Seelenlos - Dean Koontz - E-Book

Seelenlos E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Der zweite Roman um Odd Thomas

Als sein kranker Freund entführt wird, macht sich Odd Thomas fieberhaft auf die Suche nach ihm. Die Spur führt Odd in ein ausgebranntes Indianercasino in der kalifornischen Wüste. Eine mörderische Falle, wie sich bald herausstellt. Denn dort erwartet ihn Dattura, die selbst ernannte Schamanin eines Kultes, der Odd das Blut in den Adern gefrieren lässt.

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Seitenzahl: 412

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Die Originalausgabe erschien unter dem TitelForever Odd bei Bantam Books, N.Y.
Copyright © 2005 by Dean Koontz
Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Gesetzt aus der Aldus 10,65/14,6 pt bei Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-07851-5V002
www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis

InschriftKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Anmerkung des AutorsCopyright

Dieses Buch ist für Trixie, obwohl sie es nie lesen wird. Wenn ich an den schwierigsten Tagen verzweifelt vor dem Bildschirm saß, hat sie es immer geschafft, mich zum Lachen zu bringen. Der Ausdruck braver Hund reicht bei Weitem nicht aus, um sie zu beschreiben. Sie ist ein gutes Herz und eine liebe Seele – und ein Engel auf vier Pfoten.

Unverdientes Leiden wirkt erlösend.

Martin Luther King

Seht euch nur diese Hände an! Oh Gott, wie haben diese Hände sich geplagt, um mich aufzuziehen.

Elvis Presley am Sarg seiner Mutter

1

Beim Aufwachen hörte ich, wie ein warmer Windstoß das lose Fliegengitter am offenen Fenster klappern ließ, und ich dachte: Stormy. Doch sie war es nicht.

Die Wüstenluft roch schwach nach Rosen, die nirgendwo blühten, und nach Staub, der in der Mojave zwölf Monate pro Jahr gedeiht. Niederschlag fällt in Pico Mundo, meiner Heimatstadt, nur während des kurzen Winters. Dies war zwar eine Februarnacht, doch die milde Luft war nicht vom angenehmen Duft des Regens erfüllt.

Ich hoffte, ein abklingendes Grollen zu hören, aber wenn mich tatsächlich ein lauter Schlag aufgeweckt hatte, dann musste er in meinem Traum vorgekommen sein.

Mit angehaltenem Atem lag ich da, lauschte der Stille und spürte, wie die Stille mir lauschte.

Der Wecker auf dem Nachttisch malte glühende Ziffern in die Dunkelheit – zwei Uhr einundvierzig.

Eine kleine Weile überlegte ich, ob ich im Bett bleiben sollte, aber inzwischen schlafe ich nicht mehr so gut wie damals, als ich jung war. Ich bin einundzwanzig und doch viel älter als noch vor einem Jahr.

Bestimmt hatte ich Gesellschaft. In der Erwartung, dass ein doppelter Elvis über mich wachte, einer mit mutwilligem Lächeln und der andere mit trauriger Besorgtheit, setzte ich mich auf und knipste die Lampe an.

Nur ein einzelner Elvis stand in der Ecke, als lebensgroße Pappfigur, die einmal im Kino Werbung für Blue Hawaii gemacht hatte. Mit seinem Hawaiihemd und seiner Blumenkette sah er selbstbewusst und glücklich aus.

Damals, 1961, hatte er gute Gründe, glücklich zu sein. Blue Hawaii lief fantastisch, und das dazugehörige Album schoss an die Spitze der Hitparade. In diesem Jahr erhielt er sechs goldene Schallplatten, unter anderem für »Can’t Help Falling in Love«, und im Einklang mit genanntem Titel verliebte er sich in Priscilla Beaulieu.

Weniger glücklich war, dass er auf Drängen seines Managers Tom Parker die Titelrolle in West Side Story zugunsten mittelmäßiger Filmkost wie Ein Sommer in Florida ausgeschlagen hatte. Gladys Presley, seine geliebte Mutter, war zwar schon drei Jahre tot, doch er litt noch immer sehr unter dem Verlust. Obwohl er erst sechsundzwanzig war, bekam er bereits Gewichtsprobleme.

Der Papp-Elvis lächelt auf ewig; er ist immer jung, unfähig, sich zu irren oder etwas zu bedauern, unberührt von Gram, fern jeder Verzweiflung.

Ich beneide ihn. Es gibt kein Pappmodell von mir, wie ich einmal war und wie ich nie wieder sein kann.

Im Lampenlicht war jemand anders sichtbar, der ebenso geduldig wie verzweifelt wirkte. Offenbar hatte er mich im Schlaf beobachtet und gewartet, bis ich aufwachte.

»Hallo, Dr. Jessup«, sagte ich.

Dr. Wilbur Jessup war nicht in der Lage, mir zu antworten. Kummer überzog sein Gesicht. Seine Augen waren trostlose Tümpel, in deren einsamer Tiefe jede Hoffnung ertrunken war.

»Tut mir leid, Sie hier zu sehen«, sagte ich.

Er ballte die Hände zur Faust, nicht mit der Absicht, auf irgendetwas einzuschlagen, sondern als Ausdruck der Frustration. Die Fäuste presste er an seine Brust.

Bisher hatte Dr. Jessup meine Wohnung noch nie aufgesucht, und im Herzen wusste ich, dass er nicht mehr nach Pico Mundo gehörte. Dennoch hätte ich das lieber geleugnet, weshalb ich ihn erneut ansprach, während ich aus dem Bett kroch.

»Habe ich die Tür nicht abgeschlossen?«

Er schüttelte den Kopf. Tränen standen in seinen Augen, doch ich hörte ihn nicht heulen, ja nicht einmal wimmern.

Ich holte ein Paar Jeans aus dem Kleiderschrank und schlüpfte hinein. »In letzter Zeit bin ich vergesslich«, sagte ich.

Er öffnete die Fäuste und starrte seine Handflächen an. Die Hände zitterten. Er vergrub das Gesicht darin.

»Es gibt so viel, was ich vergessen möchte«, fuhr ich fort, während ich Socken und Schuhe anzog, »aber leider entfällt mir nur irgendwelcher Kleinkram – zum Beispiel, wo ich den Schlüsselbund hingelegt habe, ob die Tür abgeschlossen ist, dass ich Milch besorgen muss …«

Dr. Jessup, von Beruf Radiologe am örtlichen Krankenhaus, war ein sanfter, stiller Mensch. So still war er allerdings noch nie gewesen.

Weil ich im Bett kein T-Shirt getragen hatte, zog ich ein weißes aus einer Schublade.

Ich besitze ein paar schwarze T-Shirts, aber vor allem weiße. Abgesehen von einer Auswahl Bluejeans habe ich zwei Paar leichte weiße Baumwollhosen.

In diese Wohnung ist nur ein kleiner Kleiderschrank eingebaut. Er steht zur Hälfte leer. Das gilt auch für die unteren Schubladen meiner Kommode.

Ich besitze weder einen Anzug noch eine Krawatte. Schuhe, die gewienert werden müssen, ebenfalls nicht.

Für kühles Wetter habe ich zwei Rundhalspullover.

Einmal habe ich mir einen Pullunder gekauft. Vorübergehender Wahnsinn. Als mir am nächsten Tag klar wurde, dass meine Garderobe dadurch undenkbar kompliziert geworden war, brachte ich ihn sofort in den Laden zurück.

Mein hundertachtzig Kilo schwerer Freund und Mentor P. Oswald Boone hat warnend bemerkt, mein Kleidungsstil stelle eine ernsthafte Bedrohung für die Textilindustrie dar.

Wie ich daraufhin schon mehr als einmal angemerkt habe, besitzt Ozzie eine Garderobe von derart gewaltigen Dimensionen, dass er die von mir angeblich bedrohten Textilfabriken problemlos über Wasser halten kann.

