer das Gute in anderen, selbst wenn sie kaum mit Tugenden aufwarten konnten.

»Ich weiß«, erwiderte Manlius. »Und ich ertrage ihn um deinetwillen. Aber es kommt mich, um aufrichtig zu sein, bisweilen hart an.«

Felix nickte. »Er ist grob, vulgär und nicht sonderlich gebildet, aber er macht der Kirche großzügige Geschenke und hat durch die Abstellung seiner Männer dazu beigetragen, Clermont gegen die Goten zu verteidigen. Genau wie ich.«

Manlius horchte auf. Der Gedanke quälte ihn seit Wochen. Die von den Westgoten belagerte Stadt Clermont war die letzte Bastion, die König Eurich daran hinderte, sich die Provence einzuverleiben. Wenn Clermont fiel, würden bald auch alle anderen Städte folgen. Aber ohne Verstärkung konnte die Festung sich nicht lange halten; sie wäre wohl schon gefallen, wenn Sidonius nicht den Oberbefehl an sich gerissen und bislang der Versuchung widerstanden hätte, sein Heil in der Kapitulation zu suchen.

Was aus Manlius' Sicht unvermeidlich war. Seit Jahren zogen die Barbaren nun schon durch Gallien. In manchen Städten als Verbündete gegen Rom willkommen, in anderen nicht, nahmen sie mehr und mehr Land in Besitz. Es grenzte geradezu an ein Wunder, dass die römische Streitmacht sie so lange aufhalten konnte. Erst vor wenigen Jahren hatte Rom ein Heer von dreißigtausend Männern gegen Eurichs Vater aufgeboten: Keiner war zurückgekommen. Manlius erinnerte sich noch gut, wie sein Vater des Lobes voll gewesen war ob der großartigen Strategie des Kaisers Majorian, der es zu verdanken war, dass die Bedrohung abgewehrt werden konnte. Doch dann war der Kaiser von seinen Feinden in der römischen Aristokratie Galliens kaltgestellt und fünf Tage später hingerichtet worden, bevor ihm seine Armee zu Hilfe eilen konnte. Und nun war es Sidonius – tapfer, vermessen und einfältig, wie er war –, der sich vorgenommen hatte, das zu vollbringen, was keinem Kaiser gelungen war. Ein Mann, der schon immer eine Schwäche für aussichtslose Situationen und große, heroische, aber letztendlich sinnlose Gesten gehabt hatte.

»Ich habe erneut einen Brief von ihm bekommen, in dem er um unsere Hilfe bittet«, fuhr Felix fort. »Er sagt, ein paar Tausend Krieger könnten jetzt alles ändern.«

»Das hat er vor sechs Monaten auch schon gesagt, aber es hat sich gar nichts geändert.«

Felix hob müde die Schultern. »Wir müssen zumindest zu Anstrengungen und Opfern bereit sein. Das Schicksal der ganzen zivilisierten Welt steht auf dem Spiel.«

Manlius lächelte. »Wir, lieber Freund, wir sind die zivilisierte Welt: ein paar Dutzend gebildete Männer. Solange wir noch Arm in Arm durch meinen Garten schlendern können, wird die Zivilisation fortbestehen, allen Eurichs zum Trotz. Und du könntest dir, fürchte ich, mit deinem Engagement mehr Ärger einhandeln, als du denkst.«

Felix schüttelte den Kopf. »Vor wenigen Jahren hättest du noch nicht so memmenhaft gesprochen.«

»Vor wenigen Jahren war alles anders. In meiner Jugend konnte man noch auf gut in Stand gehaltenen Straßen sorglos durchs Land reisen, von einer ordentlich verwalteten Stadt zur anderen, und in den Villen von Freunden Station machen, umsorgt von so vielen Bediensteten, wie nötig waren. Es gab einen Kaiser, der tatsächlich Macht ausübte und noch nicht der Spielball von Kriegsherren war. Von diesen Tagen sind wir heute so weit entfernt wie vom Zeitalter des Augustus.«

»Nun, hier ist es ja noch friedlich.«

»Alles Illusion, mein Freund! Wir wurden hier während der vergangenen sechs Wochen dreimal von Marodeuren angegriffen. Beim letzten Überfall bin ich nahezu ausgeplündert worden. Zwei andere Landhäuser von mir wurden zerstört und können nun nichts mehr abliefern. Die friedliche Ruhe, die du heute Abend hier erlebst, verdanken wir dem Schutz durch sechshundert Soldaten. Sie brauchen fast ein Drittel all dessen auf, was wir erzeugen, und können sich jederzeit gegen uns wenden. Die Zahl derer, die unsere Felder bestellen, wird immer kleiner, und noch mehr schmilzt die Zahl derer, die uns die ohnehin spärlichen Produkte abkaufen können. In gewisser Weise stehen auch wir unter Belagerung und sind drauf und dran, die Schlacht zu verlieren – so wie unser Freund Sidonius die seine verlieren wird. Aber das alles muss dir ja aus eigener Erfahrung bekannt sein.«

»Ja, natürlich ist mir das bekannt«, sagte Felix bedrückt. Sie gingen ein Stück weiter und ließen sich schließlich an einem Teich nieder. »Und ich bin dankbar, dass du mich dennoch eingeladen hast, so wie eh und je. Auch ich brauche menschliche Nähe, obwohl ich von vielen Leuten umgeben bin.«

Manlius beugte sich zur Seite und küsste seinen Freund auf die Wange. »Es tut gut, dich einmal mehr hier zu haben. Aber wie gut es uns beiden auch tut, das war nicht der Grund, dass ich gerade dich eingeladen habe. Ich muss dir etwas sagen, etwas Wichtiges.«

Das war der Moment, in dem er eine Freundschaft auf die Probe stellen musste, die sie seit fast zwanzig Jahren ohne Streit, ohne Meinungsverschiedenheiten und im besten Einvernehmen verband. Manlius war bewusst, dass er sich anschickte, eine unsichtbare, geheiligte Grenze zu überschreiten.

