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Das Leben ist nur eine Facette unserer Seele. Kendra hat angeblich alles, was man zum Glücklichsein braucht: einen wundervollen Ehemann, drei bezaubernde Töchter und ihren Wunschberuf. Dennoch fühlt sie eine ungreifbare Leere in sich. Lange kann sie den damit verbundenen Träumen ausweichen, doch als diese immer grausamer und realistischer werden, droht ihr die Wirklichkeit zu entgleiten und die Visionen werden sogar wichtiger als ihre Familie. Ganz bodenständig entscheidet sie sich dafür, einen Therapeuten aufzusuchen. Dessen unkonventionelle Methoden werfen sie allerdings gehörig aus der Bahn. Plötzlich ist sie sich selbst so nah und fern wie nie zuvor – Kendra befindet sich Jahrhunderte in der Vergangenheit und begegnet einem Krieger, dessen Blick ihr wahres Wesen zu erkennen scheint. Werden die ersehnten Antworten Kendra endlich Frieden schenken oder alles zerstören, was ihr lieb und teuer ist? Eine Geschichte, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lässt.
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Seitenzahl: 432
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GedankenReich Verlag
N. Reichow
Neumarkstraße 31
44359 Dortmund
www.gedankenreich-verlag.de
SEELENRUF - ZWISCHEN DEN ZEITEN
Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image
Lektorat: Valerie le Fiery, Frank Böhm, Enrico Frehse
Korrektorat: Frank-Jürgen Locklair
Satz & Layout: Phantasmal Image
Coverbilder: © shutterstock
Innengrafiken: © shutterstock
ISBN 978-3-98792-099-8
© GedankenReich Verlag, 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
”Row menn, pull, pull, pull”, zerschneidet eine eiskalte dumpfe Stimme die Dunkelheit der Nacht.
Der Inhaber der tiefen Stimme sitzt am Heck des Langschiffes und brüllt immer wieder den Befehl:”Pull –row menn - rudert ihr Kerle – zieht!”
Die eisige Luft gibt den Männern das Gefühl unmittelbar gefrierender Lungen. Gischt schäumt am Drachenkopf des Bootes hoch, durchnässt die umgehängten mantelähnlichen Decken, die Plaids, der Mannschaft. Ein wabernder Nebel steigt über dem Meer auf, als die Boote gen Südosten gleiten, die schützende Bucht von Inverbreakie verlassend. Sie ziehen vorbei an den steilen Klippen, hin zu den sanften Stränden der nördlichen Ostküste. Die Flussmündung des Nairn ist ihr Ziel.
Alle Männer ziehen die Ruder, jeweils mit zwei Händen gepackt, durch die dunklen Gewässer, als gäbe es keinen Widerstand. Langschwerter, Streitäxte und Morgensterne klirren leise in der Mitte der Schiffe vor sich hin, Malte hatte an diesem Morgen volle Bewaffnung aller Kämpfer angeordnet. An diesem Tage gilt es.
Das Schiff mit dem Namen Nott, gewidmet der Göttin der Nacht, ist dreißig Meter lang, fünf Meter breit und durchschneidet fast lautlos die See. Hinter ihm folgen zwei weitere voll besetzte Schiffe gleicher Bauart, die Skadi und die Nanna. Das ist ein Anblick, der einem das Blut in den Adern stocken lässt. Jedes dieser Schiffe ist mit fünfzig großen, breitschultrigen Männern, mit Zottelbärten und langen blonden Haaren, besetzt.
Immer wieder und wieder klingt das pull durch die Nacht. Malte, Sefjen der Nordmänner, Anführer und Befehlshaber, gibt den Takt vor.
Die Schiffe gleiten durch die dunkle aufgewühlte See, die Nebelwand verschluckt jedes Plätschern der Ruder. Kein Geräusch wird ihr Eintreffen ankündigen. Schon so lange unterdrückt er das Verlangen seiner Männer nach den hübschen Weibern der Küste Schottlands. Frauen sind rar in den Nordküstengebieten. An diesem Wintertag soll es soweit sein.
In Gedanken hat er bereits diese hübsche Kvinne vor Augen, blond und üppig. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie wird sein Haus in den Nordlanden zieren. Er wird sie heute als seine Bettgefährtin erobern, dessen ist er sich sicher. Zu oft musste er sich zurückziehen, zu oft verschwand sie in der Vergangenheit aus seinem Blickfeld.
Er wird die Kelten endgültig besiegen und die Chance haben, viele Gefährtinnen für die zahlreichen Nordmänner seiner Heimat mitzubringen. Zu oft schon verloren sie Männer und Waffen. Viel zu lange sind sie bereits unterwegs. Unzählige Sommer sind seit ihrer Abreise aus Haugesund vergangen. Die offene See hatten sie überquert, ihre Lager in der Bucht bei Inverbreakie aufgeschlagen, ein Dorf erobert und besetzt. Ihr Ziel jedoch, die Frauen der Küste zu besitzen, war bisher gescheitert.
An diesem besonderen Tag werden sie gewinnen. Es ist der einundzwanzigste Dezember, der Tag der Wintersonnenwende, der höchste keltische Feiertag. Sie tanzen, trinken, und vor allem werden sie unaufmerksam sein. Malte ist sich sicher, er reibt sich die Hände.
Eine tödliche Überraschung …
Die keltischen Krieger werden allesamt sterben, dafür würde seine Mannschaft sorgen. Die Kinder und Mütter jedoch, ganz sicher die Mädchen, werden ihre Beute sein …
Unwillkürlich leckt er sich die Lippen …
Durch die Nebelschwaden schimmern die Feuer der Küste schwach mit orangem Schein, es klingen Trommeln und beherztes Lachen an sein Ohr, der Duft von gebratenem Fleisch lässt Malte verheißungsvoll aufatmen.
Nicht mehr lange und seine gefährlich klingende Stimme wird unter Aufbietung aller Kräfte Angrep – Angriff befehlen.
„Nein, geh nicht!“, hallte es angstvoll kreischend durch das dunkle Schlafzimmer. Ein Zucken ging durch Kendras Muskeln, Furcht zeichnete ihr Gesicht, verkrampfte Hände hielten die Bettdecke. Die geschlossenen Augenlider flatterten fieberhaft – Träume …
•
Ich laufe über den eisigen, feuchten Strand, zwischen den Feuern hindurch. Feinde! Viele! Zu viele! Fast rieche ich den faulig fischigen Atem der grobschlächtigen Riesen. Berserker. Ein Wort wie ein Paukenschlag. Männer im Kampfesrausch, ohne Gefühl, ohne Schmerz.
Schweiß rinnt über meine Stirn, ein Schaudern erfasst mich. Schmerz, glühender, tiefer Schmerz fährt von hinten in meine linke Schulter, ich sehe Sterne, keuche auf, doch gehe nicht zu Boden. Bloße Reaktion. Mit einem groben Schwung meines Schwertes drehe ich mich um und steche, blind vor Angst und Verzweiflung, zu, drehe das Schwert und drücke nochmals nach.
Ein Röcheln und der zottelige Riese haucht vor meinen Augen sein Leben aus. Kurz streiche ich über meine Wunde, eine Stichverletzung, tief, nicht bedrohlich. Weiter, ich muss weiter, muss helfen, muss kämpfen.
Vor mir sehe ich Menschen, höre mich selbst brüllen.
„Nein, pass auf, oh Gott, stirb nicht, hinter dir.“ Ich spüre, wie meine Stimme bricht. „Pass auf! Hinter dir! Oh Gott, stirb nicht, hinter dir. Lass mich nicht allein!“
•
„Pass auf! Hinter dir! Oh Gott, stirb nicht, hinter Dir. Lass mich nichtallein!“ Erschrocken riss Kendra die Augen auf, als jemand sie sanft an der Schulter berührte. Wer brüllte hier so fürchterlich? Der Klang des Schreis hallte in der Stille der Nacht unendlich laut nach.
Es war passiert! Schon wieder! Wie jede Nacht.
Was war das wieder für ein Traum? Angst ließ den kompletten Körper erstarren. Kendra rieb sich über die Augen. Tränen liefen über ihre Wangen. Den kompletten Inhalt des Albtraums konnte sie nicht erinnern. Blaue Augen, Kampf, Blut, Angst, Leid ließen sie erbeben. Wer war das mit dem Schwert? Warum träumte sie so was Grausames?
Anton, seit einundzwanzig Jahren ihr Ehemann und die Liebe ihres Lebens, erhob sich langsam, um sie nicht noch weiter zu erschrecken, und versuchte, sie beschützend an seine Brust zu ziehen.
