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In Deutschland leben derzeit ca. 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Ihr Zugang zum Gesundheitswesen gestaltet sich schwierig. Vor allem bei Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen tauchen Fragen auf, da kulturell bedingte Unterschiede, Vorurteile und Kommunikationsprobleme einen Dialog hemmen. Pflegende stehen im Stationsalltag oft vor Rätseln. Dieses Buch bietet grundlegende Informationen zum Thema Migration, beleuchtet den Zusammenhang von Migration und (seelischer) Gesundheit und geht konkret auf seelische Störungen bei Migranten ein. Es thematisiert den Umgang mit dem Fremden und setzt mit vielen Beispielen und Tipps die Konzepte der kultursensiblen Pflege in ein praxisnahes Licht.
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Seitenzahl: 245
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In Deutschland leben derzeit ca. 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Ihr Zugang zum Gesundheitswesen gestaltet sich schwierig. Vor allem bei Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen tauchen Fragen auf, da kulturell bedingte Unterschiede, Vorurteile und Kommunikationsprobleme einen Dialog hemmen. Pflegende stehen im Stationsalltag oft vor Rätseln. Dieses Buch bietet grundlegende Informationen zum Thema Migration, beleuchtet den Zusammenhang von Migration und (seelischer) Gesundheit und geht konkret auf seelische Störungen bei Migranten ein. Es thematisiert den Umgang mit dem Fremden und setzt mit vielen Beispielen und Tipps die Konzepte der kultursensiblen Pflege in ein praxisnahes Licht.
Thomas Hax-Schoppenhorst, Autor und Lehrer für Pflegeberufe und Ergotherapie. Stefan Jünger, Krankenpfleger und Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege, Fachwirt für Alten- und Krankenpflege. Beide sind tätig als Integrationsbeauftragte der LVR-Klinik Düren und haben langjährige Erfahrung in der Seminarplanung zum Thema.
Thomas Hax-Schoppenhorst, Autor und Lehrer für Pflegeberufe und Ergotherapie. Stefan Jünger, Krankenpfleger und Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege, Fachwirt für Alten- und Krankenpflege. Beide sind tätig als Integrationsbeauftragte der LVR-Klinik Düren und haben langjährige Erfahrung in der Seminarplanung zum Thema
Für Dr. Erhard Knauer
Thomas Hax-Schoppenhorst Stefan Jünger
Seelische Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund
Wegweiser für Pflegende
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Fotos: Thomas Hax- Schoppenhorst, Frank Dora Grafiken: Christian Backes
1. Auflage 2010
Alle Rechte vorbehalten © 2010 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-021016-5
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-026475-5
epub:
978-3-17-027948-3
mobi:
978-3-17-027949-0
Einleitung
1 Migration – ein Überblick
1.1 Begriffsbestimmung
1.2 Migration weltweit
1.3 Migration in Deutschland
2 Wie leben Migranten in Deutschland?
2.1 Rechtliche Situation
2.2 Schlaglichter aus dem Alltag
2.3 Lebenswelten
2.4 Integrität und Integration aus Sicht der Zuwanderer
3 Migration und Gesundheit
3.1 Wie gesund sind Migranten?
3.2 Versorgungssituation von Migranten
3.3 Gesundheit und Krankheit im Kulturvergleich
3.4 Ethnomedizin und transkulturelle Psychiatrie
3.5 Psychische Störungen und Migration
4 Patientengruppen im Fokus
4.1 Muslimische Patienten
4.2 Flüchtlinge
4.3 Russen/Spätaussiedler
4.4 Polen/Spätaussiedler
4.5 Migration und Alter
5 Kommunikation mit Migranten
5.1 Störfälle in der Kommunikation
5.2 Nonverbale Botschaften
5.3 Kommunikation und Macht
5.4 Übersetzungshilfen, Dolmetscher, Sprach- und Integrationsmittler
6 Umgang mit Fremdheit
6.1 Kennzeichen des Fremden
6.2 Interview mit Frau Prof. Dr. Evelyn Heinemann
7 Transkulturelle Kompetenz
7.1 Grundsätzliche Überlegungen
7.2 Der Begriff der transkulturellen Kompetenz in der Pflege
7.3 Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung
8 Kultursensible Pflege
8.1 Hinführung
8.2 Sensitive Pflege
8.3 Was macht kultursensible Pflege aus?
8.4 Migration und Pflege
8.5 Interview mit Frau Dr. Susanne Schoppmann zur kultursensiblen Pflege
9 Adressen/Materialien
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Ein Blick in die Geschichtsbücher oder in große Tageszeitungen genügt, um festzustellen, dass die Welt voller Mobilität war und ist. Naturkatastrophen und Kriege, Vertreibung und Intoleranz, Arbeitslosigkeit und Armut, aber auch das Streben nach Erfolg und Reichtum brachten und bringen Menschen in Bewegung. Zudem haben moderne Transportmöglichkeiten, neue Medien und Kommunikationstechnologien zu einer intensiven interkontinentalen Begegnung geführt, globale Verständigung bis in die entlegensten Winkel der Erde möglich gemacht und damit eine Veränderung des interkulturellen Verständnisses und des Zusammenlebens bewirkt.