Felix zog seinen Arm weg und wandte sich dem Freund zu. »So feierlich und ernst? Worum mag es da gehen? Hast du womöglich endlich beschlossen, deine Briefe zu veröffentlichen?«

»Mir ist nicht nach Scherzen zu Mute. Ich fange an zu denken wie du: dass wir zu Anstrengungen und Opfern bereit sein müssen. Dass wir nicht so leicht aufgeben dürfen, auch wenn es den Anschein hat, dass all das verloren geht, was uns lieb und teuer ist. Ich habe einen Brief von Bischof Faustus von Riez erhalten.«

»Gütiger Himmel! Da musst du in die Kirche eilen und Gott auf Knien danken! Dieser Mann ist wahrlich ein Heiliger und Wundertäter. Ich bin überzeugt, dass alles wahr ist, was man über ihn erzählt.«

Manlius ließ ein undefinierbares Knurren hören, und dann plauderten sie eine Weile über den nun über und über verkrauteten Teich, an dem sie saßen. Sie tauschten Aphorismen über das Wasser aus, zitierten Plinius' Anmerkungen über seinen Garten und verdrehten dabei grammatikalische Konstruktionen derart, dass aus seinem Lobpreis wohl geordneter Anmut ein Spiegelbild des gegenwärtigen Wirrwarrs wurde. Und dann taten sie, was nur gute Freunde vermögen: Sie saßen stumm da, genossen den Anblick der wie eh und je üppig blühenden Lilien und lauschten den Insekten nach, die im Mondlicht über ihnen summten und schwirrten.

Schließlich sagte Manlius: »Faustus hat mich in seinem Brief gebeten, Bischof von Vaison zu werden.«

Felix begriff augenblicklich die Bedeutung dieser Mitteilung, versuchte sie aber durch eine scherzhafte Bemerkung herunterzuspielen. »Nicht Bischof von Rom? Oder gar Kaiser? Du würdest dich in Purpur gut machen. Wirklich, der Mann kann dich nicht gut kennen, sonst hätte er sich die Tinte gespart.«

Manlius warf eine Hand voll Erde ins Wasser und sah zu, wie ein Barsch, der nach Futter gierte, das Wasser durchpflügte.

»Ich habe beschlossen, dem Ruf zu folgen«, sagte er leise.

Einem Gelehrten der Generation Juliens musste es fast so scheinen, als habe es zwei Männer mit dem Namen Manlius Hippomanes gegeben: den Bischof, der in den Chroniken auftaucht und der die Gläubigen in seinem Bistum vor Plünderungen durch die Barbaren bewahrt hat; er soll die Juden von Vaison bekehrt haben, und sein Reliquienschrein hat noch lange nach seinem Tod Wunder bewirkt. Zum anderen den Mann, für dessen geschliffenen Stil die Briefwechsel mit seinen adeligen Freunden und das Manuskript vom »Traum« zeugen. Der eine wurde wegen seiner Frömmigkeit verehrt, der andere war für seine weltkluge Gelehrsamkeit, seine Verachtung für die zunehmende geistige Verflachung und die Geringschätzung bekannt, die er für das Zeitalter empfand, in dem er lebte.

Eine Abhandlung aus Juliens Feder, das Papier, das in den beginnenden vierziger Jahren in Fachkreisen Aufmerksamkeit erregte, wagte den Versuch, die beiden scheinbar widersprüchlichen Charaktere miteinander zu versöhnen – und das zu einer Zeit, in der Europa sich abermals in Kriege verstrickte und die Zeichen nicht auf Versöhnung standen. Juliens These lief darauf hinaus, dass beide Erscheinungsbilder ein und denselben Mann widerspiegelten, eben nur aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Bischof, der sich fürsorglich um seine Herde kümmerte, war derselbe Mann, der sich in einer Zeit, in der in Gallien das römische Imperium zu Staub verfiel, als anspruchsvoller Dilettant der Dichtkunst verschrieb. Der rührige, von den Gläubigen ob seiner guten Werke geliebte Hirte war identisch mit dem dekadenten und untätigen Literaturfreund, der es im Jahr 475 versäumte, die burgundischen Gotenstämme im Tal der Rhone aufzuhalten.

Aus Juliens – zugegeben kühner – Sicht stellte sich Manlius' verkannte Leistung als zukunftsweisende, von atemberaubender Klarheit geleitete Vision dar. Denn Manlius, so erklärte er, habe es keineswegs versäumt, die Burgunder aufzuhalten, sondern ihnen vielmehr aus freien Stücken einen Teil der Provence überlassen, um so die ungehobeltere, aber effektivere Schirmherrschaft eines Barbarenkönigs gegen den nicht mehr existierenden Schutz Roms einzutauschen. Und gerade weil er das getan habe, sei der Versuch der Westgoten König Eurichs vereitelt worden, im Delta der Rhone weiter vorzudringen und die Herrschaft über eines der Kernlande Europas zu erlangen. Manlius habe frühzeitig erkannt, dass die Burgunder – insbesondere, nachdem der letzte weströmische Kaiser entthront worden war – zum mächtigen Schutzherren der Kirche werden und deren Bindung an Rom gewährleisten konnten. Ohne ihn, behauptete Julien, hätte das Christentum nicht überlebt, der Westen wäre in eine römische und eine arianische Glaubensrichtung gespalten worden, und der wachsende Einfluss des Papsttums wäre undenkbar gewesen. Dank Manlius aber hätten die neuen Herrscher ihren burgundischen Kodex auf der Grundlage des römischen Rechts begründet.

Und das alles, weil der imaginative Intellekt des Aristokraten erkannt hatte, dass die römische Zivilisation mehr war als nur das römische Recht; er rettete das, worauf es im Kern ankam, indem er bereit war, das aufzugeben, woran sich viele in ihrer Blindheit klammerten. Ihm war der Weitblick gegeben, an dem es den anderen Edelleuten mangelte, denn er erkannte, dass es – wenn der Nährboden bereitet war und die neuen Herrn sich ihrer Pflicht zur Bewahrung des Erbes stellten – sehr wohl möglich war, das zu retten, was das Wesen des dem Untergang geweihten römischen Kaiserreichs ausgemacht hatte.

