Seelische Gesundheit von Geflüchteten - Thomas Hax-Schoppenhorst - E-Book

Seelische Gesundheit von Geflüchteten E-Book

Thomas Hax-Schoppenhorst

0,0

Beschreibung

Insbesondere in Pflege- und Therapieberufen Tätige begegnen Geflüchteten, müssen diese optimal versorgen und dabei mit psychischen Krankheiten und Traumata angemessen umgehen. Geflüchtete sind und waren einer ganzen Reihe von Stressoren ausgesetzt, die sich auch psychosomatisch ausdrücken können. Pflegende können sich durch ihren ohnehin belastenden Berufsalltag aufgrund "unbekannter Größen" überfordert fühlen. Das Werk informiert zum Kontext "Flucht", bietet Hilfestellungen zur Grundhaltung und liefert einen Wegweiser zum Umgang mit Geflüchteten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 137

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autoren

Thomas Hax-Schoppenhorst, Pädagoge, Integrationsbeauftragter und Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit der LVR-Klinik Düren, ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit tätig.

Stefan Jünger, Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege, Fachwirt für Kranken- und Altenpflege, Bildungsreferent an der Akademie für seelische Gesundheit in Solingen.

Thomas Hax-Schoppenhorst/Stefan Jünger

Seelische Gesundheit von Geflüchteten

Ein Praxisratgeber für Gesundheitsberufe

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

Piktogramme

Information

Tipp

Merke

 

 

 

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034809-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034810-3

epub:    ISBN 978-3-17-034811-0

mobi:    ISBN 978-3-17-034812-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

 

Für Ahmmad

 

 

 

 

»Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen individuellen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht. (…)

Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nie wieder frei.«

(Ilja Trojanow 2017, S. 9 u. 11)

Vorwort

 

 

 

Der im Jahr 2015 einsetzende »Flüchtlingsstrom« sorgte in Deutschland und Europa für große Aufregung. Als krisenhaft bewertete Zustände im Zusammenhang mit der Ein- oder Durchreise hunderttausender Flüchtlinge und Migranten in oder durch viele Staaten Europas führten in den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union zu gesellschaftlichen Debatten über die Ausrichtung der Asyl- und der jeweiligen nationalen Einwanderungs- bzw. Flüchtlingspolitik sowie zum Erstarken nationalkonservativer politischer Kräfte. Die diesbezügliche, vielfach sehr kontrovers und von divergierenden Interessen geprägte Diskussion wird auch in der kommenden Zeit anhalten; eine verlässliche Aussage darüber, welche Entwicklung Fluchtbewegungen nehmen werden, ist kaum möglich, da die Verhältnisse weltweit einem ständigen und dabei atemberaubenden Wandel ausgesetzt sind und da sich bedauerlicherweise die Fluchtanlässe eher mehren. Man kann bereits heute davon ausgehen, dass mit Erscheinen dieses Ratgebers Zahlen der Aktualisierung bedürfen und entscheidende globale Ereignisse nicht mehr Berücksichtigung finden konnten. Das ist für die um Aktualität bemühten Verfasser frustrierend und zugleich symptomatisch, denn Unruhen, Krisen und Kriege prägen das Weltgeschehen.

Unabhängig davon steht fest, dass die aus unterschiedlichen Wirklichkeiten und Motiven gekommenen Menschen unserer Unterstützung bedürfen – seien sie nun körperlich oder psychisch erkrankt, sei es, dass sie Orientierung und Halt suchen. Dabei wirft neben den vielfach zu beobachtenden Sprachbarrieren die Begegnung mit ihnen eine Vielzahl von Fragen auf, nicht selten kommt es zu Missverständnissen, Fehldeutungen, und im ungünstigsten Fall machen sich sogar Unmut und Abwehr breit. Hilfe tut folglich not, um das Miteinander auf eine breitere Basis des Verständnisses zu bringen.