Migration, Fremdsein bzw. die Aufnahme von Fremden sind somit elementare menschliche Erfahrungen. Dies gilt auch für Deutschland, wo heute aufgrund der Entwicklungen in der Zeit vor bzw. nach den beiden Weltkriegen und durch weltweite politische, soziale und ökonomische Umwälzungsprozesse der letzten Jahrzehnte 15,4 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen) leben (Statistisches Bundesamt 2009, S. 26).
Die Lebenswirklichkeit dieses großen Personenkreises, dessen Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahre 2006 bei 18,4 % lag, ist höchst unterschiedlich: Seit längerer Zeit bei uns lebende Familien aus Italien, Griechenland oder der Türkei werden in ganz anderer Weise über ihre Erfolge, Sorgen und Nöte berichten als ein Asylsuchender aus einem afrikanischen Staat. Vielen von ihnen ist jedoch gemein, dass sie im Krankheitsfall unter Umständen mit Fragen und Problemen konfrontiert werden, die einem Bewältigungs- und Heilungsprozess im Wege stehen können. Die ihnen bis dahin wenig vertraute Struktur und Funktionsweise unseres Gesundheitssystems, Angst und Scham, Sprachbarrieren, Traditionen und ein anderes Verständnis von Gesundheit und Krankheit können eine bedeutende Rolle spielen – dies gilt im besonderen Maße bei psychischen Störungen!
Gerade Pflegende fühlen sich im von Hektik und hohen Anforderungen geprägten Berufsalltag schnell überfordert, wenn Patienten aus ihnen fremden Kulturen ihrer Aufmerksamkeit bedürfen. Entstehende Schwierigkeiten verursachen Hilflosigkeit, wobei selbst erfahrene Kräfte sich dann gerne darauf berufen, das zu pflegende Gegenüber sei schließlich in Deutschland und habe sich mit den hier üblichen Gepflogenheiten zu arrangieren.
Auf lange Sicht ist es allerdings nicht hinnehmbar, dass das Gebot der bestmöglichen Versorgung in der stationären und auch ambulanten Behandlung eingeschränkt Berücksichtigung findet, weil kulturelle, sprachliche Barrieren und noch immer Vorbehalte gegenüber der Patientengruppe bestehen. Allein mit Blick auf die Qualität der Versorgung besteht hier Handlungsbedarf!
Begriffe wie „transkulturelle Kompetenz“ und „interkulturelle Pflege“ werden mit sehr unterschiedlicher Auslegung seit geraumer Zeit als Mittel der Wahl gehandelt, um für mehr Zufriedenheit auf beiden Seiten Sorge zu tragen. Auch in den Richtlinien und Lehrplänen der Länder bzw. einzelnen Schulen erfährt die Migrationsthematik zunehmende Berücksichtigung. So fordert die seit 2003 in Nordrhein-Westfalen gültige „Richtlinie für die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege“, dass Schüler Informationen zur soziokulturellen Situation, zum rechtlichen und religiösen Hintergrund bei verschiedenen Migranten-Gruppen erhalten, Wissen über das Verständnis von Gesundheit und Krankheit in anderen Kulturen erarbeiten, sich mit ihrer eigenen Haltung gegenüber Fremden auseinandersetzen sowie sich Erkenntnisse aus dem wissenschaftlichen Teilgebiet der trans- bzw. interkulturellen Pflege aneignen und somit den eigenen Kulturbegriff kritisch reflektieren. Andere Bundesländer formulieren diesen Anspruch ähnlich. In der Literatur finden sich zum Teil höchst widersprüchliche Aussagen darüber, welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen es sich anzueignen gilt, um Patienten mit Migrationshintergrund gerecht werden zu können. Nach unserer Einschätzung und aufgrund unserer Erfahrungen ist der mit diesem Buch eingeschlagene Weg jener, der zum Ziel führen kann.
Wir möchten somit einen Beitrag dazu leisten, dass sowohl Unterrichtende als auch in der pflegerischen Praxis neugierig Gewordene die Möglichkeit bekommen, sich gezielt und in überschaubarer Weise zu den oben genannten Aspekten zu informieren, um nach der Lektüre vielleicht mit einer anderen Grundhaltung und neuen Zielen an die Arbeit zu gehen.
Die psychische Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund steht im Vordergrund der Betrachtungen. Grundsätzlich fließen aber auch wichtige Informationen zur körperlichen Gesundheit mit ein. Die für unser medizinisches System typische Trennung zwischen Körper und Seele ist, wie noch aufzuzeigen sein wird, ohnehin in vielen Kulturen nicht üblich, sodass eine Berücksichtigung beider Ebenen ratsam ist.
Aus Gründen der Lesbarkeit wird nur die männliche Form verwendet, die weibliche Form ist hierbei selbstverständlich eingeschlossen. Ebenso werden Menschen mit Migrationshintergrund im Folgenden Migranten genannt.
Frau Prof. Evelyn Heinemann, Frau Marketa Kohoutek, Herrn Dr. Friedrich Leidinger, Herrn Ahmmad Mohammad-Stermer, Frau Varinia Morales, Frau Jutta Schlegel, Frau Dr. Susanne Schoppmann, unserer Kollegin Frau Elvira Visnjic und Frau Anja Zimmermann sei von Herzen für die Unterstützung bei diesem Projekt gedankt!