Diese Interpretation war freilich, wie Julien einräumen musste, von den heraufziehenden Schatten seiner eigenen Zeit geprägt. Er schrieb besagte Abhandlung und wandte sich dann einem hoffnungsvolleren Thema zu, nämlich dem literarischen Aspekt von Manlius' Wirken und dem Einfluss, den dieser auf spätere Epochen gehabt hatte. Das ermöglichte ihm zugleich, behutsam zu Olivier de Noyen überzuleiten, dem er eine Schlüsselrolle bei der Weitergabe des geistigen Erbes an ein neues Zeitalter zuschrieb. Aber die herausragende Klarheit der Vision Manlius' konnte nicht von ungefähr kommen; es musste irgendetwas gegeben haben, das ihn dazu befähigte, den Wandel so viel leidenschaftsloser und nüchterner zu sehen als all jene Zeitgenossen, die selbst fünfzig Jahre nach dem Ende der römischen Vorherrschaft so taten, als hätten sie davon nichts bemerkt.

Bei seiner neuen Abhandlung stützte sich Julien im Wesentlichen auf das Dokument, das er in der Bibliothek des Vatikans gefunden hatte: das Manuskript »Scipios Traum«, das Manlius' Verständnis des Neoplatonismus – der anspruchsvollsten aller Philosophien – aufzeigt. Von allen, die sich überhaupt noch zum Handeln berufen fühlten, war es ein Philosoph, der durch die Symbiose aus Tatkraft und Einsicht richtungsweisende Veränderungen erzielen wollte. Hätte sich ein der säkularisierten Welt zugewandter Mann wie Julien gegen eine solche Interpretation sträuben sollen? Ein Mann, der sich der Literatur, der Geschichte und der Welt des Denkens verschrieben und keine Ader für all das hatte, was die andere Seite von Manlius ausmachte und ihm den Ruf eines Wundertäters eintrug? Das war für Julien abergläubischer, dem Überschwang frommer Seelen entspringender Unsinn. Und so blieb ihm der entscheidende Widerspruch zwischen Manlius' Philosophie der Tugend und seinem Handeln so lange verborgen, bis es fast zu spät war.

Manlius starb um das Jahr 486, acht Jahre nach seiner letzten Begegnung mit Sophia. Die Menge, die draußen auf die Nachricht vom Ableben des Bischofs gewartet hatte, brauchte gerade mal eine Stunde, um seinen Leichnam zu fleddern und in Stücke zu zerreißen. Als bekannt wurde, dass er den letzten Atemzug getan hatte, drang die Meute – es sollen an die zweihundert Menschen gewesen sein – in das Haus ein und verlangte, den Toten zu sehen. Da es keine Wachen mehr gab und wohl auch niemand in der Lage gewesen wäre, sich diesem Ansturm entgegenzustemmen, war die Totenkammer im Nu von Trauernden erfüllt, die sich singend und betend um das Lager drängten, um die sterblichen Überreste eines Mannes zu berühren, der, wie jeder wusste, schon ein Heiliger war. Wahrscheinlich war es ein professioneller Reliquiensammler – eine bereits etablierte Spezies –, der sich als Erster über den Toten beugte, ihm ein Stück aus dem Totenhemd schnitt und sich so in den Besitz eines Andenkens brachte, dem durch den Kontakt mit dem Toten der Odem der Heiligkeit anhaftete. Sicher dauerte es nicht lange, bis auch die aus der Stadt Angereisten den Wunsch verspürten, ein Erinnerungsstück zu besitzen, oder der Diakon einer Nachbargemeinde einen Fetzen Tuch zum Ruhme seiner Kirche mit nach Hause nehmen wollte. Die Familienangehörigen und Freunde beteiligten sich bestimmt nicht an dem Treiben; sie waren längst aus dem Raum gedrängt worden oder voller Abscheu geflohen.

Panik breitete sich aus, und immer mehr zerrten an dem Totenhemd. Binnen weniger Minuten lag der Leichnam nackt da, aber die Menge, Männer wie Frauen, gab immer noch keine Ruhe, sondern fing an, Manlius die Haare auszureißen oder an seinen Fingern zu zerren. Eine Art Blutrausch ergriff die Anwesenden, im allgemeinen Gedränge brach Streit aus, ekstatisches Schluchzen und wütende Schreie erfüllten den Raum, und keiner wollte wanken und weichen, bevor er nicht ein blutiges, zerfetztes Stück des heiligmäßigen Bischofs erhascht hatte, das er triumphierend davontrug, offen in der Hand oder unter dem Mantel verborgen.

Als der Sturm verebbt war, wurde das, was von Manlius geblieben war, gebadet, gesalbt, frisch bekleidet, auf eine Bahre gebettet und zur letzten Ruhe in die Bischofskirche von Vaison verbracht. Und schon machte sich ein Steinmetz daran, einen Sarkophag zu entwerfen, denn die Familie war trotz allen Unglücks, das sie in jüngster Zeit heimgesucht hatte, immer noch reich und würde sich gewiss nicht lumpen lassen, wenn es um die Ehre ging, einen der Ihren repräsentativ zur letzten Ruhe zu betten. Der Dompropst, dem die Verwaltung der Diözese oblag, bis ein Nachfolger für Manlius gefunden war, stellte die kräftigsten Männer, die er finden konnte, als Wache auf. Dann aber geriet er ins Grübeln.

Konnte es nicht sein, dass die Reliquienjäger wieder kamen? Man wusste ja, wie gründlich diese Leute in ihrer unstillbaren Gier das Haus eines Heiligen ausplünderten. Dazu kam, dass sich Manlius – ungeachtet seiner Vergangenheit – zwar ganz der Kirche geweiht hatte, aber doch als ein reicher Mann gestorben war. Eingedenk der Worte des Herrn konnte – und wollte – es dem Propst nicht gefallen, dass Manlius in Reichtum gestorben war. Wäre sein jäher Tod – ein Schlaganfall mit zweiundsechzig, kurz nach dem Aufstehen – vorhersehbarer gewesen, so hätte er, dessen war sich der Propst sicher, bestimmt in einem Vermächtnis verfügt, dass sein ganzes Vermögen an die Kirche fallen und deren Ruhm dienen solle, damit er in angemessener Armut sterben konnte. Nun aber, da die sterblichen Überreste sicher in der Kirche ruhten, musste wohl oder übel der Propst an Manlius' Stelle die Dinge im Sinne des Verstorbenen regeln.

