Second Horizon - E.F. v. Hainwald - E-Book
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Second Horizon E-Book

E.F. v. Hainwald

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Beschreibung

"Ist so etwas Unvollkommenes wie der Mensch dazu in der Lage, ein perfektes Wesen zu schaffen?" Das Antlitz der Welt wurde durch Wissenschaft, Magie und die ewigen Mühlsteine der Zeit geformt – nichts ist vom Griff des Fortschritts unberührt geblieben. Wolf ist in einem Zustand zwischen Mensch und Bestie gefangen, der innere Kampf zwischen Instinkt und Verstand bestimmt seinen Alltag. Als plötzlich eine junge Frau vom Himmel fällt und sich ihm nur als Babe vorstellt, ahnt er nicht, dass mehr als nur seine Freiheit auf dem Spiel steht. Durch eine körperlose Hackerin und einen düsteren Exorzisten verwischen die Grenzen zwischen Richtig und Falsch. Gemeinsam wagen sie sich viel zu nah an das Herz der Machthabenden und müssen sich fragen, was ihnen Vertrauen und Selbstbestimmung wert sind. Im Kampf gegen ihre eigenen Ketten lenken sie den gierigen Blick des letzten Gesetzes auf sich – die Krone menschlichen Schaffens, Wesen aus lebender Technik und verdrehter Magie: Die Engel. Die Faszination düsterer Fantasy trifft mit derben Humor auf die Komplexität des Science Fiction.

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Inhaltsverzeichnis

- EXSILIUM -

ZERUM

- STIMULUS -

UNUM

DUO

TRES

QUATTUOR

QUINQUE

- VIDÉRÍ -

SEX

SEPTEM

OCTO

NOVEM

DECEM

- AURORA -

UNDECUM

DUODECO

TREDECIM

QUATTUARDORDECIM

QUINDECIM

- ARMIS -

SEDECIM

SEPTENDECIM

DUODEVIGINTI

UNVIGINTI

VIGINTI

VIGINTIUNUS

- INFIRMITATEM -

VIGINTIDUO

VIGINTITRES

VIGINTIQUATTOUR

VIGINTIQUINQUE

- ANGELUS -

VIGINTISEX

VIGINTISEPTEM

VIGINTIOCTO

VIGINTINOVEM

- VERUM -

TRIGINTA

TRIGINTAUNUS

TRIGINTADUO

- ARBITRIUM -

TRIGINTATRES

Glossar

Danksagung

Der Autor

GedankenReich Verlag

Denise Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

SECOND HORIZON

Text: © E.F. von Hainwald, 2020

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Satz & Layout: Phantasmal Image

eBook: Grit Bomhauer

Covergrafik: © shutterstock

Innengrafiken: © shutterstock, Künstler: Nadezhda Shuparskaia

ISBN: 978-3-947147-37-3

© GedankenReich Verlag, 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

»Engelverdammtes Drecksteil!«, grollte Wolf und trat mit voller Kraft gegen den Automaten.

Das Gerät zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, obwohl es sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte. Die Kunststoffverkleidung war mit vulgären Sprüchen verziert worden. Das matte Gerüst aus einer Keramiklegierung, welches seine cybermagischen Energien unempfindlich gegen Eingriffe von außen machte, war an einigen Stellen ordentlich geschwärzt. Vermutlich waren bereits andere Kunden aus Wut über das störrische Ding geplatzt und hatten sich tätlich daran vergangen. Die holografischen Bedienfelder flimmerten kränklich und rutschten manchmal mehrere Handbreit zur Seite.

Wolfs rabiates Scharren mit den Pranken ließ sie allerdings nur müde Wellen werfen und brachte nicht den gewünschten Erfolg – hämisch grinsten ihn die Werbegesichter auf den bunten Verpackungen hinter der Kryoscheibe an, während sie stur in ihren Verriegelungen verharrten.

Plötzlich ließ ein lautes Donnern seine Ohren zucken. Er schaute nach oben und kratzte sich gelangweilt am Hinterkopf. Vermutlich schlugen sich nur wieder irgendwelche Straßengangs gegenseitig die Köpfe ein. Als jedoch nicht weit von ihm entfernt ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, blickte er argwöhnisch den spärlich beleuchteten Korridor hinab.

Es war spät. Die Läden hatten Sperrstunde – ohne die allgegenwärtige Geschäftigkeit hatte sich ein eigentümlicher Schleier der Ruhe auf den mehrstöckigen Handelsbezirk gelegt. Nichtsdestotrotz strahlten grelle Holo-Reklamen an den Wänden. Magische Illusionen liefen, ruhelosen Seelen gleich, umher und wollten trotz geschlossener Läden Passanten mit einem breiten Lächeln zum Einkauf locken. Das pulsierende Licht hinter den Belüftungsventilatoren unterhalb der Bodengitter verlieh ihnen eine perfide Mehrdimensionalität.

Die Magi-Techs machen sie viel zu real.Sie reagieren nicht nur auf Worte – sie plaudern auch untereinander, sinnierte Wolf, während er das Bild einer blonden Frau mit einem Kopfschütteln abwies.

Der Boden begann auf einmal heftig zu vibrieren und er schaute sich alarmiert um.

An der nächsten Straßenbiegung krachten prompt die Stahlträger der Decke herab und begruben mehrere der Illusionen unter sich. Der dumpfe Gong des Aufpralls hallte lautstark von den Wänden wider, woraufhin ein spitzer Schmerz durch Wolfs Hirn schoss. Er schlug die Handflächen gegen seine empfindlichen Ohren und presste fest die Lider zusammen.

Das Getöse währte nur kurz. Vorsichtig öffnete er die Augen und begutachtete die Einsturzstelle aus sicherer Entfernung. Ein riesiges Loch klaffte in der Decke. Zahllose Kabel baumelten herum und sprühten grelle Funken. Im Lichtkegel aus der darüberliegenden Ebene tanzte aufgewirbelter Dreck. Der breite Strahl beleuchtete den Stahlhaufen, als hätten Wolken der Sonne einen Riss zum Hindurchscheinen gewährt. Die Szenerie ließ ihn wie den grotesken Altar irgendeiner fremden Religion wirken.

Auf den kantigen Formen lag jedoch etwas, das dort offensichtlich nicht hingehörte: die geschwungenen Umrisse einer Person. Sie rührte sich nicht, und der metallische, süßliche Geruch von Blut stieg in Wolfs Nase.

Als sich nichts regte und die ersten Illusionen aus dem Stahl hervortraten, als wäre nichts gewesen, wandte er sich wieder desinteressiert den wichtigen Dingen des Abends zu: seiner persönlichen Belohnung in den Eingeweiden dieses cybermagischen Schrotthaufens.

Er hatte beinahe seine letzten Creds – die gängige Bezeichnung für digitale Kredite, welche die weltumspannende Währung des Vereinten-Erd-Kombinats bildete – ausgegeben. Ihm blieb noch ein letzter Versuch, wenn er den Kontostand richtig in Erinnerung hatte.

Was soll‘s, dachte er resigniert. Morgen lasse ich mir irgendetwas Neues einfallen – irgendwann musste mein Glück ja enden.

Also kramte er in der zerfledderten Tasche, die an den Gürtelschlaufen seiner durchgewetzten Jeans baumelte, und zog schließlich einen schmalen Knochen hervor. Es war das Bruchstück eines menschlichen Handknochens, und wenn ihn jemand damit erwischte, würde er vermutlich einem Engel ins Antlitz blicken müssen.

Der freundliche Spender hatte tot in einer Wellblechhütte gelegen. Dass Wolf aufgrund seiner feinen Sinne die Leiche gewittert hatte, war ein glücklicher Zufall gewesen. Doch natürlich würde das die Gesetzeshüter nicht im Geringsten interessieren.

Wolf straffte die Schultern und richtete seinen bestienartigen Körper zu voller Größe auf, um den Automaten vor etwaigen Blicken abzuschirmen. Er nahm den Knochen vorsichtig zwischen zwei seiner Krallen und hielt ihn in die Bezahlschranke. Sie reagierte umgehend auf den darin eingepflanzten Chip. Auf der holografischen Anzeige blinkte Bitte Produkt wählen.

»Na also«, brummte Wolf leise, steckte den Knochen wieder weg und wählte das Objekt seiner Begierde.

In freudiger Erregung tapste er von einer Pfote auf die andere, stützte sich mit seinen Pranken an der Kryoscheibe ab und starrte in das Gerät. Das Fell auf seinen Armen richtete sich auf, während die eisige Kälte des magischen Barrierefeldes in seinen Körper kroch.

Nichts.

Absolut nichts geschah.

»Nein«, murmelte er, dann knurrte er wütend und schrie: »Elender Engelschiss! Das darf doch nicht wahr sein!«

Dadurch entging ihm das leise Klicken hinter sich.

Unzählige Geschosse schlugen neben ihm in das Gerät ein und zersplitterten die Verkleidung. Erschrocken sprang er zur Seite, wirbelte herum und ging kampfbereit in die Knie. Er biss seine Zähne zusammen und zwang sich stillzustehen, denn er wollte nicht unbedingt provozieren für einen leeren Geldchip durchlöchert zu werden, wie Dosen in einer Schießbude. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete er den Angreifer, welcher mitten auf der Straße stand.