Die in den Gesundheitsberufen tätigen Kolleginnen und Kollegen arbeiten zumeist in recht kurzen Zeitfenstern mit Geflüchteten – so zum Beispiel während eines stationären Aufenthalts. Auf den ersten Blick scheint das in einer solchen Frist Erreichbare maximal begrenzt. »Wir können nicht die Welt retten«, mögen insgeheim einige angesichts der Problemfülle denken. Wenn auch das Schicksal unserer Erde nicht zu den primären Herausforderungen von Pflegenden und anderen Berufsgruppen gehört, so gibt es Wege (und auch die Verpflichtung), die in große Not und Bedrängnis geratenen Menschen in einer solchen Weise zu begleiten, dass sie sich verstanden, angenommen fühlen, dass sie eine (graduelle) Verbesserung ihres Gesundheitszustandes erfahren, um so neuen Mut zu schöpfen.

Unser Ratgeber, der sich an thematische »Ersteinsteiger« und an Kolleginnen und Kollegen wendet, die Wissen »wiederauffrischen« möchten, verfolgt zur Bahnung dieser Wege mehrere Ziele: Zunächst soll er aktuelle Informationen namhafter Organisationen und Initiativen liefern, die Grundvoraussetzung für ein tiefergehendes Verständnis sind. Anschließend wird der Aspekt der seelischen Gesundheit von Geflüchteten ausführlich behandelt. Praxisbezogene Ausführungen, also Hilfestellungen für den Alltag, bilden den folgenden Schwerpunkt. Da die Grundhaltung zum oft als »Flüchtlingsproblematik« titulierten Phänomen ganz wesentlich ist, bieten Vertiefungen zu Oberbegriffen wie zum Beispiel »Fremdheit«, »Kultur« oder »ethische Aspekte« die Möglichkeit zur Reflexion und zu einer Positionsbestimmung. Die gewonnene innere Haltung wirkt sich wesentlich auf die Beziehung zu Patientinnen und Patienten und damit auf einen erwünschten Erfolg aus.

Generell möchten wir uns für einen behutsamen, differenzierten Umgang mit dem Begriff »Flüchtlinge« aussprechen, da die Gefahr der Stigmatisierung und Generalisierung damit verbunden ist. Daher haben wir uns weitestgehend für die Verwendung des Begriffs »Geflüchtete« entschieden.

Somit laden wir Kolleginnen und Kollegen ein, neue und hilfreiche Erkenntnisse zu gewinnen, die Ausgangspunkt für eine gute Zusammenarbeit mit dem uns (noch) fremden Gegenüber sein können.

Nicole Lieberam, PD Dr. Iris Graef-Callies, Kirsten Eichler, Dr. Marion Koll-Krüsmann, Uwe Blücher, Heiko Sakurai, Christoph Müller sowie den Mitarbeitenden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, der »BUNDjugend«, »Brot für die Welt«, »medico international«, »Pro Asyl«, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Bundespsychotherapeutenkammer, der Internationalen DAAD Akademie, der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.), dem Ethnomedizinischen Zentrum e. V., der Bundeszentrale für politische Bildung und dem »UNO-Flüchtlingshilfe e. V.« sei für die Unterstützung und Bereitstellung von Texten von Herzen gedankt!

 

Essen/Düren, im Mai 2019

Thomas Hax-Schoppenhorst Stefan Jünger

Inhalt

 

 

Vorwort

1 Flucht und Fluchtursachen

1.1 Begriffsklärung: Migranten, Flüchtlinge

1.2 Flüchtlinge weltweit

1.3 Fluchtursachen im Überblick

1.4 Flüchtlinge kommen zu Wort

1.5 Asyl in Deutschland

1.6 Positionsbestimmung

2 Rechtliche Rahmenbedingungen

2.1 Grundlagen

2.1.1 Völkerrecht

2.1.2 Genfer Flüchtlingskonvention

2.1.3 Europäisches Recht

2.1.4 Nationales Recht

2.2 Ablauf des Asylverfahrens im Überblick

2.3 Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)