Leise, flüsternd, wie zu einem Kind, wandte er sich an seine Frau: „Hattest du erneut diesen Traum, Liebes? Hast du die Augen gesehen? War es wieder dieser Kampf?“
Kendra schluckte. Ein klägliches Wimmern verließ ihre Kehle. Er nickte, hatte verstanden.
In Gedanken blickte er zurück. Seit langer Zeit, viele Jahre schon, träumte seine Frau intensiver als viele andere Menschen, manchmal schmerzhaft und traurig, manchmal fröhlich. Sie weinte oder sang im Schlaf.
Erst in diesem Winter, Anfang Dezember, wurden die Träume realer, schmerzhafter und leidvoller als in den Jahren zuvor. Ja, sie träumte im Sommer für einige Wochen und im Winter noch heftiger, realer als in den Herbst- oder Frühlingsmonaten.
Wenn sich die Träume verstärkten, weinte Kendra auch am Tage viel mehr, wirkte verstört oder abwesend, schlug manchmal um sich, knurrte.
Sie berichtete in wachen Stunden von Augen, Tod, Leid, Verderben, schreckte aus dem Schlaf auf, starrte vor sich hin, war in Tränen aufgelöst oder zitterte.
„Komm her Schatz, ich halte dich.“
Sein tiefer Bass drang zu ihr durch, berührte sie, diesmal schien es schwieriger, die Stimme hatte nicht die übliche beruhigende Wirkung. Kendra schloss kurz die Augen, machte sich steif, drehte den Kopf von ihm weg und schüttelte ihn leicht. Ein zaghaftes Flüstern schloss sich an.
„Nein, nicht anfassen, du bist nicht richtig.“
Er ächzte, starrte sie an, ließ aber seine Hand auf die Bettdecke sinken. Nicht richtig? Was bedeutete das?
Warum wollte oder konnte sie Antons Nähe nicht zulassen? Immer die gleichen Fragen.
Immer wieder gab sie die gleichen Antworten: „Ich brauche Zeit, Anton. Ich liebe dich, wirklich. Aber versteh doch, die Bilder … Feuer, Blut, die blauen Augen.“ Sie sah ihn an, Unsicherheit in ihrem Blick.
Die wenigen Bilder, die sie bis in die Realität verfolgten, waren zu verstörend, konnten nicht in Worte gefasst werden.
Lange wurde sie in dieser Nacht von kleinen Schluchzern geschüttelt, Anton konnte nur stumm daneben sitzen. Irgendwann fand sie in den Schlaf zurück.
Gleichmütig überspielte sie nach dem Aufstehen ihre Unsicherheit, ihre Ängste. Wie konnte sie Anton von ihrem Traum erzählen, ohne ihn zu ängstigen oder noch mehr zu beunruhigen? Wie konnte sie ihm begreiflich machen, welcher Aufruhr in ihrem Herzen herrschte? Warum ertrug sie seine Berührungen nicht?
Die Augen, die sie in den Träumen sah, waren von so reinem, klarem Blau, von solcher Güte und Kraft, so voll Gefühl. Wie kann man einem geliebten Menschen Angst machen, in dem man ihm davon erzählt? Anton würde befürchten, sie zu verlieren. Das konnte sie nicht zulassen. Schauer jagten über ihren Rücken, ließen sie beinahe erstarren. Die Gedanken zogen, einem Wirbelsturm gleich, durch ihren Kopf. Gefühle brachen hervor, trieben ihr Tränen in die Augen. Alles durcheinander …
Sehnsucht! Liebe! Verlangen!
Sie wollte den Mann, dem diese Augen im Traum gehörten, in die Arme schließen, aber wie sollte sie das ihrem eigenen Schatz verständlich machen? Sie hatte Angst! Nicht Angst vor der Traumgestalt selbst, sondern die Angst vor seinem Tod.
Wann immer Anton fragte, seufzte sie, erzählte von den Augen, aber ließ bewusst ihre Gefühle im Dunkeln. Wie sollte sie es fertigbringen, ihrem geliebten Anton zu zeigen, welche Gefühle sie in den Träumen verspürte?
Ihr Ehemann war eine Seele von Mensch, liebte sie und die Kinder aufrichtig. Sofern sie ihm sagen würde, dass sie Verlangen nach einer Traumfigur hatte, würde es ihn zutiefst verletzen. Anton könnte niemals verstehen, dass die Träume nichts mit ihm zu tun hatten, dass ihre Gefühle sich ihm gegenüber niemals ändern würden. Ihr Mann war, neben den Kindern, der wichtigste Mensch in ihrem Leben.
Warum war er dann nicht richtig? Was bedeutete all das?
Kendra spürte eine tiefe Traurigkeit in sich. Sie wusste nicht, wer dieser Mann mit den blauen Augen war, ihr war nicht klar, ob sie ihn kannte, wusste genauso wenig, warum sie solche Sehnsucht nach ihm hatte.
Selbstvergessen kaute sie an ihrem Brötchen. Die Kinder waren ihre Herzensaufgabe, sie zu umsorgen, ihre größte Freude. So funktionierte sie tagein, tagaus, tadellos. Die Kinder bemerkten nichts von ihrem inneren Kampf. Genau so wollte es Kendra, einzig zum Schutz ihrer Lieben. Aber täglich wog ihre seelische Last schwerer.
Anton beobachtete seine Frau mit Argusaugen.
„Wie geht es dir? Mich wundert, dass du diesen Traum heute Nacht einfach so abtun kannst. Erzähle mir davon. Was geht in dir vor?“
Statt zu antworten, seufzte Kendra kellertief und schüttelte den Kopf.
Eine einsame Träne bahnte sich den Weg aus ihrem Augenwinkel.
So wankte sie durch den Morgen, unruhig, mit zittrigen Händen und verschleiertem Blick. Kaffee, sie brauchte Kaffee. Ohne Zweifel, die Träume veränderten sie mehr und mehr, nahmen ihr Gesundheit und Lebensmut. Sie spürte es tief in sich.
„Kaffee hilft“, flüsterte sie, was ein kleines Lächeln an Antons Mundwinkeln zupfen ließ, während er einen großen Pott des Heißgetränks in ihre Richtung schob.
Ihr Herz und ihr Verstand waren seit Wochen so wirr, in solch einem Chaos gefangen, dass sie mehrfach am Tag Pausen einlegen musste.
Die Augen, blau wie ein Sommerhimmel über den Highlands bei Aberlour, schoben sich inzwischen nicht nur in der Nacht in ihr Bewusstsein. Nein, sie verfolgten sie jetzt auch bei Tag, nahmen ihr die Ausgeglichenheit und manchmal mit einer Macht den Atem, dass es einer Panikattacke glich!
Kaffee!
Sie trank ein paar Schlückchen und ein erleichtertes Seufzen entkam ihr. Kaffee hilft immer, sendet Wärme in den Magen.
Pausen, Ruhe, Atemübungen, und ihr liebstes Lebenselixier. Sie versuchte alles, um die blauen Augen bewusst in den Hintergrund zu drängen. Lediglich mit Ablenkung ihrer Schüler gelang ihr eine kurze seelische Verschnaufpause. Sie liebte ihren Job unendlich.
•
Ein Scheppern, Blech auf Blech, hallte durch den Raum. Es begann fürchterlich nach faulen Eiern zu stinken. Ein schelmisches Grinsen zeigte sich auf Kendras Gesicht.
„Gelungen“, jubelte sie ihren Schülern zu und lachte herzhaft.
Grüngelbe Nebelschwaden ließen die Gesichter der Schüler die gleiche Farbe annehmen.
„Ekelhaft, riecht wie ein übler Pups – merkt euch bitte H2S oder auch Schwefelwasserstoff“, rief sie kichernd durch den Klassenraum.
Die Schüler husteten und würgten kurz, wischten sich Tränen aus den Augen. Kendra öffnete feixend und schwungvoll wedelnd das Fenster. Sie liebte ihren Job als Chemielehrerin und die Schüler „genossen“ ihre chemischen Explosionen, ihre Stinkbomben oder Feuerbälle. Es verging kein Unterrichtstag ohne Schaden, ohne Spannung, lauten Bums, Gestank oder Löcher im Kittel.
Blaue Augen hatten hier nichts verloren. Job war Job und Traum blieb Traum. Kendra war eine Meisterin in ihrem Fach.
