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Seelsorge bedeutet, dass Menschen sich umeinander sorgen. Unter Christen nicht nur in Lebens- sondern auch in Glaubensfragen. Doch viele haben nicht den Mut, bei Schicksalsschlägen Anteil zu nehmen oder gar in das Leben anderer zu sprechen. Sie meinen, ihnen fehlen dazu die Fähigkeiten. Oft aber suchen Menschen nicht einen Seelsorger, der auf alles eine Antwort hat, sondern einfach jemanden, der ihnen zuhört und sie begleitet. "In jeder Begegnung findet Seelsorge statt", weiß Karin Ackermann-Stoletzky aus Erfahrung und ermutigt zu seelsorgerlichen Gesprächen am Küchentisch. Wie man solche mit Freunden, Nachbarn und Kollegen ganz einfach und mit großem Gewinn für das eigene Leben führt, davon handelt dieses Buch.
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Seitenzahl: 179
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Karin Ackermann-Stoletzky ist Supervisorin, Coach und Autorin. Sie bietet auch Aus- und Weiterbildungen zum Personal Coach und zum Demenzseelsorger an (www.coachenlernen.de). Mit ihrem Mann, dem Journalisten Cyrill Stoletzky, lebt sie in Solingen.
Karin Ackermann-Stoletzky
Seelsorge am Küchentisch
Anteil nehmen, trösten und ermutigen. So gelingt es, für andere da zu sein
Cover
Über die Autorin
Titel
Kapitel 1
Seelsorge: dem Nächsten begegnen
Miteinander füreinander
Sorge für die Seele ist Sorge für den Menschen
Seelsorge ist Hilfe zum Glauben und Leben
Kapitel 2
Seelsorge beginnt bei mir
Die eigene Herkunft verstehen
Die ersten Lebensjahre sind besonders prägend
Entscheidungen prägen
Prägende Einflüsse gibt es unser ganzes Leben lang
Was bin ich eigentlich wert?
Kapitel 3
Zuhören: die wichtigste Kunst
Offene Ohren
Zuhören ist Zuwendung
Zuhörer lassen ihr Gegenüber aussprechen
Zuhören befreit vom Zwang, die „richtigen Antworten“ zu finden
Kapitel 4
Vom Richten und Urteilen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß
Reden erwächst aus dem Zuhören
Die richtige Sicht der Dinge
Urteilen, aber nicht verurteilen
Kritisieren ja, aber richtig
Kapitel 5
Mentor sein: begleiten, fördern, Entwicklungshilfe leisten
Mentoring
Brauchen wir nicht alle Vorbilder?
Zentrale Elemente des Mentoring
Was bedeutet es, Mentor zu sein?
Kapitel 6
Beraten: Hilfe zur Selbsthilfe
Den Rahmen verlassen
Harte Liebe bei Berufsproblemen
Kapitel 7
Dem Leben Richtung geben: konkrete Ziele finden
Von Wünschen, Absichten und Zielen
Mein Ziel – Gottes Ziel?
Kapitel 8
Begleiten und Helfen: „Einer trage des anderen Last“
Solidarität: Füreinander einstehen
Kapitel 9
Unterstützen in Krisenzeiten
Jeder kann in eine Krise geraten
Begleiter in der Krise
Krisen und professionelle Hilfe
Kapitel 10
Trösten: Trauernde begleiten
Orte in Zeiten der Bedrängnis
Den Trauerprozess besser verstehen
Die eigenen Grenzen ernst nehmen
Kapitel 11
Die Liebe Gottes weitergeben
Die Grundlage der Seelsorge
Menschen zu Jesus führen
Kapitel 12
Und ich? Muträuber und Mutmacher für die „Küchentischseelsorge“
Impressum
Endnoten
Wir wollen Orte schaffen helfen, von denen der helle Schein der Hoffnung in die Dunkelheit der Erde fällt.