Dr. Jessup war barfuß und trug einen Baumwollpyjama, der aussah, als hätte sein Besitzer sich die ganze Nacht ruhelos im Bett gewälzt.

»Ich wünschte, Sie würden mit mir sprechen«, sagte ich zu ihm. »Das wäre wirklich schön.«

Statt mir zu gehorchen, nahm der Radiologe die Hände vom Gesicht, drehte sich um und verließ das Schlafzimmer.

Ich warf einen Blick auf die Wand über dem Bett. Dort hängt eine unter Glas gerahmte Karte aus einem Wahrsageautomaten auf dem Rummelplatz. Sie verspricht: ES IST EUCH BESTIMMT, FÜR IMMER ZUSAMMEN ZU SEIN.

Jeden Morgen beginne ich meinen Tag damit, diesen Satz zu lesen. Jeden Abend lese ich ihn wieder, manchmal mehr als einmal, vor dem Einschlafen, falls ich überhaupt einschlafen kann.

Was mich aufrecht hält, ist die Gewissheit, dass das Leben einen Sinn hat. Wie der Tod.

Ich nahm mein Handy vom Nachttisch. Die erste Kurzwahlnummer verbindet mich mit dem Büro von Wyatt Porter, dem Polizeichef von Pico Mundo. Die zweite ist seine Privatnummer und die dritte die seines Mobiltelefons.

Wahrscheinlich musste ich mich noch vor der Morgendämmerung mit Chief Porter in Verbindung setzen, auf der einen oder anderen Nummer.

Als ich im Wohnzimmer das Licht anknipste, stellte ich fest, dass Dr. Jessup dort im Dunkeln gestanden hatte, zwischen den aus Secondhandläden stammenden Schätzen, mit denen die Wohnung möbliert ist.

Ich ging zur Wohnungstür und zog sie auf, doch Dr. Jessup reagierte nicht. Er hatte zwar bei mir Hilfe gesucht, brachte jedoch offenbar nicht genügend Mut für das auf, was uns erwartete.

Offenbar gefiel ihm die eklektische Einrichtung, die vom rötlichen Licht einer alten Bronzelampe beschienen wurde: nüchterne Holzsessel, plumpe viktorianische Fußschemel, Drucke von Maxfield Parrish, bunte Glasvasen.

»Nehmen Sie’s mir nicht übel«, sagte ich, »aber Sie gehören nicht hierher, Sir.«

Dr. Jessup betrachtete mich schweigend und mit flehentlicher Miene.

»Dieser Ort ist bis zum Rand mit Vergangenheit angefüllt. Hier ist Raum für Elvis und mich – und für Erinnerungen –, aber nicht für jemand Neuen.«

Damit trat ich in den Flur und zog die Tür zu.

Ich lebe in einer von zwei Wohnungen, die man im ersten Stock einer feudalen viktorianischen Villa untergebracht hat. Trotz des Umbaus besitzt der weitläufige Bau noch immer beträchtlichen Charme.

Jahrelang habe ich in einer Einzimmerwohnung oberhalb einer Garage gelebt. Mein Bett war nur wenige Schritte vom Kühlschrank entfernt. Damals war das Leben einfacher und die Zukunft klar.

Umgezogen bin ich nicht, weil ich mehr Platz brauchte, sondern weil mein Herz nun hierher gehört, für immer.

In die Haustür ist ein ovales Bleiglasfenster eingesetzt. Die Nacht dahinter war zu einem Muster verzerrt, das jedermann verstehen konnte.

Als ich auf die Veranda trat, zeigte sich, dass diese Nacht wie alle anderen war: tief, geheimnisvoll zitternd, vom Potenzial für Chaos erfüllt.

Während ich die Treppe hinab und über die Steinplatten des Gartenwegs zur Straße ging, blickte ich mich nach Dr. Jessup um, sah ihn jedoch nirgendwo.

In den höher gelegenen Regionen der Wüste, die sich weit östlich von Pico Mundo erheben, kann der Winter frostig sein, doch hier unten bleiben die Nächte selbst im Februar mild. Die Bäume am Straßenrand, Indischer Lorbeer, seufzten und wisperten im sanften Wind; Motten umschwirrten die Straßenlaternen.

In den Häusern ringsum war es still, die Fenster waren dunkel. Kein Hund bellte. Keine Eule schrie.

Auch Fußgänger waren nicht unterwegs, und auf den Straßen herrschte keinerlei Verkehr. Die Stadt sah aus, als hätte das Jüngste Gericht schon stattgefunden, und nur ich wäre noch übrig geblieben, um die Herrschaft der Hölle auf Erden zu ertragen.

Als ich die Straßenecke erreichte, gesellte Dr. Jessup sich wieder zu mir. Sein Aufzug und die späte Stunde wiesen darauf hin, dass er sich vor dem Besuch in meiner Wohnung in seinem Haus am Jacaranda Way aufgehalten hatte. Es stand fünf Querstraßen weiter nördlich in einer wohlhabenderen Nachbarschaft. Nun führte er mich in diese Richtung.

Er konnte fliegen, doch er trottete schwerfällig daher. Deshalb lief ich voraus.

Obwohl ich mich vor dem, was wir vorfinden würden, nicht weniger fürchtete als er, wollte ich es rasch vor Augen haben. Womöglich war ein weiteres Leben in Gefahr.

Auf halbem Weg fiel mir ein, dass ich den Chevy hätte nehmen können. Seit ich den Führerschein besitze, habe ich meist kein eigenes Auto gehabt, sondern mir eines von Freunden ausgeliehen, wenn ich es brauchte. Im Herbst habe ich aber ein Chevrolet Camaro Berlinetta Coupé, Baujahr 1980, geerbt.

Oft verhalte ich mich allerdings noch immer so, als hätte ich keinen fahrbaren Untersatz. Mehrere Tausend Pfund Blech zu besitzen bedrückt mich, wenn ich zu viel darüber nachdenke, und weil ich versuche, nicht darüber nachzudenken, vergesse ich den Wagen manchmal ganz.

Unter dem narbigen Gesicht des blinden Mondes lief ich dahin.

Das Domizil von Dr. Jessup ist eine aus weißen Ziegeln erbaute Villa im georgianischen Stil mit eleganten Zierelementen. Flankiert wird sie auf der einen Seite von einem hübschen viktorianischen Bau, der derart mit Gesimsen überladen ist, dass er aussieht wie ein Hochzeitskuchen. Auf der anderen Seite steht ein Haus, das sich barock gibt, aber auf ganz falsche Weise.

Keiner dieser Architekturstile passt zu Gebäuden in der Wüste, die von Palmen beschattet und von bunter Bougainvillea umrankt sind. Meine Heimatstadt wurde um 1900 von Leuten gegründet, die vor dem harten Winter der Ostküste geflohen waren, jedoch die Architektur und die Geisteshaltung jener kühleren Klimazone mitgebracht hatten.

Meine Chefin Terri Stambaugh, Besitzerin des Pico Mundo Grills, die mir auch eine gute Freundin ist, meint immer, diese gedankenlos hierher verpflanzte Architektur sei besser als die öden, von Kiesdächern überragten Stuckfassaden in vielen anderen Wüstenstädten Kaliforniens.

Wahrscheinlich hat sie recht. Wissen kann ich das nicht, denn ich habe die Stadtgrenze von Pico Mundo nur selten überquert. Über die Grenzen von Maravilla County bin ich überhaupt nicht hinausgekommen.

Mein Leben ist zu ausgefüllt, um eine Spritztour oder gar eine Reise zu erlauben. Ich sehe mir nicht mal Reisesendungen im Fernsehen an.

