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Der 1. Teil der Secret-Angel-Reihe
Seit sechs Jahrtausenden stehen die Engel den Menschen schon hilfreich zur Seite. Doch nun sind sie mit ihrem Latein am Ende. Die Menschheit ist dabei, ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören, und die Engel haben keine Ahnung, wie sie acht Milliarden Menschen von diesem fatalen Kurs abbringen sollen. Die Engel vermuten, dass dieses selbstzerstörerische Verhalten der Menschen etwas mit einem ebenso rätselhaften wie mysteriösen Phänomen zu tun haben könnte, das die Menschen als »emotionale Probleme« bezeichnen. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen und eine Lösung dafür zu finden, werden nun erstmals in der Geschichte der Menschheit neun Engel in menschlicher Gestalt auf die Erde geschickt.
Dringe zusammen mit Secret Angel Mary Soul in Erkenntnistiefen vor, die nie ein Mensch zuvor ergründet hat! Es erwarten dich spektakuläre, neue Erkenntnisse, die einen gangbaren und fundierten Weg zu einer glücklicheren, gesünderen und erfolgreicheren Lebensweise aufzeigen.
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Seitenzahl: 607
Seit sechs Jahrtausenden stehen die Engel den Menschen schon hilfreich zur Seite. Doch nun sind sie mit ihrem Latein am Ende. Die Menschheit ist dabei, ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören, und die Engel haben keine Ahnung, wie sie acht Milliarden Menschen von diesem fatalen Kurs abbringen sollen. Die Engel vermuten, dass dieses selbstzerstörerische Verhalten der Menschen etwas mit einem ebenso rätselhaften wie mysteriösen Phänomen zu tun haben könnte, das die Menschen als »emotionale Probleme« bezeichnen. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen und eine Lösung dafür zu finden, werden nun erstmals in der Geschichte der Menschheit neun Engel in menschlicher Gestalt auf die Erde geschickt.
Dringe zusammen mit Secret Angel Mary Soul in Erkenntnistiefen vor, die nie ein Mensch zuvor ergründet hat! Es erwarten dich spektakuläre, neue Erkenntnisse, die einen gangbaren und fundierten Weg zu einer glücklicheren, gesünderen und erfolgreicheren Lebensweise aufzeigen.
Bodo Deletz ist Bestseller-Autor der Ella-Kensington-Buchreihe und gehört mit einer Million verkaufter Bücher und über 40.000 Seminarteilnehmern seit fast 40 Jahren zu den erfolgreichsten Trainern Deutschlands. So wird er gemessen an seinen Leistungen für gewöhnlich vorgestellt. Er selbst bezeichnet sich jedoch in erster Linie als Forscher und Entwickler.
Homepage: bodo-deletz.de
YouTube: youtube.com/@bodo-deletz
Bodo Deletzalias Ella Kensington
Aus Liebe zum Leben
Band 1: Müssens
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Originalausgabe September 2024
Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
LG ∙ CB
ISBN 978-3-641-32875-7V001
www.goldmann-verlag.de
Die Handlung dieser Romanreihe ist frei erfunden. Nicht jedoch der geschilderte Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben und einer glücklichen Partnerbeziehung. Dieser Weg ist sowohl wissenschaftlich als auch spirituell fundiert und stellt das Endergebnis einer nunmehr vierzigjährigen Forschungsarbeit dar.
Ich wollte immer schon alles sehr viel genauer verstehen, als es in den Geisteswissenschaften üblich ist. Daher waren mir die Antworten, die ich im Bereich der Psychologie und der Spiritualität in Bezug auf eine glückliche und erfüllende Partnerbeziehung finden konnte, nie tiefgreifend genug. Deshalb begann ich bereits vor 40 Jahren mit meinen eigenen Forschungen. Meine ersten beiden Bücher zu diesem Thema (Mary, die unbändige, göttliche Lebenslust und Die 7 Botschaften unserer Seele) publizierte ich 1996 unter dem Autorenpseudonym Ella Kensington.
Was ich in diesen beiden Büchern veröffentlichte, waren die wertvollsten Erkenntnisse, die damals weltweit verfügbar waren. Beide Bücher wurden zu Spiegel Online-Bestsellern und verkauften sich über eine Million Mal. Seitdem sind jetzt 30 Jahre vergangen, in denen ich unablässig weiter mit meinem Team geforscht habe.
Die umfangreichen Informationen, die ich mit dieser Buchreihe der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte, sind Weltneuheiten, die weit über das damalige Wissen hinausgehen. Damals gab es in meinen Büchern noch einige elementare Irrtümer, die ich auch heute noch überall in allen aktuellen Lebenshilferatgebern und Beziehungsratgebern anderer Autoren unverändert vorfinde.
Wenn du dich bereits eingehender mit der Frage befasst hast, wie es möglich ist, ein problemfreies und glückliches Leben und auch eine ebenso glückliche Partnerbeziehung zu führen, dann wirst du in dieser Romanreihe Antworten auf Fragen vorfinden, die bisher noch nie jemand stichhaltig beantworten konnte. Einige dieser Antworten werfen ein völlig neues Licht auf alles, was bisher über die Themen Glück und Erfüllung veröffentlicht wurde. Unsere Forschungsergebnisse sind jedoch nicht nur echte Neuheiten, sie sind auch gleichzeitig so präzise und praktisch anwendbar, dass du ihre Wirksamkeit und damit auch ihre Richtigkeit sofort selbst in der Praxis überprüfen kannst.
Ich lade dich daher mit der vorliegenden Romanreihe zu einer Entdeckungsreise in den innersten Kern deiner Persönlichkeit ein. Es ist eine Reise zu dir selbst, die dein gesamtes Leben und vor allem deine sozialen Beziehungen zum Positiven verändern kann. Du wirst dich selbst, deine Gefühle und alle wichtigen Beziehungsdynamiken in einer Tiefe verstehen lernen, die du dir jetzt noch gar nicht vorstellen kannst.
In diesem Sinne wünsche ich dir eine gute Reise.
Bodo Deletz alias Ella Kensington
Abgesehen von mir hatten sich damals alle aus meiner Abschlussklasse für eine Laufbahn als Messenger-Angel entschieden. Für mich war das nicht das Richtige, denn als Messenger-Angel hatte man immer nur einen sehr kurzen Kontakt mit den Menschen. Man überbrachte seine Botschaft und wandte sich dem nächsten Auftrag zu. Das war mir einfach zu wenig, denn es gab in diesem Universum für mich nichts Interessanteres als Menschen. Insbesondere war ich fasziniert von ihren Emotionen, denn so etwas hatten wir Engel leider gar nicht. Was den Emotionen der Menschen bei uns noch am nächsten kam, waren unsere Geisteshaltungen wie beispielsweise Neugier, Interesse oder Aufregung. Doch das waren nur mentale Zustände und keine emotionalen. Und die Fülle unserer möglichen Geisteshaltungen war auch sehr begrenzt. Daher war ich überaus fasziniert von der schier unermesslichen Fülle an Emotionen, über welche die Menschen verfügen konnten.
Um die Menschen besser studieren zu können, wurde ich Guardian-Angel, was für einen so jungen Engel wie mich eher unüblich war. Als Guardian-Angel musste ich zwar ebenfalls meistens von Auftrag zu Auftrag eilen, doch es gab auch Tage, an denen nicht so viel los war und ich deshalb länger als nötig bei meinen Schützlingen verweilen konnte. Ich wollte ihre Verhaltensmuster und den Zusammenhang mit ihren Emotionen studieren, denn mein Ziel war es, so schnell wie möglich Love-Angel zu werden. Das war die wundervollste, aber auch gleichzeitig anspruchsvollste Aufgabe, die ein Engel im Paradies übernehmen konnte. Die meisten Engel brauchten mehrere Jahrhunderte, um die Menschen gut genug zu verstehen, damit sie dieser Aufgabe gerecht werden konnten. Doch den Guardian-Angels gelang das in der Regel deutlich schneller als den Messenger-Angels. Daher war mir meine Entscheidung nach der Schule leichtgefallen.
Seit wir gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten, waren jetzt viele Jahre vergangen. Daher wunderten wir uns alle sehr darüber, warum wir wieder hierher zurück in die Schule gerufen wurden. Alle aus unserer damaligen Klasse waren gekommen: Lina, Malaika, Yensaya, Serafina, Lenyo, Bodo, Angelo und Nuno. Doch keiner von uns konnte sich einen Reim darauf machen, warum wir eigentlich hier waren. Endlich ergriff Ella, unsere Lehrerin von damals, das Wort und brachte Licht in die Angelegenheit.
»In den letzten 6.000 Jahren ist es uns stets gelungen, alle existenziellen und sozialen Herausforderungen zu bewältigen, welche das Überleben der menschlichen Spezies bedrohten. Doch seit ihrer industriellen Revolution konnten wir sie nicht mehr davon abhalten, systematisch die Natur des Paradieses und damit ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Wir haben alles versucht und standen bis vor Kurzem vor einem absoluten Rätsel. Nun sind neue Erkenntnisse aufgetaucht. Wir sind einem mysteriösen Phänomen auf die Spur gekommen, welches das selbstzerstörerische Verhalten der Menschen erklären könnte. Es geht dabei um ihre Emotionen.