2.4 Kritik an der Flüchtlingspolitik

3 Umgang mit Fremdheitserfahrungen

3.1 Fremdheit ist kein objektiver Tatbestand

3.2 Umgeleiteter Zorn

3.3 Faktencheck

3.4 Sprache als Waffe

4 Aspekte der seelischen Gesundheit von Geflüchteten

4.1 Migration als Krise

4.2 Fluchtstadien

4.2.1 Vor der Flucht 67

4.2.2 Auf der Flucht 67

4.2.3 Nach der Flucht

4.3 Psychische Erkrankungen bei Geflüchteten

4.4 Sonderfall Suizidalität

4.5 Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

4.5.1 Was ist ein Trauma?

4.5.2 Was sind Traumafolgestörungen?

4.5.3 Merkmale der Posttraumatischen Belastungsstörung

4.6 Integrationsbeauftragte als Experten

5 Umgang mit psychischen Erkrankungen Geflüchteter

5.1 Affektstörungen

5.1.1 Manische Episode

5.1.2 Depression 89

5.1.3 Angststörungen

5.2 Traumatisierung

6 Herausforderung Kommunikation

6.1 Kommunikation mit Geflüchteten

6.1.1 Irritationen der Kommunikation im Pflegealltag

6.1.2 Direkte und indirekte Kommunikation in der interkulturellen Begegnung

6.2 Nonverbale Kommunikation in der interkulturellen Begegnung

6.3 Biografische Hintergründe erkunden

6.4 Kommunikation mit Geflüchteten im Pflegealltag

6.5 Dolmetschereinsatz und Kulturvermittler

6.6 Zur Rolle von Sprach- und Integrationsmittlern

Literatur

Stichwortverzeichnis

1          Flucht und Fluchtursachen

 

 

 

Mit ihrem Satz »Wir schaffen das.« sorgte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August 2015 für eine lang anhaltende, phasenweise sehr kontroverse öffentliche Debatte. Die Zahl der Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Deutschland erreichte 2015 den Höchststand – ebenso wie die Anzahl der Flüchtlinge, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer riskierten, um nach Europa zu gelangen. Viele von ihnen kommen dabei durch Ertrinken um ihr Leben. »Die Aufnahme und Integration hunderttausender Geflüchteter gehört wohl zu den größten Herausforderungen, mit denen sich nicht nur Deutschland, sondern alle europäischen Staaten und ganz besonders auch die Gesellschaften in Europa in den letzten Jahrzehnten konfrontiert sahen« (adenauercampus 2017). Zwar hat sich die Situation etwas entschärft, was jedoch weitestgehend auf eine massive Abschottungspolitik im gesamten europäischen Raum zurückzuführen ist; Meldungen z. B. über die Verweigerung der Einreise in Länder des Mittelmeerraumes gehören fast zur Tagesordnung. Im Sommer 2019 wurde in Deutschland die Abschiebepraxis deutlich verschärft.

Hintergründe

»Kriege, politische Verfolgung, Terrorismus, organisierte Gewalt und Menschenrechtsverletzung (s. u. zu den Fluchtursachen) in vielen Ländern der Welt haben dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen gezwungen sehen, ihr Heimatland zu verlassen, um in Europa Schutz zu finden. (…) Viele dieser Flüchtlinge haben traumatische Erfahrungen gemacht und leiden unter psychischen Erkrankungen. Sie benötigen dringend professionelle Hilfe. Das deutsche Gesundheitssystem ist jedoch nicht ausreichend auf die Versorgung psychisch erkrankter Flüchtlinge vorbereitet. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, erhält aktuell eine angemessene Behandlung. Zu diesem Schluss kommen auch die Integrationsminister sowie die Gesundheitsministerkonferenz, die in ihren Beschlüssen 2015 fordern, die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern« (BPtK 2015).

»Berlin – Ärzte und Vertreter von Hilfsorganisationen rufen zu einer besseren Behandlung von Flüchtlingen mit psychischen Erkrankungen auf. Viele Betroffene seien nicht nur etwa durch Kriege in ihren Herkunftsländern, sondern auch durch Gewaltexzesse auf der Flucht schwerst traumatisiert, sagte der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, Florian Westphal, am Montag in Berlin. Hinzu komme eine meist mangelhafte medizinische Versorgung in den Flüchtlingscamps. Allein in Griechenland säßen derzeit rund 60.000 Menschen in oft überfüllten Lagern fest« (ärzteblatt.de 2016).

Abb. 1: Als LETZTER, Copyright: Heiko Sakurai

1.1       Begriffsklärung: Migranten, Flüchtlinge

Wann ist ein Mensch ein Flüchtling? Und wann ein Migrant? Die beiden Begriffe sind keine Gegensätze, bedeuten aber auch nicht das gleiche.