Es war eine zierliche Frau, gekleidet in so etwas wie einen Arztkittel – zumindest, wenn man versuchte ihre zerfetzten, dreckigen Klamotten irgendwie zu interpretieren. In der Hand ihres nach vorn ausgestreckten Arms rauchte noch immer der Lauf einer halbautomatischen Pistole. Zum Glück hatte sie gewöhnliche Munition verwendet, sodass Wolf trotz der Treffer in unmittelbarer Nähe unversehrt geblieben war.

Sie senkte ihren Arm, schüttelte ein paar wirre Strähnen ihres kinnlangen, schwarzen Haares aus der Stirn und wandte sich ihm zu. Keck stemmte sie ihre andere Hand in die Hüfte und musterte ihn mit ernster Miene. Sie hob erneut ihre Waffe. Wolfs Oberkörper senkte sich weiter ab, er legte sein gesamtes Gewicht auf seine Fußballen, um einem Angriff schnell ausweichen zu können.

Statt jedoch erneut zu feuern, grinste sie nur breit und wedelte lässig mit der Pistole zu dem Automaten.

»Diese Dinger kannst du nur austricksen, wenn du die biologische Schnittstelle zwischen Kristallkern und Magieplatine manipulierst«, sprach sie in einem Ton, als müsste sie einem Kind die offensichtlichste Sache der Welt erklären.

Wolfs Augenbrauen zuckten nur, er rührte sich keinen Millimeter. Die Frau stopfte die Waffe in eine Kitteltasche und schlenderte zu dem Gerät an der Wand. Dort angekommen hob sie ihre rechte Hand, ballte sie zur Faust und rammte sie kurzerhand in die durch die Schüsse gesprungene Kunststoffhülle. Sie stopfte ihn bis zur Schulter hinein und plauderte nebenher munter weiter.

»Hast Glück, dass ich hier gelandet bin. Um diese Uhrzeit ist ja keine Menschenseele hier. Buchstäblich – bist ja auch keiner.«

Wolf zuckte leicht zusammen. Der letzte Kommentar traf ihn. Er war nicht freiwillig in dieser Form gefangen und kämpfte jeden Tag gegen die Instinkte an, welche ihn überwältigen wollten. Der Inhalt des Automaten, den er so unbedingt haben wollte, war ein Teil dieser inneren Schlacht – wenn auch ein heiß geliebter.

»Besonders gesprächig bist du nicht, hm?«, meinte sie, kniff ein Auge zusammen und schien an irgendetwas in dem Automaten herumzufummeln. »Ich bin einfach viel zu nett. Du hast mir nach meinem unrühmlichen Absturz nicht mal aufgeholfen. Bist 'n Soziopath? Dachte immer, Hunde sind der beste Freund des Menschen.«

Wolf ballte seine Hände so stark zu Fäusten, dass seine Unterarme zitterten. Er schluckte die bissige Erwiderung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, denn so oder so war diese seltsame Frau bewaffnet. Außerdem konnte sie problemlos mit dem bloßen Arm in einer cybermagischen Konstruktion herumstochern, ohne durch dessen Rückkopplung gegrillt zu werden.

Ein Wolf. Kein Hund, dachte er, um sich wenigstens vor sich selbst zu rechtfertigen.

Auf einmal schoss die Erkenntnis durch sein Hirn und er warf einen hastigen Blick aus dem Augenwinkel zu den herabgefallenen Stahlträgern. Die Person darauf war verschwunden.

»Bingo!«, rief die Frau und sein Kopf ruckte alarmiert zurück in ihre Richtung.

»Also, was wolltest du aus dem Ding herauspressen, bevor es alle deine Creds gefressen hat?«, fragte sie ihn, verschwörerisch zwinkernd.

Er schaute sie stumm an und fragte sich, ob sie einfach nur völlig durchgeknallt war oder das tatsächlich ernst meinte. Wolf musterte ihr Gesicht, doch in den großen, violett-blauen Augen sah er nur reine Neugier.

Also murmelte er leise, was er haben wollte.

»Was?«, rief sie. »Ich versteh kein Wort, du musst schon lauter reden und weniger herumknurren.«

Wolf mahlte mit den Zähnen, schnaubte dann und wiederholte lauter und sorgfältiger formuliert: »Zartbitterschokolade mit Sauerkirschen.«

Die Frau blinzelte schweigend.

Einmal.

Zweimal.

Schließlich zog sie ganz langsam eine Augenbraue nach oben.

Wolf stand einfach nur da, sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Er glotzte sie an und versuchte den zutiefst peinlichen Moment zu ertragen. In würdevoller, kraftvoller Haltung war er darum bemüht seine Ehre zu bewahren, obwohl es eigentlich nur eines leisen Kicherns ihrerseits bedurfte, um seinen Stolz buchstäblich zu zermalmen.

»Tja …«, erwiderte sie dann ernst. »Bin ja mehr der Vollmilchtyp.«

Daraufhin ertönten ein lautes Klacken und zwei dumpfe Töne. Sie zog ihren Arm aus dem Automaten, griff in die Ausgabe und hielt triumphierend lächelnd zwei längliche Päckchen nach oben. Lässig warf sie ihm eines der beiden zu. Während das kleine Paket durch die Luft flog, begriff er, dass sie ihm tatsächlich die Schokolade besorgt hatte. Mit einem hastigen Griff pflückte er die Süßigkeit aus der Luft, drehte sie zwischen den Klauen vor seinem Gesicht umher und ließ den süßen Duft seine Sinne kitzeln.

Die Frau riss ihrerseits die Packung auf und steckte sich ein Stück in den Mund. Kauend lehnte sie sich mit der Schulter an den arg in Mitleidenschaft gezogenen Automaten und musterte Wolf.

»Gern geschehen«, schmatzte sie. »Wie ist dein Name?«

Er riss seine Augen von der Schokolade los und überlegte. Schließlich entschied er, dass sie für diese Geste zumindest ein Minimum an Freundlichkeit verdient hatte.

»Wolf«, antwortete er.

»Alles klar, kein Hund. Und weiter?«, hakte sie nach.

»Nichts weiter«, murrte er und verlagerte unsicher sein Gewicht auf den Füßen.

»Wie ist dein Name?«, wiederholte sie verwirrt.

»Wolf«, erwiderte er erneut. »So nenne ich mich. Wie heißt du?«

Ihre dunklen Augenbrauen hoben sich. Sie legte den Kopf schräg und schien zu überlegen. Ihre Lippen öffneten sich für eine Erwiderung, doch sie vernahmen plötzlich Stimmen. Wolf schaute an ihr vorbei und nickte in die entsprechende Richtung. Sie drehte sich um und Wolfs Augen weiteten sich überrascht.

Ihr Rücken war blutüberströmt. Der zerrissene Stoff bildete mit dem zerfetzten Fleisch eine krustige Einheit. Die Wirbelsäule war teilweise freigelegt. Sie bestand aus Stahl und die typischen, cybermagischen Runen, welche Technik problemlos in biologische Körper integrierten, leuchteten in fahlem Blau. Die Wunde schien jedoch nicht neu, das Blut war längst geronnen. Wolf hatte seit dem Einsturz Blut gerochen, doch es dann als logische Nebensächlichkeit abgetan. Daher hatte er nicht bemerkt, dass sie die direkte Quelle dessen gewesen war.

»... ach, komm scho‘. Das kann‘nisch dein Ernst sein!«, nuschelte einer der Passanten, welche gerade einen kreuzenden Korridor entlang torkelten – vermutlich betrunken oder auf Drogen. »Komm schon, Babe. Ich hab‘s nicht so gemeint!«

Die Angesprochene stampfte wütend weiter und würdigte ihn keines Blickes. Die dunklen Silhouetten verschwanden und waren schnell außer Hörweite. Wolfs unerwartete Schokoladenbeschafferin wandte sich ihm erneut zu. Sie lächelte spitzbübisch, legte die schmalen Fingerspitzen auf ihre Brust und sprach:

»Nenn mich einfach Babe.«

Der gelangweilte Tritt ließ die verbogene Metallstange klirrend über den Beton rutschen. Sie blieb vor den Füßen eines untersetzten Typen liegen. Seine freiliegende Wadenmuskulatur aus billigem Kunststoff zuckte und die dilettantisch eingravierten Runen seiner stählernen Beinknochen glühten kurz auf – mehr ein klägliches Niesen, als ein Ausdruck der magischen Kraft, welche nötig war, damit sich der Kerl auf den Beinen halten konnte. Er verschränkte die Arme vor seinem metallbeschlagenen Oberkörper und grunzte missbilligend.

Babe senkte, ohne anzuhalten, nur ein wenig das Kinn, um ihm über den dünnen, silbervioletten Rahmen ihrer schmalen, tiefblau getönten Sonnenbrille ein neckisches Zwinkern zu senden. Ein Lächeln hatte er nicht verdient. Eine Entschuldigung sowieso nicht. Sie hatte ihn schließlich nicht anvisiert. Wäre dem so gewesen, hätte ihm die Stange die Zähne zertrümmert – nicht, dass es bei seiner Visage irgendetwas zum Negativen verändern würde.