Emotionen werden im menschlichen Gehirn durch neurochemische Botenstoffe erzeugt. Welche Botenstoffe dabei genau ausgeschüttet werden, hängt immer von den Beurteilungen ab, die ein Mensch über sich selbst und seine Außenwelt trifft. Doch aus einem für uns bislang nicht logisch nachvollziehbaren Grund machen sehr viele Menschen ihre Beurteilungen von ihren Gefühlen abhängig und führen damit das gesamte Prinzip ad absurdum – mit teilweise sehr fatalen Konsequenzen. Es ist uns ein völliges Rätsel, warum so viele Menschen etwas so Unsinniges tun. Und um genau das herauszufinden, werden wir jetzt euch neun als Secret-Angels in geheimer Mission ins Paradies entsenden.«
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte! Und die anderen acht wohl auch nicht, denn ein lautes Raunen zog durch den Saal. Das hatte es jetzt seit zweitausend Jahren nicht mehr gegeben, denn es bedeutete, dass wir einen physischen Körper bekommen und uns damit für alle frei sichtbar unter den Menschen bewegen würden. Das hätte sich keiner von uns auch nur in seinen kühnsten Fantasien ausmalen können. Vor allem auch nicht, weil in der gesamten Menschheitsgeschichte bisher nur eine Handvoll Love-Angels diese Aufgabe erhalten hatten – und die hatten zuvor jahrtausendelange Praxiserfahrungen vorzuweisen. Und jetzt sollten wir jungen Guardian-Angels und Messenger-Angels Secret-Angels werden? Das war einfach unfassbar!
»Und warum nehmt ihr für diese Mission keine erfahrenen Love-Angels?«, fragte ich verwundert.
»Wir Love-Angels haben bereits alles Erdenkliche versucht, um dieses Rätsel zu lösen und sind gescheitert, liebe Mary Soul«, antwortete mir Ella. »Wir befürchten, dass wir vielleicht zu vorschnell alles in bereits vorhandene Verständnisstrukturen eingeordnet haben, weil wir uns über die Jahrtausende ein sehr umfassendes Bild von den Menschen und ihren Emotionen gemacht haben. Doch offensichtlich müssen wir dabei etwas ganz Elementares übersehen haben. Deshalb möchten wir jetzt euch junge Engel ins Paradies schicken, da ihr unvoreingenommener hinschauen könnt und dabei möglicherweise Zusammenhänge erkennt, für die wir Love-Angels mittlerweile blind geworden sind. Und damit euch nicht das Gleiche passiert wie uns, werdet ihr als Secret-Angels einen vollständigen menschlichen Körper bekommen – inklusive menschlicher Emotionen.«
Man hätte in diesem Moment eine Stecknadel im Saal fallen hören können. Wir konnten nicht glauben, was wir gerade gehört hatten. Das hatte es tatsächlich noch nie zuvor in der Geschichte der Engel gegeben: Wir sollten echte menschliche Emotionen bekommen!
»Und wann beginnt unsere Mission?«, fragte ich begeistert.
»Ihr werdet gleich eure menschlichen Avatare bekommen«, kündigte Ella an. »Und dann geht es auch direkt schon los. Wir haben dafür gesorgt, dass euer Körper nicht gleich von Anfang an zu allen menschlichen Emotionen fähig ist, denn das würde eure Lernerfahrung unüberschaubar machen. Es wird daher ein paar Wochen dauern, bis ihr über das volle Spektrum menschlicher Emotionen verfügen könnt.
Eure Erfahrungen werden sich zunächst auf die Emotionen des sogenannten Reptiliengehirns beschränken. Das ist das evolutionär gesehen älteste Areal im menschlichen Gehirn. Dieses Gehirnareal ist auch beim modernen Menschen noch fast identisch mit dem von Reptilien.
Ein Reptil interessiert sich grundsätzlich nur für zwei Dinge: Überleben und Fortpflanzung. Alle instinktiven Verhaltensprogramme aus dem Reptiliengehirn dienen daher letztendlich einem von diesen beiden Zwecken. Zu jeder Emotion gehören dann immer drei emotionale Handlungsimpulse. Sie werden als Vermeidungsgefühle, Lockgefühle und Belohnungsgefühle bezeichnet.
Lockgefühle werden immer dann erzeugt, wenn eine Möglichkeit zur Überlebenssicherung oder zur Fortpflanzung als lohnend beurteilt wurde. Die Lockgefühle sollen euch also gewissermaßen in eine positive Zukunft locken. Belohnungsgefühle erzeugt euer Reptiliengehirn hingegen immer dann, wenn etwas positiv beurteilt wird, was gerade in eurer Gegenwart passiert. Euer Reptiliengehirn will euch damit mitteilen, dass das, was gerade passiert ist, sehr gut für euch ist. Und Vermeidungsgefühle werdet ihr spüren, wenn euer Reptiliengehirn der Meinung ist, dass etwas Schlechtes in der Zukunft vermieden oder in der Gegenwart abgestellt werden sollte. Vermeidungsgefühle werden also durch negative Beurteilungen erzeugt, wohingegen die Lockgefühle und die Belohnungsgefühle durch positive Beurteilungen ausgelöst werden.
Alle Emotionen, die der Mensch im Laufe der Jahrmillionen entwickelt hat, bauen auf einem einfachen Überlebensprinzip auf: Suche das Gute und meide das Schlechte! Macht euch bei eurer ersten Mission mit diesem Ur-Prinzip und den dazugehörigen emotionalen Handlungsimpulsen vertraut. Findet heraus, zu welcher Handlung euch welches Gefühl veranlassen soll. Es genügt, wenn ihr das bei eurer ersten Mission nur ganz grundsätzlich erkennt. Später werden wir dann im Verständnis der verschiedenen Emotionen und der dazugehörigen Handlungsimpulse weiter ins Detail gehen.«
Wenige Minuten später sollten wir dann auch schon unsere menschlichen Avatare bekommen. Um damit im Paradies möglichst wenig aufzufallen, hatte man ihr Aussehen dem Durchschnitt der Bevölkerung des Landes angepasst, in das wir für unsere Missionen entsandt werden sollten. Ich war sehr gespannt darauf, wie solch ein durchschnittlicher Körper für die Vereinigten Staaten von Amerika aussehen würde, denn genau dorthin sollte mich meine erste Mission führen.
Bodo, Nuno, Angelo und Lenyo bekamen einen männlichen Körper. Malaika, Yensaya, Serafina und ich würden menschliche Frauen im Alter zwischen 25 und 28 Jahren werden. Um unsere Avatare zu erschaffen, hatten sich Ella und ihr Team einer menschlichen Datenbank bedient, auf der unzählige Fotos von Männern und Frauen aus allen gewünschten ethnischen Gruppen und im gewünschten Alter zu finden waren.
Nachdem Ella uns unsere menschlichen Körper gezeigt hatte, brachte sie uns bei, wie unser Geist eins mit unserem Avatar werden konnte. Das war nicht ganz einfach, denn wir mussten uns voll und ganz auf die Vorstellung einlassen, dieser Mensch tatsächlich zu sein. Unsere wahre Identität als Engel sollte dabei in den Hintergrund treten – jedoch nicht so sehr, dass wir komplett vergaßen, wer wir in Wirklichkeit waren. Ella machte uns darauf aufmerksam, dass diese Gefahr tatsächlich bestand. Je länger wir in unserer Rolle als Mensch bleiben würden, desto mehr würden wir uns mit dem Menschsein identifizieren und nach und nach vergessen, wer wir in Wirklichkeit waren. Doch da wir ohnehin die Order hatten, spätestens alle zwei Tage hierher zurück in den Klassensaal zu kommen, um Bericht zu erstatten, bestand keine nennenswerte Gefahr für dieses Problem. Dennoch sollten wir immer ein Auge darauf haben, empfahl uns Ella.
Bei meinen ersten Versuchen schaffte ich es immer nur für wenige Sekunden, mich mit meinem Avatar zu identifizieren. Ich fiel immer wieder sofort in meine wahre Identität zurück. Doch nach und nach wurde ich besser. Je häufiger ich Mensch wurde, desto vertrauter wurde mir mein menschlicher Körper. Und mit der Vertrautheit kam die Verbundenheit, bis ich schließlich den Eindruck hatte, dieser menschliche Körper tatsächlich zu sein. Gleichzeitig wusste ich jedoch auch noch, wer ich in Wirklichkeit war. Ich fühlte mich wie eine Art Engel-Mensch-Hybrid. Ich war beides zugleich.
Unsere Avatare waren bereits mit einigen menschlichen Fähigkeiten ausgestattet. So konnte ich beispielsweise bereits mühelos laufen und sprechen, was Menschen normalerweise erst lernen müssen. Was mein Avatar noch alles konnte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Doch es war klar, dass Ella und ihr Team sicherlich an alle Fähigkeiten gedacht hatten, die wir bei unseren Missionen brauchen würden.
»So, meine lieben Secret-Angels«, ergriff Ella das Wort, nachdem wir es alle geschafft hatten, uns als Engel-Mensch-Hybriden zu manifestieren. »Das sind also eure neuen Identitäten, mit denen ihr auch gleich eure ersten emotionalen Erfahrungen im Paradies machen werdet.«
Ella zeigte uns noch kurz, wie wir die Energie- und Materieflüsse im Quantenvakuum manipulieren und kontrollieren konnten, um uns mit diesem Avatar im Paradies als Körper aus Fleisch und Blut zu materialisieren, und dann ging es auch schon direkt los.
Ella und ihr Team hatten mir für meine erste Mission einen Job im Weißen Haus besorgt. Dort arbeitete ein Mann namens Mister President, der als eine der Schlüsselfiguren in der globalen Klimaproblematik galt. Die Klimaerwärmung war eines der größten globalen Probleme, welche sich die Menschheit bislang manifestiert hatte, und die USA hatten den größten Anteil an diesem Problem. Die ganze Welt schaute deshalb sehr kritisch auf Mister President, der sich immer noch weigerte, die Verantwortung für den weltweiten Schaden in der Natur anzuerkennen, den seine Nation maßgeblich mitverursacht hatte. Ich war sehr gespannt darauf, ob ich bei meiner Mission eine Erklärung für diese Weigerung würde erkennen können.