Düren im Januar 2010
Thomas Hax-Schoppenhorst
Stefan Jünger
Um bei dieser komplexen Thematik den Überblick zu bewahren, sind klare Definitionen erforderlich. Auf die Frage, wer ein Migrant ist, gibt Machleidt (2007, S. 3) die vielleicht eingängigste Antwort: „Migranten sind Überschreiter von Kulturgrenzen und Wanderer zwischen ethnischen Welten. Migranten sind die Symbolfiguren des Fremden schlechthin. Was aber ist Migration und wer ist ein Migrant? Wir kennen die Definition schon lange: Migration bedeutet die Verlagerung des ständigen Aufenthaltsortes für lange Zeit oder auf Dauer in eine andere Kultur. Migration geht mit dem Verlassen der Ursprungskultur und dem prozessualen Hineinwachsen in die Aufnahmekultur einher. Migranten sind demnach alle Personen, die ihren Wohnsitz freiwillig oder unter Zwang in ein anderes Land verlegen wie Aus-, Zu-, Abwanderer, Arbeitsmigranten (Gastarbeiter), (Spät-)Aussiedler, Exilanten, Vertriebene, Kriegsflüchtlinge, Kontingentflüchtlinge, Asylsuchende, politisch Verfolgte, illegale Zuwanderer und Remigranten.“
Verschiedene Schicksale
Unter dem Begriff werden demzufolge „sehr unterschiedliche Lebensschicksale mit äußerst heterogenen Bedingungen, Motivationen und Erfahrungen zusammengefasst, die lediglich als dünne Gemeinsamkeit haben, nicht der Mehrheitsgesellschaft anzugehören, sondern primär aus einer anderen Region, einem anderen Land bzw. einem anderen kulturellen Umfeld zu kommen.“ (Assion 2005, S. 133).
Die Gruppe der Migranten unterscheidet sich also u. a. hinsichtlich der folgenden Aspekte (vgl. Kizilhan 2007, S. 55):
sozioökonomischer Status
Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland (1., 2., 3. Generation)
Wanderungsmotive (Familienzusammenführung, Arbeitsmarkt, Flucht, traumatische Erfahrungen etc.)
Rechtsstatus
kulturelle Hintergründe
Merke: Migration bedeutet nicht nur, seine Heimat bzw. sein Geburtsland zu verlassen, sondern ebenfalls vertraute – auch stützende Systeme – hinter sich zu lassen und sich in neue hineinzufinden! Migration ist eine Erfahrung, in der sich eine Familie oder ein Individuum auf eine Reise durch viele Phasen und soziale Systeme begibt und sich dabei eine neue Heimat schafft (vgl. Eimmermacher et al. 2004, S. 9; von Wogau 2004, S. 46).
Migrationshintergrund
Mit Blick auf die historischen und aktuellen Entwicklungen fand in Deutschland der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ zunehmend Anwendung, der deutlich weiter greift.
Definition: Einen Migrationshintergrund haben Ausländer, im Ausland Geborene und nach dem 1. Januar 1950 Zugewanderte, Eingebürgerte sowie Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil in eine der genannten Kategorien fällt.
Abb. 1: Personengruppe mit Migrationshintergrund (Quelle: Robert Koch-Institut 2008, S. 11)
Zahlen im Überblick
Im Jahr 2007 (vgl. Bundesministerium des Innern 2008, S. 15 ff.) hatten 15,1 Mio. der insgesamt 82,4 Mio. Einwohner in Deutschland einen solchen Migrationshintergrund. Davon waren etwa 7,8 Mio. Deutsche und ca. 7,3 Mio. Ausländer. Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung lag bei 18,4 %.
Eine Differenzierung der Personen mit Migrationshintergrund zeigt, dass die größte Gruppe mit 36,9 % Menschen mit eigener Migrationserfahrung stellen, d. h. die selbst nach Deutschland zugewandert sind. 11,3 % der Personen mit Migrationshintergrund sind Menschen, die in Deutschland geboren wurden (zweite oder dritte Generation). Insgesamt besitzen 48,2 % der Personen mit Migrationshintergrund nicht die deutsche Staatsangehörigkeit.
Deutsche mit Migrationshintergrund stellen dagegen 51,8 % der Personen mit Migrationshintergrund. Davon entfallen 20,9 % auf selbst zugewanderte Eingebürgerte und 3,0 % auf Eingebürgerte ohne Migrationserfahrung. 11,1 % aller Personen mit Migrationshintergrund sind deutsche Zuwanderer, die nicht eingebürgert wurden. Bei den restlichen 16,8 % handelt es sich um Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung. Dies sind zum einen Kinder von Eingebürgerten, Spätaussiedlern oder Ausländern, zum anderen Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen nur ein Elternteil Eingebürgerter, Spätaussiedler oder Ausländer ist. Insgesamt sind etwa zwei Drittel der Personen mit Migrationshintergrund selbst Migranten (erste Generation), während knapp ein Drittel bereits in Deutschland geboren wurde (zweite oder dritte Generation).