Sie schlenderte gemächlich weiter. Ihre bequemen, quietschbunten Schuhe verursachten mit ihren breiten Sohlen keinen Laut. Der schwarze Synthstoff der weitgeschnittenen Hose raschelte jedoch lautstark und der ganze Kram, welcher ihre Beintaschen füllte, schepperte rhythmisch. Die hinten in den breiten Gürtel gesteckten Pistolen konnte der Typ nicht sehen.

Vermutlich hatte er sowieso mehr Augen für den breiten Ausschnitt ihres knallpinken Shirts, auf dem in neongelber Schrift On your knees – I‘ll make you famous stand.

Oder auch nicht.

Er entblößte zwar ihre fein geschwungenen Schlüsselbeine und die rechte Schulter, aber ihre naturbelassene, dezente Oberweite war den meisten Kerlen … na ja … zu naturbelassen und dezent. Babes Körper war klein und zierlich. Voluminöse Brüste wären nur hinderlich und hatten ihrer Meinung nach höchstens Sinn als Kaschierung von cybermagisch implementierten Waffenarsenalen – von dem kurzzeitigen Ablenkungsfaktor mal abgesehen.

Der Kerl drehte sich jedenfalls einfach weg und ging seines Weges. Beinahe fühlte sich Babe aufgrund dieser Unterschätzung beleidigt. Letztendlich kam es ihr jedoch gelegen.

Ihre Gedanken waren auf wichtigere Dinge ausgerichtet als einen Schläger zu verprügeln, welcher seine Körpermodifikationen vermutlich nur mit einem gehackten Runenprägegerät belebt hatte.

Der kratzige Bass der Trashtekk-Musik aus den weißen Kopfhörern hämmerte in ihren Ohren, doch Babe hörte es kaum. Sie pustete eine schwarze Haarsträhne, welche sich aus ihrem perfekt konturierten Longbob gelöst hatte, von den Lippen, trat an das armdicke Geländer und umfasste es mit ihren schmalen Händen. Die altersschwache Farbe rieselte von dem Metall in den breiten Schacht, der in die Eingeweide der Recycling-Fabrik tief unter ihren Füßen führte.

Die Wände waren spiegelglatt. Keramikbehälter, welche mit magnetisch eingesperrtem Plasma gefüllt waren, bildeten riesige Uruz-Runen. Diese magisch-wissenschaftlichen Konstrukte ließen die Energie im Gebäude zirkulieren. Das unterschwellige Summen nahm kaum noch jemand wahr. Es gehörte hier zum Alltag, wie die beiden Monde am Firmament – auch wenn der eine erst seit drei Zivilisationen am Himmel stand.

Natürlich war erst diesbezüglich eine ziemlich subjektive Zeitangabe, aber in Anbetracht der jahrzehntausendelangen, kontinuierlichen Aufzeichnungen der Menschheit, waren die paar Tausend Jahre zurückgerechnet lediglich ein kaltes Arschrunzeln – etwas länger her, ziemlich imposante Geste, juckte jedoch keine Sau.

Babe stieß sich von dem Geländer ab, verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und lief zielsicher in eine der unzähligen Gassen, welche gerade einmal so breit wie ihre Schultern waren.

Dieses Wohnviertel war – nennen wir es genehmigungsneutral – auf dem Dach der Fabrik errichtet worden, welche sich, ähnlich einem gigantischen Skarabäus, an den Hang des Himalaja-Gebirges klammerte. Die augenscheinlich selbst zusammengestümperten Wohngebäude leuchteten in den buntesten Farben. Die Fassaden waren chaotisch bemalt, beklebt oder anderweitig künstlerisch gestaltet. Babe wich einem aus gläsernem Mosaikgestein gefertigten Energieverteilerkasten aus, welcher, einem rundgelutschten Geschwür gleich, aus der Wand ragte. Die schlecht isolierte, magische Spannung kribbelte in ihren runenbeschlagenen Cyber-Knochen.

Die Gasse endete abrupt.

»Schon wieder? Diese hirngegrillten Magi-Arcs«, flüsterte Babe entnervt.

Die Konstrukteure der Siedlung hatten wieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein paar geringfügige Änderungen vorgenommen. Da konnte es schon mal vorkommen, dass eine Straße verschwand, sich ein Gebäude um neunzig Grad drehte oder dein Schlafzimmer ein Freiluftpanorama erhalten hatte, sodass dein nackter Arsch weithin für alle Nachbarn sichtbar im Morgenlicht glänzte.

»Tja, ich muss hier durch. Keinen Bock auf einen Umweg – geschweige denn erst mal einen zu suchen«, seufzte Babe, legte den Kopf in den Nacken und beäugte die Fassade kritisch durch ihre Sonnenbrille. »Sollte klappen. Na dann mal los.«

Sie schnalzte mit der Zunge, drehte die dröhnende Musik am Holodisplay ihrer Kopfhörer noch lauter und ging in die Knie.

Es brauchte keinen festen Gedanken, keine Absicht, kein mystisches Gemurmel. Für Babe war es so intuitiv, wie einen Arm zu heben.

Mit einem Ruck stieß sie sich in einem übermenschlichen Kraftausbruch vom Boden ab und schoss wie eine Pistolenkugel senkrecht nach oben. Sie flog mehrere Stockwerke hinauf, packte mit einer Hand die Kante eines Fensters und katapultierte sich in ähnlicher Weise weiter hoch. Noch ein kurzer Tritt gegen die Wand des angrenzenden Gebäudes und sie landete auf dem schiefen Wellblechdach des in der letzten Nacht spontan entstandenen Gebäudes.

Nur das zarte, punktuell blau schimmernde Licht unter ihrer Haut zeugte noch einen Augenblick von dem kurzen Kraftausbruch ihres von Magi-Techs geschaffenen Knochenbaus.

Babe schaute sich um, damit sie sich neu orientieren konnte. Ihr letzter Abstecher hierher lag nur wenige Tage zurück. Dennoch war einiges verändert worden – die Magi-Arcs waren immer dabei etwas Neues entstehen zu lassen. Das war ihre Passion.

Nicht selten musste man wegen der stetigen Umbauten durch kleine, exzentrische Geschäfte und private Treppenhäuser laufen. Manche Freundschaft war auf diese Weise entstanden. So beschrieb es zumindest der verklärte, urbane Mythos der Indies – kurz für Individualisten – in den Megacitys.

Babe schnaubte abfällig, als ihr die schillernden Geschichten in den Sinn kamen, welche nach billigem Alkohol stinkende Opas in den wackeligen Kaschemmen mit freudig glänzenden Augen erzählten. Ob das wirklich an den wunderbaren Erinnerungen ihrer abenteuerlichen Jugend lag oder den gepanschten Pimps – der allgemeine Begriff für magisch-chemische Drogen, die einem das Hirn umstülpten – vermochte niemand so genau zu sagen.

Und doch war dies der Ort, welchen diese exzentrischen Menschen bevorzugten. Sie waren auf die Straße geflüchtet, raus aus ihren engen Wohnungen in der Stadt, hinaus auf den Asphalt, welcher nach Freiheit duftete – und verkokelten Überresten wilder Magieanwendungen.

Babe wandte sich ab, spazierte über die Dächer, kletterte Leitern hinab, durchquerte Räume, welche vielleicht mal als Wohnzimmer gedient hatten, und erreichte schließlich das Ende der Welt … dieser Welt.

Ihre Fußspitzen überragten die glatte Kante des Fabrikdachs. Der Wind zupfte an ihren Haaren, wehte sie von hinten in ihr Gesicht, sodass sie die Strähnen mit einer Hand aus der Stirn schieben und festhalten musste. Als wäre dieser Moment eine kitschige Szene einer schnulzigen Online-Serie, begann ein ruhigerer, sphärischer Song in ihren Kopfhörern.

Unter ihren Zehen bot sich den Augen ein gänzlich anderes Bild der Menschheit. Bis zum Horizont erstreckte sich Neo-Lhasa, eine der sieben Megacitys der Welt.

Berge, Täler und Ebenen waren überzogen mit einem Schachbrett aus perfekten, im Grundriss kreisförmigen, Wolkenkratzern. Dazwischen erhoben sich große Pyramiden, deren kristalline Spitzen das Sonnenlicht in sein Farbspektrum aufbrachen. Geometrische Brillanten, strahlende Juwelen am Himmelszelt.

Die Stadt war beinahe ein lebendiger Organismus. Das Metall, die Keramik und der Kunststoff ihr Körper. Die Magie und die Runen ihr Atem. Die Wissenschaft ihr Wille. Die Menschen ihre symbiotischen Bakterien und Viren. Dieser Ort wuchs unaufhörlich, wie auch die anderen Megacitys der Erde.

Als der sanfte Song in Babes Ohren verklang und das Geschrubbe ätzender elektrischer Saiten ihr Hirn wachrüttelte, schüttelte sie den Kopf, um die tiefsinnigen Gedanken zu vertreiben. Die Zeiten solcher bedeutungsschwangeren Überlegungen hatte sie eigentlich schon lange hinter sich gelassen.