Ella und ihr Team hatten einen Weg gefunden, der mich direkt mit Mister President in Kontakt bringen sollte. Ich musste dazu nur zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein – und zwar im Büro von Misses Langton. Um Punkt 08:36 Uhr sollte ich mich dort einfinden, weshalb ich mich um 08:30 Uhr zunächst einmal in einer Toilette des Weißen Hauses materialisierte, wo mich niemand sehen konnte. Bis zum Büro von Misses Langton war es nicht weit. Ich würde nur wenige Minuten benötigen.
In den Fluren des Weißen Hauses begegnete ich vielen Menschen. Ich hatte den Eindruck, dass sie seltsam auf mich reagierten. Ich konnte mir jedoch nicht erklären, warum, denn mein Aussehen entsprach ja exakt dem errechneten Durchschnitt der amerikanischen Bevölkerung, und auch meine Kleidung war unauffällig. Ich sollte daher eigentlich nicht auffallen. Dennoch fühlte ich mich eindeutig unbehaglich, was mich überaus begeisterte. Ich war gerade einmal ein paar Minuten hier und empfand bereits Reptiliengehirn-Gefühle. Das war einfach fantastisch! Das hatte ich mir wahrlich schwieriger vorgestellt. Ich befand mich jetzt tatsächlich in einer Welt der Sterblichen. Was für ein Abenteuer!
Mein Reptiliengehirn gab mir bei jeder Begegnung mit einem Menschen den emotionalen Handlungsimpuls, schnellstmöglich einschätzen zu wollen, ob dieser Mensch mir freundlich oder feindlich gesinnt war. Ich vermutete, dass es ihm dabei um Gewaltvermeidung ging. Ich hatte daher jetzt echte Vermeidungsgefühle. Wahnsinn! Zu diesem instinktiven Gewaltvermeidungsprogramm gehörte es offenbar, den aktuellen emotionalen Zustand anderer Menschen anhand ihrer Körperhaltung und ihrer Gesichtszüge einschätzen zu wollen. Waren sie gerade aggressiv oder friedlich? Das war die Frage, die mein Reptiliengehirn als Allererstes zu interessieren schien. Als Nächstes wollte es das generelle Gefahrenpotential einschätzen, das mir von diesen Menschen theoretisch drohen könnte, würden diese plötzlich doch auf die Idee kommen, mir feindlich gesinnt zu sein. Diesbezüglich schien neben ihrer Körpergröße und Kraft vor allem ihr Geschlecht von großer Bedeutung zu sein. Das war alles sehr faszinierend!
Zur Geschlechtserkennung lenkte mein Reptiliengehirn den Fokus meiner Augen bei jeder Begegnung mit einem Menschen unwillkürlich immer erst einmal zwischen seine Beine, danach auf seine Brust und die Schultern und als Letztes auf sein Gesicht. Anscheinend war an diesen Merkmalen für mein Reptiliengehirn am besten erkennbar, welches Geschlecht mein Gegenüber hatte. Oft hatte es jedoch noch Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe, denn die Menschen trugen Kleidung, welche ihre primären Geschlechtsmerkmale verdeckte. Damit war mein Reptiliengehirn offenbar ein wenig überfordert. Deshalb lenkte es den Fokus meiner Augen immer wieder erneut zwischen die Beine meiner Mitmenschen, um weitere Anhaltspunkte dafür zu suchen, welche Geschlechtsorgane dort wohl zu finden sein könnten.
Dieser emotionale Handlungsimpuls war faszinierend, doch ich beschloss, ihn trotzdem irgendwann zu ignorieren, denn ich musste ständig in den Fluren stehen bleiben, um mir die Genitalien der Menschen genauer anzuschauen, und das kostete mich momentan zu viel Zeit. Ich sollte pünktlich im Büro von Misses Langton ankommen.
»Ich bin Mary Soul«, stellte ich mich dann dort um Punkt 08:36 Uhr vor. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, fügte ich freundlich lächelnd hinzu.
»Heilige Scheiße!«, antwortete Misses Langton mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und starrte mich an. »Sie sind also die neue Praktikantin.«
Ich wusste zwar nicht, was eine Praktikantin ist, aber ich zeigte mich dennoch selbstsicher. »Ich versichere Ihnen, dass ich der Aufgabe einer Praktikantin gewachsen bin.«
»Schätzchen, da habe ich überhaupt keine Bedenken«, meinte Misses Langton mit einem mir weiterhin unverständlichen Gesichtsausdruck. »Sehen Sie nur zu, dass Sie weder der First Lady noch dem Präsidenten begegnen!«
»Aber deswegen bin ich doch hier«, erwiderte ich verwirrt. »Glauben Sie denn, dass Mister President mir feindlich gesinnt ist?«
Ich wunderte mich selbst über diese Frage, die mein Mund gerade wie ferngesteuert formuliert hatte. Offenbar war diese feindliche oder freundliche Frage das Einzige, was mein Reptiliengehirn zu interessieren schien. Die Aussage von Misses Langton hatte in mir das Gefühl der Unsicherheit ausgelöst. Wofür genau dieses Gefühl gut sein sollte, konnte ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Vermutlich wollte mich mein Reptiliengehirn dazu bewegen, mehr auf meine Sicherheit zu achten oder mich um mehr Sicherheit zu bemühen. Vielleicht war es auch beides. So genau konnte ich das noch nicht unterscheiden. Doch ich empfand diese emotionale Erfahrung als überaus faszinierend. Erneut erlebte ich ein instinktives Verhaltensprogramm, das ganz offensichtlich etwas mit Sterblichkeit zu tun hatte. Ich war begeistert!
»Aber ganz im Gegenteil, meine Liebe!«, antwortete Misses Langton in einem seltsamen Tonfall. »Mister President wird mehr als entzückt sein, Ihre Bekanntschaft zu machen. Er könnte sogar so entzückt von Ihnen sein, dass er sehr dumme Dinge tut. Legen Sie es lieber nicht darauf an!«
Mein Reptiliengehirn schien die Warnung von Misses Langton als unmittelbare Bedrohung zu interpretieren, denn meine Unsicherheit wandelte sich nun in Angst. Wahnsinn! Meine Begeisterung kannte keine Grenzen. Denn Angst war das stärkste instinktive Gefahrenvermeidungsprogramm überhaupt. Diese Emotion hatte ich schon unzählige Male bei den Menschen beobachtet, die ich beschützen sollte. Doch dieses Verhaltensprogramm mit seinen dazugehörigen emotionalen Handlungsimpulsen nun selbst am eigenen Leib zu erfahren, war noch einmal etwas ganz anderes. Ich spürte, wie die chemischen Botenstoffe aus meinem Reptiliengehirn meinen Geist wachsam für jede erdenkliche Gefahr und meinen Körper kampf- und fluchtbereit machten, falls eines von beiden nötig werden sollte. Deshalb fragte ich sofort: »Glauben Sie, dass mir von Mister President eine Gefahr droht?«
»Kindchen, unser Präsident ist zwar schon alt, aber er ist noch nicht tot!«, entgegnete Misses Langton und sah mich dabei eindringlich an. »Ihnen ist sicherlich bewusst, was für eine Erscheinung Sie sind. Und wie Sie sicherlich wissen, wären Sie nicht die erste Praktikantin im Weißen Haus, mit der ein Präsident Probleme bekommt. Tun Sie sich selbst und uns allen einen Gefallen und sorgen Sie dafür, dass der Präsident Sie nie zu Gesicht bekommt.«
Wenn die Menschen mich als Erscheinung wahrnahmen, erklärte das natürlich auch ihr seltsames Verhalten mir gegenüber in den Fluren, als ich stehen blieb, um mir ihre Genitalien genauer anzuschauen. Offenbar war mir bei der Manipulation der Energie- und Materieflüsse im Quantenvakuum ein Fehler unterlaufen. Ich hätte mich als Körper aus Fleisch und Blut materialisieren müssen und nicht als Erscheinung.
In diesem Moment kam eilig eine auffallend schlanke Frau ins Büro, die verzweifelt nach jemandem suchte, der Somali spricht.
»Von dieser Sprache habe ich noch nie etwas gehört«, antwortete Misses Langton, als wäre meine Erscheinung etwas völlig Nebensächliches. Auch diese Frau reagierte nicht sonderlich auffällig auf mich. Irgendetwas konnte hier nicht stimmen. Wir zeigten uns den Menschen so selten als Erscheinung, dass die beiden ganz anders auf mich hätten reagieren müssen. Vermutlich hatte ich hier irgendetwas missverstanden.
»Sie wird in Somalia gesprochen – einem kleinen Land in Ostafrika«, sagte ich deshalb zu Misses Langton, als wäre ich ein ganz normaler Mensch. Ich war gespannt, wie sie darauf reagieren würde.
»Sprechen Sie etwa Somali?«, fragte die Frau aufgeregt, die eben reingekommen war.
»Ja, ich spreche alle 6.000 Sprachen der Menschen, wobei ich gelegentlich noch Probleme mit der einen oder anderen Redewendung habe«, wollte ich zuerst korrekt antworten. Doch ich besann mich darauf, dass dies für Menschen wohl eher unüblich war. »Ja, ich spreche Somali«, antwortete ich daher nur kurz.
»Dann kommen Sie bitte mit! Wir benötigen dringend Ihre Unterstützung.«
Die Frau verließ mit eiligen Schritten das Büro. Ich folgte ihr in wenigen Metern Abstand.