Die Freuden des Lebens kann man überall finden. Ferne Orte bieten nur exotische Arten zu leiden.

Außerdem wird die Welt jenseits von Pico Mundo von Fremden heimgesucht, und ich finde es schon schwierig genug, mit den Toten fertig zu werden, die ich kannte, als sie noch lebten.

Hinter einigen der Fenster von Dr. Jessups Haus brannte weiches Lampenlicht, oben und im Erdgeschoss. Die meisten Scheiben waren dunkel.

Als ich die Treppe zur Veranda erreichte, erwartete Dr. Wilbur Jessup mich bereits.

Der Wind zerzauste sein Haar und ließ seinen Pyjama flattern, obwohl ich nicht recht wusste, weshalb der Wind eine Wirkung auf ihn hatte. Auch Mondlicht und Schatten erfassten ihn.

Offenbar brauchte der trauernde Radiologe Trost, bevor er die Kraft aufbringen konnte, mich in sein Haus zu führen, wo sich zweifellos seine Leiche befand. Vielleicht auch noch eine zweite.

Ich umarmte ihn. Obwohl er ein Geist war, der für alle außer für mich unsichtbar blieb, fühlte er sich warm und solide an.

Dass ich sehe, wie die Toten vom Wetter und von Licht und Schatten dieser Welt berührt werden, und dass ich ihren Körper so warm empfinde wie den von Lebenden, liegt vielleicht nicht daran, dass sie so sind, sondern dass ich sie so haben will. Vielleicht versuche ich mit dieser Finte, die Macht des Todes zu leugnen.

Womöglich ist meine übernatürliche Begabung nicht in meinem Geist, sondern in meinem Herzen verwurzelt. Das Herz ist ein Künstler, der alles übermalt, was ihn zutiefst verstört, sodass auf der Leinwand eine weniger dunkle, weniger scharfe Spielart der Wahrheit bleibt.

Dr. Jessup besaß keinerlei Substanz, und doch lehnte er sich schwer an mich. Er bebte von den Seufzern, denen er keine Stimme verleihen konnte.

Die Toten sprechen nicht. Vielleicht wissen sie Dinge über den Tod, von denen die Lebenden nichts erfahren dürfen.

In diesem Augenblick hatte ich durch meine Fähigkeit zu sprechen keinen Vorteil. Worte hätten Dr. Jessup nicht getröstet.

Nur die Gerechtigkeit konnte seine Qualen lindern, und vielleicht nicht einmal die.

Als er noch am Leben gewesen war, war ich für ihn der Odd Thomas gewesen, wie ihn viele hier im Ort kennen. Manche Leute halten mich – fälschlich – für einen Helden, und fast jedermann bezeichnet mich als exzentrisch.

Odd ist kein Spitzname; so heiße ich ganz offiziell.

Die Geschichte meines Namens ist recht interessant, aber ich habe sie schon mal erzählt. Im Grunde läuft sie darauf hinaus, dass meine Eltern äußerst merkwürdige Persönlichkeiten sind.

Ich glaube, als Dr. Jessup noch am Leben gewesen war, hatte er mich faszinierend, amüsant und rätselhaft gefunden. Er hatte mich wohl gemocht.

Erst im Tod hatte er mich als den erkannt, der ich bin: ein Gefährte der in dieser Welt verweilenden Toten.

Ich sehe sie, obwohl ich wünschte, es wäre anders. Allerdings schätze ich das Leben zu sehr, um die Toten abzuweisen, denn sie verdienen mein Mitgefühl, weil sie in dieser Welt gelitten haben.

Als Dr. Jessup sich von mir löste und einen Schritt zurücktrat, hatte er sich verändert. Nun waren seine Wunden sichtbar.

Er war mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht einem Rohr oder Hammer, im Gesicht getroffen worden. Mehrfach. Sein Schädel war gebrochen, seine Gesichtszüge waren verzerrt.

Der Zustand seiner aufgerissenen, gebrochenen Hände wies darauf hin, dass er verzweifelt versucht hatte, sich zu verteidigen – oder dass er jemandem zu Hilfe gekommen war. Der einzige Mensch, der bei ihm lebte, war sein Sohn Danny.

Mein Mitleid wurde rasch von rechtschaffenem Zorn übertroffen, einer gefährlichen Emotion, die das Urteilsvermögen trübt und unvorsichtig macht.

Diesen Zustand strebe ich nicht bewusst an, ich habe sogar Angst davor. Wenn er mich überkommt, als wäre ich davon besessen, kann ich das, was getan werden muss, nicht einfach ignorieren. Ich stürze mich hinein.

Die wenigen meiner Freunde, die meine Geheimnisse kennen, meinen, dieser zwanghafte Zustand habe etwas mit göttlicher Inspiration zu tun. Vielleicht ist es aber auch einfach vorübergehender Wahnsinn.

Während ich die Treppe hochstieg und über die Veranda ging, überlegte ich bei jedem Schritt, ob ich Chief Wyatt Porter anrufen sollte. Ich hatte jedoch Angst, in dem Zeitraum, in dem ich das Telefongespräch führte und auf die Polizei wartete, könnte Danny zu Tode kommen.

Die Haustür war angelehnt.

Ich sah mich um und stellte fest, dass Dr. Jessup lieber im Garten statt im Haus spukte. Er war auf dem Rasen stehen geblieben.

Seine Wunden waren verschwunden. Er sah so aus, wie er ausgesehen hatte, bevor der Tod ihn ereilt hatte – und er hatte offenkundig Angst.

Bis sie diese Welt endgültig verlassen haben, können selbst die Toten Furcht empfinden. Man würde meinen, sie hätten nichts mehr zu verlieren, aber dennoch werden sie manchmal von Angstgefühlen gepeinigt. Diese Gefühle beziehen sich allerdings nicht auf das, was im Jenseits auf sie wartet, sondern auf die Menschen, die sie hinterlassen haben.

Ich drückte die Tür auf. Sie bewegte sich glatt und so lautlos wie der Mechanismus einer sauber gebauten Mausefalle.

2

Im Licht von matten, flammenförmigen Glühbirnen, die in versilberten Kerzenleuchtern steckten, sah ich einen Flur mit weißen Kassettentüren. Sie waren alle geschlossen. Davor führte eine Treppe in die Dunkelheit hinauf.

Da der Marmorboden nicht poliert, sondern matt geschliffen war, sah er nicht nur wolkenweiß, sondern auch wolkenweich aus. Darauf schwebte rubinrot, türkis und saphirblau ein Perserteppich wie ein magisches Taxi, das auf einen Fahrgast mit Sinn für Abenteuer wartete.

Ich trat über die Schwelle, ohne im Wolkenboden zu versinken. Der Teppich vibrierte unter meinen Füßen.

In solchen Situationen ziehen geschlossene Türen mich meist unaufhaltsam an. Seit einigen Jahren habe ich ab und zu einen sehr unangenehmen Traum, in dem ich bei der Durchsuchung eines Hauses eine weiße Kassettentür öffne, worauf sich mir etwas durch die Kehle bohrt, das scharf, kalt und so dick wie ein eiserner Zaunpfosten ist.

Bevor ich sterbe, wache ich immer würgend auf, als wäre ich noch aufgespießt. Danach stehe ich normalerweise auf, egal, wie früh es ist.

Meine Träume haben durchaus nicht immer einen prophetischen Charakter. Zum Beispiel bin ich noch nie nackt auf einem Elefanten geritten und habe mich dabei mit Jennifer Aniston vergnügt.

Sieben Jahre ist es jetzt her, seit ich als vierzehnjähriger Bursche diese denkwürdige nächtliche Fantasie hatte. Da schon so viel Zeit vergangen ist, habe ich keinerlei Erwartung mehr, dass sich dieser Traum jemals erfüllen wird.