Sie hatte auch mittlerweile ihr Ziel erreicht: ein verzahnter Turm aus Baracken. Das windschiefe Ding bog sich bedenklich über eine halbrunde Grube, welche mit Maschinen befüllt war. In dieses Loch warfen die Flugtransporter ausgediente Geräte, damit die Fabrik diese nach und nach transmogrifizierte – das bedeutete: Magie entzog, kanalisierte und dessen physische Gefäße umstrukturierte.

Sie hangelte sich die erstaunlich sorgfältig befestigten Leitern nach oben und stand schließlich auf einer winzigen Veranda.

Neben der Eingangstür standen ein Stuhl und ein kleiner Hocker, welcher als Tisch fungierte. Auf ihm fanden sich eine leere Flasche Rhabarber-Limonade, eine angeknabberte Packung Zartbitterschokolade und ein hölzerner Block, welcher mit einer groben Klinge solange vergewaltigt worden war, bis er die Form eines Zombiekopfes angenommen hatte – oder sollte es das Hinterteil eines Ochsen darstellen? Auf dem Fensterchen inmitten der mit Kampfkunstwerbeplakaten beklebten Tür, war mit Draht eine Minz-Pflanze befestigt. Ihr Geruch stieg angenehm in Babes Nase.

Sie trat in das kleine Zimmerchen dahinter – direkt in eine enge Küchenzeile. Die verklebten Platten und geschwärzten Geräte zeugten von wenig Interesse an Sauberkeit. Raumdominierend war jedoch der mitten in Raum angebrachte, meterbreite Duschkopf.

Sicher, der schlecht gekritzelte Runenkreis auf dem Fußboden sorgte für eine eingegrenzte Wasserglocke, aber wollte man wirklich zwischen Kühlschrank und Haustür duschen? Abgesehen davon: Soweit Babe wusste, war nie abgeschlossen. Ob das von latentem Exhibitionismus zeugte? Sie nahm sich vor, bei Gelegenheit zu fragen – also, wenn es am peinlichsten und damit am amüsantesten werden würde.

Grinsend kletterte sie die Leiter am hinteren Ende des Raumes nach oben. Schon bevor sie die verbogene Luke öffnete, konnte sie das Keuchen hören. Babe stieß schwungvoll das Metall auf und zog sich mit den Armen nach oben.

Der Geruch von frischem Schweiß und nassem Hund biss in ihre Nase. Er war zutiefst vertraut. Sofort fiel eine Spannung von ihr, die sie sonst nie bemerkte. Babe richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute auf die mit farbigen Tüchern verzierte Wand.

Wolf hing kopfüber. Seine Waden umschlangen dicke Stoffe, welche an der Decke angebracht waren. Immer wieder hob er den Oberkörper und ließ ihn dann wieder hängen, sodass sein Rücken gegen die Wand schlug. Er biss fest die Zähne zusammen und stöhnte bei jeder Bewegung angestrengt. Sein Fell war nassgeschwitzt und dampfte.

Er war am Limit. Jeder andere würde nun aufhören. Nicht so Wolf. Zitternd kämpfte er sich immer wieder nach oben, die Augenlider fest zusammengepresst.

Babe sagte nichts, sondern blieb einfach stehen und musterte ihn. Plötzlich hielt er ausgestreckt inne, sodass seine Finger beinahe den Fußboden berührten, und öffnete die Augen. Ein tiefes Knurren verzog sich fragend in eine höhere Tonlage.

»Jo«, entgegnete Babe nur und legte den Kopf schräg.

»Was willst du? Ich bin beschäftigt«, murrte er und verschränkte die Arme ebenso wie sie – ein verkehrtes, felliges Spiegelbild.

Der Bergkristall, welcher sich an einem schwarzen Band um seinem Hals befand, baumelte ihm ketzerisch im Gesicht herum und verdarb damit das coole Gesamterscheinungsbild.

»Du bist fertig mit dem Training, würde ich sagen. Du stinkst wie 'n Iltis, der Schweiß tropft von deiner Wauzi-Nase und ich höre dich quasi schon jetzt wegen des Muskelkaters rumjaulen«, erklärte sie und stupste sich an ihre eigene Nasenspitze.

»Wauzi …«, brummte er missbilligend, richtete sich noch einmal auf und löste mit den Pranken überraschend flink den Knoten um seine Waden.

Als sich die Stoffe lösten, hielt er sich noch kurz daran fest, um den Körper wieder in die korrekte Position zu bringen, und ließ sich dann auf seine Pfoten fallen. Kurz blieb er gebeugt stehen, hob seinen Blick und musterte sie mit einem wilden Blick aus seinen grün-blauen Augen. Dann schien er sich zu fassen, richtete sich auf, senkte die Fersen und stand lässig da.

Die meisten Menschen assoziierten mit humanoiden Tierwesen muskelbepackte Superhelden. Ein Irrtum.

Wolfs Schultern waren breit, der Körper jedoch schlank und sehnig. Vor allem Bauch und Rückenmuskulatur waren sehr stark ausgeprägt. Sein dunkles, kurzes Fell konnte diese Definitionen nicht vollkommen kaschieren.

Er legte besonderes Augenmerk auf diese Partien. Genau genommen trainierte er sie wie ein lebensmüder Wahnsinniger, denn diese ermöglichten es ihm sich gerade zu halten – aufrecht wie ein Mensch. Wolf versuchte die Bestie in sich so gut wie möglich zu verbergen und unterdrückte auch in diesem Moment das Hecheln mit herausgestreckter Zunge, was sein vom Sport erhitzter Körper naturgemäß umzusetzen versuchte. Er schwitzte zwar wie ein Mensch, das Fell vermochte eine Kühlung durch Verdunstung jedoch nur wenig zu gewährleisten. Dennoch schaffte er es mit purer Willensstärke diesen Instinkt zu unterdrücken und nur mit offenem Mund zu atmen, sodass Babe seine spitzen Zähne sehen konnte.

»Also, weswegen bist du hier?«, fragte Wolf mit tiefer Stimme und legte eine perfekte Aussprache an den Tag. Das Knurrige von eben war gänzlich verschwunden.

»Darf ich denn nicht meinen Lieblingswolf besuchen?« Babe lächelte süßlich.

Wolf hob seine Augenbrauen, stellte die kleinen, spitzen Ohren auf und ließ seinen Schweif amüsiert hinter sich hin und her schlagen – das konnte er nur selten kontrollieren und es machte ihn zu einem grauenhaften Lügner, wenn man ihn besser kannte.

»Okay, fang an.« Wolf winkte mit einer Pranke in Babes Richtung und ging zu der schmalen Pritsche in der Ecke.

»Anfangen? Was meinst du?«, säuselte Babe und setzte sich im Schneidersitz auf den kleinen, abgetretenen Teppich in der Raummitte.

Wolf hielt inne, drehte sich zu ihr um und schnaubte verächtlich. Der messingfarbene Nasenring über seiner kurzen Wolfsschnauze glitzerte im Licht und die Gesichtszüge unter dem grau-schwarz gezeichneten Fell waren unschwer als genervt zu deuten.

»Komm schon, Babe. Du hast mich Wolf genannt, nicht Hund, Wauzi, Bettvorleger oder Kuschelpelz, deine neuste Absonderlichkeit, genannt. Du hast was vor«, erläuterte er und stopfte seine Hände mürrisch in die Hosentaschen.

Kuschelpelz war ihr in den Sinn gekommen, als sich die beiden in einem Lagerhaus zwischen Kisten auf engstem Raum vor ein paar übereifrigen Sicherheitsbeamten hatten verstecken müssen. Das längere Fell an Rücken und Armaußenseiten war zwar derb, das kurze der Innenseiten und seines Gesichtes jedoch so samtweich wie ein engelverdammtes Seidentuch! Babes inneres Mädchen war bei diesem wolkigen Flauschgefühl geradezu eskaliert.

»Ich will nur etwas Zeit mit dem Wesen verbringen, das mich die Bedeutsamkeit der Nicht-Namen lehrte und mir damit ein ganz neues Maß an Freiheit ermöglichte«, erklärte Babe feierlich.

»Is‘ klar«, erwiderte Wolf und zog kurz die Lefzen auf einer Seite hoch.

Er wandte sich ab und schnappte sich seine Kleidung. Die breite Linie aus längeren Haaren, welche zwischen den Ohren begann und sich seine Wirbelsäule bis zum wadenlangen Schweif zog, verschwand unter einem navygrünen Shirt. Dessen Ärmel hatte Wolf kurzerhand abgerissen. Als er seinen wuchtigen Plattengürtel durch die Gürtelschlaufen seiner wadenlangen Hose zog und die Gurte der Beintasche festzurrte, versuchte er es erneut.

»Also?«, fragte er.

»Lass uns Billard spielen, wie in den alten Zeiten. Bisschen über die Vergangenheit plaudern«, schlug sie vor, während sie mit dem Finger imaginäre Kreise auf den Teppich zeichnete und begann eine Melodie zu summen.