»Kommen Sie!«, winkte sie mich heran. »Wir haben es eilig. Man wartet auf uns. Ich hoffe, Sie sprechen wirklich Somali«, bemerkte sie skeptisch.
»Ja, das tue ich«, bestätigte ich noch einmal, ohne zu ahnen, warum das so wichtig sein könnte.
»Es geht um die Republik Somaliland«, fuhr sie fort, während wir weiterhin durch die Flure eilten. »Dort wurden vor Kurzem größere Erdölvorkommen entdeckt, an denen die USA großes Interesse hat. Mister President hat in wenigen Minuten eine Besprechung mit dem Staatsoberhaupt dieser Republik. Die formal noch zu Somalia gehörende Region kämpft seit Jahren um ihre Anerkennung als autonomer Staat. Doch kein Land der Welt hat diese Republik bislang tatsächlich anerkannt. Sie erhoffen sich deshalb jetzt die Unterstützung der USA. Doch weder ihr Staatschef noch einer seiner Gefolgsleute sprechen Englisch. Was für ein Glück, dass ich Sie gefunden habe. Sie müssen ein Engel sein, den uns der Himmel geschickt hat!«
Mein Körper zuckte unwillkürlich zusammen, als sie das mit dem Engel erwähnte. Doch dann wurde mir klar, dass dies nur eine menschliche Redewendung gewesen sein konnte, wodurch sich meine aufgewühlten Vermeidungsgefühle leider sofort wieder beruhigten. Und sicherlich hatte auch Misses Langton nur eine Redewendung verwendet, als sie mich als Erscheinung bezeichnete. Kein Mensch konnte etwas von der Existenz der Secret-Angels wissen. Hier bestand in Wirklichkeit überhaupt keine Gefahr. Hätte diese Frau mich tatsächlich als Erscheinung wahrgenommen, dann hätte sie mich garantiert nicht so selbstverständlich zu Mister President gebracht. Das ergab einfach keinen Sinn. Viel wahrscheinlicher war es, dass das alles von Ella und ihrem Team vorhergesehen wurde und ich immer noch auf Erfolgskurs war. Und der sollte mich jetzt ohne Umwege direkt zu Mister President führen. Eine Erkenntnis, die mein Reptiliengehirn wohl dazu veranlasste, ein sehr angenehmes Belohnungsgefühl zu erzeugen. Ich fühlte mich sofort motiviert, genauso weiterzumachen wie bisher.
Ich war begeistert, wie gut Ella diese offensichtliche Fügung hingekriegt hatte. Ich wusste ja, dass sie vor ihrer Tätigkeit als Lehrerin ein Love-Angel gewesen war. Und die arbeiteten ja unentwegt mit Fügungen. Doch so genial, wie sie das jetzt alles eingefädelt hatte, hätte das vermutlich kein zweiter Engel hingekriegt. Sicherlich war das auch der Grund dafür gewesen, warum sie mit der Leitung unserer Mission betraut wurde. Wenn einer es schaffen konnte, dann Ella!
Wenige Minuten später war es dann so weit. Ich wurde ins Oval Office gebeten. Hier befanden sich ein riesiger Schreibtisch und zwei noble Sofas, die sich direkt gegenüberstanden. Der Staatschef von Somaliland hatte auf einem von ihnen Platz genommen. Mister President war noch nicht anwesend. Die Frau, die mich hierhergebracht hatte, wies mich an, mit ihr gemeinsam neben dem Schreibtisch des Oval Office zu warten.
Kurz darauf betrat Mister President in Begleitung von zwei anderen Männern den Raum. Das Staatsoberhaupt von Somaliland stand auf und reichte Mister President zur Begrüßung förmlich die Hand. Danach setzten sich beide – und zwar jeder auf ein anderes Sofa.
»Mister President«, sagte die Frau, die mich hierhergebracht hatte, in diesem Moment, »das ist Mary Soul. Sie ist Praktikantin im Weißen Haus und spricht fließend Somali. Sie wird für Sie übersetzen.«
»Setzen Sie sich hier neben mich!«, wies mich Mister President kurz an und zeigte auf den freien Platz neben sich auf dem Sofa. Zuerst tauschten die beiden Männer einige Höflichkeiten aus. Dann erzählte Mister President eine kleine Geschichte, die ich simultan für das Staatsoberhaupt von Somaliland übersetzte.
»Biologieunterricht in der Grundschule«, sagte er. »Was ist das? Es macht huhu und kann sogar nachts gut sehen?«
»Eine Eule, Frau Lehrerin«, antwortete ein Kind.
»Richtig!«, bestätigte sie. »Es könnte aber auch ein Uhu sein. Und was ist das?«, wollte sie als Nächstes wissen. »Es hat vier Beine, einen Schwanz und lebt bei den Menschen im Haus.«
Mehrere Kinder antworteten: »Ein Hund.«
»Richtig!«, sagte die Lehrerin. »Es könnte aber auch eine Katze sein.«
Daraufhin meldete sich der kleine Johnny: »Darf ich auch eine Frage stellen, Frau Lehrerin?«
»Gerne«, antwortete sie erfreut. »Stell deine Frage.«
»Was ist das? Wenn Sie ihn in den Mund nehmen, ist er steif und trocken. Und wenn sie ihn dann später wieder herausnehmen, ist er weich und ganz versabbert.«
Die Lehrerin war so geschockt von dieser Frage, dass sie Johnny eine Ohrfeige gab. Der schaute sie nachdenklich an und meinte dann: »Richtig! Es könnte aber auch ein Kaugummi sein.«
Daraufhin fielen die beiden Männer vor Lachen fast vom Sofa. Ich verstand nicht, was sie zu dieser seltsamen Verhaltensweise veranlasst hatte, und schaute sie nur verwirrt an. Als Mister President das bemerkte, zeigte er mit dem Finger auf mich und lachte dabei noch lauter. Ich hatte keine Ahnung, was das genau bedeuten könnte, war aber begeistert von dem starken Vermeidungsgefühl, das seine Verhaltensweise bei mir auslöste. Zwar war mir noch nicht klar, wofür dieses seltsame Gefühl gut sein könnte, doch das würde ich ganz sicher noch herausfinden. Dieses Gefühl war ganz anders als die emotionalen Handlungsimpulse, die ich bisher gespürt hatte. Es war extrem unangenehm – fast schon schmerzhaft. Das war einfach grandios!
Und das sollte auch schon alles gewesen sein, worüber die beiden Männer sprechen würden. Über Erdöl oder was die USA damit letztendlich vorhatten, hatte keiner auch nur ein einziges Wort verloren. Die beiden standen nach der Geschichte einfach auf, gingen zum Schreibtisch und unterzeichneten die Verträge, die dort bereitlagen.
Nachdem das Treffen zu Ende war, forderte mich ein Mitarbeiter auf, das Oval Office zu verlassen, denn mein Job war offensichtlich beendet.
»Bleiben Sie noch einen Augenblick hier, Miss Soul!«, wies Mister President mich jedoch plötzlich unerwartet an, als ich gerade gehen wollte. Ich vermutete zuerst, dass er meine Dienste als Dolmetscherin doch noch brauchen würde, doch dem war nicht so. Ich sollte ihn stattdessen zu seinem nächsten Termin begleiten. Warum, hatte er nicht erklärt. Auch zum übernächsten Termin schleppte er mich mit. Und so ging das den ganzen Tag lang weiter. Ich stand eigentlich immer nur daneben, ohne ein Wort zu sagen. Da ich keinen logischen Grund dafür erkennen konnte, warum Mister President mich überall dabeihaben wollte, vermutete ich einen emotionalen Grund. Und den zu erforschen, war ja genau das, weshalb ich hierhergekommen war. Ich war also immer noch auf Erfolgskurs! Eine Erkenntnis, die mein Reptiliengehirn erneut zu einem angenehmen Belohnungsgefühl veranlasste.
Gegen Abend gingen wir dann in Begleitung mehrerer Männer des Secret Service nach draußen zum Hubschrauberlandeplatz südlich des Weißen Hauses. Der Motor der Marine One, dem Hubschrauber von Mister President, lief bereits und erzeugte dabei einen ohrenbetäubenden Lärm. Trotzdem hatten sich einige Reporter hier auf der Wiese versammelt, die Mister President sofort Fragen stellten, als wir ankamen.
»Haben Sie jemals mit Russland zusammengearbeitet?«, fragte eine Reporterin, die sich an die Spitze der Journalisten gekämpft hatte.
Mister President reagierte mit einem überaus empörten Dementi und wurde dabei sichtlich sauer. Daraufhin wandte er sich mir persönlich zu und sagte laut: »Es ist eine Zumutung, dass ich solch einer hässlichen Krähe überhaupt antworten soll!«
Er sagte das so laut, dass alle anwesenden Journalisten und natürlich auch die besagte Reporterin es hören konnten. Daraufhin prasselte ein Blitzlichtgewitter auf uns ein. Seltsamerweise stiegen wir danach gar nicht in den Hubschrauber, sondern gingen zurück ins Weiße Haus. Mister President wollte jetzt etwas essen. Entgegen meiner Erwartung sollte ich ihn dann auch zum Essen begleiten. Dort saß ich erneut einfach nur stumm daneben. Mister President unterhielt sich sehr aufgebracht mit einem seiner Berater. Er regte sich über die sogenannten Medien auf. Warum, konnte ich jedoch leider nicht verstehen.
»Was genau ist denn das Schlimme an diesen Medien?«, fragte ich deshalb, um seine Gefühle besser nachvollziehen zu können.