Bis zum Abend des folgenden Tages war Manlius' prächtige Villa leer geräumt. Das Gold- und Silbergeschirr (von dem es erstaunlich wenig gab, wobei der Propst sich freilich nicht klar machte, wie oft der Bischof unaufschiebbare Ausbesserungsarbeiten an Straßen, Mauern und Kanälen aus eigener Tasche bezahlt hatte) wurde genau wie die Möbel in der Kirche unter Verschluss genommen, das Dach samt allen Bleiverzierungen abgedeckt und zur späteren Verwendung an einem sicheren Ort gelagert. Ebenso verfuhr man mit vier großen Steinsäulen der Kolonnade; auch für sie würde sich eine passende Verwendung finden, vorausgesetzt, es ließ sich ein für den Transport geeignetes Ochsengespann auftreiben. Die Statuen sollten stehen bleiben, aber die Arbeiter – brave Männer schlichten Gemüts aus der Umgebung – waren entsetzt, als sie sahen, dass es sich fast ausnahmslos um heidnische Darstellungen handelte, widerliche Zeugnisse der Gottlosigkeit. Die Figuren wurden eilends von ihren Säulen gestoßen und mit schweren Holzschlägeln zertrümmert, denn die Männer waren entschlossen, den guten Ruf des Bischofs über den Tod hinaus zu bewahren, so wie sie's zu seinen Lebzeiten getan hatten. Es war das Mindeste, was sie für ihn tun konnten, und sie taten es bereitwillig, da sie seiner schützenden Hand und Fürsprache auch vom Himmel aus bedurften und nicht Gefahr laufen wollten, sich wegen eines schwerwiegenden Versäumnisses seinen ewigen Zorn zuzuziehen.

Und so wurden auch die meisten Bücher seiner großen Bibliothek ein Raub der Flammen; ob alte Schriftrollen oder spätere Kopien antiker Werke, sie schleppten alles in den Innenhof und verbrannten es, wobei sie in ihrem überhasteten Eifer nicht bedachten, dass das beschriebene Pergament wieder zu verwenden gewesen wäre, wenn man die Tinte abgeschabt hätte. Über drei Stunden loderte das Feuer, während die wertvollen Schriften von Ammianus, Tacitus, Ovid, Terenz und Plautus in Flammen aufgingen, als wollten sie dadurch die Verdienste ihres Besitzers in noch hellerem Licht erstrahlen lassen. Auch Manlius' unersetzliche griechische Schriften, sein geliebter Platon, Aristoteles, Xenophon und die beiden Kopien von Sophokles, wurden zu Asche und Staub. Man brauchte sie nicht, viele waren skandalös, also weg damit! Um die Spreu vom Weizen zu trennen, wurden nur christliche Texte verschont und, sorgsam in Tücher gehüllt, nach Vaison gebracht, wo sie in der Sakristei der Kirche auf einem schmalen Bücherbord vor sich hin dämmerten, bis sie einhundert Jahre später ihre letzte Reise in ein Kloster in der Nähe von Marseille antraten.

Zwei Jahrhunderte lagen sie dort, dann brach in der Klosterbibliothek ein Feuer aus, und sie verbrannten ebenfalls. Bis dahin waren allerdings einige von ihnen kopiert und so – wenn auch nur durch einen glücklichen Zufall – vor dem endgültigen Vergessen bewahrt worden. Im Jahre 732 kam nämlich ein Mönch aus einem in der Nähe von Montpellier neu gegründeten Kloster auf der Suche nach frommen alten Schriften in die Gegend von Marseille und beauftragte einen seiner Schreiber, Kopien der Bücher zu fertigen, die einst zu Manlius' Bibliothek gehört hatten. Der Mann stand unter solchem Zeitdruck, dass er kaum darauf achten konnte, was er da eigentlich abschrieb, und hielt auch Manlius' Kommentar zu Platons Philosophie für einen christlichen Text.

Die Kopie enthielt Fehler, sogar grobe, doch der feine, lange vor Manlius' Zeit gesponnene und durch viele Jahrhunderte gehegte Gedankenfaden blieb erhalten. Zwar wurde auch diese Version zerstört – diesmal von Protestanten während der Religionskriege –, aber da hatte sie Olivier de Noyen schon zu Gesicht bekommen und das meiste davon (einschließlich aller Fehler) kopiert. Die Stimme, die Julien Barneuve vernahm, als er das Manuskript in der Vatikanischen Bibliothek fand, war im Lauf der Jahrhunderte schwach und brüchig geworden, aber ihr Echo hallte inmitten der Geschwätzigkeit einer oberflächlichen Welt klar und deutlich wider, und mit ihm Sophias rätselhafte, halb oder gar nicht verstandene Worte, die sich als Vermächtnis früherer Jahrhunderte in Juliens Hirn eingruben.

Als Olivier de Noyen die Handschrift in der Bibliothek eines Klosters bei Montpellier fand, ahnte er zwar sofort, dass es ein wichtiges Dokument war, aber es blieb ihm versagt, die darin diskutierten Thesen auch nur annähernd zu verstehen, bis er unter die geistige Schirmherrschaft von Rabbi Levi ben Gerson kam. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass es sich um eine eher zufällig gefertigte Kopie handelte. Er wusste wenig über die alten Philosophen, kannte nur einige Auszüge aus Aristoteles' Schriften, die man aber so lange im Sinne der Kirche verbogen hatte, dass die meisten Leser gar nicht auf den Gedanken kamen, der Verfasser könne ein Heide gewesen sein. Platon sagte ihm nur dem Namen nach etwas: eine mysteriöse, halb legendäre Gestalt, aber längst vergessen. Olivier war ein klerikal erzogener Höfling mit poetischen Ambitionen, darauf bedacht, das geschriebene Wort von den Verdrehungen und Verfälschungen seiner Zeit zu befreien und auf die ursprüngliche Reinheit zurückzuführen: ein nach Juliens Maßstäben einseitig gebildeter Mann und von begrenztem Intellekt.