Hauptgruppen
Mit etwa 2,5 Mio. Menschen stellen Personen türkischer Herkunft die größte Gruppe innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Dies entspricht einem Anteil von 16,5 % an allen Personen mit Zuwanderungsgeschichte. 6,2 % haben einen russischen, 5,6 % einen polnischen und 5,0 % einen italienischen Hintergrund. Dabei zeigt sich, dass insbesondere Personen mit einem Migrationshintergrund aus den ehemaligen Anwerbestaaten überproportional häufig keine eigene Migrationserfahrung besitzen, d. h. bereits in Deutschland geboren sind. So sind 43,4 % der Personen italienischer, 40,8 % türkischer und 38,4 % griechischer Herkunft nicht selbst nach Deutschland zugewandert. Dagegen zählen bislang noch relativ wenige Personen polnischer (15,2 %), rumänischer (12,4 %), russischer (7,2 %) und kasachischer (4,1 %) Herkunft zur zweiten oder gar dritten Generation.
Abb. 2: Ausländer nach der häufigsten Staatsangehörigkeit (Statistisches Bundesamt)
Persönliche Migrationsgeschichte
Frau Elvira Visnjic, Migrationspädagogin an der LVR-Klinik Düren, erzählt im Folgenden ihre ganz persönliche, ereignisreiche Migrationsgeschichte:
„Mein Vater kam 1970 als Arbeitsmigrant nach Deutschland. Wenn ich ihn frage warum, dann lautet die Antwort: ‚Ich wollte eigentlich schon immer nach Amerika!‘. Die Sehnsucht nach Amerika ist seine ganz persönliche Geschichte. Er ist ein Nachkriegskind in Zeiten von Titos Jugoslawien und migrierte in das Land des ‚Feindvolkes‘, zu den Faschisten, die Hans oder Heinz hießen, pedantisch ‚jawohl‘ und ‚Achtung!‘ schrien – so die verständnislose Version seiner Eltern. Er aber machte sich auf den Weg, um sich einen Traum zu erfüllen, ein Stück weit, nachdem er sozusagen jahrelang vorher in Jugoslawien binnenmigriert war, die Welt zu sehen.
Er entschied sich relativ schnell, seine Frau, meine Mutter, nachzuholen – gegen die Vorurteile seiner Familie, denn Deutschland galt als unmoralisch, erst recht für eine Frau.
Beide erwartete sofort ein Arbeitsvertrag! ‚Wir waren jung und gesund, sie haben nur die Gesunden genommen‘, sagt meine Mutter. Sie meint damit die Kontrolluntersuchungen, um zu überprüfen, ob der zukünftige Gastarbeiter überhaupt arbeitstauglich ist. Ich glaube, diese Untersuchung bei einem Arzt war sogar ihre erste.
Nach meinem Vater kam fast das ganze Dorf, der ganze (männliche) Clan väterlicherseits, hinterher gereist; es reizte die Aussicht, maximal ein Jahr in einer Fabrik zu arbeiten, Geld zu sparen und wieder zurück in die Heimat zu gehen.
Rückblickend wissen wir jetzt aber: Aus einem Jahr wurden dreißig, vierzig Jahre. Als ich im Jahre 1973 geboren wurde, wurde der Anwerbestopp für ‚Gastarbeiter‘ ausgemacht. Die Ölkrise hatte die Welt fest im Griff, ich aber wurde noch als Baby in die liebevolle Obhut meiner Großeltern – natürlich dem patriarchalischen System folgend – väterlicherseits gegeben. Meine Eltern entschieden erneut, nur noch ein Jahr, höchstens, zu arbeiten, um dann als Kleinfamilie im eigenen Haus in einer Stadt mit Universitäten (wegen uns Kindern) nach Jugoslawien zu remigrieren.
Es kam, wie bei vielen Migranten dieser Generation, ganz anders, denn vor meinem fünften Geburtstag kam ich wieder zurück zu meinen Eltern nach Deutschland, mein eigentliches Geburtsland. Hinter meinen kleinen Schritten in die Migration verbarg sich im Grunde ein Gesinnungswandel innerhalb unserer Familie: Die Entscheidung fiel für Deutschland, es gab kein greifbares Zurück mehr. Meine Eltern waren in den Achtzigern immer noch jung, Krankheit galt als dem Alter vorbehalten, das Privileg der Jugend war der Glaube an immerwährende Gesundheit. Das deutsche Gesundheitssystem nahmen sie damals nur bei Impfungen der Kinder bzw. während den drei Schwangerschaften und Geburten meiner Mutter in Anspruch.
Meine Großmutter war im Dorf als Heilkundige bekannt, wenn z. B. jemand aus der Nachbarschaft Ängste, Schlafstörungen oder Sorgen hatte, kam er zu ihr; sie kannte Koranrezitationen oder andere Verse, beherrschte die Methode des Bleigießens und heilte seelische Erkrankungen auf diese überlieferte Weise. Die Großmuttermeiner Mutter konnte angeblich sogar die Gelbsucht bei jungen Mädchen heilen.