»Schätzchen, wenn ich Wert auf Ihre Ansichten legen würde, dann hätte ich Sie das ganz sicher bereits wissen lassen«, antwortete er auf eine Weise, die in mir ein sehr unangenehmes Vermeidungsgefühl entstehen ließ. »Tun Sie uns den Gefallen und halten Sie den Mund. Es genügt vollkommen, wenn Sie hübsch aussehen und ab und an nett lächeln. Mehr will ich nicht von Ihnen. Habe ich mich klar ausgedrückt?!«
»Ja, Mister President«, antwortete ich verwundert über seinen Wunsch.
Das war also der Grund, warum er mich von einem Termin zum nächsten mitgenommen hatte. Damit ich nett lächle. Diese Aufgabe war sicherlich einfach zu erfüllen, aber welchem Zweck sollte sie dienen? Vielleicht würde ja Ella eine Antwort darauf haben.
In der Zwischenzeit wandte ich mich meinen Gefühlen zu, denn diese waren gerade überaus interessant. Die Aussage von Mister President hatte erneut ein schmerzhaftes Vermeidungsgefühl in meiner Herzgegend entstehen lassen. Ähnlich wie die Körperempfindung, die ich hatte, als er mit dem Finger auf mich zeigte und dabei lachte. Das war wirklich faszinierend! Doch ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was der genaue Sinn und Zweck dieses Gefühls sein könnte. Ich sollte etwas Negatives vermeiden, so viel war klar, denn das war ja der Sinn und Zweck eines jeden Vermeidungsgefühls. Doch wo war hier das Negative?
Tatsächlich fiel mir die Aufgabe, die mir Mister President gegeben hatte, dann doch schwerer, als ich gedacht hatte. Es gelang mir dann immer besser, indem ich mir bewusst machte, dass ich mich gerade tatsächlich in einer Welt der Sterblichkeit befand. Ein grandioses Abenteuer, von dem ich niemals gedacht hätte, dass ich es jemals würde erleben können. Und so gelang es mir dann doch noch, gelegentlich zu lächeln, wie Mister President es sich gewünscht hatte.
Nach dem Essen durfte ich dann nach Hause gehen, was in meinem Fall bedeutete, dass ich auf die Toilette ging, um mich zu entmaterialisieren. Ich manifestierte mich wieder im Klassensaal. Ella wartete dort bereits auf mich. Außer mir war gerade sonst keiner der Secret-Angels hier.
»Die Emotionen der Menschen sind wirklich faszinierend, aber auch sehr verwirrend«, sagte ich zu Ella und berichtete ihr von meinen Erfahrungen.
»Das ist seltsam«, meinte Ella, als ich ihr von meiner schmerzhaften Körperempfindung in der Herzgegend erzählte. »Was du da beschreibst, hört sich ganz eindeutig nach einem Vermeidungsgefühl aus dem sozialen Gehirn an. Solche Gefühle solltest du eigentlich noch gar nicht haben«, sagte sie nachdenklich.
»Was ist das soziale Gehirn?«, fragte ich neugierig.
Das soziale Gehirn ist ein Gehirnareal, das sich in der Evolution erst sehr viel später entwickelte als das Reptiliengehirn. Reptilien sind keine sonderlich sozialen Wesen. Sie sorgen fast ausschließlich für ihr eigenes Wohl. Daher entwickelten sie im Laufe der Evolution auch nur Verhaltensprogramme, die für den Selbsterhalt nötig sind. Erst als die ersten Säugetiere in Erscheinung traten, wurden umfassendere soziale Fähigkeiten erforderlich. Säugetiere müssen beispielsweise ihre Nachkommen versorgen und behüten und ihnen darüber hinaus auch viele Dinge beibringen, die sie für das eigenständige Überleben brauchen. Dazu benötigen die Säugetiere eine sehr viel größere Vielfalt an instinktiven Verhaltensprogrammen als die Reptilien. Über einen Zeitraum von 100 Millionen Jahren entwickelte sich für diese sozialen Kompetenzen ein eigenes neuronales System, das soziales Gehirn genannt wird. Das Reptiliengehirn wurde jedoch auch bei den Säugetieren unverändert beibehalten, da sich seine Verhaltensprogramme bereits über 200 Millionen Jahre bestens bewährt hatten. Die Säugetiere bekamen daher einfach noch ein zweites Gehirn dazu. Später kam dann noch als drittes das sogenannte Großhirn dazu, da sich die Lebensbedingungen für viele Säugetiere so schnell veränderten, dass eine flexible Anpassung an die veränderten Umstände erforderlich wurde. Instinktive Verhaltensprogramme benötigen Jahrmillionen, um sich an Veränderungen anpassen zu können. Diese Zeit hatten viele Säugetiere aber nicht. Daher brauchten sie ein drittes Gehirn, das ihnen diese Flexibilität ermöglichte.
»Und du meinst, die schmerzhaften Empfindungen in meiner Herzgegend, die ich bei Mister President gespürt hatte, könnten zu einem Vermeidungsprogramm aus meinem sozialen Gehirn gehört haben?«
»Es sieht ganz danach aus, denn das Großhirn kann keine Gefühle erzeugen, und die Gefühle des Reptiliengehirns spüren die Menschen im Bauch. Nur die Gefühle des sozialen Gehirns empfinden sie im Brustkorb auf Herzhöhe. Deshalb reden viele Menschen auch von ihrem Bauchgefühl oder sagen, dass sie ihrem Herzen folgen wollen. Das sind Redewendungen, die sich auf die emotionalen Handlungsimpulse des Reptiliengehirns und des sozialen Gehirns beziehen. Was war denn das Erste, was du aufgrund deiner schmerzhaften Empfindung in der Herzgegend am liebsten getan hättest?«
»Ich wäre am liebsten sofort aufgestanden und weggegangen.«
»Das hört sich tatsächlich ganz eindeutig nach einem Handlungsimpuls aus dem sozialen Gehirn an«, meinte Ella irritiert. »Es ist wirklich erstaunlich, dass du diese Gefühle erlebt hast. Eigentlich sollte das gar nicht möglich sein, denn wir haben die instinktiven Verhaltensprogramme des sozialen Gehirns bei deinem Avatar noch gar nicht freigeschaltet.«
»Falls es diesbezüglich einen Fehler bei der Programmierung meines Avatars gegeben haben sollte, dann würde ich es sehr begrüßen, wenn ihr alles so belassen könntet, wie es jetzt ist. Ich glaube nicht, dass diese instinktiven Programme mich überfordern. Ich denke, ich komme damit gut zurecht.«
»Das können wir gerne tun«, antwortete Ella nachdenklich. »Doch ich glaube kaum, dass wir da einen Fehler gemacht haben. Das halte ich für nahezu ausgeschlossen. Es ist mir daher ein Rätsel, wie dein Avatar diese Programme aktivieren konnte.«
»Darf ich dich fragen, was der genaue Sinn und Zweck dieses Vermeidungsgefühls aus meinem sozialen Gehirn war?«, fragte ich.
»Dass du mit dem Präsidenten keine soziale Bindung eingehen sollst, denke ich. Menschen haben den instinktiven Drang, Bindungen miteinander einzugehen, denn gute soziale Bindungen können erhebliche Überlebensvorteile mit sich bringen. Jedoch können sie auch einen Überlebensnachteil darstellen. Als Love-Angel hatte ich sehr viel mit diesem Thema zu tun.«
»Kannst du mir das genauer erklären?«, bat ich.
»Ich kann es wirklich kaum glauben, dass du mit diesen Handlungsimpulsen konfrontiert wurdest«, sagte Ella noch einmal. »Aber nun denn … In sozialen Bindungen müssen beide Seiten daran interessiert sein, dass es auch dem jeweils anderen gut geht. Wenn nur du alles für den anderen tust, für ihn da bist, wenn er krank ist, alles mit ihm teilst und so weiter, der andere aber nur an sich selbst denkt und nicht bereit ist, für dich da zu sein, wenn du mal Hilfe benötigst, dann ist diese Bindung für dich ein Überlebensnachteil. Du gibst und gibst, bekommst aber nie wirklich etwas zurück. Die Menschen bezeichnen solche Beziehungen als toxisch.«
»Es kann also sein, dass mein soziales Gehirn der Meinung war, dass eine Bindung mit Mister President für mich toxisch wäre«, sagte ich fasziniert.
»Falls dieser Impuls wirklich aus deinem sozialen Gehirn gekommen ist, dann könnte das sein«, meinte Ella skeptisch. »Die Aussage von Mister President dir gegenüber lässt stark vermuten, dass er dich nicht als gleichrangig respektiert. Und das verletzt eine wichtige Sollvorstellung des sozialen Gehirns.«
»Was genau ist eine Sollvorstellung?«, fragte ich.
»Sollvorstellungen sind Kriterien, an denen die drei Gehirne bewerten, ob etwas gut oder schlecht ist. Wenn etwas so ist, wie es sein sollte, dann wird das automatisch als gut bewertet. In diesem Fall erzeugen das Reptiliengehirn oder das soziale Gehirn Belohnungsgefühle, damit das Großhirn spürt, wie schön es sich anfühlt, wenn es die Sollvorstellungen der beiden anderen Gehirne erfüllt. Und dieses schöne Belohnungsgefühl gibt dem Großhirn dann die Motivation, sich auch zukünftig um die Erfüllung dieser Sollvorstellungen zu bemühen. Wenn der Status quo jedoch nicht die Sollvorstellungen erfüllt, wird das als schlecht beurteilt, und es werden Vermeidungsgefühle vom Reptiliengehirn oder dem sozialen Gehirn erzeugt. Diese geben dem Großhirn dann den Impuls, etwas unternehmen zu wollen, um diesen Missstand zu beseitigen. Sowohl im sozialen Gehirn als auch im Reptiliengehirn sind von Geburt an eine ganze Reihe an instinktiven Sollvorstellungen fest einprogrammiert, die sich im Laufe der Jahrmillionen als überlebensrelevant herausgestellt haben.«
Ella erklärte mir noch ein paar weitere interessante Fakten zu diesem Thema, bis nach und nach die anderen Secret-Angels im Klassenzimmer eintrafen. Sie hatten alle viel zu erzählen. Doch keiner von ihnen hatte Vermeidungsgefühle aus dem sozialen Gehirn erlebt.