Menschen verlassen aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat und kommen nach Deutschland. Das Völkerrecht ( Kap. 2) unterscheidet zwischen Flüchtlingen, die durch äußere Einflüsse wie Krieg oder Verfolgung zur Flucht getrieben wurden, und Migranten, die aus eigenem Antrieb in der Fremde bessere Lebensbedingungen suchen. Allerdings sind beide Gruppen nicht klar voneinander abzugrenzen.

Umgangssprachlich werden Menschen, die vor Krieg, Hunger oder wirtschaftlichen Zwängen nach Deutschland fliehen, als Flüchtlinge bezeichnet. Juristisch gesehen ist ein Flüchtling allerdings nur jemand, der unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention ( Kap. 2) fällt: Flüchtlinge sind Menschen, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung ihr Land verlassen haben.

Ein Flüchtling hat das Recht auf Schutz in einem anderen Land. Ob eine staatliche Verfolgung vorliegt, wird in nationalen Asylverfahren festgestellt, die sich von Aufnahmestaat zu Aufnahmestaat unterscheiden (vgl. Merkur.de 2018).

Geschichtliche Aspekte

Migration gibt es, seit es Menschen gibt. Wie sonst wäre zu erklären, dass die Menschheit sich aus dem südlichen Afrika über alle Erdteile und in alle klimatischen Regionen ausgebreitet hätte. Immer war Migration von dem Ziel bestimmt, neue Lebensräume zu entdecken, um das Überleben der eigenen Gattung zu sichern. Die im europäischen Kontext besonders geschichtsmächtigen Migrationsereignisse waren: die Völkerwanderungen in der ausgehenden Antike, die Wanderungen infolge konfessioneller Streitigkeiten und Bürgerkriege in der frühen Neuzeit oder die wirtschaftlich bedingten großen Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts, ohne die die Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert schlichtweg undenkbar wäre.

In der deutschen Migrationsgeschichte gab es verschiedene Phasen und Migrationsgründe. Deutschland war selten nur Ein- oder Auswanderungsland allein. Im 19. Jahrhundert dominierte die Auswanderung nach Amerika, Anfang des 20. Jahrhunderts wanderten hingegen viele Arbeitskräfte ein. Die beiden Weltkriege waren von Vertreibung, Deportationen und Zwangsarbeit geprägt.

Die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts bringt eine nochmalige Dynamisierung des Wanderungsgeschehens mit sich. Zentrales Merkmal dieser Entwicklung ist ihre globale Ausprägung. In großen Teilen der sogenannten »Dritten Welt« verschärften sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme und trieben unzählige Menschen in die Flucht. Vielfach ist das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Flüchtlinge beschrieben worden (Marx 2003, S. 143 f.).

1.2       Flüchtlinge weltweit

Ende des Jahres 2018 waren 70,8 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. 25,9 Millionen dieser Menschen sind Flüchtlinge, die vor Konflikten, Verfolgung oder schweren Menschenrechtsverletzungen aus ihrer Heimat flohen. Darunter fallen 20,4 Millionen Flüchtlinge unter das Mandat von UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees). Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge weltweit sind Kinder unter 18 Jahren. 41,3 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene, Menschen, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind. 3,5 Millionen Menschen unter den 70,8 Millionen sind Asylsuchende (vgl. UNHCR 2019).

RegionAnteil Geflüchteter

Tab. 1: Fluchtregionen – Wo sind die meisten Menschen auf der Flucht?, Quelle: UNHCR 2018

55 % der Flüchtlinge weltweit kommen aus nur drei Ländern:

•  Südsudan: 1,4 Mio.

•  Afghanistan: 2,5 Mio.

•  Syrien: 5,5 Mio.

28.300 Menschen fliehen im Durchschnitt pro Tag auf Grund von Konflikten und Verfolgung (vgl. UNHCR 2018).

Auf der Flucht im eigenen Land

Binnenflüchtlinge (engl. Internally Displaced Persons – IDPs) sind Menschen, die innerhalb Ihres eigenen Landes fliehen. Jahrzehntelang wurden sie kaum als eigenes Phänomen wahrgenommen, obwohl sie zu einer der größten Gruppen von schutzbedürftigen Menschen gehören.