Wolf war mit den Pfoten in seine großen, schwarzen Stiefel gestiegen und die seitlichen Metallverschlüsse zogen sich mit einem Zischen automatisiert zu. Nachdem er schweigend seine Hände in fingerlose, unterarmlange Handschuhe gesteckt und die drei großen Metallschnallen festgezurrt hatte, trat er geradewegs zu Babe. Sie hörte auf zu summen, blickte auf und lächelte unschuldig. Wolf hockte sich vor sie und berührte fast mit seiner Nase die ihrige.

»Was. Ist. Los.«, flüsterte er, bekräftigt von einem ungeduldigen Grollen.

»Schon gut«, seufzte Babe und hob ihre Hände. »Ich erklär‘s dir beim Billard, okay?«

»Meinetwegen«, stimmte er zu, erhob sich wieder und trat zu einem der Tücher an der Wand.

Er läuft anders als früher, stellte Babe fest. Seine Haltung ist aufrecht, nicht mehr so, wie ich ihn vor Jahren am Schokoladenautomaten kennengelernt habe.

»Ich weiß, dass ich dich beim Billard unmöglich schlagen kann. Wir spielen ohne Einsatz«, sprach er und starrte kurz frustriert die Wand an.

»Sicher!« Babe klatschte erfreut in ihre Hände und sprang auf. »Ich spendiere die Tischmiete und geb‘ einen aus.«

Wolf griff unter den Dekostoff, packte zu und zog einen langen, gekrümmten Breitsäbel in einer schlichten Synth-Schutzschiene hervor. Er klickte es an die taschenlose Seite seines Gürtels, trottete zum Ausgang und fuhr sich mit der Pranke über seine Stirn, sodass seine Ohren seitlich abstanden.

»Warum habe ich nur das Gefühl, dass ich heute nicht nur beim Billard verlieren werde …«, raunte er leise vor sich hin.

Babe hatte sich vornübergebeugt und ließ den Queue probehalber mehrmals zwischen ihren Fingerknöcheln entlanggleiten. Ein Auge war geschlossen, mit dem anderen blickte sie entlang des Stabes. Als sie den Kopf schräg legte, um noch besser sehen zu können, rutschten zwei lange Haarsträhnen über ihre Wange.

Jetzt, dachte Wolf und hielt die Luft an.

Das Ende des Stocks hämmerte gegen die Kugel. Kreidestaub wirbelte auf. Die weiße Kugel stieß gegen die Bande, prallte im perfekten Winkel ab und umrollte die gegnerischen, halben Kugeln. Makellos traf sie die volle Gelbe, welche daraufhin einlochte. Die Holo-Anzeige in der Tischecke blinkte hysterisch auf. Ein verschroben putziges Maskottchen, in der Optik eines Häschens, sprang flackernd umher und die Kugelgeschwindigkeit sowie Kraft des Aufpralls wurden darüber angezeigt.

Babe richtete sich schmunzelnd auf, deutete mit dem Zeigefinger auf Wolf und schnalzte lässig mit der Zunge. Von der Bar erntete sie ein verhaltenes Klatschen, von Wolf ein stummes Zähnezeigen im Mundwinkel.

Er verlor. Schon wieder. Das war heute Abend bereits das vierte Mal.

Während sich Babe an ihre nächste Beute heranmachte, mustere Wolf gelangweilt die anderen Gäste. Er hatte noch fast alle Kugeln auf dem Tisch. Die Chance, dass Babe verfehlte und er noch mal an die Reihe kam, war ziemlich gering.

In der Bar mit dem einfallsreichen Namen Wohnzimmer tummelte sich der typische Querschnitt der Individualisten-Szene: zerdellte, runenübersäte Prothesen an einem Typen vor einem Pinball Gerät, schreiend bunte Klamotten mit gewissem Sex-Appeal bei einer gemischten Gruppe, wuchernde biomagische Auswüchse an einer Frau, welche am Kartentisch offenbar ziemlich erfolgreich beschiss.

Das gesamte Mobiliar schien für Kleinwüchsige konzipiert zu sein: kleine Tischchen, niedrige Hocker, schmale Gänge. Die vollgekritzelten Wände versprühten anrüchigen Straßencharme und versprachen günstige Preise. Die Gerüche von Rauch, gepanschten Getränken und zu fettigem Essen kratzte in Wolfs Nase.

Auf der mikroskopisch kleinen, unbeleuchteten und damit fummelbeliebten Tanzfläche bewegte sich eine undefinierbare Zahl von Gliedmaßen. Nur die fahl leuchtenden Runen ermöglichten es, vage Umrisse zu erkennen. Der Mensch sucht instinktiv das Licht, auch wenn es noch so schwach ist. Dort schaut er hin, da greift er zu. Magische Runen als Flirtfaktor.

Es hätte Wolf nicht im Geringsten verwundert, wenn sich die eine oder andere Person auf der Pirsch diese schlicht mit leuchtender Illusionsfarbe auf die Körperteile gemalt hatte, wo er gern betatscht werden wollte.

Zusätzlich zu den echten Gästen, tummelten sich auch mehrere Illusionen der Magi-Techs an diesem Ort. Sie bemühten sich in allen Arten von Konversation. Ob das ihr Auftrag war, eine Freizeitbeschäftigung – brauchten magische Bilder Urlaub? – oder eine ihnen tatsächlich innewohnende Lebendigkeit, konnte Wolf nicht sagen. Vielleicht war es auch nur ein wilder Auswuchs ihrer Programmierung, der sie dazu verleitete, sich zu den umsatzschwachen Dienstzeiten eine Beschäftigung für eventuelle Neukundenbindung zu suchen – eventuell waren die individualistischen Magi-Techs auch einfach nur irre und zu experimentierfreudig.

Manche von ihnen arbeiteten hier zumindest als Kartengeber, Werbevertreter oder halb nackte Go-Go-Tänzer. Nicht zu vergessen als Bedienung. Ein farbschwaches Abbild eines Mannes mittleren Alters trat zu Wolf und nickte zu dem Glas, das er gerade eben geleert hatte und noch zwischen den Fingern hielt.

»Ey, Zottel«, krächzte er im Stil eines Schmalspurverbrechers. »Der Punktestand sieht so aus, als könntest du noch 'n Drink vertragen. Und du siehst so aus, als könnt‘ ich auch einen vertragen.«

Allerfeinster Gossenslang, diagnostizierte Wolf. Programmiert, gelernt oder echter Charakter?

»Können Illus saufen?«, fragte er eine Augenbraue hochziehend – halb ernst, halb foppend.

»Ich wünschte, ich könnt's«, schniefte der magische Kellner und musterte Wolf von oben bis unten.

Völlig pissegal ob echt oder nicht, ein unechter Drecksack bleibt trotzdem ein Drecksack, stellte Wolf fest und nahm sich zum x-ten Mal vor, nie wieder über die magischen Illusionen genauer nachzudenken – eben so, wie es alle handhabten.

Nichts davon war wirklich real, es waren vorgefertigte Parameter. Kopien. Muster. Keine Moral. Kein Gewissen. Kein Charakter. Eine magische Illusion hilft niemandem in Not, wenn es nicht ihre Aufgabe ist – und das wäre ohne physischen Körper auch meistens ziemlich schwierig.

»Zu schade, dass man lustigen Abbildern von Idioten nicht ganz real eine in die Fresse hauen kann«, seufzte Wolf resigniert. »Warum tue ich mir diese Kaschemme nur an?«

»Wegen meinem blendenden Aussehen und dem billigen Gesöff«, meinte der Kellner und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.

»Punkt Zwei kann ich nicht widersprechen. Ich nehm ein Z-Can«, orderte Wolf versöhnlich.

Rauchiger Mandelschnaps mit Zitronensaft.

»Kommt sofort«, flötete der Kellner freundlich wie ausgetauscht – die Grundausrichtung griff wohl beim Geschäft und überlagerte das Gossendrecksack-Programm.

»Ich nehme einen Shortland-Coffee«, warf Babe herantretend ein.

»Mit oder ohne Orangen?«, fragte die Illusion, sich bereits abwendend.

»Mit. Keine Künstlichen, sondern den echten Scheiß!«, rief sie gut gelaunt hinterher.

»Echte Orangen? Du haust ja ganz schön auf den Putz«, brummte Wolf.

»Klar. Muss den Cocktail ja nicht bezahlen«, grinste Babe und tippte ihm auf die Brust.

»Weil ich auch das nächste Spiel verlieren werde«, stellte er zähneknirschend fest.

»Du kennst die Wahrheit des Universums«, antwortete sie, schloss ihre Augen und legte ihre Handflächen wie zum Gebet vor ihrem Kinn aneinander. »Im Billard nehme ich dich immer hart von hinten. Ohne Gleitmittel.«

Das erste Spiel hatte sie zwar bezahlt, doch das war lediglich dazu gedacht gewesen, Wolfs Kampfgeist zu wecken. Er wusste, dass er keine Chance gegen sie hatte. Zwar wurde er besser – zu Beginn hatte er keine Kugel reinbekommen – aber zu einem Sieg war es noch ein weiter Weg.