Am nächsten Tag materialisierte ich mich wieder in einer Toilette des Weißen Hauses und machte mich auf den Weg zu Misses Langton. Sie schickte mich sofort wieder ins Oval Office. Ich vermutete, dass ich Mister President erneut zu Terminen begleiten sollte. Er wirkte an diesem Tag auf mich wie ausgewechselt. Mein menschliches Gehirn beurteilte sein Verhalten mir gegenüber heute offenbar als sehr viel positiver, denn ich empfand ein angenehmes Belohnungsgefühl in meiner Herzgegend. Das irritierte mich erneut, da mein Avatar laut Ella diese Gefühle ja noch gar nicht empfinden können sollte. Doch was sollte diese Empfindung in der Herzgegend sonst sein? Ich fühlte mich ganz eindeutig von Mister President respektiert.
»Sie haben sicherlich mitbekommen, was gestern Abend in den Medien los war«, begann Mister President. »Ich benötige jetzt Ihre Unterstützung.«
»Was genau kann ich denn für Sie tun?«, fragte ich, denn ich hatte keine Ahnung, was es mit diesen Medien auf sich hatte.
»Ich möchte, dass Sie dementieren, was ich angeblich gestern auf dem Hubschrauberlandeplatz zu Ihnen gesagt haben soll. Können Sie das für mich tun?«, hakte er freundlich nach.
»Natürlich, Mister President«, antwortete ich erfreut über seine Bitte und empfand dabei erneut ein Belohnungsgefühl in meiner Herzgegend. »Was genau soll ich denn für Sie dementieren?«
»Diese Reporterin behauptet steif und fest, ich hätte sie als hässliche Krähe bezeichnet.«
»Aber genau das haben Sie doch zu mir gesagt«, erwiderte ich verwundert.
»Es geht nicht darum, was ich gestern tatsächlich gesagt habe. Wen interessiert schon die Wahrheit?! In der Politik ist es entscheidend, was das dumme Volk letzten Endes glaubt. Und ich glaube, ich habe gestern eindeutig zu Ihnen gesagt, dass es eine Zumutung sei, dass ich auf so eine hässliche Frage überhaupt antworten soll. Und mehr habe ich nicht gesagt. Das können Sie doch sicherlich bestätigen?!«
»Wenn Sie das möchten, kann ich das gerne für Sie tun, Mister President«, antwortete ich schulterzuckend und verstand nicht, warum er das so unbedingt wollte.
»Sie werden natürlich vorher gebrieft«, sagte eine Mitarbeiterin namens Georgia, die die gesamte Zeit schon mit im Raum gewesen war. »Kommen Sie bitte mit!«
Sie führte mich aus dem Oval Office in ein kleines Büro.
»Wir haben einen kleinen Text für Sie vorbereitet, den Sie auswendig lernen sollen«, begann sie mit ihrem Briefing. »Halten Sie sich dann einfach Wort für Wort an diesen Text, wenn Sie von einem Reporter angesprochen werden.«
Daraufhin drückte sie mir ein beschriebenes Blatt Papier in die Hand.
»Ist es normal, dass man von Mister President darum gebeten wird zu lügen?«, fragte ich verwundert, nachdem ich den Text gelesen hatte.
»Wenn der Präsident Sie um etwas bittet, dann tun Sie als Mitarbeiterin des Weißen Hauses ganz einfach, was er sagt«, erklärte mir Georgia. »Das gehört zu Ihrem Job.«
Nach diesem Gespräch bat sie mich, mit ihr gemeinsam das Weiße Haus zu verlassen. Wir würden einfach so tun, als wollten wir irgendwo hingehen. Vor dem Weißen Haus würden immer einige Journalisten herumlungern, meinte sie. Die würden mich sicherlich sofort erkennen, da gestern Abend überall Fotos von mir und Mister President in den Medien gezeigt wurden. Die Reporter würden von mir ein Statement zu der fraglichen Aussage haben wollen. Dann solle ich einfach meinen Spruch aufsagen und fertig. Das war schon die ganze Aufgabe.
Als wir das Weiße Haus durch den Vordereingang verließen, stürmten tatsächlich ein paar Journalisten und Paparazzi auf uns zu. »Heißen Sie es gut, dass ein Präsident der Vereinigten Staaten eine Frau öffentlich als hässliche Krähe beleidigt?«, rief ein Reporter.
»Ich verstehe die ganze Aufregung nicht«, antwortete ich, wie es auf dem Zettel stand. »Ich habe gestern den Ausdruck hässliche Krähe überhaupt nicht gehört. Ich habe nur gehört, dass Mister President zu mir sagte, es sei eine Zumutung, dass ihm solch eine hässliche Frage gestellt wird.«
»Warum lügen Sie?«, rief eine Reporterin daraufhin laut.
»Weil Mister President mich darum gebeten hat«, antwortete ich. »Das ist mein Job. Wenn man im Weißen Haus arbeitet, dann tut man genau das, was Mister President sagt. Und er sagte persönlich zu mir, dass es in der Politik nicht darauf ankommt, was tatsächlich wahr ist, sondern nur darauf, was das dumme Volk letztendlich glaubt. Deshalb ließ er mich diesen Text auswendig lernen, den ich eben aufgesagt habe.«
Kurz nach meiner Stellungnahme gegenüber den Reportern wurde ich seltsamerweise gefeuert. Dieses Ereignis hatte für ein gewisses Medieninteresse an meiner Person gesorgt, was Ella und ihr Team auf neue Ideen brachte. Sie gingen davon aus, dass wir einflussreiche Menschen brauchen würden, sobald wir eine Lösung für das Problem der Menschheit gefunden hätten. Deshalb wurde ich für meine nächste Mission in eine Reality-Show namens Shameless in Paradise eingeschleust. Zum einen könnte ich dort mehr über die Eigenheiten sozialer Emotionen erfahren – für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich tatsächlich bereits über die Verhaltensprogramme des sozialen Gehirns verfügen konnte. Zum anderen könnte ich auch eine engere Bindung mit einigen dieser prominenten Menschen aufbauen, die uns vielleicht später als Unterstützung dienen könnten.
Bei dieser Show waren zwölf Promis 14 Tage lang isoliert von der Außenwelt zusammen in einer Luxusvilla auf Hawaii untergebracht. Die meisten von ihnen waren berühmte Musiker, Schauspieler oder Comedians. Diese mussten für die Show jederzeit bereit sein, sogenannte Shameless-Missionen zu absolvieren. Dabei handelte es sich im Grunde genommen um ein bekanntes Gesellschaftsspiel der Menschen namens Wahrheit oder Pflicht. Manche dieser Missionen waren öffentlich – in diesem Fall wurden alle Teilnehmer von der jeweiligen Mission unterrichtet –, und manche Missionen waren auch geheim. Dann wusste nur der jeweilige Promi davon.
Das Besondere an diesem Spiel war, dass die Teilnehmer an einen Lügendetektor angeschlossen wurden, wenn sie Wahrheit wählten. Und das wollten die meisten wohl unbedingt vermeiden, weshalb sie teilweise bereit waren, recht schamlose Aufgaben zu erfüllen, was der Show dann auch ihren Namen eingebracht hatte.
Shameless in Paradise lief nur einmal im Jahr und war seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue ein echter Straßenfeger, da es den Machern gelungen war, namhafte Berühmtheiten für die Show zu gewinnen. Die aktuelle Staffel lief jetzt bereits seit zwei Tagen. Doch hatte gestern eine Teilnehmerin die Show vorzeitig verlassen, weshalb der Sender eine Nachrückerin suchte. Ella und ihr Team ergriffen kurzerhand die Chance. Sie beeinflussten die Verantwortlichen in ihrem Entscheidungsprozess mit ihren üblichen telepathischen Eingebungen, was diese schließlich glauben ließ, selbst auf die Idee gekommen zu sein, dieses Mal die Zuschauer mit einem No-Name zu überraschen. Gleichzeitig sollte es aber jemand sein, der gerade eine gewisse Prominenz in den Medien hatte. Ella und ihr Team sorgten dann dafür, dass die Wahl auf mich fiel.
Der Sender hatte daraufhin ein Flugticket an die irdische Adresse geschickt, die Ella und ihr Team angegeben hatten, und ein Hotelzimmer auf Hawaii für die erste Nacht gebucht. Das Flugticket benötigte ich nicht, denn ich materialisierte mich einfach direkt in diesem Hotelzimmer. Ella hatte mir gesagt, wann genau ich dort erscheinen sollte. Kurz darauf klopfte es dann auch schon an meiner Zimmertür. Draußen standen zwei Männer vom Sender, die mich auf die Show vorbereiten sollten. Der eine erklärte mir noch einmal die Regeln der Show, fragte, ob ich noch irgendetwas brauchen würde, und verließ daraufhin gleich wieder mein Hotelzimmer. Der andere hatte drei große Koffer dabei. Er hieß Romeo und war ein bekannter Designer, der mich für die Show ausstatten sollte.