Die Liebe zum geschriebenen Wort hatte schon früh eine Art unstillbaren Hunger in Olivier geweckt. Seinem Vater sagte man nach, ein eitler und, weil ihm der erhoffte Erfolg versagt geblieben war, verbitterter Mann zu sein. Er war als Notar tätig, aber in einer so kleinen, ärmlichen und unbedeutenden Stadt wie Vaison ließ sich damit kein Vermögen scheffeln. Früher, erzählten die Leute, sei Vaison eine große Stadt gewesen, nur lag das schon so lange zurück, dass niemand wusste, ob es stimmte oder Legende war. Gewiss, die Bauern stießen beim Pflügen ihrer Felder oft auf große Steinbrocken, Ornamente oder sogar metallene Artefakte, weil sie sich aber nicht weiter dafür interessierten, verfluchten sie die Funde, die ihnen nichts als Mühe machten. Nur hin und wieder wurde eines der Zeugnisse aus früherer Zeit geborgen, weil man es beim Bau einer Scheune oder eines Hauses auf jenem Hügel verwenden wollte, auf den sich die Bewohner um ihrer Sicherheit willen zurückgezogen hatten.

In einer der engen, verwinkelten und schmutzigen Gassen hoch über dem Fluss und den Feldern, die nun Manlius' Bischofsstadt bedeckten, wurden Olivier de Noyen 1322 geboren, zur Freude seines Vaters, der, weil er fest daran glaubte, dass sein Sohn zu Höherem berufen sei, sogleich all seine Ambitionen auf diesen übertrug. Der Junge sollte studieren, Advokat werden, nach Paris gehen, am besten an den Hof von Frankreich, denn in diesem fremden, barbarischen Landstrich im Norden konnte man es zu Einfluss und großem Wohlstand bringen. Von dieser Idee war der Vater fast von dem Moment an beseelt, in dem er Olivier bei einem kurzen, leidenschaftslosen ehelichen Beischlaf gezeugt hatte, und als seine Frau ihm fünfzehn Wochen später die frohe Nachricht kundtat, war er so ergriffen ob des zeitlichen Zusammentreffens von Idee und Zeugungsakt, dass er sich einredete, es müsse die Heilige Jungfrau auf dem Hügel in ihrer Güte und weisen Voraussicht gewesen sein, die die Geschicke so gelenkt habe.

Himmlische Fügungen darf man nicht unbeachtet lassen, und da Olivier folgerichtig bereits in zartestem Alter auf die gewünschte Karriere vorbereitet wurde, war das Wort »Advokat« vermutlich eines der ersten, die er nicht nur aussprechen, sondern auch verstehen konnte. Er wurde in die Schule neben der Kathedrale geschickt, lernte fleißig, bezog Prügel, wenn er etwas falsch machte, und musste abends und an Sonntagen die väterlichen Lektionen über sich ergehen lassen, bei denen de Noyen der Ältere ihm das Grundwissen für die berufliche Laufbahn einzubläuen versuchte, die Olivier sofort nach einem erfolgreichen Studium an der Universität in Montpellier antreten sollte. Sein Vater kannte nur wenige einflussreiche Leute, pflegte aber diese Kontakte umso intensiver, weil er wusste, wie wichtig sie bei der Suche nach einem Patron oder der passenden Braut für seinen Sohn waren. Als entfernter Vetter schrieb er sogleich an Annibaldus di Ceccani, einen Monsignore am päpstlichen Hof zu Avignon, dem man eine große Zukunft voraussagte und der – im Gegensatz zu ihm – über Verbindungen zu bedeutenden Leuten verfügte. Es traf sich, dass ihm etwa zur gleichen Zeit Oliviers Benehmen ernste Sorge machte, denn der Knabe schien es darauf anzulegen, die väterlichen Pläne zu durchkreuzen. Er brachte es zum Beispiel fertig, tagelang zu verschwinden, obwohl er doch wusste, dass es bei seiner Rückkehr Hiebe setzen würde. Er vernachlässigte seine schulischen Pflichten, war vorlaut und stellte dem Vater ständig irgendwelche Fragen, die dieser – ein gutwilliger, aber eher ungebildeter Mann – nicht zu beantworten wusste. Auch stieg er über Zäune und stahl Früchte, Pilze und Vögel, was bereits wiederholt zu Klagen geführt hatte. Also setzte es wieder Hiebe, aber die fruchteten nichts. Und so war der Brief an Monsignore Ceccani (bald schon Kardinal, wie gemunkelt wurde) im Grunde ein Akt schierer Verzweiflung: der Wunsch, den Knaben jemandem mit mehr Autorität zu übergeben, der sich vielleicht besser als der leibliche Vater darauf verstand, den Eigensinn des Jungen zu beugen oder, wenn nötig, zu brechen.

Warum sich Ceccani im Jahr 1336 bereit erklärte, den vierzehnjährigen Olivier unter seine Fittiche zu nehmen, auf dass er ihm zur Hand gehe und dabei mit dem kultivierten höfischen Leben und der kirchlichen Gelehrsamkeit vertraut werde, ist nie ganz klar geworden. Vielleicht brauchte er einfach einen Bediensteten, möglicherweise hatte er auch bei der ersten Begegnung mit Olivier ein Funkeln in den Augen des Jungen wahrgenommen, das ihn neugierig machte, oder es war gar eine Fügung des Himmels, denn wenn Ceccani dem Wunsch seines entfernten Verwandten nicht entsprochen hätte, wäre er wahrscheinlich aus seiner Dauerfehde mit Kardinal de Deaux als Sieger hervorgegangen und hätte die Entwicklung der Christenheit in eine andere Richtung gelenkt. Was auch der Grund gewesen sein mag, jedenfalls schnürte der Junge bald darauf sein Bündel, sagte der geliebten Mutter Lebewohl, verließ Vaison und ging nach Avignon, wo er den Rest seines Lebens verbrachte und in dieser Zeit die Ambitionen des Vaters endgültig zunichte machte.