Babe war manchmal beinahe versucht, ihn wenigstens einmal gewinnen zu lassen. Ein vor Stolz platzender Rüde war sicher einen zweiten Blick wert. Dennoch ließ sie es bleiben. Wolf würde ihr es niemals verzeihen, wenn sie nicht ernst machte. Einer der Punkte, weshalb sie so gut miteinander auskamen. Außerdem hatte er Spaß an der Herausforderung.

»Also ich bin dafür, dass du das mal bei mir versuchst«, mischte sich plötzlich eine Stimme ein, welche so klang, als würde Wolf mit seinen bloßen Krallen über eine Stahlplatte kratzen.

Ein Kerl – Typ Ich-bettel-nach-Gewalt – trat an den Tisch, gefolgt von einem halben Dutzend Speichelleckern. Er trug eine Jacke aus Metallfasern. Sie glänzte in dunklem Anthrazit und war mit orange-weißen Linien auf den Armen verziert. Darunter stellte er seine nackte, glatte Haut zur Schau. Die Körpermittellinie strahlte im Licht roter, vertikaler Runenzeichen. Das könnte reine Show sein – oder ziemlich unangenehme Verzauberungen verheißen.

Babe ignorierte ihn. Wolf baute lässig die Kugeln wieder auf. Der Besucher stützte sich mit den Handflächen auf der Tischkante ab und beugte sich grinsend nach vorne.

»Hey, Schönheit. Wir können die Rollen gern auch tauschen«, versuchte er es erneut und wackelte anzüglich mit seinen gepiercten Augenbrauen. »Schick das Vieh heim in seine Hütte im Runen-Sektor. Auf dem Weg gibt es sicher ein paar Hausecken zum Anpissen, um ihn zu befriedigen.«

Wolf richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er spannte seinen Körper an, richtete die Ohren nach vorn und verengte die Augen zu Schlitzen. Der Runen-Sektor war die offizielle Bezeichnung für den Stadtquadranten, in den man die magisch auffälligsten Individuen hinschickte – ein Slum voller psychotischer, cybermagischer Clowns.

»Der Köter macht sich doch nicht mal als Bettvorleger gut, selbst wenn man ihn vorher in die chemische Reinigung steckt«, sprach der Kerl weiter und spuckte direkt auf den grünen Billardbezug des Tisches. »Aber er ist sicher gerade so ausreichend, um als sprechendes Show-Hündchen in einem magischen Zirkus aufzutreten, wo er brav Leckerlis aus der Luft schnappt.«

Die Worte verfehlten die geplante Wirkung. Wolf stieß lautstark die Luft aus und gähnte betont. Seine riesigen Reißzähne kamen dabei eindrucksvoll zur Geltung, sodass einige der Gangmitglieder einen Schritt zurückwichen. Es wurde offensichtlich, dass bei Wolf nicht nur ein wenig mit Genetik und Magie herumgespielt worden war, um ein eindrucksvolles Äußeres zu schaffen. Dann kratzte er sich hinter den Ohren und widmete sich gemächlich dem Anstoß für das nächste Spiel mit Babe.

Die hatte bisher nicht einmal einen Blick zu der Gruppe geworfen. Doch als der Schläger zu ihr ging und sich mit der Hüfte neben sie an den Tisch lehnte, warf sie ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu.

»Na, wie sieht's aus. Wie wär's mit einem Drink bei uns? Wir können das mit dem Spiel auch direkt überspringen«, grinste er.

»Erstens«, Babe hob ihren Zeigefinger, »würde ich dich im Billard fertigmachen. Zweitens«, sie hob dazu ihren Mittelfinger, »würde ich dich unter den Tisch saufen. Drittens«, es folgte der Ringfinger, »kannst du nicht mit Wolf mithalten.«

»Ha!«, lachte der Kerl auf und schlug sich mit der Faust gegen seine breite Brust. »Ich werde in allen Punkten gewinnen.«

Er packte Babe an der Hüfte und zerrte sie an sich. Im selben Moment zog sie blitzschnell ihre Pistole und presste ihm deren Lauf unter das Kinn.

»Loslassen.« Ein Wort wie ein Peitschenhieb.

»Wieso sollte ich?«, entgegnete er und leckte sich über die Lippen. »Die Wilden sind mir die Liebsten. Hab dich wohl richtig eingeschätzt.«

»Auch das noch. Ein Maso«, seufzte Babe und rollte mit ihren Augen.

Die Runen in ihren Knochen flammten auf. Innerhalb eines Wimpernschlages hatte sie mit der anderen Hand sein Kinn gepackt und mit purer Gewalt das Gesicht auf den Tisch geschlagen. Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt sie zu Wolf und hakte sich an seinen Arm unter. Er brummte genervt und wusste schon, was nun kommen würde. Sie kuschelte ihre Wange an seinen Arm, ließ einen Finger durch sein Fell kreisen und spielte mit der Waffe in ihrer Hand.

»Viertens: Wir würden euch alle den Engeln zum Fraß vorwerfen«, flüsterte sie sehr sanft.

Der Typ schüttelte die Benommenheit aus seinem Schädel und verzog wütend das Gesicht. Wolf griff zum Schwertgriff und zog den Säbel aus der Scheide. Die Transformatorkanäle auf der Klinge pulsierten weiß und die Luft um das Metall begann zu flimmern. Er fletschte die Zähne. Babe aktivierte nochmals ihre Runen, sodass ihre Haut punktuell blau leuchtete. Der Lichtschein tauchte die beiden in ein seltsames Zwielicht.

»Also wir gehen lieber was trinken«, meinte einer der anderen und hob beschwichtigend die Hände.

Nacheinander suchte die Gang das Weite, bis nur noch der Anführer übrig geblieben war. Er starrte die beiden an und wog seine Gewinnchancen ab. Als Babe schließlich erneut ihre Uzi auf ihn richtete, schien er sich entschieden zu haben – er schnaubte und verdrückte sich.

»Seine magische Energie war verdammt übel«, flüsterte Babe und Wolfs linkes Ohr zuckte.

»Die hätten uns fertiggemacht«, zischte Wolf.

»Weiß ja niemand, dass wir keine Superhelden sind«, kicherte sie und schmiegte erneut ihr Gesicht in sein Fell.

»Und dass wir kein verdammtes Pärchen sind«, knurrte er und schüttelte sich, damit sie ihn endlich wieder losließ.

»Spielverderber. Selbst schuld, wenn du so kuschelig bist«, grinste sie schulterzuckend.

Mit einem Rufen wurde Bescheid gegeben, dass ihre Getränke an der Bar abholbereit waren. Babe schlenderte hinüber, während Wolf seine Waffe wieder verstaute. Babe zog jedes Mal diese Die-Schöne-und-das-Viech-Pärchen-Masche ab, um etwaige Gefahrensituationen abzufangen. Seltsamerweise klappte das meist recht gut – vielleicht auch nur, weil es die Leute irritierte und von einer Einschätzung ihrer Kampffertigkeiten ablenkte. Wolf nervte dieser Gedanke. Zum einen, weil er dieses aufgesetzte Geturtel hasste, und zum anderen, weil er über ihren Köpfen beinahe Gedankenbläschen sehen konnte, in denen sie sich Mensch-Bestien-Sexpraktiken ausmalten.

»Engel im Himmel – du bist schrecklich prüde«, riss ihn Babe aus den Gedanken und drückte ihm sein Glas in die Hand. »Deinen drolligen Gesichtsausdruck kann ich sogar durch das Fell lesen.«

»Hat doch damit nichts zu tun«, murrte er und nahm einen Schluck – das Getränk brannte sich seine Kehle hinunter. »Menschen nerven.«

»Jo!«, antwortete sie und schnippte ihm gegen die Brust.

Wolf ging zum Tisch und machte den Anstoß. Er lochte ein paar Kugeln ein. Als Babe nach einem Fehlschlag ihre eigene anvisierte, entschied er sich, wie so oft, für Direktheit:

»Also, was heckst du wieder für eine Scheiße aus?«

Babe hob fragend ihre Augenbrauen, ohne die Position zu verändern.

»Komm schon. Schon das fünfte Spiel und die obligatorischen Gehirnverbrannten haben uns auch schon angepöbelt. Zeit für Klartext«, setzt er nach und umfasste seinen Queue mit beiden Pranken.

Sie machte ihren Zug und lochte direkt drei Kugeln ein. Wolfs rechtes Auge zuckte verärgert.

»Sag mal – wie gefällt dir dein Leben so?«, fragte Babe, während sie sich aufrichtete. Ihr Blick blieb gesenkt.

»Der ganze Ärger für ein bisschen Philosophie?«, schmunzelte Wolf, sein Schwanz peitschte ungeduldig herum. »Was soll diese Frage? Wir Indies leben unser Leben, wie wir wollen. Wir versuchen uns bestmöglich zu erkennen und wir selbst zu sein. Ich bin frei.«

»Frei«, wiederholte Babe und schaute ihn nun direkt an – ihr Blick war seltsam. »Du suchst etwas.«

»Das tun doch alle.« Er breitete grinsend seine Arme aus.

»In der Tat«, sich nickte bestätigend. »Was ist es bei dir? Deine Menschlichkeit? Eine Befreiung vom Wolf in dir?«

»Vielleicht ist der Weg das Ziel«, wich er aus, sein Schweif hing nun schlaff an ihm hinab.