»Oh mein Gott!«, sagte er völlig verzückt mit ungewöhnlich nasaler Stimme und zupfte sogleich begeistert in meinen Haaren herum. »Das gibt’s doch nicht. Dein Gesicht sieht aus, als hätte man das Beste von allen schönen Frauen dieser Welt zu einem perfekten Ganzen zusammengefügt. Wo haben sie dich denn ausgegraben?! Du bist ja der Oberknaller! Ich glaub’s ja nicht! Mit Sicherheit wird im Himmel gerade ein Engel vermisst. Mein Gott, du siehst wirklich aus wie ein Engel!«, schwärmte er weiter, was mein Reptiliengehirn dann doch ein wenig in Alarmbereitschaft versetzte. »Es ist mir eine Ehre, meine Sommerkollektion von dir in der Show präsentieren zu lassen. Solche Schönheit!« Daraufhin begann er in einem seiner Koffer herumzustöbern und ein Kleidungsstück herauszuziehen. »Das hier solltest du unbedingt als Erstes anziehen, Darling. Das ist genau das Richtige für deinen ersten Eindruck in der Villa«, meinte er überzeugt. »Der erste Eindruck ist alles, wie du weißt. Wenn du das anziehst, werden dich die Zuschauer lieben, das garantiere ich dir. Komm, probiere das gleich mal an! Ich will sehen, wie du darin aussiehst.«
Ich zog also den Badeanzug und ein langes, durchsichtiges Strandkleid an, das er mir in die Hand gedrückt hatte.
»Oh, mein Gott«, schwärmte er, während er mir dabei zusah. »Du bist wirklich perfekt! Einfach nur perfekt! Entweder musst du den besten Schönheitschirurgen der Welt haben, oder der liebe Gott persönlich ist dein Vater. Nun sag schon! Was hast du machen lassen?«
Ich hatte keine Ahnung, worauf er mit seiner Frage hinauswollte, und schaute ihn nur schulterzuckend an.
»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass das alles echt sein soll!«, ermahnte er mich und zeigte zuerst auf meine Brüste und dann auf meine Beine. »So perfekt ist kein Mensch von Natur aus. Null Cellulite, einen mehr als perfekten Teint und Haare – mein Gott hast du Haare! Und dieser Busen – wow! Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, ich wäre hetero.«
Ein düsteres Vermeidungsgefühl überflutete meinen Körper, als mir bewusst wurde, dass wir beim Erschaffen meines Körpers vermutlich einen kapitalen Fehler begangen hatten. Offensichtlich sah ich doch nicht durchschnittlich aus. Doch ich verstand nicht, wieso. Ich war 1,70 Meter groß, was genau dem Durchschnitt der amerikanischen Bevölkerung entsprach. Für meine Gesichtsproportionen wurde der exakte Durchschnitt aus mehreren Millionen Fotos errechnet, die Ella und ihr Team auf einem Internetportal namens Insta gefunden hatten. Um den genauen Durchschnitt der Bevölkerung in den USA abzubilden, hatten sie sich zu 60 Prozent an der weißen Bevölkerung orientiert. 18 Prozent meines Aussehens waren hispanisch, 14 Prozent afroamerikanisch, sechs Prozent asiatisch und zwei Prozent indianisch. Das entsprach genau dem Durchschnitt der Bevölkerung in den USA. Und meine Körpermaße für Brust-, Taille- und Hüftumfang entsprachen ebenfalls genau den üblichen 90 – 60 – 90, die alle Frauen in meinem Alter auf Insta hatten. Damit dürfte ich doch eigentlich überhaupt nicht auffallen. Ich war absoluter Durchschnitt! Was hatten wir falsch gemacht?
Plötzlich fiel mir auf, dass ich gerade wieder ein heftiges Vermeidungsgefühl erlebt hatte. Ich hatte es zunächst gar nicht richtig realisiert. Das war ja eine grandiose Entwicklung, wie ich fand. Ich begann offensichtlich, mich immer stärker mit dem Menschsein zu identifizieren. Leider beruhigten sich die Gefühle dann gleich wieder. Aber ich war zuversichtlich, dass so etwas jetzt immer häufiger passieren würde.
Romeo schwärmte unvermindert weiter von meinem Aussehen, während ich die anderen Kleider anprobierte, die er mir bereitgelegt hatte. Einige der Kleidungsstücke sortierte er dann aus, weil sie nichts für mich tun würden.
Romeo ließ mir einen vollen Koffer mit Kleidung da, den ich dann am nächsten Tag mit in die Villa bringen sollte. Ich würde bereits sehr früh am Morgen von einer Limousine abgeholt werden. Dann würde ich erst einmal kurz in die Maske kommen, und dann ginge es auch schon los.
Nachdem Romeo das Zimmer verlassen hatte, entmaterialisierte ich mich und manifestierte mich wieder im Klassensaal, um Ella Bericht zu erstatten. Nach und nach trudelten dann auch die anderen Secret-Angels bei uns ein, was mich sehr freute. Wir tauschten uns bis zum Morgengrauen über unsere Erfahrungen aus.
Am nächsten Morgen materialisierte ich mich wieder in meinem Hotelzimmer auf Hawaii. Kurz darauf wurde ich von einem Chauffeur abgeholt und mitsamt meinem Koffer zur Villa von Shameless in Paradise gebracht. Und dann ging es erst einmal in die Maske, wie Romeo das gestern genannt hatte. Hier wurde mein Gesicht von einer netten Frau angemalt, die sich mir mit dem Namen Vanessa vorstellte. Warum sie mein Gesicht anmalen wollte, sagte sie nicht. Ich ließ sie einfach gewähren. Es schien eine Selbstverständlichkeit zu sein, daher fragte ich nicht.
Nach der Maske legte mir ein Redakteur des Senders dann eine Kette um den Hals. Diese Kette sei ein Mikrofon, das ich nur ausschalten sollte, wenn ich auf mein Zimmer ging. Ansonsten sollte ich es unbedingt überall tragen. Danach wurde ich zu einem großen Tor geführt, das in den Garten der Villa führen sollte. Dahinter erstreckte sich eine Poollandschaft mit Palmen und Blumen. Hinter dem Pool war zwischen den Palmen das nahe Meer zu sehen, das türkisblau in der Sonne funkelte. Dieser Anblick schien meinem menschlichen Gehirn sehr zu gefallen, denn es erzeugte sehr angenehme Belohnungsgefühle dabei. Beschwingt von diesen schönen Gefühlen ging ich fröhlich lächelnd zu den anderen Teilnehmern der Show. Sie saßen gerade alle gemeinsam an einer großen Tafel und frühstückten.
»Da kommt jemand Neues!«, rief einer der Männer, als er mich sah.
Daraufhin drehten sich alle Gesichter zu mir um. Für eine Sekunde herrschte totale Stille, in der mich alle intensiv von oben bis unten musterten. Ich bemühte mich, freundlich zu lächeln, denn ich wusste ja, dass dies das Erste war, was den menschlichen Instinkt interessierte. Ich signalisierte also, dass ich Freund und kein Feind war. Dennoch schien mein Reptiliengehirn der Meinung zu sein, dass ich hier nicht bei allen willkommen war. Das spürte ich ganz deutlich. Oder gehörte dieses Gefühl zu einem instinktiven Verhaltensprogramm aus dem sozialen Gehirn? Das konnte ich noch nicht unterscheiden. Seltsamerweise waren es aber nur die Frauen, bei denen ich diesen Eindruck hatte. Die Männer reagierten ausnahmslos alle sehr freundlich auf mich. Ich wusste nicht, ob das allgemeingültig bei den Menschen so war, aber zumindest hier in der Villa waren die Männer offensichtlich sehr viel freundlicher als die Frauen.
Der Mann, der mich angekündigt hatte, stand als Erstes auf und kam zu mir, um mich mit einem Luftküsschen links und rechts zu begrüßen.
»Hallo, ich bin Brian«, sagte er freundlich. »Ich freue mich darauf, dich kennenzulernen.«
Eigentlich hieß ich ja Mary Soul, doch die Medien hatten meinen Zweitnamen als Nachname verstanden, daher stellte ich mich auch hier nur mit meinem halben Namen vor. »Ich bin Mary«, sagte ich daher kurz. Daraufhin standen auch die anderen Teilnehmer auf und begrüßten mich einer nach dem anderen auf die gleiche Weise mit einem Luftküsschen links und rechts und sagten mir ihre Namen.
»Und woher kennt man dich?«, wollte Brian dann wissen.
»Ich war Praktikantin im Weißen Haus, wurde aber vor ein paar Tagen gefeuert«, erklärte ich. »Und seitdem haben die Medien einen Narren gegessen.«
»Sie haben also einen Narren an dir gefressen«, wiederholte er meine Aussage lächelnd. »Ich bin gespannt darauf, deine Geschichte zu hören. Aber setz dich doch erst einmal und frühstücke mit uns!«
Auch die Frauen lächelten mir jetzt freundlicher zu, als ich mich mit an den Tisch setzte. Und dennoch wirkten sie auf mich irgendwie noch immer ein wenig feindselig, was ich an meinem unangenehmen Vermeidungsgefühl deutlich ablesen konnte. Das Seltsame war, dass ich dieses Vermeidungsgefühl wieder im Brustkorb spürte, was ich ja eigentlich noch gar nicht können sollte. Andererseits hatte ich aber auch ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend, was ja für ein Gefühl aus dem Reptiliengehirn sprach. Die menschlichen Gefühle waren wirklich sehr verwirrend. Doch ich stand auch noch ganz am Anfang meiner emotionalen Erfahrungsreise, weshalb ich verständlicherweise noch Schwierigkeiten damit haben musste, meine emotionalen Handlungsimpulse richtig zu verstehen. Doch genau dafür war ich ja hier. Hier war ich umgeben von erwachsenen Menschen, die längst gelernt hatten, den Sinn und Zweck ihrer Gefühle zu verstehen. Ich freute mich daher sehr darauf, von diesen Profis zu lernen.