Ceccani wurde nie einer der faszinierenden, universell gebildeten Philosophen unter den Kardinälen, die im folgenden Jahrhundert viele Sünden der Kirche wettmachten, aber er war ein recht kultivierter Mann, der, gemessen an den Möglichkeiten seiner Zeit, viel las und sich sogar eine Bibliothek aufbaute. Bald erhielt Olivier Zutritt zu der Sammlung von etwa einhundertfünfzig Handschriften. Es war nicht so, dass Ceccani dem Knaben von Anfang an viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte, er war kein großer Pädagoge und brachte ihm wenig menschliche Wärme entgegen. Aber in Ruhe gelassen zu werden war genau das, was Olivier wollte, und so blühte er in seiner neuen Umgebung sichtlich auf und erlebte zum ersten Mal, wie es ist, sich unverbrüchlich in etwas zu verlieben, und wie sehr eine solche Leidenschaft an den Kräften zehren kann – mit anderen Worten: Er begann zu lesen. Morgens um vier stand er auf und las, bis es Zeit wurde, seinen Pflichten nachzugehen, mittags schlang er das Essen hinunter, damit er nur ja recht bald wieder in die Bibliothek eilen und – sei's auch nur zehn Minuten lang – weiter lesen konnte, und abends las er im Schein der heimlich aus der Küche entwendeten Kerzen, bis ihm die Augen zufielen.

Breit gefächert war das Angebot an Schriften nicht: ein Text von Aristoteles (in der lateinischen Übersetzung einer aus dem Griechischen übertragenen arabischen Version) und die Kirchenväter – Boethius, den er wegen seiner Weisheit verehrte, und Augustinus, der ihn durch seine Menschlichkeit beeindruckte. Aber dann kam der Tag, an dem er Cicero entdeckte, und das veränderte alles. Die Schönheit der Prosa, die elegante Leichtigkeit der Gedankenführung und die majestätische Erhabenheit der Konzeption berauschten ihn wie schwerer Wein. Nachdem er das einzige Werk Ciceros, das Ceccani besaß, zum ersten Mal gelesen hatte, weinte er vor Freude zwanzig Minuten lang, um sodann unverzüglich den ganzen Text noch einmal zu lesen.

Etwa sechs Monate später entdeckte er die Sammelleidenschaft in sich, und zwar in einem Laden, in dem er ein paar Leckereien für den Haushalt einkaufen sollte. Das gehörte eigentlich nicht zu seinen Aufgaben, und er hätte sich auch nie danach gedrängt, vielmehr war es der Zufall, der ihm dazu verhalf, den düsteren, abweisend wirkenden Palast und das spartanische Quartier im Dachgeschoss zu verlassen und nach Herzenslust durch die Straßen zu wandern.

Avignon schlug ihn jedes Mal in seinen Bann, er war überwältigt von der Geschäftigkeit, dem Lärm, den Gerüchen und all den anderen Sinnesreizen. Denn Avignon hatte sich innerhalb von wenigen Jahren von einer Kleinstadt in eines der Weltwunder verwandelt. Der Umzug des päpstlichen Hofes, der wegen weltlicher Zwistigkeiten gezwungen gewesen war, Rom zu verlassen, und sich nun offensichtlich darauf einrichtete, für immer hier zu bleiben, zog einen Strom von Menschen und allerlei Gewerbe nach: Kaufleute, Bankiers, Priester, Maler, Goldschmiede, Lohnschreiber für die Abfassung von Bittschriften, Advokaten, Köche, Kostümschneider, Möbelschreiner, Steinmetzen, Zimmerleute, Räuber, Huren und Gaukler. Sie alle bevölkerten nun die Straßen und waren bestrebt, möglichst viel Kundschaft und Einfluss zu gewinnen und rasch ein Vermögen zu machen.

Die Stadt war nicht groß genug für all die Zuwanderer, sie platzte aus allen Nähten, und die Einheimischen mussten auf der Hut sein, um nicht verdrängt, übervorteilt oder ausgeraubt zu werden. Folglich waren ihnen die Fremden nicht viel willkommener als Bienen am Honignapf oder Schmeißfliegen auf dem Misthaufen. Olivier scherte sich nicht um solche Vorbehalte, er wusste nur, dass ihm die allgemeine Ausgelassenheit die Sinne verwirrte, bis ihm jedes Mal ganz schwindelig wurde, egal ob er morgens während des Markts durch die Straßen wanderte, nachmittags zur Zeit der großen kirchlichen Prozessionen oder abends, wenn die Stadt den Trunkenbolden und denen gehörte, die es nach Völlerei, Tanz und Gesang gelüstete.

Die Stadt breitete sich immer weiter aus, Hunderte von Wohnhäusern schossen wie Pilze aus dem Boden, dazu Kirchen und Paläste, ständig wurde neues Bauland planiert oder irgendwo ein altes Gebäude abgerissen, um Platz für ein größeres zu schaffen. Als er den päpstlichen Palast zum ersten Mal betrat, wollte er kaum seinen Augen trauen; es war ihm, als habe er sich in eine gewaltige unterirdische Festung verirrt – ein Bauwerk von Ausmaßen, wie sie keines Menschen Verstand ersinnen konnte. Und doch war der Palast zu klein, jedenfalls in den Augen des neuen Papstes Klemens. Er ordnete sofort Umbauarbeiten an, durch die der Palast doppelt so groß wie der ursprüngliche werden sollte, so üppig und kostbar ausgeschmückt, dass sich auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen fand. Nachts, wenn Olivier in seinem Bett lag und darüber nachdachte, was er heute wieder alles mit den Augen und der Nase in sich aufgesogen hatte, musste er beim Gedanken an das kleine Vaison unwillkürlich in sich hineinkichern; wie groß war ihm das verschlafene Städtchen mit seinen wenigen Hundert, auf dem Hügel zusammengepferchten Einwohnern doch vorgekommen, bis er Avignon kennen gelernt hatte.

Der Feinkostladen, über dessen Schwelle er trat, war eines der schönsten Geschäfte, die er kannte. Die Regale bogen sich unter der Fülle von Köstlichkeiten, manche frisch aus dem Ofen und noch warm, dazu knuspriges Feingebäck und die Luft voll von Gewürzen, von denen er noch nie gehört hatte, und all das zu Preisen, deren Höhe ihn sprachlos machte. Er zählte getreulich auf, was er mitbringen sollte, und der Ladenbesitzer wickelte alles fest in Papier, damit sich daheim nicht die Fingerabdrücke des Jungen auf den erlesenen Leckerbissen abzeichneten.