Binnenvertriebene fliehen aus denselben Gründen wie Flüchtlinge. Jedoch selten erhalten sie rechtlichen oder physischen Schutz. Es gibt keine speziellen völkerrechtlichen Instrumente für Binnenvertriebene, und allgemeine Übereinkommen wie die Genfer Konventionen lassen sich in vielen Fällen nur schwer anwenden (UNO-Flüchtlingshilfe 2018a).

Fast zwei von drei Menschen suchen im eigenen Land nach Schutz. Mehr als acht von zehn Flüchtlingen halten sich in so genannten Entwicklungsländern auf (medico international 2017).

LandAnzahl Geflüchteter

Tab. 2: Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge stammen (Stand: Ende 2016), Quelle: Statista 2018

Besonders schutzbedürftig sind (Flüchtlingshilfe 2018b):

•  FlüchtlingskinderCa. 51 % der Menschen, die sich auf der Flucht oder in flüchtlingsähnlichen Situationen befinden, sind jünger als 18 Jahre. Flüchtlingskindern drohen in den Kriegswirren besondere Gefahren: Sie werden als Kindersoldaten rekrutiert und zum Kämpfen und Töten gezwungen. Sie müssen lange und schwer arbeiten, um etwas zum Überleben zu verdienen. Es kommt immer wieder zu Zwangsehen und Vergewaltigungen.Die Erfahrungen und Erlebnisse, die Kinder im Krieg und auf der Flucht machen, hinterlassen in ihrer Seele tiefe Verletzungen. Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen sowie jahrelange psychosomatische Leiden sind die Folgen und können die Entwicklung eines Kindes nachhaltig beeinträchtigen.

Tagelange Märsche zum Meer gingen dem Verharren in überfüllten Flüchtlingsbooten voraus; später mussten sie sich in Lastwagen zwischen Kisten verstecken. Sie durften nicht schreien, egal wie viel Angst sie hatten, egal wie krank sie sich fühlten, egal wie übel ihnen war. Unzählige Male hörten Ärzte diese Schicksale, als sie 100 syrische Flüchtlingskinder unmittelbar nach ihrer Ankunft in München befragten. Im Schnitt zehn Monate lang waren die jungen Menschen unterwegs gewesen – eine Zeit, die Spuren in ihrer Seele hinterließ. Bei 22 % diagnostizierten Mediziner der Technischen Universität München eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Konzentrationsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten, Schlafschwierigkeiten und Einnässen sind typische Symptome bei Kindern. Weitere 16 % erfüllten die Kriterien einer Anpassungsstörung, die die Ärzte als Vorstufe für die PTBS betrachten (SZ.de 2015).

•  FlüchtlingsfrauenMindestens 50 % aller Flüchtlinge sind Frauen und Mädchen. Frauen fliehen wegen Unterdrückung und Verfolgung aus politischen und religiösen Gründen. Aber auch Witwenverbrennungen, genitale Verstümmelung oder Vergewaltigungen sind weitere Gründe, die Frauen zur Flucht zwingen.Die Auflösung sozialer und gesellschaftlicher Strukturen einer Gesellschaft führt zur Zunahme der Gewaltbereitschaft. In vielen Bürgerkriegen gehören systematische Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen zur erklärten Kriegsstrategie. Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, leiden unter psychischen Langzeitfolgen, Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken und ihrer sozialen Isolation.Angst ist der ständige Begleiter auf der Flucht – Angst vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, Hunger und Krankheit, dem Verlust von Angehörigen und einer ungewissen Zukunft. Frauen verlassen ihre Heimat oft allein mit den Kindern und älteren Familienangehörigen, weil ihre Ehemänner, Väter oder Brüder getötet, gefangen genommen oder als Rebellen oder Soldaten eingezogen wurden.

»Die Frage nach der Unterbringung Asylsuchender in Containern, Zelten und überfüllten Massenunterkünften überlagert häufig die Diskussion um die Qualität der Unterkünfte und die Wahrung der Rechte von Asylsuchenden und Geduldeten dort. Dies betrifft auch das Recht auf Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung in Flüchtlingsunterkünften. Betroffene sind häufig Frauen, die circa ein Drittel der Antragstellerinnen ausmachen. Sie laufen Gefahr, sexualisierte oder häusliche Gewalt durch Partner, Bewohner oder Personal zu erleben.