Plötzlich klingelte mein Smartphone, das mir die Redaktion für die Dauer der Show mitgegeben hatte. »Mission!«, riefen dann alle sichtlich erfreut und schauten mich neugierig an.
Ich schaute also auf mein Smartphone. »Lese diesen Text allen laut vor«, stand da. »Deine erste Mission besteht darin, jetzt und hier allen am Tisch deine peinlichste Sexgeschichte zu erzählen.«
Alle lachten sofort laut auf und schauten mich mit großen Augen gespannt an. Doch ich hatte ja noch nie Sex. Ich konnte daher nichts erzählen. »Dann muss ich wohl Wahrheit wählen«, erklärte ich daraufhin.
»Das solltest du dir noch einmal überlegen«, meinte Brian. »Du weißt schon, dass du dabei angeschlossen an den Lügendetektor drei Fragen beantworten musst. Und die sind alles andere als harmlos!«, betonte er eindringlich. »Ich würde da an deiner Stelle lieber eine kleine Geschichte erzählen«, empfahl er mir mit einem seltsamen Augenzucken.
»Da kann ich leider nichts erzählen«, antwortete ich, »denn ich hatte noch nie Sex.«
Aus irgendeinem Grund lachten alle über meine Aussage, was ich mir nicht so recht erklären konnte. Ich kam jedoch nicht mehr dazu, dieser Frage auf den Grund zu gehen, denn in diesem Moment klingelte mein Smartphone erneut. »Wie lautet deine Entscheidung?«, stand da. »Wahrheit oder Mission?«
Ich klickte also Wahrheit an, woraufhin die Smartphones aller anderen am Tisch plötzlich klingelten. Meines klingelte ebenfalls noch einmal.
»Du hast echt Wahrheit genommen?!«, fragte eine Frau namens Ava daraufhin fassungslos.
Ich zuckte auf ihre Frage freundlich lächelnd mit den Achseln und las die Nachricht, die jetzt neu auf meinem Smartphone stand. »Begib dich sofort und ohne Verzögerung zum Lügendetektor und nimm alle anderen Teilnehmer mit!«
Daraufhin standen alle auf und gingen mit mir in die Villa. Sie führten mich in den Raum, in dem der Lügendetektor stand. Ich setzte mich dort auf einen Stuhl und wurde an das Gerät angeschlossen. Danach zeigte ein Bildschirm banale Fragen, die ich beantworten sollte. Diese gehörten wohl noch nicht zur Prüfung, wie mir dann erklärt wurde. Sie waren nur nötig, um das Gerät auf mich zu kalibrieren. Sie wollten beispielsweise wissen, ob ich Mary Soul heiße, ob ich zwei Füße habe und ob ich weiblich bin. Dann sollte ich auch gezielt ein paar Mal lügen.
Nachdem diese Prozedur beendet war, waren alle sichtlich gespannt auf meine Fragen. Ich selbst konnte diese Aufregung gar nicht nachvollziehen. Was sollte das Problem daran sein, die Wahrheit zu sagen? Die Gefahr, dass sie mich nach meiner Identität als Secret-Angel fragen würden, hielt ich für ausgeschlossen. Von unserer Existenz wusste niemand.
Die erste Frage erschien auf dem Bildschirm: »Hattest du ein sexuelles Verhältnis mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten?«
»Nein«, antwortete ich. Zehn Sekunden später erschien auf dem Bildschirm in grüner Schrift das Feedback: Wahrheit
»Hat der Präsident tatsächlich von dir verlangt, dass du für ihn lügst?«, war die zweite Frage.
»Ja«, antwortete ich und erhielt wenig später das Feedback: Wahrheit
Ein Raunen ging durch den Raum.
»Hat der Präsident wirklich zu dir gesagt, es sei völlig egal, was tatsächlich wahr ist, es käme nur darauf an, was das dumme Volk letztendlich glaubt?«, war die dritte Frage.
»Ja«, war meine Antwort, und auf dem Bildschirm erschien erneut: Wahrheit
Plötzlich applaudierten die anderen Teilnehmer im Raum begeistert und jubelten laut los. Danach wollten sie dann unbedingt von mir wissen, was da genau mit Mister President gelaufen war. Als ich dann erzählte, was ich den Reportern vor dem Weißen Haus genau geantwortet hatte, schrien alle laut auf vor Lachen. Ich konnte in dem Stimmengewirr danach heraushören, dass Mister President wohl in seinem Wahlkampf hoch und heilig versprochen hatte, immer die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit zu sagen. Er wollte angeblich Schluss machen mit den Lügen in der Politik. Das war offenbar auch der Grund gewesen, warum er die Wahl überhaupt gewonnen hatte. Doch jetzt war er durch mich beim Lügen erwischt worden, was wohl für alle eine große Sache war.
»Mädchen, du hast echt Eier!«, meinte Brian dann anerkennend zu mir. »Jetzt ist mir auch klar, warum du hier bist und warum du Wahrheit gewählt hast.«
Auch die anderen Teilnehmer verhielten sich mir gegenüber jetzt plötzlich freundlicher. Ich konnte mich diesbezüglich natürlich täuschen, da mein Avatar ja angeblich noch gar nicht über die instinktiven Verhaltensprogramme des sozialen Gehirns verfügen sollte, doch ich empfand ganz eindeutig ein sehr schönes Belohnungsgefühl in meiner Herzgegend, das mir zu sagen schien, dass ich nun von allen sehr viel mehr gemocht wurde als zuvor. Sogar die Frauen schienen mich jetzt lieber zu mögen.
Danach gingen wir dann alle wieder zurück an den Tisch, um das Frühstück fortzusetzen. Ich versuchte in den Gesprächen am Tisch ein wenig mehr über die anderen Teilnehmer herauszuhören. So konnte ich erfahren, dass Brian ein sogenannter Hottie war, der unter anderem in einer Vampirserie mitgespielt hatte. Was genau ein Hottie sein sollte, hatte ich jedoch nicht so ganz verstanden. Dann war da noch eine Frau namens Evelyn, die wohl früher Rettungsschwimmerin in Malibu gewesen war. Mein Gehirn erzeugte spontan Sympathie für sie. Vermutlich, weil wir im Grunde genommen artverwandte Berufe ausübten. Mir war sofort klar, dass Sympathie zu einem instinktiven Verhaltensprogramm aus dem sozialen Gehirn gehören musste. Reptilien empfanden keine Sympathie. Ella und ihr Team mussten also wirklich einen Fehler bei der Programmierung meines Avatars gemacht haben. Anders war nicht zu erklären, dass ich Sympathie empfinden konnte.
Der Nächste, über den ich ein wenig mehr erfahren konnte, war Jim. Er war ebenfalls Schauspieler, aber wohl eher das Gegenteil von einem Hottie, was auch immer das bedeuten mochte.
Über Jerry konnte ich kaum etwas erfahren. Er war Mitte Fünfzig, auffallend schlank und eher unauffällig. Ganz im Gegensatz zu einer jungen Frau, deren Namen ich bisher nicht erfahren hatte. Sie saß nicht mit am Tisch. Sie hatte sich etwas abseits der Gruppe an den Pool gelegt. Sie war Anfang zwanzig und lag dort in einer sichtlich unbequemen Haltung. Alle paar Sekunden veränderte sie diese dann, um eine andere unbequeme Körperhaltung einzunehmen und sich dann selbst mit ihrem Smartphone zu fotografieren. Ich versuchte eine logische Erklärung für dieses seltsame Verhalten zu finden.
»Na, schaust du dir deine Konkurrenz an?«, fragte mich Brian.
»Ich sehe sie nicht als Konkurrenz an«, antwortete ich verwundert von seiner Frage.
»Das würde ich an deiner Stelle ganz genauso so sehen!«, betonte er mit einem Lächeln. »Sie ist ganz sicher keine Konkurrenz für dich!«
In diesem Moment klingelten die Smartphones von mehreren Leuten an unserem Tisch gleichzeitig. Es zeigte sich, dass es drei Männer waren. Einer von ihnen las die Nachricht laut vor. Er hieß Liam, war 50 Jahre alt, fast zwei Meter groß, sehr muskulös und trug eine Glatze.
»Liam, Jerry und Jim, eure Mission ist es, heute Abend Single Ladies von Beyoncé zu performen.« Alle Anwesenden am Tisch jubelten sofort laut los. Ich hatte keine Ahnung, was sie so immens erheiterte, aber ich jubelte einfach einmal begeistert mit, um nicht aufzufallen. »Ihr habt fünf Minuten Zeit, um euch zu entscheiden«, las Liam weiter vor und schaute dann seine beiden Mitstreiter sichtlich geschockt an.
»Natürlich macht ihr das!«, riefen die Frauen begeistert.
Die drei gaben sich daraufhin lachend High five und tippten ihre Antwort in ihr Smartphone ein. Kurz drauf klingelten sie erneut. Liam las wieder vor: »Begebt euch jetzt und sofort in den Proberaum. Ihr erhaltet ein professionelles Tanztraining und das perfekte Outfit für diesen Auftritt.« Erneut jubelten die Leute laut los und trommelten begeistert mit ihren Fäusten auf den Tisch.