Die Szene mit der weißen Kassettentür wird sich jedoch ereignen, da bin ich ziemlich sicher. Ich weiß nur nicht, ob ich dabei verwundet, bleibend geschädigt oder getötet werde.

Man sollte meinen, dass ich mich von weißen Kassettentüren fernhalte, wenn ich auf welche treffe. Das würde ich auch tun – hätte ich nicht gelernt, dass man dem Schicksal weder ausweichen noch vor ihm weglaufen kann. Der Preis, den ich für diese Lektion gezahlt habe, war so hoch, dass mein Herz nun wie eine fast leere Geldbörse ist, an deren Grund nur noch zwei oder drei Münzen klimpern.

Ich ziehe es vor, jede Tür aufzutreten und mich dem zu stellen, was mich erwartet, statt mich abzuwenden – und anschließend ständig wachsam lauschen zu müssen, ob hinter meinem Rücken eine Klinke knarrt oder irgendwelche Türangeln leise quietschen.

Diesmal zogen die Türen mich jedoch nicht besonders an. Die Intuition führte mich zur Treppe und rasch hinauf.

Im oberen Flur war es dunkel. Nur aus zwei Zimmern drang fahles Licht.

Von offenen Türen habe ich noch nie geträumt. Deshalb ging ich ohne zu zögern zur ersten und trat in ein Schlafzimmer.

Der Anblick gewaltsam vergossenen Bluts erschreckt selbst jene, die es oft gesehen haben. Das Spritzen, Sprühen, Tropfen und Tröpfeln erschafft unzählige Rorschachmuster, aus denen der Beobachter immer dieselbe Bedeutung herausliest: die Zerbrechlichkeit seiner Existenz und die Wahrheit seiner Sterblichkeit.

Ein verzweifeltes Durcheinander purpurroter Handabdrücke an einer der Wände sagte in der Zeichensprache des Opfers: Verschone mich, hilf mir, erinnere dich an mich, räche mich.

Auf dem Boden lag am Fußende des Betts die Leiche von Dr. Wilbur Jessup. Sie war furchtbar zugerichtet.

Selbst auf jemanden, der weiß, dass der Körper nur das Gefäß, der Geist hingegen die Essenz ist, wirkt eine misshandelte Leiche deprimierend und verletzend.

Diese Welt, die das Potenzial besitzt, ein Paradies zu sein, ist stattdessen eine Hölle vor der eigentlichen Hölle. In unserer Arroganz haben wir sie dazu gemacht.

Die Tür zum angrenzenden Badezimmer stand halb offen. Ich drückte sie mit dem Fuß ganz auf.

Obwohl das Licht der Schlafzimmerlampe durch den blutgetränkten Schirm gedämpft wurde, drang es bis ins Bad vor. Das Bad enthüllte keinerlei Überraschungen.

Wohl wissend, dass ich mich am Tatort eines Verbrechens befand, fasste ich nichts an. Aus Rücksicht auf eventuelle Indizien passte ich zudem gut auf, wohin ich trat.

Manche Leute geben sich der Illusion hin, für Mord sei Gier verantwortlich, aber diese ist nur selten das zentrale Motiv. Die meisten solcher Taten werden aus ein und demselben schäbigen Grund begangen: Grausam gesinnte Menschen ermorden jene, auf die sie Neid empfinden, und für das, was sie begehren.

Das ist nicht nur die zentrale Tragödie der menschlichen Existenz, es ist auch die politische Geschichte der Welt.

In diesem Fall sagte mir keine übersinnliche Gabe, sondern der gesunde Menschenverstand, dass der Mörder Dr. Jessup um die glückliche Ehe beneidete, die dieser bis vor Kurzem genossen hatte. Vor vierzehn Jahren hatte der Radiologe eine Frau namens Carol Makepeace geheiratet. Die beiden hatten fantastisch zueinandergepasst.

In die Ehe hatte Carol ihren siebenjährigen Sohn Danny mitgebracht. Dr. Jessup hatte ihn adoptiert.

Danny war ein Freund von mir, seit wir im Alter von sechs Jahren ein gemeinsames Interesse an Monster-Sammelkarten entdeckt hatten. Ich tauschte einen gehirnfressenden Tausendfüßler vom Mars gegen einen Methanschleimer von der Venus ein, was uns schon bei der ersten Begegnung zusammenschweißte. Mit der Zeit entstand daraus eine brüderliche Zuneigung.

Verbindend wirkte nicht zuletzt die Tatsache, dass wir beide anders als andere Menschen sind, jeder auf seine Weise. Ich sehe die ruhelosen Toten, und Danny leidet unter Osteogenesis imperfecta, fälschlich auch als Glasknochenkrankheit bezeichnet.

Unser Leben ist von unseren jeweiligen Besonderheiten geprägt und deformiert worden. Meine Deformationen sind in erster Linie sozialer Art, seine hauptsächlich körperlich.

Vor einem Jahr war Carol an Krebs gestorben. Nun war auch Dr. Jessup tot, und Danny war allein.

Ich verließ das Schlafzimmer und eilte leise den Flur entlang auf den hinteren Teil des Hauses zu. Dort befand sich die andere offene Tür, aus der Licht drang. Da ich an zwei geschlossenen Zimmern vorbeikam, machte ich mir sofort Sorgen, weil ich nicht alles durchsuchen konnte.

Nachdem ich einmal den Fehler begangen hatte, mir die Fernsehnachrichten anzuschauen, habe ich mir eine Weile Sorgen gemacht, ein Asteroid könnte auf die Erde aufprallen und die menschliche Zivilisation auslöschen. Die Moderatorin erklärte, so etwas sei nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Am Ende des Berichts lächelte sie.

Ich quälte mich wegen dieses Asteroiden, bis mir klar wurde, dass ich nichts tun konnte, um ihn aufzuhalten. Ich bin nicht Superman. Ich bin ein Grillkoch, der momentan Urlaub von seinen Töpfen und Pfannen hat.

Um die Nachrichtenmoderatorin machte ich mir länger Sorgen. Was für eine Persönlichkeit muss man haben, wenn man eine derart erschreckende Nachricht vortragen – und dann lächeln kann?

Wenn ich je eine weiße Kassettentür öffnen und aufgespießt werden sollte, dann befindet sich der eiserne Spieß – oder was immer es ist – wahrscheinlich in den Händen besagter Moderatorin.

Ich erreichte die zweite offene Tür, trat ins Licht und überquerte die Schwelle. Kein Opfer, kein Mörder.

Die Dinge, wegen derer wir uns die größten Sorgen machen, sind praktisch nie diejenigen, die uns wirklich beißen. Die schärfsten Zähne packen immer dann zu, wenn wir woanders hinschauen.

Dies war das Zimmer von Danny. An der Wand hinter dem zerwühlten Bett hing ein Poster von Joseph Merrick, dem echten Elefantenmenschen.

Danny hatte Sinn für Humor, was die durch seine Krankheit entstandenen Deformierungen – hauptsächlich der Gliedmaßen – anging. Obwohl er überhaupt nicht wie Merrick aussah, war der Elefantenmensch sein Held.

Man hat ihn als Monstrosität ausgestellt, hatte Danny mir einmal berichtet. Frauen fielen bei seinem Anblick in Ohnmacht, Kinder weinten, harte Männer zuckten zusammen. Er wurde verachtet und verunglimpft. Ein Jahrhundert später aber hat man einen Film über sein Leben gemacht, und wir kennen seinen Namen. Wer kennt den Namen des miesen Kerls, der ihn besessen und ausgestellt hat, oder die Namen der Leute, die in Ohnmacht gefallen oder zusammengezuckt sind? Die sind vergessen, und er ist unsterblich. Davon mal abgesehen – der Umhang, den er trug, wenn er ausging, war total cool!