Die nächsten Unterrichtsstunden vergingen wie im Fluge. Wenn sie nichts explodieren ließ, erläutere sie die Grundlagen anhand chemischer Formeln. Das Stöhnen der Schüler wusste sie schnell zu bannen, denn die einfache Aussage „Was vorne reinkommt, muss hinten wieder raus“ erleichterte alles und führte zu beherztem Kichern seitens der Schüler.
Diese verbanden das freilich mit anderen Dingen. Das Kichern kommentierte sie sehr gern mit: „Richtig, genauso ist das in der Chemie, Hamburger oben rein, chemisch umgewandelt kommen die gleichen Elemente unten wieder raus.“
Hinter vorgehaltener Hand musste Kendra selbst darüber grinsen.
Ihr Zweitfach war nicht weniger beliebt oder sollte man sagen unbeliebt? Gerade heute wieder.
Mit gespielt todernstem Blick betrat sie den Klassenraum. Den Schlüssel warf sie aus einiger Entfernung auf den Lehrertisch. Das weckte auch den letzten Schläfer in den hinteren Reihen.
„Die Erde meine Lieben, die Erde - unendliche Weiten.“
Sie wedelte mit den Armen, machte ein allumfassende Geste Richtung der Weltkarte, die an der Wand leicht hin und her schwankte.
„Wir befinden uns in einem wichtigen Unterricht. Dies sind die Abenteuer junger Schüler, die viele Kilometer von zu Hause entfernt unterwegs sind, um fremde Biotope zu entdecken, unbekannte Tiere und neue Völker. Sie dringen dabei in Länder vor, die sie nie zuvor gesehen haben.“
Die Klasse war auf ihrer Seite, alle Lacher waren ihr gewiss.
•
Nach der Arbeit verlor Kendra in den Zeiten der Träume jedoch schlagartig jegliche Kraft, hing auffällig oft ihren Gedanken nach, redete weniger.
Manchmal, tief in Gedanken versunken, war ihr Flüstern zu hören, das Anton Gänsehaut bescherte.
„Càit a bheil thu dìreach mo chridhe. Wo bist du bloß mein Herz?“
Tränen schimmerten auf ihren Wangen, ein Schluchzen entkam ihr. Offensichtlich erschrocken, schlug sie sich die Hand vor den Mund, erstarrte förmlich mit Blick auf ihren Mann und entschuldigte sich leise bei ihm.
„Ich möchte dich nicht verletzen, Schatz, ich liebe dich, das kann ich nicht oft genug sagen, aber …“, abermals erklang ihr Schluchzen, „… ich möchte nach Hause!“
Aus großen grünen Augen sah sie ihren Mann an, das rote Haar stand zerzaust in alle Richtungen ab.
Wo ist mein Zuhause?
„Ich möchte nach Hause!“
Anton war erschrocken.
„Was soll das, mein Herz? Du bist zu Hause, hier bei mir.“
Sachte schüttelte sie ihren Kopf.
„Es fühlt sich nicht so an, ist nicht richtig. Das ist nicht zu Hause, das ist fremd hier, bitte Anton, ich möchte heimfahren.“
Sprachlosigkeit breitete sich im Raum aus. Wie dunkler Nebel zogen Schatten über Antons Gesicht.
„Anton bring mich hier weg, bring mich nach Hause, ich habe Heimweh, es schmerzt in Kopf und Brust. Bitte! Mo chridhe, thoir dhachaigh mi. Mein Herz, bring mich heim.“
In ihren Augen schimmerten Tränen.
Anton schnappte nach Luft. Was sollte das? Was redete sie da? Er sah das Leid, erkannte das Heimweh und doch verstand er ihre Worte nicht. Kälte breitete sich in ihm aus, die Erkenntnis, Kendra schien nicht bei Trost, brauchte Hilfe.
Sie war doch zu Hause. Er hing seinen Gedanken nach, sah das gemeinsame wunderschöne neue Haus im Fachwerkstil vor sich, die Hügel der Westlausitz. Ein hübscher gewundener Bach auf der einen und ein großes Feld auf der anderen Seite begrenzten das Areal. Warum nur schrie ihr Herz nach einer offensichtlich anderen Heimat?
„Mein Herz, sieh doch nur!“
Er zeigte auf ein Bild auf der Kommode.
„Wir haben drei wunderschöne Töchter. Julia, Sarah und Anna. Schatz, sieh, du bist zu Hause.“
Wie aus einer anderen Welt zurückkehrend, begann Kendra zu nicken und lächelte. Wärme umgab sie nun, ein Strahlen lag in ihren Augen. Sie flüsterte zart, ihren Anton anlächelnd und ergriff dabei seine Hand.
„Sie sind so lieb, intelligent, bezaubernd und einfach genau richtig, unsere Mädchen.“
Ihr Mann bestätigte diese Worte leise.
„Ja, unsere Sonnenscheinchen.“
Sie schien wieder in Gedanken versunken, lächelte aber dabei und Anton erkannte an ihren Gesichtszügen, dass sie an ihre Töchter dachte.
Anna, das Nesthäkchen, acht Jahre jung, raubte ihnen manchmal jeden Nerv, besonders, wenn der Wirbelwind Chaos verbreitete. Dunkelblondes Haar und tiefblaue Augen, sie sah wie ein unschuldiger Engel aus.
Aber Anna war ein kleiner Kämpfer, ein Strolch, wie er im Buche stand. Und dennoch, um nichts in der Welt wollten sie das Kind missen.
Die beiden älteren Mädchen waren ebenso ihr ganzer Stolz. Julia, achtzehn Jahre alt, hatte sehr zu ihrer Freude schottisch rote Haare und dazu strahlend hellblaue Augen. Sie würde durchaus als Highlander erkannt werden. Sie fühlte eine große Liebe zur englischen Sprache, konnte einige Floskeln altes Schottisch. Immer wieder redete sie von einem Studium in Schottland.
Die goldene Mitte bildete Sarah, ein fünfzehnjähriger Teenager mit goldenen Haaren und wundervoll himmelblauen Augen.
Kendra sah Anton an und wisperte leise: „Sarah sieht aus wie die personifizierten schottischen Highlands, die Haare hell, blond, wie das Gras im Hochsommer, die Augen wie der Himmel über den Hügeln von Nairn.“
Sie sah in Antons erstaunte Augen.
„Wenn du meinst“, grummelte er verwirrt in tiefem Bass.
Aber auch seine Augen, ebenfalls blau wie die der Mädchen, nahmen dann einen verträumten Ausdruck an.
„Ich liebe unsere Mädchen ebenso sehr wie du, Schatz.“
Ihr Blick kam aus der Ferne zurück, wurde warm und liebevoll, als sie die Augen auf ihren Mann richtete. Anton, der Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, ihr Mann, war groß und von kräftiger Statur.
„Mein Kuschelbär“, gab sie ihm lächelnd zu verstehen und schmuste sich an seine breite Brust.
Seine Arme umfingen sie und hielten sie fest.
Sie sah auf und sagte mit mehr Kraft als vorher in ihrer Stimme: „Heimweh ist unlogisch Schatz, ich bin bei euch zu Hause.“
•
Der Ablauf der Träume war seit vielen Jahren der Gleiche. Die Träume kamen, blieben mehrere Wochen und gingen, als sei nie etwas gewesen. Doch dieses Jahr fühlte sich alles intensiver an, kraftvoller, bedrohlicher. Gefühle kamen dazu, Heimweh, Angst, Unwohlsein, Schmerzen und Liebe.
Wenn sie darüber nachdachte, schüttelte sie den Kopf, brummelte vor sich hin, zog die Stirn kraus.
„Kampf und Tod“, flüsterte sie eines Abends. Sie saß neben ihrem Mann auf der Bettkante und sah ihm tief in die Augen. „Blut und Leid!“
Sie würgte kurz, ein Schaudern durchfuhr sie.
„Anton, was geht hier vor? Waren es über Jahre nur Augen und ein komisches Gefühl hier in meiner Brust“, sie klopfte sich energisch auf die linke Seite ihres Dekolletés, „so schlägt es diesmal um in Hass, Krieg und Blut. Dieses Jahr ist es schlimmer als je zuvor. Ich brauche Hilfe. Sag mir, dass ich nicht verrückt werde.“
Sie richtete einen flehentlichen Blick auf ihren Mann, doch dieser sah sie nur an und seufzte.
„Schatz, dein Verlangen nach zu Hause wird immer unerträglicher, für dich und für mich. Es drückt dein Herz zusammen, lässt dich nach Luft schnappend im Bett sitzend zurück. Denkst du wirklich, ich bekomme das nicht mit? Ich komme nicht an dich heran, du stößt mich weg. Ja, es wird schlimmer und ich weiß mir keinen Rat mehr, kann nicht helfen. Geh zu Doktor Wiedmann, bitte geh zu ihm.“
Er drückte sie an seine Brust, mehr murmelnd als redend.