Friedrich von Bodelschwingh
Ich habe schon viele Formen der Seelsorge erlebt: bei Lebensberatern, an Küchentischen und auf Gartenbänken, in Autos oder bei Spaziergängen, ganz praktisch, wenn ein Mensch den anderen unterstützt, durch Trost, Gebet und Ermutigung, durch eine klare, ehrliche Rückmeldung, im Gottesdienst und im Hauskreis … Und so soll es auch sein: Wir Christen sind eigentlich dazu herausgefordert, ein offenes Ohr und ein offenes Auge für unsere Mitmenschen zu haben.
An vielen kleinen oder großen Klippen des Lebens war jemand für mich da. Wenn ich zurückblicke, tauchen vor meinem inneren Auge Menschen auf, die mich begleitet, ermutigt, getröstet oder herausgefordert haben: Marita zum Beispiel, die mir, dem schüchternen Kind, das ich einmal war, half, Begabungen in sich zu entdecken. Sie war meine erste „Mentorin“ und lebte mir vor, dass Gott ein Gott der Liebe ist; in vielem war sie mein Vorbild. Da waren auch Ruth und Walter, bei denen ich als Teenager jedes zweite Wochenende verbrachte und die mir ihre Familie öffneten. Eine andere wichtige Person war Burghard, der mein Denken herausforderte, mich in der Jugendstunde an Themen heranführte, zu denen ich als Hauptschülerin sonst sicher niemals einen Zugang gefunden hätte, der mir „die Freiheit eines Christenmenschen“ nahebrachte und mich ermutigte, meine ersten Geschichten an eine Zeitschrift zu schicken. Schwester Ilse lebte mir vor, wie gute Leitung aussieht, und förderte und forderte mich. Willy half mir mit seiner Weisheit mehr als einmal, meine krausen Gedanken zu reflektieren. Hannelore, Magret und Carola waren und sind immer für mich da, wenn ich sie brauche. Schließlich ist da mein Ehemann, Cyrill, der mich herausfordert und dem ich es verdanke, einen ganz neuen Zugang zur Schöpfung gefunden zu haben … Sie alle und noch viel mehr Menschen haben „für meine Seele gesorgt“, ohne dass sie sich vielleicht darüber bewusst waren. Bis auf Willy hat sich wohl niemand von ihnen in diesen Augenblicken als „Seelsorger“ verstanden – aber sie waren es.
Es gibt viel zu viele Lasten zu tragen, viel zu viele Gelegenheiten, bei denen wir einander im Namen Jesu helfen können, als dass dies zum Beispiel der Pastor allein bewältigen könnte. Wo der Seelsorgedienst nur an ihm oder an psychologisch versierten Therapeuten hängen bleibt, schöpft die Gemeinde in seelsorgerlicher Hinsicht nicht alle Möglichkeiten aus. Biblische Seelsorge in ihrer großen Vielfalt lebt davon, dass viele von Gott begabte Menschen bereit sind, sich der großen Herausforderung zu stellen, auf der Basis ihres Glaubens auch anderen Menschen Glaubens- und Lebenshilfe zu geben. Dabei kann und muss nicht jeder alles machen, aber sicherlich haben wir alle in unterschiedlichen Bereichen die Gabe, für die Seelen anderer zu sorgen. Ich nenne das „Alltagsseelsorge“ und meine damit das alltägliche „Füreinander da sein“. Denn sehr oft brauchen wir keinen professionellen Gesprächspartner zur Unterstützung, sondern einfach einen anderen Menschen, der im richtigen Moment für uns da ist.