An den anderen Wänden hingen vier Poster der alterslosen Sexgöttin Demi Moore, die zurzeit in einer Reihe von Versace-Spots auftrat und dabei noch verführerischer wirkte als sonst.

Mit seinen einundzwanzig Jahren war Danny vier Zentimeter kleiner als die ein Meter fünfzig, die er zu haben behauptete. Weil die Knochen nach den vielen Brüchen manchmal abnormal zusammengewachsen waren, war sein Körper krumm und schief. Dennoch erlaubte Danny sich eindeutig kühne Träume.

Niemand stach mich nieder, als ich wieder in den Flur trat. Ich erwartete zwar nicht, dass jemand mich erstechen würde, aber genau dann passiert so etwas meistens.

Falls der Wüstenwind noch immer durch die Nacht pfiff, hörte ich ihn innerhalb der dicken Wände der alten Villa nicht. Wie ein Grab kam sie mir mit ihrer Stille und klimatisierten Kühle vor. Ein schwacher Duft von Blut hing in der kalten Luft.

Nun wagte ich es endgültig nicht mehr, den Anruf bei Chief Porter aufzuschieben. Im oberen Flur stehend, drückte ich auf meinem Handy die Taste Nummer zwei für seinen Privatanschluss.

Als er beim zweiten Läuten abnahm, hörte er sich wach an.

Um nicht von einer wahnsinnigen Moderatorin oder Schlimmerem überrascht zu werden, sagte ich mit leiser Stimme: »Tut mir leid, dass ich Sie aufgeweckt hab, Sir.«

»Hab nicht geschlafen. Ich sitze hier mit Louis L’Amour.«

»Dem Schriftsteller? Ich dachte, der ist tot, Sir.«

»In etwa so tot wie Charles Dickens. Sag mir, dass du bloß einsam bist, Junge, und nicht wieder in irgendeinem Schlamassel steckst.«

»Das hab ich mir nicht ausgesucht, Sir. Aber Sie sollten zum Haus von Dr. Jessup kommen.«

»Hoffentlich ist es ein einfacher Einbruch.«

»Mord«, sagte ich. »Wilbur Jessup liegt in seinem Schlafzimmer auf dem Boden. Sieht übel aus.«

»Wo ist Danny?«

»Wahrscheinlich gekidnappt.«

»Simon«, sagte er.

Simon Makepeace – Carols erster Mann und Dannys Vater – war vor vier Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er sechzehn Jahre wegen Totschlags eingesessen hatte.

»Bringen Sie Unterstützung mit«, sagte ich. »Und kommen Sie leise.«

»Ist noch jemand da?«

»Ich hab so das Gefühl.«

»Halt dich bloß zurück, Odd.«

»Sie wissen, dass ich das nicht kann.«

»Diese Zwanghaftigkeit verstehe ich einfach nicht.«

»Ich auch nicht, Sir.«

Ich drückte die Austaste und steckte das Handy wieder ein.

3

In der Annahme, dass Danny sich noch immer im Haus befand und bedroht wurde – wahrscheinlich im Erdgeschoss – , ging ich zur Treppe. Doch statt hinunterzugehen, merkte ich, dass ich mich umdrehte und den Weg zurückging, den ich gerade gekommen war.

Ich dachte, ich würde zu den zwei geschlossenen Türen an der rechten Seite des Flurs, zwischen dem Schlafzimmer und Dannys Zimmer, zurückkehren und entdecken, was sich dahinter befand. Wie zuvor schon, übten sie aber auch jetzt keinerlei Anziehung auf mich aus.

Auf der linken Seite befanden sich drei weitere geschlossene Türen. Auch diese zogen mich in keiner Weise an.

Zusätzlich zu meiner Fähigkeit, Geister zu sehen – eine Gabe, die ich gerne dagegen eintauschen würde, Talent zum Klavierspielen oder Blumenstecken zu haben –, bin ich mit etwas geboren, das man einmal als übersinnlichen Magnetismus bezeichnet hat.

Wenn jemand nicht dort ist, wo ich ihn erwarte, kann ich mich einfach auf den Weg machen, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder im Auto. Den Namen oder das Gesicht der betreffenden Person im Sinn, gelange ich wie durch Zufall von einer Straße in die andere, und irgendwann treffe ich auf den Gesuchten, manchmal innerhalb von Minuten, manchmal nach einer Stunde. Es ist, als würde man zwei dieser kleinen Magnethunde auf den Tisch stellen und zuschauen, wie sie unaufhaltsam aufeinander zurutschen.

Das Schlüsselwort lautet manchmal.

Gelegentlich funktioniert mein übersinnlicher Magnetismus wie das teuerste Chronometer. Es kommt aber auch vor, dass er sich verhält wie eine beim Ausverkauf eines Billigladens erworbene Eieruhr: Man stellt auf weich gekocht, und wenn man das Ei aufschlägt, ist es hart.

Die Unzuverlässigkeit dieser Gabe ist kein Beweis dafür, dass der liebe Gott grausam oder gleichgültig wäre. Sie könnte allerdings einer von vielen Beweisen dafür sein, dass er Sinn für Humor besitzt.

Der Fehler liegt bei mir. Oft kann ich nicht entspannt genug bleiben, damit die Sache gut funktioniert. Ich werde abgelenkt, in diesem Fall von der Möglichkeit, dass Simon Makepeace in absichtlicher Missachtung seines Namens eine Tür aufstoßen, mit einem Satz in den Flur springen und mich zu Tode knüppeln könnte.

Ich ging durch das Lampenlicht, das aus Dannys Zimmer fiel, wo Demi Moore noch immer fantastisch und der Elefantenmensch noch immer elefantös aussah. Dort, wo ein zweiter, kürzerer Flur meinen Weg kreuzte, blieb ich im Dunkeln stehen.

Es war ein großes Haus, erbaut im Jahre 1910 von einem Zuzügler aus Philadelphia, der ein Vermögen verdient hatte, entweder mit Frischkäse oder mit Gelignit. Genau weiß ich das nicht mehr.

Gelignit, auch Gelatinedynamit genannt, ist ein hochexplosiver Sprengstoff, der aus einer gelatinierten Masse Nitroglyzerin mit beigefügtem Zellulosenitrat besteht. Im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts war er äußerst beliebt in Kreisen, die ein besonderes Interesse daran hatten, Dinge in die Luft zu sprengen.

Frischkäse ist Frischkäse. Man kann ihn für eine Vielzahl leckerer Speisen verwenden, wohingegen er nur selten explodiert.

Eigentlich würde ich mich in der Geschichte meiner Heimatstadt gern besser auskennen, aber ich habe leider nie genug Zeit gehabt, mich damit zu beschäftigen. Die Toten lenken mich ständig ab.

Ich bog nach links in den kurzen Flur ein, wo es düster, wenn auch nicht stockdunkel war. Ein schwacher Lichtschein ließ erkennen, dass die Tür am oberen Ende der Hintertreppe offen stand. Das Treppenlicht brannte allerdings nicht; die Helligkeit drang von unten herauf.

Ich kam an Zimmern und Einbauschränken vorbei, die keinen Impuls in mir auslösten, sie zu durchsuchen. Außerdem befand sich hier ein hydraulischer Aufzug. Eingebaut worden war er kurz vor der Hochzeit von Wilbur und Carol – und damit direkt bevor Danny, damals sieben Jahre alt, mit ins Haus gezogen war.

Leidet man unter Osteogenesis imperfecta, so bricht man sich gelegentlich mit bemerkenswert geringem Aufwand einen Knochen. Zum Beispiel hat Danny sich im Alter von sechs Jahren das rechte Handgelenk gebrochen, als er beim Schwarzer-Peter-Spielen ein wenig ungestüm die Karten austeilte.