Heilkundige, Geistliche, sei es nun ein orthodoxer Pope oder ein muslimischer Hodscha, werden immer noch, auch parallel zum westlichen Gesundheitssystem, in Anspruch genommen. Der Glaube an den sowohl positiven als auch negativen Einfluss äußerer Faktoren auf den Körper, die Krankheit und die Gesundheit eines Menschen ist auf dem Balkan tief verwurzelt. Auf der einen Seite gelten bestimmte archaische Heilrituale oder Weissagungen als amüsantes Gesellschaftsspiel, wenn z. B. aus dem Kaffeesatz gelesen wird; auf der anderen Seite aber werden sie – je verzweifelter oder je kranker ein Mensch ist – auch entschlossen in Anspruch genommen, sogar unabhängig von der Bildungsschicht!
Wenn nun hier in Deutschland ein Migrant psychisch krank wird – wie erlebt er das? Selbstverständlich nutzen auch die Migranten den Besuch beim Hausarzt, lassen sich ein Medikament verschreiben, etwas gegen Kopfweh, nutzen die technischen Errungenschaften der Medizin. Und irgendwann kommt ein Arzt auf die Idee (wenn der Kranke Glück hat) festzustellen: ‚Ihr Körper ist gesund, aber sie fühlen sich schlapp, müde und traurig?‘ Traurig ja, aber was bedeutet die Aussage Depression, mag der Patient denken ... Psychisch krank zu sein, ist immer noch ein Makel, selbst in der westlich orientierten Welt. Eine psychische Erkrankung kann als ein Tabubruch, eine Schande, fast wie eine Beleidigung der Gemeinschaft verstanden werden.
Auch in Deutschland gibt es aus dem Balkan stammende Heilkundige, Fernheiler, Astroheiler, Hodschas und andere Geistliche, die ihre eigene Migrationsgeschichte mitbringen, die in Zeitungen und durch Mund-zu-Mund-Propaganda werben und mit traditionellen Heilungsritualen und Techniken Genesung versprechen. Ist das ein ‚Underground-Gesundheitssystem‘, das zum westlichen System parallel existiert, das dubiose, magische, aber auch therapeutisch faszinierende Elemente enthält? Die Nachfrage bestimmt auch hier das Angebot. Und Migranten fragen anders, weiter und nutzen alle verfügbaren Wege in und außerhalb Deutschlands, um gesund zu werden.
Die zweite große Welle von Migranten aus Jugoslawien kam während des Bosnienkrieges als Flüchtlingsstrom nach Deutschland und erreichte auch unser strukturell eingedeutschtes Leben. Meine Verwandten mütterlicherseits hatten nicht die Wahl wie mein Vater, sie trieb der Krieg in die Fremde und stürzte die alten Gastarbeiter in eine Identitätskrise: Während bis dahin das sozialistische Ideal der Brüderlichkeit und Gleichheit, der Vielfalt der Nationen und Religionen, symbolisch vertreten durch die Stadt Sarajevo, nur diktatorisch in Jugoslawien über die Völker gestülpt wurde, wurde es jedoch praktisch in der Emigration von Muslimen, Kroaten und Serben, ja sogar Albanern gemeinsam gelebt. Die Emigration schweißt zusammen, stärkt Gemeinschaften, lässt Unterschiede schrumpfen. Doch mit dem Bosnienkrieg wurden hier in Deutschland bis dahin gemeinsam geführte Kulturvereine aufgelöst und neue homogene ethnisch-religiöse Gruppen gegründet. Die Jugoslawen in der Migration, in derDiaspora fielen in eine tiefe Identitätskrise, sie wurden mit Landsleuten konfrontiert, die vom Krieg und menschenverachtenden Idealen traumatisiert wurden. Sie fungierten mehr oder weniger freiwillig als Mittler zwischen den Flüchtlingen und Deutschland, zwischen alter und neuer Heimat und immer wieder zwischen traditionellen Werten und einer postmodernen Lebenswirklichkeit, die sich in ihren Kindern und mittlerweile Enkelkindern widerspiegelt.
Aus all dem entstand und entsteht eine neue Identität. Krisen und Brüche gibt es in jeder Lebensgeschichte. Migration an sich ist ein Wendepunkt; wer das Glück hat, sie freiwillig zu erwählen, hat es leichter als der in der Literatur viel zitierte Wanderer zwischen den Welten, dessen Seele immerzu flieht, während sein Herz tausendfach neu ankommt.“
Zahl ansteigend
Die Weltbevölkerung wird zunehmend mobiler. In den letzten 35 Jahren hat sich die Zahl der internationalen Migranten mehr als verdoppelt und wird auf nun ca. 175 Mio. geschätzt. Für 2050 wird gar ein Anstieg der Migranten auf 230 Mio. Menschen erwartet. Hierzu werden dann neben den Flüchtlingen ebenso Studenten, Computerspezialisten, Ingenieure, Erntehelfer, Monteure, Prostituierte, Kellner und viele andere gehören. An der Spitze der Länder mit der größten Anzahl von Migranten stehen die USA (35 Mio.) und die Russische Föderation (13,3 Mio.), gefolgt von Deutschland (7,3 Mio., Personen ohne Migrationserfahrung nicht eingerechnet), der Ukraine (6,9 Mio.) und Frankreich (6,3 Mio.). Insgesamt ist Europa mit 56,1 Mio. weltweit die Region mit den meisten Migranten (Neidlein 2003, S. 1).