„Dieses Jahr häufen sich auch äußere Anzeichen, meine Sonne. Du hast rapide an Gewicht verloren. Du warst sonst immer etwas moppelig.“
Er hielt inne, musterte sie, küsste sie auf die Nasenspitze und wackelte schelmisch mit den Augenbrauen.
„Und du weißt, ich steh drauf. Aber schau dich an, Schatz, nun bist du fast hager. Außerdem kratzt du dich ständig trotz Unmengen von Creme.“
Ein Seufzen bedeutete ihm, dass sie zustimmte.
•
Mitte Januar - Kendra hatte sich grade entschlossen, Doktor Wiedmann aufzusuchen - da herrschte plötzlich Stille in ihr.
Die Träume waren weg.
Schluss, wie das abrupte Ende eines Kinofilms. Unbefriedigt, suchend und erst einmal sehr traurig, blieb Kendra zurück. Sie schlief durch, der Glanz ihrer Augen kehrte wieder.
Die blauen Augen geisterten zwar weiterhin schemenhaft durch ihre Tagträume und oft murmelte sie ein paar Worte, für Außenstehende ohne tieferen Sinn: „Mo chridhe, thig air ais - komm zurück mein Herz.“
Und doch schien alles wieder weitestgehend normal im Rahmen des für Kendra Üblichen.
Und dennoch – war alles anders …
Die Luft flirrte auch nach dem Ende der Träume im Januar, als läge ein eiskalter Hauch, ein Schleier über ihrem Leben. Keine Träume mehr, die sie quälten, aber tief in ihr schwelte das Gefühl des Vermissens. So zogen Monate ins Land. Das Gras, die Blumen, der Himmel, all die Frühlingsboten zeigten sich dieses Jahr nicht in gewohnter Farbintensität, blieben hinter einem Nebel aus Sehnsucht ein wenig farblos.
Kendra merkte in dieser Zeit, dass ihre Familie sie genau beobachtete. Sie bemühte sich, dem Schleier der Farblosigkeit zu entkommen. Die Kinder waren ihr dabei eine unschätzbar wertvolle Stütze, ohne dass diese es bewusst wahrnahmen. Immer, wenn Kendra spürte, dass ihre Anna besorgt dreinschaute oder ein Kind sie mit Argusaugen bewachte, nahm sie die Mädchen in den Arm.
Immer häufiger erzählte sie Geschichten von den schottischen Highlands, den saftig grünen Hügeln rund um ein wunderschönes Dorf namens Nairn am Strand im Nordosten Schottlands, erzählte von den Tieren, den Schafen, den großen Wolfshunden mit den braunen, treuen Augen und sie schwärmte von der sanften Sonne über grauen Bergen.
Schottland, warum grade dort?
Aber es war egal.
Die Kinder liebten diese Geschichten, folgten den Märchen mit einem Lächeln in den Augen, sahen sie doch, dass Kendra mit ganzem Herzen erzählte, ja nahezu in der Geschichte schwelgte.
Oft zogen sich alle fünf gegen Abend ins Ehebett zurück, nahmen Kekse und Kakao mit, und Kendra versuchte, ihren Schätzen die Ängste zu nehmen, kuschelte und erzählte hingebungsvoll. Selbst die sonst eher störrischen Teenager genossen diese gemeinsame Zeit mit Kendra und Anton.
Alle liebten diese meist Samstag- oder Sonntagabende, an denen der Fernseher ausblieb und Herzenswärme, Heimeligkeit und Liebe ins Schlafzimmer einzogen. Lichter brannten, es wurde gekrümelt, genascht und mit allen Sinnen genossen. Die schönste Zeit der Woche.
Die Mama träumte immer mal wieder komisch, das trat für die Kinder in diesen Momenten in den Hintergrund, erfand sie doch die schönsten Geschichten von Liebe und einem sagenumwobenen Land, von Meer und Sonne, konnte von Späßen und von erlebten und überstandenen Gefahren berichten.
Herzhaftes Lachen erreichte sie mit den Geschichten um die Schafe, die alle komische Namen hatten, regelmäßig ihren Weidezaun durchbrachen und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Sie berichtete den Kindern, wie sie barfuß und im Kleidchen als Kind hinterherrennen musste, um Teth cù, Würstchen, Fry, Braten und auch klein Lorg-shuaicheantais, kurz Lorg gerufen, wieder einzufangen.
„Mama, Lorg, was heißt das? Wenn die anderen Schafe Würstchen und Braten hießen, was ist dann klein Lorg?“
Kendra grinste, und antwortete kichernd: „Keule, mein Schatz, das kleinste Schaf hieß Keule.“
Alle prusteten gleichzeitig los, die Stimmung war wundervoll, gelöst und frei. Kendra fühlte sich zu Hause.
„Mama, die Hügel in den Bergen, die waren wirklich so grün, richtig? Und die Augen des Kriegers waren ganz blau, wie der Himmel, stimmt’s? Und kannst du dich an den Sonnenuntergang am Meer auch erinnern?“, fragte ihre kleine Anna.
Kendra lächelte, so sehr zogen also die Geschichten von ihren Helden die kleine Maus in ihren Bann.
„Ja, Schatz, blaue Augen, wie ein Sommerhimmel, und Haare, so glitzernd wie Gold.“
Die blauen Augen wurden in ihren Geschichten von ihren Töchtern also einem Krieger zugeordnet.
„Und Mama, der Mann mit dem goldenen Haar trug immer einen karierten Rock, oder? Hatten die Männer da keine Hosen?“ Kendra runzelte die Stirn. Woher wusste Anna das? Schulterzuckend tat sie es ab. Sie musste es wohl mal erwähnt haben.
Noch während sie erzählte und Anna sich fest an sie schmiegte, verwunderte es sie mehr und mehr, welch unglaubliche Verbindung sie zu ihren Geschichten spürte, welch tiefe Sehnsucht sich in ihren Worten spiegelte. Sie konnte immer gut Geschichten erzählen, aber in diesem Umfang und dazu mit dem tiefen Gefühl, als wären alle Erzählungen wahr?
Sie empfand nichts als unendliche Wärme und Nähe, ihre Kinder im Arm, ihren Mann am Bettende sitzend, der ebenfalls zufrieden lächelnd zuhörte, wenn sie diese längst vergangenen Zeiten heraufbeschwor. Er strahlte in diesen Momenten große Zuversicht aus und sie schenkte ihm hin und wieder einen verliebten Blick. Eifersucht suchte sie vergeblich in seinen Augen, sie fand nichts als Liebe.
Anton genoss die Zeit ebenso, erkannte er doch, Kendra war glücklich.
•
Wie ein unfassbar lauter Donnerschlag kamen die Träume wieder, ließen sie fast erstarren. Früher als die Jahre zuvor, schmerzhafter, blutiger. Kendra schreckte hoch, schrie, weinte und brüllte sonderbar anmutende Sätze.
„Mu dheireadh a thoirt seachad, gib endlich auf, du Schwein.“
Dabei schwang sie im Bett sitzend beide Arme, traf Anton am Kopf, der sich ob dieses Ausbruchs auf die Bettkante zurückzog. Was zu viel war, war zu viel.
Die Ängste, ernsthaft geistigen und körperlichen Schaden zu nehmen, trieben Kendra nun doch endgültig dazu, ihren Hausarzt, Doktor Matthias Wiedmann, aufzusuchen.
Sie bat ihn um Schlaf- oder Beruhigungsmittel.
Doktor Wiedmann war durchaus versiert, ein wunderbarer Mann und ein guter Arzt. Die volle Praxis sprach Bände. Immer ein freundliches Wort auf den Lippen, nahm er alle Menschen als das hin, was sie waren, wertvolle Geschöpfe, und ein jedes verdiente seine Aufmerksamkeit, seinen Respekt.
Er erkannte aufgrund seiner Feinfühligkeit hinter zur Schau gestellter Fröhlichkeit auch Depressionspatienten und Burnout, wenn Menschen mit diesen Schwierigkeiten in seine Praxis kamen. Er half, ohne zu urteilen.
Doch Depressionen und Burnout passten nicht wirklich zu Kendras Träumen. Er überlegte hin und her, stellte sogar einen sehr verstörenden Verdacht in den Raum, den es zu prüfen galt. PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung.