Die beiden sprachen selten über ihre tieferen Beweggründe. Babe erzählte nichts aus ihrer Vergangenheit. Wolf schwieg ebenfalls darüber. Das waren ihre eigenen Angelegenheiten. So etwas zu teilen sorgte für eine Verkettung ihrer Leben, für ungewollte Verbundenheit, für Einschränkungen.

Es konnte verschiedene Gründe haben, warum Wolf war, was er war. Genetischer Fehlschlag? Magisches Experiment? War er ein vermenschlichtes Tier oder ein tierischer Mensch? Hat er seinen Körper so gewählt und die Kontrolle verloren, oder ist er dazu gezwungen worden? Er sprach nie darüber – und Babe nicht, warum sie plötzlich vom Himmel gefallen war.

»Du versucht deine Menschlichkeit zu fördern und den Wolf zu unterdrücken«, stellte sie fest, ließ ihren Blick kurz über seine Umrisse fahren und widmete sich wieder dem Spiel. »Das geht mehr schlecht als recht, du hast deine Grenzen erreicht. Man weiß nie, was die Jahre bringen – ob du dich verlieren und irgendwann mit sabbernden Lefzen jemanden auf offener Straße verspeisen wirst.«

Wolf verspannte sich bei diesen Worten. Direktheit war seine Art, normalerweise umschiffte Babe heikle Themen.

Sie hat etwas vor, erkannte er. Etwas Gefährliches. Sie will mich unbedingt überzeugen.

»Ideal wäre Hochwissen in Magie und Wissenschaft. Viel zu teuer, unerreichbar«, schloss sie, machte ihren Spielzug und – schoss daneben. »Deine Chance! Verballer‘s nicht!«

Wolf legte seinen Oberkörper beinahe auf die Platte und stützte sich mit den Ellbogen ab. Er visierte die Kugel an. Im letzten Moment verzog er den Stab und schnitt sie unten an. Sie hob ab und schoss direkt auf Babe zu. Sie schnappte sie gerade noch mit einer Hand vor ihrem Gesicht. In diesem Moment stieß sich Wolf vom Boden ab, verlagerte sein Gewicht auf seine Pranken und schoss über den Billardtisch auf sie zu. Er schloss seine Finger fest um ihr Handgelenk, hockte auf der Tischkante und zog sie rabiat zu sich. Babe blinzelte überrascht, als sie ihm direkt aus nächster Nähe in die Augen schaute.

»Die Kugel hat mein Sichtfeld eingeengt und meinen Fokus verschoben. Du hast verdammt gut gezielt. Warum nicht beim Spiel?«, hauchte sie.

Seine Augen verengten sich, die grünblauen Iriden weiteten sich. Sie fühlte die Hitze seines Atems auf ihren Wangen. Seine Ohren stellten sich auf und sein Kiefer mahlte. Die von ihm selbst gewählte, sonst so ungeliebte, Nähe irritierte sie.

»Was hast du vor?«, knurrte er leise.

»Ich … habe einen Job«, antwortete sie, die plötzliche Situation hatte ihre Pläne über Bord geworfen.

»Was für einen?«, fragte er sofort weiter – seine Intuition hatte ihn nicht getäuscht, sie war in der Defensive.

»Ein ziemlich gut bezahltes Abenteuer«, erwiderte sie, schließlich lächelte sie. »Also gefährlich und ich weiß, du würdest es auch ohne Moneten machen.«

»Hey! Runter vom Tisch!«, brüllte die Kellner-Illusion, woraufhin Wolf Babe losließ, vom Tisch sprang und sich sein Getränk schnappte.

»Warum dann diese Geheimniskrämerei?«, fragte er und kippte es komplett in seinen Rachen.

»Och …«, sie legte die Hände hinter ihren Rücken, beugte sich wie ein kleines Mädchen spielerisch nach vorne und schürzte die Lippen.

Wolfs Nackenhaare stellten sich auf und sein Schwanz erstarrte. Fluchtinstinkte regten sich.

»Der Auftraggeber gehört zu einem Wolfsrudel«, sprach sie weiter und klimperte unschuldig mit ihren Augen.

»Bin weg«, schnappte Wolf, drehte sich auf dem Absatz um und lief Richtung Tür. »Du bezahlst die Drinks.«

Babe eilte ihm hinterher, griff nach seinem Hosenbund und hielt ihn fest. Wolf schlug noch im Gehen mit der Pranke nach hinten und damit ihren Arm beiseite. Sie stopfte ihre Hände in die Hosentasche und schniefte abschätzig.

»Du hast dich sogar von deinem Namen gelöst. Was soll nun das Getue mit der Verwandtschaft?«, rief sie ihm abfällig hinterher.

»Hä?!« Wolf wirbelte herum und Wut blitzte in seinen Augen auf. »Verwandtschaft? Nur weil‘s Wölfe sind, heißt das nicht, dass sie zur Familie gehören. Bist du automatisch mit jemanden verwandt, sobald er schwarze Haare hat?«

Sie spitzte ihre Lippen und pfiff erstaunt.

»Entspann dich. Okay, war ein blöder Spruch von mir«, erwiderte sie einsichtig und trat näher an ihn heran. »Tut mir ehrlich leid.«

Babe legte eine Hand auf seine Wange und strich ihm über die Schnauze. Ihre Mundwinkel zuckten, sie presste ihre Lider zusammen und quietschte: »Engelverdammt, so flauschig!«

Wolf sprang zurück und knurrte sie wütend an. Sein Körper war gebeugt, sein Schweif peitschte erregt hin und her.

»Jetzt denk doch mal nach. Du bist meinetwegen nicht verwandt, verstehst aber durchaus seine Denkweise. Das wäre ein super Vorteil. Abgesehen von der guten Bezahlung, sind für dich auch noch Insiderinformationen drin – das Menschsein als Wolf, du verstehst?«, versuchte sie es nun ernsthaft.

»Ich weiß genug darüber«, presste er zwischen den Zähnen hervor, schwer bemüht um eine klare Aussprache. »Ich wurde schließlich nie verstoßen, sondern habe meine Freiheit selbst gewählt.«

Ich möchte das wirklich nicht gern tun, sinnierte Babe wehmütig. Aber es muss sein.

»Damit kommen wir zum spannenden Teil der Sache«, sprach sie ruhig weiter. »Was genau wir tun sollen.«

»Was tun, zum bleichen Engelsarsch noch mal?!«, blaffte Wolf ungehalten.

»Nun …«, flüsterte sie, wandte sich ab und ging zum Billardtisch. »Hör es dir einfach an. Schlaf mal eine Nacht drüber.«

Wolf wischte verärgert mit der Hand durch die Luft, als würde er einen Vorhang beiseiteschieben.

»Ich zahl die Drinks«, rief Babe und nahm sich einen Queue.

Er schnaubte, drehte sich um und stampfte aus der Bar. Babe legte den Stab an und zielte. Als Wolf die Tür ins Schloss krachte, machte sie ihren Spielzug. Alle restlichen Kugeln rollten mit einem Stoß in die Löcher.

Sie lächelte zufrieden.

Rissiger Beton. Abgestandene Luft, die nach Staub schmeckte. Zähe Dunkelheit. Nur die alten Stahlgleise glänzten im Schein der Kenaz-Rune.

Der kleine Lichtball schwebte über Babes Kopf, als wäre sie durch einen unsichtbaren Faden mit ihrem Schädel verbunden. Den fleischigen Kern, auf dem sich die magische Rune befand, konnte man in ihrem Leuchten nicht erkennen.

Der endlos wirkende Tunnel war ein angeschnittener, horizontaler Zylinder. Rohre zogen sich an seinem hohen Zenit entlang, wie die Venen an den Beinen einer alten Vettel. Das gleichmäßige Licht bewegte ihre Schatten kaum, sodass es wirkte, als würde Babe trotz ihres eiligen Schrittes überhaupt nicht vorankommen.

Eine Kenaz-Kugel war zwar nichts Besonderes und weit verbreitet – nur ein Zellklumpen, welcher durch die Rune schweben sowie leuchten konnte und dabei die Nähe von Gedanken suchte – dennoch tröstete er sie. Babe war froh über diesen kleinen, magischen Begleiter, denn dieser Ort hatte nichts Magisches an sich. Er fühlte sich gänzlich tot an.

Sämtliche Vorrichtungen waren mechanisch betrieben worden oder hatten Kabel, die nicht in der Lage waren, magische Energien zu leiten. Diese leblose, alte Technik war ein Überbleibsel einer vergangenen Zivilisation, welche kühle Logik über alles gestellt hatte. Eine Herrschaft der Zahlen. Doch wenn Gefühle, Natur und Seele nur noch mathematische Formeln sein sollten, was hatte das Leben dann für einen Wert? Selbstzerstörung war die logische Konsequenz. Nachfolgende Kulturen hatten sich diese Lektion gut gemerkt, denn der Niedergang war katastrophal gewesen – auch wenn manche der Bauwerke die Zeiten lange überdauert hatten. Heutzutage war die Symbiose von Biologie, Physik und magisch-alchimistischem Energiefluss die Grundlage des Fortschritts. Das Leben war schon immer voll von schöpferischem Chaos.