Abb. 3: Die vernetzte Welt im Zeitalter der Globalisierung – die Herausforderungen an die internationale Gemeinschaft wachsen
Flüchtlinge
Ende Juni legte das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR seinen Jahresbericht „Global Trends 2008“ vor. Demzufolge haben sich 2008 etwa 42 Mio. Menschen gezwungenermaßen außerhalb ihrer Heimat aufgehalten. Den größten Anteil stellten die 26 Mio. Binnenvertriebenen dar, die aufgrund gewalttätiger Konflikte ihre Heimatregionen verlassen mussten, jedoch innerhalb ihres Landes Zuflucht gefunden haben (2007: 26 Mio.). Dazu kamen 15,2 Mio. Flüchtlinge, also Personen, die in ein anderes Land geflüchtet sind (2007: 16 Mio.), sowie 800.000 Asylsuchende mit einem laufenden Asylverfahren (2007: 700.000). Darüber hinaus sind derzeit schätzungsweise 12 Mio. Menschen staatenlos (2007: 12 Mio.). Das UNHCR betreute 2008 etwa 10,5 Mio. Flüchtlinge und Menschen „in flüchtlingsähnlichen Situationen“ (2007: 11,4 Mio.). Die meisten dieser Personen leben im asiatischen und pazifischen Raum (3,6 Mio.), gefolgt von der Region Mittlerer Osten/Nordafrika (2,4 Mio.). Erst dann folgen die Regionen des übrigen Afrika (2,1 Mio.), Europa (1,6 Mio.) sowie Nord- und Südamerika (800.000). Die meisten Flüchtlinge kamen auch 2008 aus Afghanistan und dem Irak. Sie flohen überwiegend in die Nachbarländer Pakistan und Iran bzw. Syrien und Jordanien.
Insgesamt 5,7 Mio. Menschen weltweit lebten in sogenannten langwierigen Flüchtlingssituationen, d. h. seit mehr als fünf Jahren außerhalb ihrer Heimat, und haben derzeit keine Aussicht auf Rückkehr. Wichtige Herkunftsländer dieser Langzeitflüchtlinge sind Afghanistan, Burma, die Balkanstaaten, Somalia oder der Sudan (vgl. Netzwerk Migration in Europa e. V. 2009, S. 4 f.).
Definitionen: Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Politische Verfolgung ist dabei grundsätzlich nur vom Staat ausgehende oder doch zumindest ihm zuzurechnende Verfolgung. Politisch ist eine Verfolgung dann, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.
Eine begründete Furcht vor politischer Verfolgung im Heimatstaat ist dann zu bejahen, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in dem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.
Konventionsflüchtlinge sind Personen, die als politisch verfolgt gelten und in den Signatarstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, in denen keine dem Artikel 16 des Grundgesetzes vergleichbare Asylregelung besteht, um Schutz nachgesucht haben.
Kontingentflüchtlinge sind Personen, die im Rahmen humanitärer Aktionen ins Land kamen. Diese Personen erhalten als Gruppe ohne Einzelfallprüfung ein dauerhaftes Bleiberecht. Sie werden als Kontingent auf die Bundesländer verteilt und haben keine freie Wahl des Wohnortes.
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge – dieser Status wurde im Zusammenhang mit dem jugoslawischen Bürgerkrieg eingeführt, damit unbürokratisch und schnell eine größere Menge von Flüchtlingen aufgenommen werden konnte. Diese Personen dürfen keinen Asylantrag stellen, die Wohnsitzwahl ist registriert, eine Arbeitserlaubnis wird nicht erteilt.
De-facto-Flüchtlinge – hierbei handelt es sich um die größte Flüchtlingsgruppe. Diese Personen haben entweder keinen Asylantrag gestellt oder dieser wurde negativ beschieden. Aus dringenden humanitären Gründen (z. B. lebensgefährliche Erkrankung, Gefahr für Leib, Freiheit und Leben im Heimatland) werden sie jedoch nicht abgeschoben und erhalten einen Duldungsstatus. Diese Personen sind von ständiger Abschiebung bedroht. Frühestens nach einem Jahr dürfen sie arbeiten, wenn sich ihnen eine Stelle anbietet.
Hintergrund: In Deutschland leben immer weniger Menschen mit Asylberechtigung. Die Zahl der Flüchtlinge hingegen steigt. Ende des vergangenen Jahres waren rund 57.500 Menschen asylberechtigt und damit rund 6.000 weniger als im Vorjahr. Die Zahl der Flüchtlinge hingegen stieg um 3.000 auf 65.000 Menschen an.
Flüchtlinge können nach erfolgreichem Asylverfahren als Asylberechtigte anerkannt werden. Mit etwa 24.000 Menschen kamen die meisten Asylberechtigten aus der Türkei, rund 8.000 stammen aus dem Iran und 4.000 aus Afghanistan. Bei den Flüchtlingen kam mit knapp 30.000 Menschen die Mehrheit aus dem Irak. Fast 10.000 Flüchtlinge waren türkischer Herkunft, 5.000 Menschen waren aus dem Iran geflohen. Etwa 24.000 Menschen leben derzeit in Deutschland, weil sie nicht in ihre Heimat abgeschoben werden dürfen. Zudem leben rund 105.000 Ausländer mit einer sogenannten Duldung im Bundesgebiet: Für eine Ausreise gibt es noch rechtliche oder persönliche Hindernisse (vgl. Aachener Nachrichten vom 10./11. März 2009).