„Die Seele schützt den Menschen vor Verletzungen, vor bösen Erinnerungen. Die PTBS tritt meist binnen eines halben Jahres nach dem Ereignis, dem Auslöser auf. Und hier komme ich bereits ins Trudeln, Kendra. Ja, Sie haben Albträume, Sie haben vielleicht sogar sogenannte Flashbacks.“
Er stockte kurz, runzelte die Stirn.
„Sie haben die Schlafstörungen und die Ängste, die zur Symptomatik dazugehören.“
Er schnaufte kurz tief durch und sah sie aus dunkelblauen Augen an, als würde er ihr direkt in die Seele blicken.
„Aber …“, begann er einen weiteren Satz und räusperte sich zwischendrin, „… aber Sie haben die Träume schon jahrelang, sie sind nicht neu, nur intensiver geworden.“
Er atmete selbst tief ein.
„Es ergibt keinen Sinn, Kendra, Sie müssten sich an den Auslöser erinnern, aber Sie sagten, da ist nichts. Das passt nicht. Ich gestehe ehrlich, ich weiß nicht weiter. Kendra, bitte suchen Sie Doktor Paul Maynardt auf.“
Er reichte ihr eine Visitenkarte über den Tisch und sprach weiter.
„Ich kenne ihn nicht persönlich, habe aber nur Gutes gehört. Er ist ein Experte auf dem Gebiet der Psychotherapie. Nutzen Sie die Chance, ich werde einen Termin für Sie vereinbaren. Wenn jemand herausfinden kann, was hier mit Ihnen geschieht, dann sicher er, oder er kennt wieder jemanden. Bitte stellen Sie sich bei ihm vor.“
Kendra schauderte, blickte voll Entsetzen auf die Karte.
„Psychiater? Denken Sie, ich bin verrückt? Ich brauche psychotherapeutische Hilfe?“
Geknickt, mit hängendem Kopf murmelte sie: „Na gut, ich brauche definitiv Hilfe.“
Paul Maynardt, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, so sein voller Titel, war ein Herr Mitte vierzig mit braunen Haaren, leicht grauen Schläfen und wachen, braunen Augen. Er strahlte eine große innere Wärme aus, die Kendra ein angenehmes Krabbeln durch die Eingeweide schickte. Unwillkürlich schlich sich ein leichtes Lächeln auf ihr sonst blasses Gesicht.
Ungewöhnlich.
Mit stoischem Gesichtsausdruck hörte er sich Kendras Geschichte an, schrieb hin und wieder etwas in sein Notizbuch, wiegte den Kopf hin und her, murmelte kurz etwas, um schnell den Kopf wieder verneinend zu schütteln. Durch die Gläser seiner Harry-Potter-Brille hindurch sah er Kendra fragend an. Bei einigen Details ihrer Erzählung hakte er tiefer nach, zog eine Augenbraue hoch und versuchte, einen skeptischen Blick auszusetzen.
„Frau Meyer-Snelinski, bitte berichten Sie über die Geschehnisse an den Tagen der Träume. Was gab es Neues oder Aufregendes, womit könnten die Träume zusammenhängen?“
Er schmunzelte sie über den Brillenrand linsend an, was Kendra ein kurzes Auflachen entlockte.
„Wie gucken Sie denn?“, brach es plötzlich aus ihr heraus.
Schnell schlug sie sich die Hand vor den Mund. Was war nun los, sie war doch sonst nicht so vorlaut?
Aber sie mochte ihn auf Anhieb, er fühlte sich richtig an, warm, ungewohnt warm, wohl sogar. Verwunderlich - sie runzelte die Stirn.
„Dieser Mann fühlt sich nach zu Hause an“, murmelte sie leise, sodass der Mediziner ihre Worte nicht verstehen konnte und sie mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte.
Komisch, so schnell fasste sie nie Vertrauen, aber dieser Mann - sie kniff die Augen zusammen, grinste innerlich: Der hat was an sich.
So berichtete sie Stück für Stück, warum sie seine Praxis besucht hatte. Er sah sie an, die Augen warm und tief, braun mit goldenen Sprenkeln. Seit Kendra von den blauen Augen träumte, achtete sie verstärkt darauf, Wärme und Seele in ihrem Gegenüber zu erkennen. Nichts verunsicherte sie mehr als kalte, scheinbar tote Augen ohne Liebe und Mitgefühl.
Kurz faselte der Arzt etwas von Feng-Shui und Wasseradern, was Kendra nicht ganz verstand. Bevor sie jedoch nachfragen konnte, schüttelte Doktor Maynardt überzeugt den Kopf und grummelte: „Das verschreckt Sie bloß, wie komm ich auf so einen esoterischen Quatsch?“
An sie gewandt, bat er: „Kendra, bitte berichten Sie, wie sind Ihre Abendrituale, wo und wie schlafen Sie, was essen Sie abends? All das könnte mit Ihren Träumen zusammenhängen. Viele Beschwerden sind einfach umweltbedingt und eins kommt zum anderen.“
Stirnrunzelnd blickte er sie an. Dieser Blick löste etwas in ihr aus, eine Gänsehaut, aber irrwitziger Weise dazu eine ausgesprochen angenehme Gänsehaut. Kendra fühlte sich wohl in der Praxis des Arztes, jedoch beschlich sie mit der zunehmenden Zahl seiner Fragen gründlich das Gefühl, dass auch der Psychotherapeut im Trüben fischte.
„Kendra, ich möchte gerne noch verschiedene Untersuchungen einleiten, einfach um körperliche Probleme als Auslöser Ihres Unwohlseins gänzlich auszuschließen, einverstanden?“
Wie selbstverständlich war er zu ihrem Vornamen gewechselt, was Kendra schmunzelnd zur Kenntnis nahm. Meyer-Snelinski war auch weder sehr einprägsam noch irgendwie schön, geschweige denn einfach. Es klang nach einem sturen Finanzbeamten und als dermaßen steif und bürokratisch wollte sie keinesfalls gelten.
„Rutschen Sie mal näher ran Kendra, Kinn hier drauf.“
Er zeigte auf eine Ablage an dem Gerät, das auch Optiker nutzen, um die Sehschärfe zu prüfen.
„Ich schaue mir jetzt mal beidseitig Ihre Iris an.“
Komisch schnaufend, zog er die Stirn kraus. Kendra hob die Augenbrauen und sah fragend zu ihm.
„Kendra, ich sehe auffällige Flecken im linken Auge bei drei Uhr, dieses könnte ein Hinweis auf eine Herzproblematik sein. Gibt es in Ihrer Familie Herzinfarkte oder andere Herzkrankheiten?“
Kendra überlegte. Hatte sie ein Herzproblem und führte vielleicht eine Schlafapnoe zu diesen Träumen? Das musste abgeklärt werden.
„Kendra“, sagte in diesem Moment Doktor Maynardt, „ich überweise Sie zum Herzecho und in ein Schlaflabor, bitte lassen Sie das checken. Das Ergebnis besprechen wir in zwei Wochen. Allerdings frage ich mich …“, er sah auf und Kendra skeptisch direkt in ihre grünen Augen, seine Hände begannen dabei den imaginären Bart zu flauschen, „… eine Herzproblematik, drei Uhr, Herzchakra, Seelensitz.“
Seine Ausführungen wurden leiser und leiser. Schließlich winkte er ab und machte einen erneuten Termin mit Kendra aus, um die Ergebnisse der schulmedizinischen Untersuchungen zu besprechen.
Kendra verließ die Praxis unruhiger, als sie sie betreten hatte. Mehrfach drehte sie sich zum Haus der Praxis um, studierte den weißen Giebel der Gründerzeitvilla, runzelte die Stirn und murmelte: „Chakra, was ist das, was meinte er und … warum fühlt sich dieser fremde Mensch nur einfach richtig an? Komisch.“
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Wenige Tage später - Kendra hatte alle Fachärzte besucht, die der Arzt vorgeschlagen hatte, und ihrer inneren Unruhe geschuldet noch einige mehr - traf sie sich erneut mit Doktor Maynardt.
Dieser konnte es kaum glauben. Alles ohne Befund. Vor ihm saß eine ausgesprochen gesunde, junge Frau Anfang vierzig ohne jegliche medizinische Problematik mit dem Herzen. Lediglich extrem erhöhte Hirnströme und Hirntätigkeiten wurden im Schlaflabor gemessen. Ein Anstieg von Herzschlag und Blutdruck wurden gegen zwei Uhr morgens verzeichnet, senkten sich jedoch mit der nächsten Tiefschlafphase gegen vier Uhr früh auf ein gesundes Niveau ab, also eine normale Traumphase.