Nur das magische Licht und Babe gaben diesem Ort einen Hauch von echtem Leben. Dennoch umhüllte sie der starre Totenglanz der Vergangenheit wie ein feuchtes, fauliges Tuch. Das Atmen schien schwerer zu fallen und mit jedem Schritt regte sich wispernd der Gedanke, was es überhaupt für einen Sinn machte zu existieren.

In der zermürbenden Gleichförmigkeit tauchte endlich ihr Ziel auf: eine schmale Stahltür. Schnell eilte sie zu dem verheißungsvollen Fleck der Abwechslung und legte ihre Hand auf die rostige Klinke. Ihr Blick huschte über das schmucklose Schild auf dem Türblatt. Der geometrische Text war ihr unverständlich, sie vermutete jedoch, dass es so etwas wie Wartung oder Notausgang bedeuten könnte.

Beherzt drückte sie die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Das Quietschen der Angeln zerschnitt die Schwere der Stille. Nie hatte Babe einen süßeren Klang vernommen. Sie trat hindurch und das biomagische Licht kuschelte sich beinahe in ihre Haare, da der Gang dahinter sehr niedrig war.

Über diesem unterirdischen Tunnelsystem befanden sich Tonnen von Stein und Erdreich, dazu eine Stadt, welche hoch in den Himmel ragte. Die Finsternis schien endlos und auf Babes Schultern zu drücken. Der Geruch von altem Metall kroch beißend in ihre Nase. Sie lief immer schneller, bis sie beinahe rannte. Ein Ring aus Stahl schien ihren Brustkorb eingeschnürt zu haben. Babes Atmung ging schnell und rasselnd. Ihre Wirbelsäule kribbelte und schmerzte zugleich.

Schließlich sprintete sie vorwärts. Die Lichtkugel konnte kaum folgen und fiel zurück. Ihr eigener Schatten wurde immer länger und wuchs vor ihr zu einem Monstrum heran.

Du gehörst nicht hierher, hämmerten ihre Gedanken. Dieser Ort ist nicht für deinesgleichen gemacht. Wir können uns nicht ausstrecken!

Ihr Sichtfeld verschwamm. Die Luft um ihre Schläfen begann zu flimmern. Erschrocken bremste sie ab, schlug die Hände vor ihr Gesicht und versuchte sich zu beruhigen.

Halt dich zurück, mahnte sie sich zähneknirschend. Ich kann gehen, wohin ich will, auch in die toten Gänge der Vergangenheit. Auch das bedeutet Freiheit.

Die Dunkelheit vor ihren zusammengepressten Lidern warf Wellen. Sie war anders als die da draußen, war lebendig. Der Raum zwischen Fingern und Gesicht war ihr eigener Schutzbunker. Langsam beruhigten sich ihre Gedanken. Das Kenaz stupste gegen ihren Hinterkopf und sonnte sich in ihren Gedankengängen.

Mit einem Ruck senkte sie ihre Hände, zog die Sonnenbrille aus einer ihrer Hosentaschen und setzte sie auf. Babe schlug ihre Augen auf und lief zügig weiter.

»Genug jetzt«, schimpfte sie sich selbst aus. »Dieser Ort ist schlichtweg praktisch und ungefährlich. Benimm dich nicht wie ein Idiot.«

Trotzdem erwischte sie sich dabei, wie ihr Herz erleichtert einen Sprung machte, als der Gang in eine Treppe mündete, an dessen Ende sich eine weitere Tür befand. Babe lockerte ihre Schultern, schlug noch einmal gegen die beruhigende Ausbuchtung ihrer Uzi im Hosenbund und genoss das aufkeimende Gefühl der Aufregung in ihrem Bauch.

Sie wurde bereits erwartet. Mehrere blasse Gesichter wandten sich ihr zu. In manchen stand Erleichterung geschrieben, in anderen Verachtung. Dennoch war eines in allen gleich zu lesen: Respekt.

Sie waren Eremiten. Das klang vermutlich hochgestochener, als es war. Für manche barg dieses Wort jedoch eine verführerische Sehnsucht nach Gefahr und Freiheit. So nannte man jene, die aus dem Schwarm des vereinigten Erd-Kombinats ausgeschlossen waren. Im Gegensatz zu den Individualisten, welche ihren Platz als Freidenker selbst gewählt hatten, wollten diese Leute die Vorzüge eines Schwarmlebens genießen, sich dabei aber zu wenig einordnen.

Denn der Schwarm war schließlich perfekt.

Menschen waren schon immer Herdentiere. Sie benötigten enge soziale Kontakte, lebten gern gemeinsam, waren am zufriedensten, wenn jeder das Gleiche besaß, wenn die Unterschiede untereinander minimal waren. Die Vorhersagbarkeit des Alltags gab ihnen Sicherheit und Frieden. Der Rückhalt eines stetigen Einkommens und planbarer Freizeit ermöglichte eine geplante Fortpflanzung.

Es war unumstößlich effizient im Erreichen von höheren Zielen. Es gab keine Konflikte in einem Schwarmbewusstsein, jeder kannte seine Aufgabe, welche es zu erfüllen galt – ähnlich einem Bienenstock. Die Leute kehrten immer wieder zu ihren Fixpunkten zurück: Alltag, Sicherheit, Bekanntheit der Situation, Gemeinschaft, Verantwortung den Gebildeten überlassen.

Der Menschenschwarm hatte seinen Platz erkannt und lebte entsprechend: kleine schöne Wohnungen, entspannender Komfort, ein fester Arbeitsplatz mit vorgegeben Zielen, ausreichend Freizeit mit einem vielfältigen Angebot an Unterhaltung. Sicherheit im Schoße der globalen Gemeinschaft unter den Fittichen weiser Fachleute.

Willkommen im vereinigten Erd-Kombinat.

Keine Kriege, denn wir sind alle geeint. Wir sind Weltbürger. Wir sind eine Spezies. Wir haben ein gemeinsames Ziel: Fortschritt, Leben, Ausbreitung.

Babe legte ihren Handrücken vor ihren Mund und unterdrückte bei dem Gedanken an diese Leitsätze ein herzhaftes Gähnen.

Die Eremiten waren mit keiner der beiden Lebensarten sonderlich zufrieden.

Ihre genetischen Modifikationen waren meist extrem. Manche Gesichter ähnelten Tieren mehr als Menschen. Mit cybermagischen Prothesen geizte man auch nicht – man trug die glühenden Runen stolz zur Schau. Der Wunsch, größtmögliche Diversität zu zeigen, sodass es fast einer Maskierung glich, war offensichtlich.

Obwohl sie aussahen wie stumpfe, übermodifizierte Straßenschläger, welche kaum genug Intelligenz zum Sprechen hatten, waren sie oft hochgebildet. Sie kämpften für mehr Individualität im Schwarm. Man wollte Fortschritt um jeden Preis, obwohl die Geschichte gezeigt hatte, dass ein kontrolliertes Maß viel sinnvoller war.

Sie waren Hacker und Informationshändler, fühlten sich als etwas Besseres – manchmal waren sie das sogar. Natürlich nutzte man Konzepte wie Individualität und maximale Toleranz auch als Rechtfertigung für platte Parolen, Kriminalität, wilde Drogenexzesse, vulgäre Sexpraktiken und die eine oder andere Sektenhierarchie.

Die Schwarm-Identität-Scancodes im Nacken hatten einige aufgeschlitzt und vernarben lassen. Andere hatten sie mit anderen Tätowierungen überdeckt oder sie dramatisch durchstreichen lassen.

Diese Eremiten-Gang hatte es sich zum Markenzeichen gemacht, die Strich-Codes immer wieder neu aufzubringen. Sie fanden sich auf ihrer Stirn, unter ihren Augen, am Hals, am Armgelenk, auf der Brust. Die schwarzen Linien verliehen ihrem Äußeren eine Brandmarkung als Objekt, eine beißende Satire für das, wogegen sie sich stellten.

Ihre Haare waren zu opulenten Frisuren aufgesteckt. Schnecken, Wülste und geflochtene Zöpfe türmten sich hoch auf und wurden immer wieder durchbrochen von metallischen Platten. Die Kleidung war überwiegend schwarz und hatte wohl ausschließlich den Nutzen, Werkzeuge und Waffen tragen zu können.

Eremiten rotteten sich in Gangs zusammen und schufen ihre eigenen Regeln. Das war genau nach Babes Geschmack. Daher arbeitete sie gern mit ihnen zusammen oder zog mit ihnen durch die Straßen.

Freiheit ist wie Fliegen ohne Flügel, dachte Babe, als sie grinsend ihre Sonnenbrille vom Gesicht zog und begrüßend mit der Zunge schnalzte.

»Du bist verdammt spät«, grunzte ein drahtiges Mädchen mit runenumrandeten, bleichen Augen.

»Ist halt ein langer Weg hierher«, entgegnete Babe und zuckte mit den Schultern.

»Sogar die blinde Elenna war schneller als du«, stichelte ein untersetzter Typ, den sie vorher noch nie in der Gruppe gesehen hatte – ein Neuling, der seinen Platz aufzubauen versuchte.