Treppen stellen daher ein besonders großes Risiko dar. Zumindest in seiner Kindheit wäre Danny wahrscheinlich an mehreren Schädelbrüchen gestorben, wenn er die Stufen hinuntergefallen wäre.

Obwohl ich keine Furcht vor einem Sturz hatte, war die Hintertreppe mir unheimlich. Es handelte sich um eine Wendeltreppe, weshalb man immer nur wenige Schritte weit sehen konnte.

Die Intuition sagte mir, dass sich jemand dort unten befand.

Der Aufzug bot keine echte Alternative, weil er zu viel Krach machte. Simon Makepeace würde darauf aufmerksam werden und mich erwarten, wenn ich unten ankam.

Zurückziehen konnte ich mich nicht. Ich fühlte mich gezwungen, ins Erdgeschoss zu gehen, und zwar rasch.

Bevor ich recht merkte, wie mir geschah, hatte ich schon die Ruftaste des Aufzugs gedrückt. Ich riss meinen Finger zurück, als hätte ich mich an einer Nadel gestochen.

Die beiden Türflügel gingen nicht sofort auf. Offenbar befand sich der Aufzug im Erdgeschoss.

Während der Motor zu summen begann, der hydraulische Mechanismus ächzte und die Kabine mit leisem Zischen durch den Schacht aufwärtsglitt, wurde mir bewusst, dass ich einen Plan hatte. Gut für mich.

Eigentlich war der Ausdruck Plan zu grandios. Es handelte sich eher um einen Trick, eine Ablenkung.

Das Ping!, mit dem der Aufzug ankam, hallte so laut durch das stille Haus, dass ich zusammenzuckte, obwohl ich es erwartet hatte. Als die Tür sich öffnete, spannte ich alle Muskeln an, aber niemand stürzte sich auf mich.

Ich lehnte mich in die Kabine und drückte den Knopf, der sie ins Erdgeschoss zurückschickte.

Noch während die Tür sich schloss, eilte ich zur Treppe und rannte blindlings hinunter. Sobald der Aufzug unten ankam, war es mit der Ablenkung vorbei, denn dann entdeckte Simon, dass ich doch nicht an Bord war.

Die Klaustrophobie verursachende Treppe führte in einen Umkleideraum neben der Küche. In Philadelphia mit seinem regnerischen Frühling und seinem schneereichen Winter war so ein Raum mit Steinfliesen sicher nützlich, um Stiefel und Mantel abzulegen; in einem Haus mitten in der sonnenverbrannten Mojave-Wüste war er jedoch so überflüssig wie ein Regal für Schneeschuhe.

Wenigstens war es kein Lagerraum voller Gelignit.

Von hier aus führte eine Tür in die Garage und eine weitere in den Garten. Durch die dritte gelangte man in die Küche.

Ursprünglich war das Haus nicht dazu gedacht gewesen, einen Aufzug zu haben. Deshalb war die mit dem Einbau beauftragte Firma dazu gezwungen gewesen, ihn in einer Ecke der großen Küche unterzubringen.

Kaum war ich, schwindlig von der engen Wendeltreppe, unten angekommen, als ein erneutes Ping! anzeigte, dass auch der Aufzug eingetroffen war.

Ich griff nach einem Besen, als wäre ich in der Lage gewesen, einen mordlüsternen Psychopathen damit von den Beinen zu fegen. Na gut, immerhin konnte ich ihm die Borsten ins Gesicht stoßen, um seine Augen zu lädieren und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Der Besen war nicht so beruhigend, wie es ein Flammenwerfer gewesen wäre, aber auf jeden Fall besser als ein Mopp und bedrohlicher als ein Staubwedel.

Ich postierte mich neben der Tür zur Küche und bereitete mich darauf vor, Simon tatsächlich von den Beinen zu holen, wenn er auf der Suche nach mir hereinstürmte. Das tat er jedoch nicht.

Nach einer Zeitspanne, die dem Gefühl nach ausgereicht hätte, um die grauen Wände mit einer fröhlicheren Farbe anzustreichen, in Wirklichkeit jedoch wohl nur fünfzehn Sekunden umfasste, warf ich einen Blick auf die Tür zur Garage. Dann auf die Tür zum Garten.

Ich überlegte, ob Simon Makepeace Danny wohl schon aus dem Haus geschafft hatte. Womöglich befanden die beiden sich in der Garage, Simon am Lenkrad von Dr. Jessups Wagen und Danny hilflos gefesselt auf dem Rücksitz.

Oder sie hetzten durch den Garten zum Tor im Zaun. Vielleicht hatte Simon auf dem Weg hinter dem Grundstück sein eigenes Fahrzeug geparkt.

Statt diesen Überlegungen zu folgen, fühlte ich mich von der Schwingtür zur Küche angezogen. Ich stieß sie auf.

Nur die Lampen unter den Hängeschränken brannten und erleuchteten ringsum die Arbeitsflächen. Dennoch konnte ich sehen, dass ich allein war.

Egal, was ich sehen konnte, ich spürte die Gegenwart eines anderen Menschen. Vielleicht hatte sich jemand hinter die große Arbeitsinsel in der Mitte des Raums gehockt.

Grimmig hob ich den Besen wie eine Keule und bewegte mich vorsichtig durch den Raum. Der glänzende Mahagoniboden entlockte den Gummisohlen meiner Schuhe ein leises Quietschen.

Als ich drei Viertel der Arbeitsinsel umrundet hatte, hörte ich hinter mir die Aufzugtür aufgehen.

Ich wirbelte herum und sah nicht Simon, sondern einen Fremden. Offenbar hatte er tatsächlich auf den Aufzug gewartet, und als ich nicht darin gewesen war, hatte er meine List erkannt. Geistesgegenwärtig hatte er sich daraufhin in der Kabine verborgen, kurz bevor ich durch die Tür getreten war.

Er war geschmeidig und voll angespannter Kraft. In seinen grünen Augen leuchtete ein schreckliches Wissen; es waren die Augen von jemandem, der all die vielen Wege kannte, die aus dem Garten Eden führten. Seine schuppigen Lippen waren zu einer vollkommenen Lüge verzogen, zu einem Lächeln, in dem die Bosheit sich als freundliche Absicht tarnte und dessen Vergnügtheit aus tropfendem Gift bestand.

Bevor ich mir auch noch eine schlangenhafte Metapher für seine Nase ausdenken konnte, schlug der hinterhältige Bastard zu. Er betätigte den Abzug eines Tasers und feuerte zwei mit dünnen Drähten verbundene Pfeile ab, die sich durch mein T-Shirt bohrten und mich mit einem Elektroschock schachmatt setzten.

Ich stürzte zu Boden wie eine durch die Lüfte fliegende Hexe, der plötzlich die Zauberkraft abhandengekommen ist: hart und mit einem nutzlosen Besen in den Händen.

4

Wenn man etwa fünfzigtausend Volt aus einer Elektroschockpistole absorbiert hat, vergeht eine gewisse Zeit, bis man sich wieder pudelwohl fühlt.

Auf dem Boden liegend, imitierte ich vorerst eine zertretene Kakerlake. Der motorischen Kontrolle beraubt, zuckte ich heftig vor mich hin und versuchte zu schreien, keuchte jedoch lediglich.

Dem stechenden Schmerz des Schocks folgte ein heißes Pulsieren, das mit solcher Macht durch alle Nervenbahnen meines Körpers fuhr, dass ich sie so deutlich zu sehen glaubte wie Straßen auf einer Landkarte.

Ich verfluchte den Angreifer, doch die Beleidigung kam nur als Wimmern heraus. Irgendwie hörte ich mich an wie eine nervöse Wüstenrennmaus.