In der Bibel gibt es viele Beispiele dafür. Dies wird unter anderem in den „Einander-Worten“ des Neuen Testaments deutlich. Sie alle beschreiben verschiedene Bausteine der Alltagsseelsorge:
• Respektiert einander! (Epheser 5,21, hier an Männer und Frauen gerichtet: Ordnet euch einander unter, wie es die Ehrfurcht vor Christus verlangt!; GN)
• Liebt einander! (1. Johannes 3,11: Die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, lautet: Wir sollen einander lieben!; GN)
• Achtet und ehrt einander! (Römer 12,10: Liebt einander von Herzen als Brüder und Schwestern, und ehrt euch gegenseitig in zuvorkommender Weise; GN)
• Achtet aufeinander und inspiriert einander zu guten Taten (Hebräer 10,24-25: Und lasst uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen; GN)
• Nehmt einander an! (Römer 15,7: Lasst einander also gelten und nehmt euch gegenseitig an, so wie Christus euch angenommen hat. Das dient zum Ruhm und zur Ehre Gottes; GN)
• Bekennt einander die Sünden! (Jakobus 5,16a: Überhaupt sollt ihr einander eure Verfehlungen bekennen und füreinander beten; GN)
• Vergebt einander! (Epheser 4,32: Seid freundlich und hilfsbereit zueinander und vergebt euch gegenseitig, was ihr einander angetan habt, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat, was ihr ihm angetan habt; GN)
• Ihr seid fähig einander zu ermahnen! (Römer 15,14: Liebe Brüder und Schwestern, ich bin ganz sicher: Ihr seid von allem guten Willen erfüllt und seid euch voll bewusst, was Gott für euch getan hat. Darum könnt ihr euch auch selbst gegenseitig ermahnen; GN)
Im Grunde sind das alles ganz einfach alltägliche Dinge, zu denen wir alle fähig sind. Wir können füreinander da sein, voneinander lernen, einander zuhören. Wir können uns unterstützen, positiv konfrontieren, miteinander näher zu Gott kommen. Da ist Platz für jeden von uns – als Gebende und als Empfangende.
Was bedeutet Füreinander da sein? – Wenn jemand in Not ist, alles stehen und liegen lassen und für ihn da sein. Zuhören, miteinander lachen und nicht auslachen, Verständnis haben, mitfühlen, mit dem anderen nach Lösungen suchen, ihn nicht bewerten, annehmen, wie der andere ist, ohne ihn ändern zu wollen, ihn in den Arm nehmen und ihm zugleich seine Luft zum Atmen lassen, sich Zeit nehmen, aber auch den nötigen Freiraum lassen, miteinander weinen, Halt geben, ihn am Boden halten und ihm auch mal auf die Beine helfen, wenn er den Boden verloren hat. Offen und ehrlich sagen, was einem selbst berührt, und doch genügend Einfühlungsvermögen, um den anderen nicht über den Mund zu fahren. Kraft zum Durchhalten schenken – ohne was dafür zu erwarten, und so vieles mehr.1
Nach biblischer Überzeugung „hat“ der Mensch nicht nur irgendwo eine Seele. Geist, Seele und Körper bilden eine Einheit. Seelsorge hat (mit den Worten des Theologen Paul Tillich) etwas zu tun mit dem, was so oder so den Menschen „unbedingt angeht“.
Unser deutsches Wort „Seelsorge“ hat eigentlich keinen christlichen Ursprung. Der griechische Philosoph Platon beispielsweise verstand seine Philosophie als Seelsorge. Er forderte die Menschen auf, sich nicht nur um Reichtum und Ehre, sondern sich auch „um ihre Seelen zu sorgen“. Für Plato war die Seele im Körper gefangen: „Der Körper ist das Grab der Seele. (…) Die Seele ist an ihren Körper gefesselt und mit ihm verwachsen, gezwungen, die Wirklichkeit durch den Körper zu sehen wie durch Gitterstäbe anstatt durch ihre eigene ungehinderte Sicht.“
Der Körper wurde also mehr als Gefängnis gesehen, aus der die Seele befreit werden musste. Andere Denker bauten darauf auf und auch im christlichen Gedankengut wurzelte die Idee von der im Körper gefangenen Seele. Der Körper galt nicht selten als Ballast, dem man nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken sollte.