Eigentlich normal, und doch war die Länge von durchgängig fast zwei Stunden sehr verwunderlich. Medizinisch erklärbar wären vier bis sechs Traumphasen in acht Stunden Schlaf, mit einer Einzellänge zwischen fünf und ungefähr dreißig Minuten, so teilte der Psychotherapeut mit.
„Oh das klang sehr medizinisch“, murmelte Kendra vor sich hin.
Verwunderung machte sich auf beiden Seiten breit! Doktor Maynardt schien ratlos und auch Kendra wusste nichts weiter zu sagen, was Licht in Ihre Träume bringen würde.
„Kendra, ich bitte Sie, schreiben Sie ihre Träume auf, Ihre Empfindungen, Ihre Gedanken - auch am Tage, ich verstehe die Problematik, sehe aber bisher keine Ursache für Ihre Träume. Es musste doch herauszufinden sein …“, grummelte er leise und Kendra meinte sogar, einen unflätigen Spruch gehört zu haben, „… es muss doch zu erkennen sein, welche Besonderheit die Träume haben – bitte führen Sie ein Traumtagebuch.“
Mehr zu sich selbst murmelte er: „Ich werde recherchieren, die Iris lügt nie, drei Uhr Herzprobleme, vielleicht doch Herzchakra, ich habe da so eine Vermutung, die ich aber zuerst selbst nachlesen möchte.“
Der Doktor sah skeptisch in Kendras Augen, als versuche er, dahinter zu kommen, ob man ihn hier foppte. Dann nickte er ihr bestätigend zu, sein langer Atemzug ließ sie aufhorchen.
„Kendra, bitten Sie auch Ihren Mann, so unangenehm das für Sie auch sein mag, Veränderungen an Ihnen und Ihrem Verhalten zu notieren, die er merkwürdig findet, die Ihnen jedoch vielleicht gar nicht auffallen. Wir sehen uns dann in drei Wochen wieder und besprechen das. Sollte zwischendrin etwas ganz Merkwürdiges passieren, bitte scheuen Sie nicht davor zurück, mich anzurufen.“
„Okay“, bestätigte Kendra nickend und war sogar ein wenig dankbar, endlich diese Lethargie loszuwerden, mithelfen zu können, Licht in das Dunkel zu bringen.
Endlich, endlich konnte sie - ja, was eigentlich? Entschlossen verließ sie die Praxis des Therapeuten. Vor der Tür drehte sie sich nochmals um, sah wieder an der weißen Fassade der Innenstadtvilla empor und grinste.
„Herzchakra, das habe ich gehört Herr Doktor, das habe ich gehört.“ Sie gluckste zufrieden. „Ich werde der Sache nun endlich auf den Grund gehen, es reicht Blauauge, es reicht, ich kriege raus, wer du bist.“
So beschwingt hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt und gönnte sich sogar auf dem Heimweg ein Eis.
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Sie notierte die nächsten Tage akribisch, was sie erlebte. Zudem legte sie besonderes Augenmerk auf Kälte oder Wärme, Luftzüge auf Ihrer Haut, die sie empfand, auf ihre Gefühle beim Aufwachen, Worte, denen sie Wichtigkeit beimaß. Von Neugier und einer unterschwelligen Angst, doch nicht geistig vollkommen gesund zu sein, machte sie sich fleißig Notizen und schrieb jeden Traum auf.
Merkwürdig. Was bezweckt der Doktor damit?
Sie tat es dennoch.
Da sie beim Aufwachen meist durcheinander war, die Gedanken oft weite Kreise zogen oder sie gar weinte, bat sie ihren Mann um Hilfe. Sie wollte nicht, dass sich Anton zurückzog oder die Schuld bei sich suchte. Sie konnte es nicht allein schaffen, dessen war sie sich sehr bewusst. Bei einem Glas Rotwein saßen sie beide zusammen.
„Schatz, du weißt ich träume, oft und schwer. Die Träume verändern sich, sind nicht mehr liebevoll, sondern leidvoll, Blut und Krieg spielen eine immer größere Rolle. Es verstört mich, du merkst es. Bitte hilf mir.“
Er brummte lediglich ein tiefes „Na endlich“ und zog seine Frau an seine Brust, dankbar, helfen zu dürfen.
Anton übernahm seine Aufgabe sehr ernsthaft und notierte neben dem, was seine Frau zu berichten bereit war, noch allerlei beiläufige Informationen, die ihm wichtig erschienen. Eigenarten, die seine Frau in dieser Zeit an den Tag legte, beunruhigten ihn. Er beschrieb das Berühren ihrer linken Schulter mit schmerzverzerrtem Gesicht beim Aufwachen. Seine Gedanken schweiften ab. Sie benahm sich in diesen Momenten ständig, als hätte sie eine Verletzung an der Schulter.
Kurz schüttelte er sich bei dem Gedanken und schnaubte laut. Komische Gedanken.
„Ich sollte weniger fernsehen“, grummelte er leise.
Manchmal gingen die Ereignisse, die Murmeleien Kendras so schnell und so laut vonstatten, dass eine Diktierapp sinnvoll erschien und heruntergeladen wurde.
„Ein Hoch auf die neueste Technik, ich kann ja kein Steno, so geschossen, wie die Infos hier kommen“, moserte Anton.
Auch die Tatsache, dass sie jetzt, wo der Sommerbeginn unmittelbar bevorstand, oft in den Garten ging und dass ein oder andere Kräutlein herauszupfte, es glattstrich und einen Namen vor sich hinmurmelte: „ plantago, roris marini“
„Ob das Latein ist?“
Diese Frage flüsterte Anton sofort, als er den Namen eines Kräutleins vernahm.
Manches Gestrüpp warf sie einfach wieder weg, das war ebenfalls neu. Er verstand einzelne Worte, wie: „Giftig, unbrauchbar, widerlich, bitter, zu hart, matschig“.
Er notierte es, diktierte und speicherte. Manche Gesprächsdateien leitete er gleich per WhatsApp ungefiltert an den Arzt weiter. Kendra hatte ihm die Nummer gegeben.
Zeitgleich recherchierte Kendra im Internet, schlug einzelne Kräuter nach, lernte ihre Bedeutung auswendig, nachdem sie ein, ihr eigentlich unbekanntes, Pflänzchen herausgezupft hatte. Es musste von Bedeutung sein.
Auch googelte sie das Wort Herzchakra und ihre Augen weiteten sich, wurden kugelrund. Sie las Anton laut vor.
„Experten vermuten den Sitz der Seele im Knotenpunkt des Nervensystems im Gehirn, doch eigentlich ist das Herz das Organ, welches am stärksten auf Emotionen reagiert.“
Sie murmelte laut weiter vor sich hin, während sie las.
„Drei Uhr, Herzprobleme, Herzchakra, Sitz der Seele im Herzchakra, nicht im Kronenchakra, im Gehirn und auch nicht in Höhe der Augen, dem sogenannten Dritten Auge, dem Gesichtschakra. Himmel, jetzt bin ich verwirrt“, sie kniff sich mit den Fingern in die Nasenwurzel.
Ein Wort brannte sich mit Macht in ihr Denken.
„Seele!“
Sie drehte das Wort mehrfach in ihrem Mund, als würde sie den Geschmack erkunden, würde die Essenz des Wortes, vielleicht die Seele selbst schmecken.
Nach und nach füllte sich Tag um Tag im Kalender. Oftmals stand als Kommentar in der Spalte nur „müde, viel gearbeitet, ruhige Nacht“, manchmal tat sich gar nichts. Das Wort „Seele“ jedoch kreiselte in Kendras Gedanken, sie fand keine Ruhe.
•
Die Maiglöckchen blühten und bald flogen die Mai-, kurz darauf die Junikäfer und brummten wie alte Hubschrauber. Die Kinder kreischten und liefen weg.
Die Erinnerungen - plötzlich und heftig. Kendra keuchte auf, setzte sich ins Gras und drückte eine Hand gegen ihr Herz.
Die Käfer.
Einer landete auf ihrem Arm und krabbelte hinauf.
„Beetle beag“, flüsterte sie und besah sich die dunkelbraunen Flügel, bevor sie ihn mit einem Fingerstups zum Wegfliegen animierte.
„Beetle beag“, wiederholte sie grinsend und etwas lauter, bestimmter.
Kendra huschte durch den Garten und zupfte gerade auf dem Boden herum, murmelte was von Spitzwegerich, Husten, Erkältung und schnaubte laut. Sie richtete sich kurz auf, streckte den Rücken durch, der knackte, wie ein altes Holzgerüst.