Der Mann stand drohend über mir, als wollte er gleich auf mir herumtrampeln. Er war die Sorte Mensch, die so etwas genoss. Wenn er keine genagelten Stiefel trug, dann lag das bestimmt nur daran, dass die sich beim Schuster befanden, um vorne mit neuen Spikes ausgerüstet zu werden.

Meine Arme flatterten, meine Hände krampften sich zusammen. Ich konnte nicht einmal mein Gesicht schützen.

Er sagte etwas, doch seine Worte hatten keinerlei Bedeutung. Sie hörten sich an wie das Sprühen und Knistern kurzgeschlossener Stromkabel.

Als er den Besen aufhob, erkannte ich an der Art und Weise, wie er ihn hielt, dass er vorhatte, mir den stumpfen Metallstiel wiederholt ins Gesicht zu rammen. Anschließend würde der Elefantenmensch, verglichen mit mir, aussehen wie das Titelmodell einer Lifestyle-Zeitschrift.

Er hob den verhexten Besen hoch über den Kopf, doch statt ihn mir ins Gesicht zu rammen, wandte er sich unvermittelt um und blickte in Richtung des Hauseingangs.

Offenbar hatte er etwas gehört, was ihn dazu brachte, seine Prioritäten zu ändern, denn er warf den Besen beiseite. Dann verschwand er in dem Raum, aus dem ich gekommen war, um das Haus zweifellos durch die Hintertür zu verlassen.

Ein anhaltendes Summen in den Ohren hinderte mich daran zu hören, was der Angreifer gehört hatte, doch wahrscheinlich war Chief Porter mit seinen Leuten eingetroffen. Ich hatte ihm zwar gesagt, Dr. Jessup liege tot in seinem Schlafzimmer, doch bestimmt ordnete er vorschriftsmäßig an, das ganze Haus zu durchsuchen.

Ich hatte großes Interesse daran, dabei nicht entdeckt zu werden.

Bei der Polizei von Pico Mundo weiß nur der Chief etwas von meinen Begabungen. Falls ich je wieder als Erster am Tatort eines Verbrechens auftauchen sollte, werden sich eine Menge seiner Mitarbeiter noch mehr Gedanken über mich machen, als sie es ohnehin schon tun.

Zwar würde höchstwahrscheinlich keiner von ihnen zu dem Schluss gelangen, dass sich manchmal ruhelose Tote an mich wenden, damit ich ihnen Gerechtigkeit verschaffe. Dennoch möchte ich kein Risiko eingehen.

Mein Leben ist bereits äußerst merkwürdig und so komplex, dass ich meine geistige Gesundheit nur durch einen strikt minimalistischen Lebensstil bewahren kann. Ich reise nicht. Ich gehe fast überallhin zu Fuß. Von Partys halte ich mich fern. Ich verfolge weder die Nachrichten noch folge ich irgendeiner Mode. An Politik habe ich kein Interesse. Ich schmiede keine Pläne für die Zukunft. Seit ich mit sechzehn zu Hause ausgezogen bin, habe ich nur einen einzigen Beruf ausgeübt: den eines Grillkochs. Vor Kurzem habe ich mich aber auch von dieser Tätigkeit beurlauben lassen, denn die Herausforderung, anständig lockere Pfannkuchen und knusprige Fritten zu produzieren, kam mir angesichts all meiner anderen Probleme zu heftig vor.

Wenn die Welt wüsste, was ich bin, was ich sehen und tun kann, dann würden morgen Tausende vor meiner Tür stehen. Die Trauernden. Die Reumütigen. Die Argwöhnischen. Die Hoffnungsvollen. Die Gläubigen. Die Skeptiker.

Sie würden von mir verlangen, als Medium zwischen ihnen und den Menschen zu dienen, die sie verloren haben. In jedem ungelösten Mordfall sollte ich den Detektiv spielen. Manche würden mich verehren wollen, und andere würden versuchen, mich als Schwindler zu entlarven.

Ich weiß nicht, wie ich die Trauernden und Hoffnungsvollen abweisen sollte. Wäre ich tatsächlich in der Lage, das zu lernen, so würde ich die Sorte Mensch, zu der ich dann geworden wäre, wahrscheinlich nicht besonders mögen.

Wenn ich allerdings niemanden abweisen könnte, dann würden mich alle mit ihrer Liebe und ihrem Hass zermürben. Sie würden mich zwischen den Mühlsteinen ihrer Bedürfnisse zermahlen, bis ich nur noch Staub wäre.

Da ich aus diesen Gründen Angst hatte, in Dr. Jessups Haus entdeckt zu werden, robbte ich zuckend und zappelnd über den Boden. Ich litt zwar nicht mehr unter schlimmen Schmerzen, hatte mich jedoch auch noch nicht völlig wieder unter Kontrolle.

Als ich die Tür zur Speisekammer erreicht hatte, kam ich mir vor wie ein Zwerg in der Küche eines Riesen. Der Knauf schien sich mindestens fünf Meter über mir zu befinden. Ich weiß nicht, wie ich es mit meinen gummiartigen Beinen und immer noch völlig verkrampften Armen schaffte, ihn zu erreichen, aber ich schaffte es.

Es gibt eine lange Liste von Dingen, die ich getan habe, ohne recht zu wissen, wie, doch ich habe sie getan. Letztendlich geht es immer um Beharrlichkeit.

Sobald ich in der Speisekammer war, zog ich hinter mir die Tür zu. Die enge Kammer stank nach beißend scharfen Chemikalien, die ich in meinem bisherigen Leben noch nicht gerochen hatte.

Besonders intensiv war der Geschmack verschmorten Aluminiums, bei dem mir speiübel wurde. Bisher hatte ich verschmortes Aluminium noch nie geschmeckt, weshalb ich nicht wusste, wie ich es erkannte, doch ich war sicher, dass es sich darum handelte.

In meinem Schädel zischte und spratzelte ein ganzes Frankenstein-Labor aus durch die Luft zuckenden elektrischen Strömen. Überlastete Widerstände summten.

Wahrscheinlich funktionierten mein Geschmacks- und mein Geruchssinn nicht mehr zuverlässig. Der Taser hatte sie vorübergehend durcheinandergebracht.

An meinem Kinn lief etwas Feuchtes hinab. Zuerst dachte ich an Blut, merkte nach einiger Überlegung jedoch, dass ich sabberte.

Wenn das Haus sorgfältig durchsucht wurde, dann würde man die Speisekammer wohl kaum übersehen. Ich hatte nur eine oder zwei Minuten gewonnen, um Chief Porter zu kontaktieren.

Noch nie war mir die Funktion einer einfachen Hosentasche zu kompliziert vorgekommen, um begreiflich zu sein. Eigentlich steckte man da nur Sachen hinein und nahm sie wieder heraus.

Momentan gelang es mir jedoch eine halbe Ewigkeit lang nicht, die Hand in meine Tasche zu stecken. Es kam mir vor, als hätte jemand das Ding zugenäht. Als ich es endlich geschafft hatte, bekam ich die Hand nicht mehr heraus, und als sich die Hand endlich wieder aus dem Klammergriff der Tasche befreit hatte, merkte ich, dass es mir nicht gelungen war, mein Telefon mit herauszuholen.

Im selben Augenblick, in dem die bizarren chemischen Gerüche sich in den vertrauten Duft von Kartoffeln und Zwiebeln auflösten, brachte ich das Handy wieder in meinen Besitz und klappte es auf. Noch immer sabbernd, aber mächtig stolz, drückte ich anhaltend auf die Taste Nummer drei, unter der die Mobilfunknummer des Chiefs gespeichert war.

Meine Sorge, er würde sich nicht um sein Telefon kümmern, falls er persönlich an der Durchsuchung teilnahm, erwies sich als unbegründet.