Wanderarbeiter
Bereits im 19. Jahrhundert, in den 1880er-Jahren, wuchs der Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland immens an. Die expandierende Industrie benötigte weit mehr Arbeitskräfte, als der natürliche Bevölkerungszuwachs und Land-Stadt-Wanderungen boten. So wurden über 1,2 Mio. ausländische Wanderarbeiter – vor allem aus Polen – kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland beschäftigt. Diese Migranten wurden stark kontrolliert; eine dauerhafte Einwanderung war nicht erwünscht.
Phasen
Der Wandel in Deutschland von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland, der mit dem späten 19. Jahrhundert begann (s. o.), manifestierte sich zunächst mit der Integration von ca. 13 Mio. Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs.
Hintergrund: Die Begriffe Aussiedler und Spätaussiedler werden sehr undifferenziert gebraucht. Das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) definiert sie jedoch klar: Aussiedler sind demzufolge Staatsangehörige oder Volkszugehörige, die vor dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in den ehemaligen deutschen Ostgebieten bzw. in Danzig, Estland, Lettland, Litauen, der ehemaligen Sowjetunion, Polen, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, dem ehemaligen Jugoslawien, Albanien oder China hatten und diese Länder nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens bis zum 31. Dezember 1992 verlassen haben. Spätaussiedler sind in der Regel deutsche Volkszugehörige, die die Aussiedlungsgebiete nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und ihren ständigen Aufenthalt hier haben.
Die weitere Geschichte der Migration in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich in sechs Phasen darstellen (vgl. Münz et al. 2001, S. 42 ff.), in denen es zu gesellschaftlich bedeutsamen Entwicklungen bzw. Veränderungen kam.
1. Phase (1955–1973): Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte
Am 20.12.1955 wurde das erste Anwerbeabkommen zwischen der BRD und Italien geschlossen. Das im Aufbau begriffene und später wirtschaftlich nach und nach wieder stärker werdende Land („Wirtschaftswunder“) brauchte dringend helfende Hände zur Unterstützung. In den Jahren darauf folgten weitere Anwerbeverträge mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die Beschränkung der Aufenthaltsdauer für Türken wurde 1964 aus der Anwerbevereinigung gestrichen.
Ursprünglich war von der deutschen Bundesregierung geplant, dass einem befristeten Arbeitsaufenthalt die Rückkehr in das jeweilige Herkunftsland folgen sollte. Dieses Rotationsprinzip funktionierte jedoch nicht. Die Aufenthaltszeiten der Angeworbenen verlängerten sich zusehends; nach einigen Jahren setzte der Nachzug der Familienangehörigen ein.
Beispiel:„Wir bildeten Schlangen vor der Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung. Die deutschen Ärzte zogen uns bis auf Hemd und Unterhose aus. Sie prüften unsere Zähne, unsere Augen, unsere Lungen, unsere Hände und schauten sogar, ich schäme mich, es zu sagen, zwischen unsere Beine. Damit wir nicht verwechselt würden, haben sie auf unseren Rücken und unsere Brust mit farbigen Stiften Nummern gemalt. Unsere Namen warenohne Bedeutung, unsere Nummern viel wichtiger. Dann wurden wir in die Züge gesetzt. In den Papieren, die man uns in die Hand gedrückt hatte, stand etwas in einer Sprache geschrieben, die wir nicht verstanden. Wir waren auf dem Weg nach Deutschland. Aber nicht wir, sondern nur unsere Tickets wussten, wohin in Deutschland die Reise uns führen würde. (...) Wir glaubten, dass wir zurückkehren würden. Wir haben uns geirrt.“ (Diekmann/Özkök 2008, S. 28 ff.).
2. Phase (1973–1979): Anwerbestopp und Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung
Die sozialen Folgen der Zuwanderung wurden nicht thematisiert, vielmehr war diese Zeit von den Bemühungen um eine vorübergehende Eingliederung der nachziehenden Familien geprägt. Es setzte eine Debatte um verstärkte Integrationsbemühungen für Ausländerkinder und ausländische Jugendliche ein. So kam es z. B. zur Einrichtung von Förderklassen für die Kinder von Migranten an den Schulen. Die Erkenntnis, dass die „Gastarbeiter“ zunehmend bleiben würden, setzte sich durch. Am 1. Dezember 1978 reagierte die Bundesregierung mit der Ernennung des „Beauftragten der Bundesregierung für Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“. Heinz Kühn (SPD) war der erste Amtsinhaber.