In der Bibel gibt es das Wort „Seelsorge“ so eigentlich nicht. Dort, wo es um die Seele geht, werden häufig Begriffe wie „Atem“, „Leben“, „Herz“, „Selbst“, „Person“, „Mitte“ gebraucht. Im Alten Testament findet sich an den Stellen, wo Luther „Seele“ übersetzte, oft das hebräische Wort näfäsch. Es bedeutet eigentlich „Kehle“ oder „Lebendigkeit“. Der Mensch „hat“ nach dieser Vorstellung keine Seele, er „ist“ Seele. „Seele“ ist zunächst die „Kehle“, der „Atem“, der einen lebendigen Organismus von einem toten unterscheidet. Das wird auch in einem der Schöpfungstexte deutlich. In 1. Mose 2,7 lesen wir in der Übersetzung Martin Luthers: Also schuf Gott den Menschen, eine lebendige Seele.
Die Seele ist von Gott. Sie ist demnach etwas Lebendiges und gleichzeitig, wie alles Erschaffene, etwas sich Entwickelndes und Werdendes, das auch von außen her beeinflussbar ist. Man kann Seelen „verbiegen“ und „auf ihnen herumtrampeln“, man kann für sie sorgen. Der Mensch kann „Schaden nehmen an seiner Seele“ (siehe Matthäus 16,26), aber auch an „Leib und Seele gesund werden“. Die Seele, so wie sie in der Bibel verstanden wird, ist demnach auch viel umfassender und nicht nur in Abgrenzung zum Körper zu sehen wie in der platonischen Philosophie.
„Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare.“
Christian Morgenstern
Wenn auch das Wort „Seelsorge“ als direkter Begriff nicht in der Bibel vorkommt, ist das Thema an sich doch sehr stark vertreten. Jesus selbst ist das beste Vorbild dafür, was es bedeutet, Seelsorger zu sein: Die Not, Traurigkeit, Krankheit, der Schmerz und der Tod anderer Leute gingen ihn etwas an. Er sprach die Lebensprobleme der Menschen direkt an, förderte ihre Entwicklung und lebte vor, wie Gott ist. Wir als seine Nachfolger haben die Chance, von ihm zu lernen und uns gegenseitig zu stärken und zu trösten (siehe z.B. Apostelgeschichte 14,22; Römer 1,11f.), barmherzig zu sein (siehe z.B. Lukas 9,36), uns zu „ermahnen“ (also offen anzusprechen, wenn wir das Gefühl haben, jemand ist in der falschen Richtung unterwegs; siehe z.B. Römer 12,1.8; 2. Korinther 6,1) und uns gegenseitig „zurechtzuhelfen“ (siehe Galater 6,1).
Speziell an die Gemeindeältesten werden unterschiedliche seelsorgerliche Erwartungen gestellt. In Jakobus 5,14ff. zum Beispiel werden sie zum seelsorgerlichen Besuch bei den Kranken und Sterbenden in der Gemeinde aufgefordert; sie werden hier nicht als „Gemeindemanager“ beschrieben, sondern als verantwortliche Leiter, die Anteil nehmen.
Nach der Apostelgeschichte war die gegenseitige „Sorge für die Seelen“ ein wichtiger Bestandteil des Gemeindelebens. Und dies wurde so deutlich nach außen hin sichtbar, dass andere Menschen über die Gemeindemitglieder sagten: „Die haben sich lieb.“
Obwohl die Seelsorge als Haltung und Verhalten von Anfang an also ganz selbstverständlich vorhanden war, gibt es den Begriff der „Seelsorge“ und das Amt eines Seelsorgers in der christlichen Kirche erst etwa ab dem 4. Jahrhundert nach Christus. Und da neue Strukturen meist erst dann geschaffen werden, wenn die alten nicht mehr tragen, kann man davon ausgehen, dass die anfängliche gegenseitige Hilfe und Sorge nicht mehr so selbstverständlich funktionierte und deshalb dieses Amt eingeführt werden musste.