»Das bist wohl du«, sagte Wyatt Porter.

»Ja, Sir, das bin ich.«

»Du klingst komisch.«

»Ich fühle mich aber gar nicht komisch. Eher geschockt.«

»Wie bitte?«

»Geschockt. Bin von ’nem Taser getroffen worden.«

»Wo bist du?«

»Hab mich in der Speisekammer versteckt.«

»Nicht gut.«

»Besser, als alles erklären zu müssen.«

Der Chief beschützt mich. Er kümmert sich ebenso sehr wie ich darum, dass mir das Elend öffentlicher Bekanntheit erspart bleibt.

»Das sieht ja furchtbar aus hier«, sagte er.

»Ja, Sir.«

»Wirklich furchtbar. Dr. Jessup war so ein guter Mensch. Bleib, wo du bist!«

»Sir, womöglich ist Simon gerade dabei, Danny aus der Stadt zu schaffen.«

»Ich hab auf beiden Strecken Straßensperren errichten lassen. «

Es gibt nur zwei Wege, die aus Pico Mundo hinausführen – oder drei, wenn man den Tod mitzählt.

»Sir, was ist, wenn jemand die Speisekammertür aufmacht?«

»Versuch einfach, wie Dosenfutter auszusehen.«

Er legte auf, und ich schaltete mein Handy aus.

Eine Weile saß ich im Dunkeln und versuchte, nicht nachzudenken, doch so etwas klappt nie. Sofort kam mir Danny in den Sinn. Womöglich war er noch nicht tot, aber wo immer er sich befand, gut hatte er es dort nicht.

Wie seine Mutter lebte er mit einem Problem, durch das er äußerst gefährdet war. Danny hatte spröde Knochen, seine Mutter war sehr hübsch gewesen.

Wenn Carol hässlich oder auch nur unscheinbar gewesen wäre, dann hätte Simon Makepeace höchstwahrscheinlich nicht eine derartige Besessenheit entwickelt, was sie anging. Auf keinen Fall hätte er einen Menschen umgebracht beziehungsweise, Dr. Jessup eingerechnet, zwei.

Bisher war ich in der Speisekammer allein gewesen. Nun hatte ich mit einem Mal Gesellschaft, obwohl die Tür nicht aufgegangen war.

Eine Hand umklammerte von hinten meine Schulter, doch das erschreckte mich nicht. Ich wusste, dass es sich bei dem Besucher um Dr. Jessup handeln musste, tot und ruhelos.

5

Als Dr. Jessup noch gelebt hatte, war er für mich nicht gefährlich gewesen, und auch jetzt stellte er keine Bedrohung dar.

Gelegentlich ist ein Poltergeist – das ist ein Geist, der seine Wut in physikalische Energie umwandeln kann – in der Lage, Schaden anzurichten, aber normalerweise sind Geister nur frustriert, nicht boshaft. Sie haben das Gefühl, in dieser Welt noch nicht alles erledigt zu haben. Außerdem handelt es sich um Leute, die im Leben so hartnäckig waren, dass der Tod daran nicht viel geändert hat.

Die Geister wahrhaft böser Menschen halten sich hingegen keineswegs längere Zeit mehr auf, um ihr Unwesen zu treiben und Lebende zu ermorden. So etwas gibt es nur in Hollywood.

Normalerweise machen sich die Geister böser Menschen rasch davon, als hätten sie nach dem Tod einen Termin bei jemandem, den sie nicht warten zu lassen wagen.

Wahrscheinlich war Dr. Jessup so leicht durch die Speisekammertür geglitten, wie Regen durch Rauch gleitet. Selbst Wände stellten kein Hindernis mehr für ihn dar.

Als er die Hand von meiner Schulter nahm, vermutete ich schon, dass er sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden hocken würde, wie ich es tat. Und so kam es auch. Er saß mir im Dunkeln gegenüber, was ich wusste, als er mich bei den Händen fasste.

Wenn er schon sein Leben nicht zurückbekommen konnte, dann wollte er zumindest beruhigt werden. Er musste gar nicht sprechen, um mir mitzuteilen, was er nötig hatte.

»Ich werde für Danny mein Bestes tun«, sagte ich, zu leise, um außerhalb der Speisekammer gehört zu werden.

Als Garantie war diese Aussage nicht gedacht. So viel Vertrauen habe ich von niemandem verdient.

»Die nackte Wahrheit ist, dass mein Bestes womöglich nicht gut genug ist. Das war schon früher manchmal so.«

Der Griff um meine Hände wurde fester.

Ich schätzte Dr. Jessup so sehr, dass ich ihn darin bestärken wollte, diese Welt loszulassen und das Erbarmen anzunehmen, das der Tod ihm bot.

»Sir, jedermann weiß, dass Sie ein guter Ehemann waren. Aber vielleicht weiß man nicht voll und ganz, was für ein toller Vater Sie für Danny gewesen sind.«

Je länger ein befreiter Geist mit der Abreise zögert, desto eher bleibt er endgültig hier hängen.

»Es war schon eine große Leistung, einen Siebenjährigen mit einer so schweren Krankheit bei sich aufzunehmen. Aber Sie haben ihm dann auch noch immer das Gefühl gegeben, dass Sie stolz auf ihn waren, stolz auf seine Tapferkeit und darauf, dass er sein Leiden ertragen hat, ohne zu klagen.«

So, wie er gelebt hatte, brauchte Dr. Jessup keinerlei Angst davor haben, weiterzuziehen. Wenn er jedoch hierblieb – als stummer Beobachter, der nicht in der Lage war, das Geschehen zu beeinflussen –, dann war sein Elend vorprogrammiert.

»Er liebt Sie, Dr. Jessup. Er sieht Sie als seinen wahren, ja seinen einzigen Vater.«

Ich war dankbar für die völlige Dunkelheit und für Dr. Jessups gespenstisches Schweigen. Inzwischen sollte ich eigentlich einigermaßen gewappnet sein gegen das, was mir ständig begegnet: gegen den Kummer der Hinterbliebenen und den scharfen Schmerz jener, die verfrüht zu Tode gekommen sind und gehen mussten, ohne Lebewohl sagen zu können. Dennoch werde ich Jahr für Jahr empfindlicher, was diese beiden Dinge angeht.

»Sie wissen ja, wie Danny ist«, fuhr ich fort. »Ein zäher kleiner Bursche. Immer macht er Witze, aber ich weiß, was er wirklich fühlt. Und Sie wissen doch sicherlich auch, was Sie Carol bedeutet haben. Carol hat Sie unheimlich lieb gehabt, das hat man gesehen.«

Eine Zeit lang teilte ich sein Schweigen. Wenn man sie zu sehr drängt, dann verkrampfen sie sich oder geraten womöglich sogar in Panik.

In diesem Zustand aber können sie den Weg von hier nach dort nicht mehr sehen – die Brücke, das Tor oder was immer es ist.

Ich ließ Dr. Jessup Zeit, um aufzunehmen, was ich gesagt hatte. Dann fuhr ich fort: »Sie haben so viel von dem getan, was hier Ihre Aufgabe war, und Sie haben es gut getan, es richtig gemacht. Das aber ist alles, was wir erwarten können – die Chance, es richtig zu machen.«

Wieder folgte gemeinsames Schweigen, dann ließ er meine Hände los.

Gerade als ich die Berührung mit Dr. Jessup verlor, ging die Tür auf. Das Küchenlicht vertrieb die Dunkelheit, und Chief Wyatt Porter ragte über mir auf.

Er ist groß, hat runde Schultern und ein langes Gesicht. Leute, die nicht in der Lage sind, das wahre Wesen des Chiefs in dessen Augen zu lesen, denken eventuell, er sei ein durchweg melancholischer Typ.