3. Phase (1979–1980): Konkurrierende Integrationskonzepte
Ministerpräsident Heinz Kühn (NRW) legte ein Memorandum vor; die zentrale Forderung war die Anerkennung der faktischen Einwanderungssituation durch die Regierung in Gestalt einer konsequenten Integrationspolitik. Vor allem die Gleichberechtigung der sogenannten zweiten Generation in den Bereichen Bildung und Ausbildung, Arbeit und Wohnen wurde gefordert. Auch durch die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für in Deutschland lebende Ausländer sowie eine Option auf den Erhalt der Staatsbürgerschaft für die hier geborenen Kinder sollte die politische Partizipation erhöht werden. Die ausländerpolitischen Beschlüsse der damaligen Regierung blieben jedoch weit hinter den Forderungen zurück. Konzepte zur sozialen Integration auf Zeit sorgten dafür, dass eine Wende in der Ausländerpolitik ausblieb. Die Bundesregierung überließ die Integrationspolitik den kommunalen Verwaltungen.
4. Phase (1981–1990): Wende in der Ausländerpolitik
Das Migrationsgeschehen wurde weiterhin von dem Zuzug nachziehender Familienangehöriger bestimmt. Etwa Mitte der 80er-Jahre kamen vermehrt Flüchtlinge bzw. Asylsuchende hinzu. Wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit und dem steigenden Ausländerzuzug kam es zu einer oft emotional geführten Debatte in den Medien und in der Politik. Die Themen Asyl und Arbeitsmigration wurden vermengt; es kam zu einer Ideologisierung und Politisierung des Ausländerthemas.
Mit der Regierung Kohl (CDU, ab 1982) wurden die Aufrechterhaltung der Anwerbestopps, die Einschränkung des Familiennachzugs und die Förderung der Rückkehrbereitschaft zentrale migrationspolitische Leitlinien. Um die Anzahl der Ausländer zu reduzieren, trat 1983 das Rückförderungsgesetz in Kraft, das allerdings seine Wirkung verfehlte. Erweiterte Integrationsangebote für hier lebende Ausländer wurden angekündigt. Die Ausländerbeauftragte Liselotte Funcke (FDP) sah den Schwerpunkt in der Förderung der gegenseitigen Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses zwischen Deutschen und Ausländern.
1989 und 1990 steigen die Asylbewerberzahlen erkennbar an. Die Ausländerpolitik geriet damit und u. a. durch den Einzug einer rechtsextremen Partei in das Berliner Abgeordnetenhaus in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion – vor allem in den Medien.
5. Phase (1991–1998): Dementi und praktische Akzeptanz der Einwanderungssituation
Am 1. Januar 1991 trat das neue Ausländergesetz in Kraft. Bestimmungen über Familiennachzug und Aufenthaltsverfestigung, die Rechtsansprüche der zweiten Generation und Einbürgerungen boten Migranten erstmals eine Art Einwanderungsstatus. Einbürgerungen von hier aufgewachsenen Jugendlichen und von lange hier lebenden Zuwanderern wurden erleichtert. Zugleich wurden die Ausweisungsbefugnisse (z. B. bei Straftaten) verschärft und die Ermessungsspielräume der Ausländerbehörden erweitert. Die Änderung des Asylrechts im Grundgesetz führte zu einem Rückgang der Asylbewerberzahlen. Mit dem Fall der Berliner Mauer bzw. der Grenzöffnung der ehemaligen Ostblockstaaten stiegen die Zuzugszahlen durch Spätaussiedler sprunghaft an. Die meisten kamen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit erhielten sie nach der Einreise die deutsche Staatsbürgerschaft. Ebenfalls in dieser Zeit erhöhten sich die Zugangszahlen von Flüchtlingen, welche zuerst mehrheitlich aus Asien und Afrika kamen und um Asyl ersuchten. Später kamen die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien hinzu.
Rechtsextreme Taten
1991 und 1992 machten bundesweit rechtsextreme Gewalttaten gegenüber Migranten Schlagzeilen. Der Missbrauch des Asylrechts, der angeblich massenhaft stattfand, wurde in der Gesellschaft leidenschaftlich diskutiert (Begriff der „Wirtschaftsflüchtlinge“).
Die sogenannte Drittstaatenregelung (wer über einen sicheren Drittstaat kommt, darf sein Recht auf Asyl nicht geltend machen) und das Flughafenverfahren (Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern oder Flüchtlinge mit fehlenden oder falschen Papieren müssen sich während des Verfahrens im Transitbereich aufhalten) schränkten das Grundrecht auf Asyl stark ein. Das Asylverfahrensgesetz und das Asylbewerberleistungsgesetz traten 1993 in Kraft. Zwar wurden Ausnahmen zur befristeten Anwerbung von Arbeitskräften zugelassen, dennoch blieb es ansonsten bei einem Anwerbestopp.
6. Phase (1998–2005): Deutschland – Einwanderungsland?
Zum Zeitpunkt des Regierungswechsels 1998 prägten sinkende Zugangszahlen von Flüchtlingen, Spätaussiedlern und anderen Zuwanderern das Geschehen. Am 20. Oktober 1998 bekannten sich erstmals die Regierungsparteien zur Anerkennung der faktischen Einwanderungsrealität in der Bundesrepublik. Mit der Staatsangehörigkeitsreform vom 1. Januar 2000 wird derjenige zum Staatsbürger, der im Land geboren ist und sich zur Verfassung bekennt. Dadurch wird in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern (s. u.) die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt. Im Alter von 18 bzw.