„Seelsorge kann im weitesten Sinne als Für-Sorge verstanden werden. Seelsorge an einem anderen meint nicht die Sorge und Hilfe „von oben herab“ („ohne mich schaffst du das eh nicht“), nicht die erniedrigende „Aktion Sorgenkind“, sondern liebende Sorge und Umsorgung.
Seelsorge weiß, was für ein zartes, zerbrechliches, schönes und ganz eigenartiges Blümchen (und was für ein Abgrund!) jede Seele ist, aber auch, wie viel gegenseitiges Vertrauen dazu gehört, die eigene Seele berühren zu lassen.“
Heiner Stauff
Seelsorge ist also Hilfe zum Leben und Glauben. Wie unterscheidet sie sich dann aber von anderen Formen zwischenmenschlicher Hilfe? Wie schon beschrieben, ist Seelsorge eigentlich ein Alltagsgeschehen: Ein Seelsorger ist jeder, der mir wirklich zuhört, der mich achtungsvoll auf Fehler aufmerksam macht, der für mich und mit mir betet; der nicht übersieht, wenn es mir schlecht geht, der mich besucht, wenn ich alt oder krank werde, der mich aushält und begleitet, wenn mein Glaube wackelt. Ein solcher Mensch sorgt für meine Seele.
Seelsorge kann wie ein Alltagsgespräch erscheinen oder therapeutische Züge tragen, kann praktische Hilfe beinhalten, kann herausfordern oder fördern. Entscheidend ist, dass bei der christlichen Seelsorge der Glaube stets im Spiel ist – und zwar zunächst der Glaube des Seelsorgers, aber ebenfalls der mögliche Glaube des Gesprächspartners. Sie ist allerdings nicht nur ein Angebot für Gläubige. Es gehört gerade zum Wesen der Seelsorge, auch mit Menschen ins Gespräch zu kommen, denen die Beziehung zu Jesus im Moment nichts bedeutet und vielleicht nie etwas bedeutet hat.
Dabei kann es sogar sein, dass dieser Glaube eigentlich kaum zur Sprache kommt – das hängt ganz von der Gesprächssituation ab. Es gibt keine Verpflichtung zu „frommen Worten“, und ob ein Mensch einem anderen ein guter Seelsorger ist, kann man nicht daran messen, wie oft das Wort „Jesus“ benutzt wird. Wichtiger ist es, dass der Seelsorger in der Beziehung zu Gott wurzelt und dass Fragen des Glaubens jederzeit zur Sprache gebracht werden können.
Es gibt Lebenssituationen, die alleine kaum bis gar nicht zu ertragen sind, und hier sind wir als Christen und Menschen gefragt. In der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder Gemeinde begegnen uns Fragen, Krisen, Anliegen und Nöte. Wir können darauf reagieren bei einem Gespräch im Türrahmen oder am Küchentisch, in einem Impuls, das Leben nicht einfach so vorbeiziehen zu lassen und auch die Beziehung zu Gott neu zu klären.
Meist brauchen wir nicht gleich „Profis“ als Hilfe: Oft ist einfach ein offenes Ohr und ein offenes Auge gefragt für die Lasten der anderen und Unterstützung da, wo es nötig ist. Seelsorge bedeutet dann, den Menschen in seinem Alltag und seiner Entwicklung, in Krisen und Konflikten, in Krankheit und Trauer, in seinem Glauben und vielleicht auch Zweifeln zu begleiten. Wichtig ist sie auch an Wendepunkten des Lebens, etwa bei Geburt, Heirat oder Tod. In dem allen ist Seelsorge die lebensnahe und praktische Umsetzung des Glaubens.