„Ich brauch Arnika, Mensch die alten Knochen“, murmelte sie leise.
Alle Knochen zurechtgerückt, bückte sie sich erneut, grummelte genervt auf, strich sich gestenreich wirres Haar aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf, so, als würde sie eine Strähne der langen Mähne stören.
Anton merkte auf, runzelte die Stirn. Ein erschrecktes „Pfff“ entkam ihm.
Das war neu, das war sogar verstörend, Kendra hatte kurzes, feuerrotes Haar, das sie penibel alle vier Wochen schneiden und alle acht Wochen nachfärben ließ.
Anton nahm es wortlos hin, beschloss aber, es genau zu notieren, gerade weil Kendra es nicht bemerkte. Sie summte mittlerweile schon wieder vor sich hin und steckte ein wenig Petersilie in den Mund.
Ein Fest, ein großartiges Fest. Alles verfiel in Aufregung. Essen mit Freunden, grillen und feiern, trinken und tanzen. Das war es, was diesen Tag so besonders machte. Dieses Jahr wurde ein rauschendes Fest mit einem abendlichen Feuer, viel Wein und Gesang geplant.
„Schatz, haben wir genug Bier und Wein? Was ist mit den Steaks und den Würstchen? Und ...“ Kendra räusperte sich und grinste: “was ist mit den Pflanzenessern? Haben wir die veganen Grillpatties, Champies und die Sojaknobicreme, die ich aufgeschrieben hatte auch? Hier muss keiner hungern.“
Seit einigen Tagen fragte Kendra ihren Mann immer wieder nach Besorgungen und Kleinigkeiten. Alles sollte perfekt sein. Niemand sollte sich unerwünscht oder unwohl fühlen. Sie probierte Rezepte aus, dachte an jede Ernährungsform ihrer Freunde, denn es war ihr unendlich wichtig, dass alle Spaß haben würden. Sie plapperte mehr als sonst und Anton genoss es, seine sonst so still gewordene Frau derart aufgeregt und glücklich zu sehen.
Kendra liebte dieses Fest, immer. Ihm war die Sommersonnenwende kein Begriff, bis er sie traf. Sie freute sich wochenlang darauf.
An diesem Abend tanzte sie wie ein Derwisch um das Feuer. Ihre Augen leuchteten, schienen fast Funken zu sprühen. Ihre Aura schien zu glühen, so voller Lebensfreude. Ihre Freunde sahen ihr staunend zu, so gelöst und frei hatten sie Kendra lange nicht erlebt. Es wurde viel getrunken und auch Kendra sprach dem Wein kräftig zu. Sonst eher zurückhaltend, fiel es Anton bewusster auf denn je. Er ließ Kendra feiern und hoffte, dass sie sehr wohl ihre Grenzen kannte und sich nicht gänzlicher Volltrunkenheit hingeben würde. Er schmunzelte und genoss den Abend. So liebte er seine Frau, so hatte er sie kennen gelernt. Ein hinreißender Springinsfeld, ein Floh.
Mit dem Fortschreiten der Zeit hin zur Mitternacht, ging Kendras Blick zuerst in größeren dann immer kürzeren Abständen gen Himmel. Ihr Tanz wurde ruhiger, ihr Lachen sanfter.
Der Blick wurde flackernd, wanderte hin zu Mond und Sternen, dann wieder zum Feuer, als erwarte sie etwas. Anspannung trat in Ihre Muskeln. Anton, der seine Frau die ganze Zeit mehr oder minder auffällig beobachtet hatte, bemerkte die nach oben gezogenen Mundwinkel, eine Leichtigkeit in ihren Gesichtszügen, das sanfte Streichen über nicht vorhandenes langes Haar. Sie lächelte tief empfunden, glücklich.
Ihre gerade, selbstbewusste Haltung wunderte ihn und er notierte es kurz mit Datum und Uhrzeit in sein Traumtagebuch. Hin und wieder entkam ihr ein Seufzen und sie sah zu ihrem Mann. Das Lächeln vertiefte sich., ihre grünen Augen strahlten voller Liebe.
Ein leises Flüstern: „Schatz, wir haben Irn-Bru vergessen.“
Stirnrunzelnd widmete er sich wieder seiner Aufgabe, dem Grill.
Das sonderbare Wort drehte seine Runden in seinem Kopf: „Irn-Bru, was soll das denn sein, irgendeine dubiose Kräuterbrause oder was?“ Er grinste. „Neee, das wäre zu einfach.“
In Kendras Gedanken flackerten kurz die Worte „nach Hause“ auf. Doch so schnell, wie sie daran dachte, so schnell waren ihre Gedanken wieder auf das Feuer gerichtet. Sie war zu Hause, mit ihrer Familie und ihren Freunden, sie war glücklich. Sie tanzte und tief in ihrem Inneren schien sie die stetig dumpfen Schläge von großen Basstrommeln zu hören.
Boom, boom, boom!
Tief in der Nacht, die letzten Gäste hatten sich schon lange zur Ruhe begeben, gellte ein fürchterlicher Schrei durchs Haus. Leid, unendliches Herzeleid.
Kendra schrie, als gäbe es kein Morgen.
•
Ich kämpfe mich auf die Füße, ein Kribbeln rast mir durch die Adern, eiskalt. Ich laufe weiter, sehe ihn mit dem Nordmann fechten. Plötzlich ein weiterer Feind, der von hinten mit einem Speer in der Hand auf ihn zu rennt.
Atemlos, bewegungslos, nahezu erstarrt, stehe ich einfach da und höre mich selbst wie in weiter Ferne schreien - Verzweiflung, Hass, Wut, Trauer, ein Kreischen, dass nicht menschlicher Natur scheint. Sein Blick geht in meine Richtung, pures Entsetzen.
Er dreht sich um und …
Der Speer donnert in seine linke Körperseite. Splittern von Holz, lauter als die Brandung, ein Keuchen, er fällt nach vorn.
Die Lippen zu einem weiteren, diesmal stummen Schrei geöffnet, spüre ich kalten nassen Sand unter meinen Knien, die Hände greifen ins Leere. Ich will nicht sehen, was ich schon so oft mit anschauen musste, atemlos, leblos. Der Speer in seiner Brust, die Augen leer, verdreht, seelenlos. Seine blutigen Haare kleben am Hals, die Zöpfe gelöst, überall Wunden am zerschundenen Körper.
•
Sie verfiel in unverständliches Murmeln: “Na bàsaich – bitte, bitte nicht, stirb nicht. Du musst leben. An sleagh – der Speer, bitte nicht. Bring doch jemand Silberweide …“
Anton, der noch die Glut des Lagerfeuers bewacht hatte, ließ alles fallen und rannte ins Schlafzimmer. Seine Frau stand vor dem Bett, das Gesicht wachsbleich, die Hände zitternd, die Augen schreckgeweitet und voller Tränen, und doch schien ihr Geist unendlich weit weg.
„Schatz, was ist bloß in dich gefahren? Was ist mit Silberweide und wer zum Henker ist Na bàsaich? Schatz, wach auf!“
Er rüttelte kräftig an ihren Oberarmen, doch sie reagierte weder auf Berührungen noch auf Ansprache.
„Verdammt Liebes, was ist los? Kann ich helfen?“
Er spürte selbst, wie sich seine Stimme immer mehr hob, immer lauter wurde. Kälte kroch in seinen Nacken. Ein Blick in ihre Augen genügte.
Leblos.
Er wusste sofort, sie war nicht wirklich mit ihm hier im Raum, ihre Seele und die Wärme seiner Frau schienen unendlich weit weg, wie nicht in dieser Zeit. Was vor ihm stand, war nur ein Abbild, eine seelenlose Hülle.
Es vergingen vermutlich nur Sekunden oder doch Stunden?
Ohne jedwede Vorwarnung ließ die Körperspannung nach und Kendra fiel bewusstlos auf den Boden vor dem Bett.
Anton brach kalter Schweiß aus. Er war schon im Begriff, den Notarzt zu rufen, da schlug Kendra die Augen wieder auf.
Sie sah ihren Mann mit leeren Augen an, zitterte und schien doch tatsächlich in diese Welt zurück zu driften. Anton nahm sie in den Arm, drückte sie zuerst fest an sich, anschließend aufs Bett und sah ihr in die immer noch schreckgeöffneten Augen, die jedoch deutlich mehr Leben zeigten, als noch vor wenigen Sekunden.
Grausen packte ihn.