Auf dem Papier stand etwas geschrieben, und als Olivier die ersten Worte gelesen hatte, verschlug es ihm den Atem. Es konnte keinen Zweifel geben: In dem klaren, geschliffenen Stil spiegelte sich der unverwechselbare Wohlklang einer Stimme wider, die niemand, der sie je vernommen hat, vergessen kann. In seiner Erregung wickelte er schnell das Papier auf und ließ dabei all die teuren Köstlichkeiten zu Boden fallen, wo sie zu Krümeln zerbrachen. Olivier merkte es kaum, der Ladenbesitzer dagegen erstarrte vor Schreck.

»Dafür verdienst du eine Ohrfeige«, polterte er los.

Olivier hörte gar nicht hin, sondern hielt ihm nur den Bogen Papier vor die Augen. »Wo habt Ihr das her?«

Das gerötete, ernste Gesicht des Vierzehnjährigen strahlte eine solche Eindringlichkeit aus, dass der Ladenbesitzer seinen Ärger vergaß. »Davon hatte ich einen ganzen Stapel, ich hab ihn auf einem Abfallhaufen vor dem Kloster St-Jean gefunden«, sagte er.

»Gebt mir die Blätter! Ich will sie kaufen.«

Ein Kopfschütteln. »Das ist das letzte, junger Mann, die anderen habe ich schon verbraucht.«

Olivier schnürte es fast die Kehle zu, aber er riss sich immerhin so weit zusammen, dass er dem Ladenbesitzer die Namen des letzten Dutzends Kunden entlocken konnte, die dieser bedient hatte. Und dann verbrachte er den Rest des Tages damit, die Stadt abzuklappern, an Küchentüren zu klopfen, sich dafür an Ohren ziehen zu lassen und Beschimpfungen anzuhören, und als er abends – es hatte ihn wahrhaftig den ganzen Tag gekostet – nach Hause ging, musste er sich zwar eingestehen, dass der Ladenbesitzer, was die Ohrfeige betraf, gar nicht so Unrecht gehabt hatte, doch das focht ihn nicht an, denn unter dem Umhang verborgen brachte er den größten Teil eines Briefes von Cicero mit heim, einen der so genannten Briefe an Atticus.

Als sein Vater ihn zwei Monate später besuchen kam, hatte er seinen Fund so oft gelesen, dass er den Text auswendig konnte. Und doch durchrieselte ihn immer noch eine unbändige Freude, wenn er die Blätter nur berührte (was freilich an der Naivität lag, mit der er annahm, es müsse sich um ein Original handeln, von Ciceros eigener Hand geschrieben). Olivier, der seinen Schatz abends sogar mit ins Bett nahm, vermochte sich nicht vorzustellen, dass es irgendjemanden geben könne, der seine Begeisterung nicht teilte. Und so zog er, als sein Vater ihn nach den Fortschritten fragte, die er während der letzten sechs Monate gemacht habe, stolz die Fragmente des alten Briefes aus dem Umhang und zeigte sie ihm.

Die Miene des Vaters verfinsterte sich. »Damit hast du dich also die ganze Zeit beschäftigt und dafür deine Studien vernachlässigt?«

Olivier beeilte sich zwar zu versichern, dass er fleißig und mit Erfolg studiert habe, verschwieg jedoch wohlweislich, wie verhasst ihm der trockene Lehrstoff war und dass er sich nur aus Pflichtgefühl mit ihm beschäftigte.

»Aber du hättest noch fleißiger studieren und dem Pflichtstoff noch mehr Aufmerksamkeit widmen können, wenn du nicht so viel Energie für das da verschwendet hättest.«

Olivier senkte den Kopf. »Aber Cicero war ein Advokat, Herr Vater ...«, stotterte er.

Auf den Vater machte das keinen Eindruck. »Versuch nicht, mich hinters Licht zu führen! Deswegen hast du die Blätter nicht gelesen. Gib sie mir!«

Er streckte die Hand aus, und Olivier händigte ihm – nach einem kurzen Zögern, das der Vater sehr wohl bemerkte – das kostbare Manuskript aus, wobei ihm freilich schon die Tränen in die Augen traten.

Sein Vater stand auf. »Ich will Nachsicht wegen deines Ungehorsams zeigen, aber eine Lektion muss ich dir dennoch erteilen. Deine Aufgabe ist es, dich der Jurisprudenz zu widmen und die Hoffnungen zu erfüllen, die ich in dich setze. Hast du das verstanden?«

Olivier nickte stumm.

»Gut. Dann wirst du auch verstehen, wie weise das ist, was ich jetzt tun werde.« Und mit diesen Worten drehte de Noyen der Ältere sich um, warf die handgeschriebenen Bögen ins Feuer und sah zu, wie die Flammen hell aufloderten, worauf das Papier sich unter der Hitze krümmte und zu Asche zerfiel.

Olivier zitterte so heftig und war so bemüht, die Tränen zurückzuhalten, dass er nicht einmal zusammenzuckte, als sein Vater sich nach einem sanften Klaps auf die Schulter anschickte, ihm eine neuerliche Moralpredigt über Eifer und Pflichtgefühl zu halten. Er brachte es sogar fertig, sich in angemessener Weise von ihm zu verabschieden und demütig die Prozedur des väterlichen Segens über sich ergehen zu lassen, bevor er, endlich allein, die Treppe zu der kleinen Dachkammer hinaufhastete, die er mit sechs anderen teilte, um sich dort die Augen auszuweinen.

Er hatte seine Lektion gelernt, wenn auch nicht die, die seinem Vater vorschwebte. Ganz im Gegenteil, von diesem Augenblick an war Olivier de Noyen fest entschlossen, nie und nimmer Advokat zu werden.

Eine anrührende Geschichte, die später – so oder abgewandelt – immer wieder in den Berichten über die Jugendzeit anderer Männer auftauchte. Julien Barneuve erkannte als Erster, dass ihre Ursprünge auf Olivier zurückgingen, bis dieser, weil skandalumwittert, in literarischen Kreisen in Ungnade fiel und man das Jugenderlebnis kurzerhand auf Petrarca übertrug. Irgendwann entwickelte die Anekdote ein Eigenleben und wurde später in Verbindung mit dem jungen Bach gebracht. Das Ringen zwischen jugendlichem Genius und väterlichen Zuchtversuchen (wie es auch Giotto und Mozart zugeschrieben wurde) verliert eben nie seine Faszination; bei den einen weckt es Bewunderung, bei anderen löst es tiefes Erschrecken aus. Es mag sein, dass alle diese Geschichten nur erfunden wurden, um den Augenblick zu markieren, in dem sich die innere Größe eines Menschen zeigte – das einmalige Genie, das sie ihr Leben lang aus der Masse heraushob.