Kendra würgte, rollte sich seitwärts und übergab sich auf den Läufer vor dem Bett, schien davon jedoch keine Notiz zu nehmen. Anton beobachtete sie genau und bedachte sie mit ständiger leiser Zusprache. Er reinigte schnell das Zimmer, lüftete.
Sie schüttelte mehrfach den Kopf und knetete ihre Finger. Sanft, leise wie ein Windhauch in den Weiden, wisperte sie plötzlich völlig unverständliche Worte, die sich nach und nach zu wiederholen schienen. Dann schwollen die Worte an, nahmen an Macht zu. Kamen, einem Orkan gleich, hervorgeschossen. Anton hörte zu, ohne zu verstehen und entschied sich dann für die Diktierapp statt Zettelblock, um die phonetisch fremd klingenden Worte aufzunehmen. Schreiben konnte er das nicht.
mo chridhe, gràdh, ionnsaigh, dachaigh, fuar, sùilean gorma, cogadh, fala, ghaisgeach.
Das letzte Wort wiederholte sie vielfach, sagte immer wieder die Worte ghaisgeach mo chridhe, gràdh mo bheatha, gràdh mo bheatha, ghaisgeach m'anam.
Die Reihenfolge und die Lautstärke variierten stark und dennoch blieben der Grundtenor und die Phonetik der Worte immer gleich. Anton verstand sie nicht, jedoch der Schmerz, die Trauer, das Leid in den Worten blieben ihm nicht verborgen. Er hielt Kendra ganz fest im Arm.
„Liebling, beruhige dich, ich halte dich, bin da, es ist nur ein Traum, komm zurück!“
Es tauchten zusätzliche Worte auf, die völlig aus dem Zusammenhang in Deutsch gesagt wurden und nicht weniger bedeutsam schienen: „Weidenrinde, Schachtelhalm.“
Kendra begann fordernder zu sprechen: „So bring doch Wundklee und Hirtentäschel.“
Pflanzennamen, die Anton noch nie gehört hatte und er fragte sich in diesem Moment, woher Kendra diese kannte. Was war hier los? Anton unterbrach seine Frau nicht.
Fast begann sie wieder zu schreien, verlangte nochmals nach Silberweidenrinde, nur um gleich darauf wimmernd an Antons Schulter zusammenzusacken. Die ganze Kraft verschwand aus ihrem Körper, ein tiefes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
Leise murmelte sie, ihn anblickend mit verschleiertem Blick: „TOT, er ist tot.“
Anton wich alle Farbe aus dem Gesicht.
„Wer ist tot, Liebes? Rede mit mir.“ Er zog sich und seiner Frau eine Bettdecke über die Schulter und notierte weiter.
„Feuer, Tod, Schiffe, Pfeile, Krieger, Kämpfer, so viel Blut.“
Kendra sank zur Seite, sie weinte. Tränen – sturzbachgleich. Sie sah ihren Mann mit großen Augen an. Ihre Lippen formten immer weiter dieselben Worte.
„Aric ist tot, sie haben Aric getötet, die Nordmänner!“
Anton strich ihr übers Haar, um sie zu beruhigen und murmelte immer wieder: „Wir kennen doch keinen Aric Schatz, wir kennen keinen Aric.“
Seine Frau sah ihn an.
Wie kann er es nur nicht verstehen?
Aric war tot, das war furchtbar. Warum war er so herzlos? Er sagte nur: „Wir kennen keinen Aric.“
Resignation. Sie verstand nicht. Er verstand nicht. Müde, Dunkelheit, Ruhe. Gnädiger Schlaf umfing sie.
Angst überkam Anton, ein Prickeln stellte die kleinen Härchen auf seinen Armen auf, die große Kälte wollte nicht weichen, eine unterschwellige Trauer um Aric erfasste sein Herz, so unlogisch und doch so präsent. Ein Aric war ihm völlig unbekannt und doch spürte sein Herz eine Verbindung, die er nicht benennen konnte. Er sog tief den Atem ein, seufzte. Er hatte die Resignation in Kendras Blick gesehen.
Es war Zeit, zu Doktor Maynardt zurückzukehren. Das, was hier geschah, war eine Nummer zu groß für beide.
Als der Morgen anbrach, Kendra sah ihren Mann bereits mit großen Augen an, wirkte sie mitgenommen und müde, schien sich aber nicht wirklich an die Ereignisse der Nacht zu erinnern oder erinnern zu wollen?
Als er mit „Schatz, wenn du …“, begann, antwortete sie lediglich: „Bitte nicht, lass mich, bitte nicht.“
Tränen rannen ihr erneut über das Gesicht.
Hoffentlich maß keiner der Gäste dem Schrei so viel Bedeutung zu, wie er wirklich hatte. Gott sei Dank fragten auch nur wenige. Er erklärte, dass Kendra sich den Zeh auf dem Weg zum Bad böse an der Kommode gestoßen hätte. Kendras leise gemurmeltes „Danke“ erfüllte ihn mit tieferem Unwohlsein, denn es zeigte sich auf diese Weise, wie tief sie die Ereignisse der Nacht getroffen hatten.
Kendra, die natürlich die Geschehnisse, den Albtraum dieser Stunden nicht vergessen hatte, sondern nur zu überspielen suchte, weil ihr das Geschehen, die Ohnmacht und das Übergeben furchtbar peinlich waren, schrieb ihre Empfindungen in ihr Tagebuch. Sie sprach jedoch mit Anton nicht darüber. Dazu war sie einfach nicht der Lage. Zu tief saß die Trauer um Aric. Zu tief traf sie in der Nacht die Reaktion ihres Mannes, keinen Aric zu kennen.
Ihr Mann verstand nicht, dennoch ließ sie sich in eine wärmende Umarmung ziehen. Sie wollte niemanden beunruhigen, erst recht nicht Anton, keine Eifersüchteleien aufkommen lassen, nur weil sie von Aric träumte. Endlich hatten die blauen Augen einen Namen.
Aric.
•
Nach dieser schrecklichen Nacht wurden die Träume wieder sanfter. Sie sah goldene Wiesen, auf denen sich das kniehohe Gras im Wind bewegte. Ging am Strand entlang, die Füße im Meer oder saß am Abend zum Sonnenuntergang in den Dünen.
Angst existierte in dieser Intensität nicht mehr. Anfang Juli schlief Kendra die erste Nacht seit Wochen wieder durch. Nein, vergessen konnte sie nicht, aber sie beruhigte sich, ihr Blick wurde klarer.
Die Besonderheit dieses Jahres schien zu sein, dass die Träume zwar sanfter, nicht mehr panikgleich kamen und nicht mehr jede Nacht, aber nicht wie sonst vollständig verschwanden. Auch waren sie viel genauer, detaillierter, waren nicht mehr so nebulös. Die Traumgestalten nahmen immer mehr Gesicht an, Namen wurden genannt, die Bilder verknüpften sich zusehends zu ganzen Traumsequenzen.
So war es früher nie gewesen. Erst dieses Jahr.
Die Geschehnisse der Sommersonnenwende ließen sie auch zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Träume nicht mehr los. Wer waren Radha, Kensi und Ragnar? Die Namen waren neu. Welche Rolle spielte ein Ronan? Alles Personen, die sie in ihren Träumen traf, deren Bedeutung im Nebel lag.
Aric war tot. Er kam niemals wieder. Er war einfach tot. Doch wer war Aric? Warum nahm sie das so mit?
Kendra war bestürzt und verwirrt, kannten sie in dieser Zeit doch tatsächlich keinen Aric. Es nahm groteske Züge an und doch schien ihr Herz tief zu trauern.
In den kommenden Tagen, bis zum nächsten Termin bei Doktor Maynardt, blätterte sie hin und wieder in ihrem Kalender, wunderte sich ein ums andere Mal, warum sie Spitzwegerich und Honig an einem Tag erwähnte und an einem anderen Tag aufschrieb, drei Löffel voll getrockneter Rinde der Silberweide, kochend aufgießen, abkühlen, trinken.
Wofür und warum?
Und wieso, ein Fluch entrang sich ihrer Brust, weshalb in Gottes Namen hatte Anton in der Nacht der Sommersonnenwende Weidenrinde, Schafgarbe, Gänseblümchen und Schachtelhalm auf sein Blatt gekritzelt? Das ergab in dieser Kombination überhaupt keinen Sinn! Sie runzelte die Stirn.
Die Kräuter passen eigentlich gar nicht zusammen, wer war verletzt, da musste es jemanden schwer getroffen haben. Blutstiller und Schmerzmittel.