Barneuve selbst trug nicht den göttlichen Funken in sich, ihm genügte es, die Auserwählten zu studieren. Die Welt braucht nur eine Hand voll Genies. Die Zivilisation verdankt ihren Fortbestand und ihre Ausbreitung hingegen denen, die die Großen der Welt anhand von Erläuterungen, Fußnoten und kommentierten Ausgaben ihrer Werke fassbar machen und die erklären, was jene eigentlich gemeint haben, aber noch nicht auszudrücken vermochten, wodurch sie ihnen den gebührenden Platz in der Ehrenhalle der Geistesgeschichte zuweisen.

Und genau darauf hatte sich Barneuve zwanzig Jahre und mehr bestens vorbereitet, zwei arbeitsreiche Jahrzehnte lang, in denen er mit akribischer Geduld all das zusammentrug, was er für seine selbst gewählte Aufgabe brauchte. Er ging ihr mit Liebe und Hingabe nach, denn er war kein Pedant, kein weltfremder, trockener Gelehrter. Im Gegenteil, er sah sich – in aller Bescheidenheit, versteht sich – als einen Kreuzritter auf der Suche nach den wahren Werten der Zivilisation, als jemanden, in dem die Liebe zum Leben brennt und der danach giert, sich am Born des Wissens satt zu trinken, freilich zu einer Zeit, in der weder die Liebe zum Leben noch Wissensdurst gefragt waren.

In seiner Jugend hatte er sich selbst ein wenig in Poesie versucht, war aber ein zu strenger Kritiker anderer, als dass er Gefahr gelaufen wäre, sich selbst etwas vorzumachen. Er gab alle derartigen Ambitionen leichten Herzens auf und war stolz auf die innere Reife, die es ihm möglich machte, seine Zeit nicht so zu verschwenden wie viele andere aus seiner Generation, die ihr Leben lang davon träumten, zum Künstler berufen zu sein, und diesen Traum oft genug mit in ein frühes Grab nehmen mussten. Denn er war fünfzehn, als die deutschen Truppen durch Belgien marschierten und in Frankreich einfielen, und noch nicht zwanzig, als das sinnlose Schlachten, dem eine ganze Generation zum Opfer gefallen war, endlich ein Ende fand. Es war wahrlich nicht die Zeit für romantische Verse oder psychologisch ausgetüftelte Texte, in denen sich die Dekadenz der Zeit widerspiegelte. Er sprach nur selten über diesen Abschnitt seines Lebens, er wollte keine Erinnerung an Vorfälle wachrütteln, die ihn so erschüttert hatten. Er hatte sich, statt zu warten, bis er einberufen wurde, früh freiwillig gemeldet, denn er hielt den Dienst mit der Waffe für eine Pflicht und sah durchaus einen Unterschied darin, ob jemand nur kämpfte, weil er muss, oder ob er von sich aus für sein Land und die Freiheiten, die es repräsentiert, zu kämpfen bereit ist. Er wurde zweimal verwundet, zweimal mit Orden ausgezeichnet und nahm an der schrecklichen Schlacht um Verdun teil; das allein gibt ausreichend Zeugnis davon, was er durchmachen musste. Millionen starben, Barneuve überlebte, aber sein Idealismus blieb bei dem Gemetzel auf der Strecke.

Als er, wegen seiner Verwundungen dienstuntauglich geschrieben, Anfang 1918 ausgemustert wurde, kehrte er heim nach Vaison, in das geräumige elterliche Haus an einer Straße, die heute Rue Jean Jaurès heißt. Sein Vater fragte ihn nie nach seinen Erlebnissen, und Julien verspürte kein Verlangen, von sich aus über sie zu erzählen; vielleicht hätte er sich einiges von der Seele geredet, wenn seine Mutter noch am Leben gewesen wäre. Ein einziges Mal ließ er ein wenig von seinen Gefühlen erkennen, als er eines Morgens kurz nach dem Waffenstillstand im Garten auftauchte, bedächtig seine Orden und Medaillen abnahm und in das Feuer warf, das der Gärtner dort entzündet hatte. Sie gehörten jemandem, mit dem er nichts mehr gemein hatte, dem großen Jungen voller Träume und Ideale, die er nicht mehr nachvollziehen mochte, einem, den er längst tot wähnte und mit dessen Verständnis von Pflichterfüllung er nichts mehr anfangen konnte. Den Orden vermochte die Hitze wenig anzuhaben, aber sie waren schwarz und unansehnlich geworden, und so vergrub sie der Gärtner, ohne es zu merken, mit der Asche im Boden, wo sie vermutlich noch immer liegen. Sein Vater, Doktor Barneuve, engagierte sich bei der Subskription für das gewaltige Kriegerdenkmal, das in den Berg über der Stadt gehauen werden sollte. Zum ersten und einzigen Mal ließ er sich etwas von der Erleichterung darüber anmerken, dass Juliens Name nicht in die Steinplatten am Sockel des Denkmals eingemeißelt werden musste und das geplante Bildnis des sterbenden Soldaten in der weißen Marmorfront ihn nicht ständig an den frühen Tod seines Sohnes erinnern würde. Für kurze Zeit suchte Julien Zuflucht im Haus seiner Großmutter mütterlicherseits in Roaix, einige Kilometer westlich von Vaison, aber er merkte bald, dass es ihm nicht genügte, Stunde um Stunde im Garten zu sitzen und vor sich hin zu grübeln. Und so kehrte er, auf den Tag genau drei Monate nach der Ausmusterung, schließlich nach Hause zurück. Er stand am nächsten Morgen um fünf auf, trug die Bücher, mit denen er sich vor dem Militärdienst beschäftigt hatte, nach unten, schlug sie da auf, wo die Zettel steckten, und setzte still, fleißig und konzentriert die Arbeit fort, die er zwei Jahre zuvor unterbrochen hatte.