Die Begleitung von jemandem kann kurzfristig sein oder sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. „Wo ein Mensch den andern sieht, nicht nur sich und seine Welt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht“, heißt es in einem Kirchenlied. Und über diese praktische „Bewässerungsarbeit“ möchte ich mit Ihnen in diesem Buch nachdenken. Lassen Sie sich hineinnehmen in die Begegnung mit Menschen!
Lebensspuren hat jeder Mensch. Das Leben hinterlässt Spuren, manchmal sogar Narben, bei uns. Ich selbst muss mich nur im Spiegel ansehen, um ein Beispiel dafür vor Augen zu haben – ich werde dieses Jahr 60 Jahre alt.
„Du Küken, was weißt du vom Altern!“, sagt meine älteste Schwester zu mir und lacht mich aus. Aber das Gesicht, das ich da im Spiegel vor mir sehe, macht mir deutlich, wie viele Jahre ich bereits gelebt habe oder – besser und wichtiger ausgedrückt – erlebt habe.
Das Leben hinterlässt seine Spuren in und an uns. Das fängt schon vor unserer Geburt an. In unserem Erbgut befinden sich die Anlagen für unsere Haarfarbe und Gesichtsform, unseren Körperbau und vieles mehr. Ich zum Beispiel, eindeutig durch die Form meiner Augen und meiner Nase zu erkennen, bin ein Teil der Familie Ackermann; meine runde Gesichtsform gleicht auch sehr der meiner Mutter. Aber auch die Art und Weise unserer Seele ist durch unsere Gene beeinflusst beziehungsweise, wie wir es als Christen glauben, durch unseren Schöpfer.
Bin ich vom Charakter her eher extrovertiert oder introvertiert? Wie schnell ist meine Auffassungsgabe? Bin ich sensibel oder eher robust? Die Anlagen dazu finden sich schon in unseren Genen. Wohlgemerkt: die Anlagen dazu. Denn wie ich mich im Laufe meines Lebens entwickle, hängt noch von vielen anderen Faktoren ab.
Mit unserer Entwicklung verbinde ich persönlich das Bild von der Frucht einer Kastanie. Mit ihr habe ich eigentlich einen ganzen Baum in der Hand, jedenfalls was die Anlagen betrifft: Größe, mögliche Lebensdauer, Blattform … „Gene“ nennen das die Wissenschaftler.
Als Nächstes kommt es sehr darauf an, wo die glänzende braune Kugel eingepflanzt wird: In die Ecke eines Hinterhofes, wo der Baum durch Mauern und wenig Lichteinfall in seiner Entfaltung eingeschränkt ist? In ein Beet an einer viel befahrenen Straße, wo verschiedenste Umwelteinflüsse auf ihn einwirken? Oder in ein weites Feld mit mehr als genug Licht und Wasser, sodass er sich nach allen Seiten ausdehnen kann? Die Umgebung, in der der Baum groß wird, wird den Baum formen und ihm hundert Jahre später seine Gestalt gegeben haben. Prägung nennt man das bei uns Menschen.
Prägung ist eine besondere Form des Lernens: Während einer sensiblen Lebensphase nehmen wir Reize der Umwelt so dauerhaft in unser Verhaltensrepertoire auf, dass sie später wie angeboren erscheinen. Meine Umwelt, vor allem die Familie, die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, und die Lebensräume, zu denen ich gehöre, drücken mir ihren Stempel auf.
Die ersten Lebensjahre beeinflussen unseren Lebensweg besonders stark. Am Anfang sind wir besonders lernoffen, schon im Mutterleib nehmen wir Erlebnisse unserer Mutter mit wahr. Wir hören und spüren ihren Herzschlag und einige Außengeräusche. Auch durch ihre Gefühle werden wir mit beeinflusst. Denn Freude wie Trauer äußern sich hormonell. Endorphine werden bei Glück und Freude im Körper ausgeschüttet, Adrenalin oder Cortisol bei Stress … Das Kind bekommt all diese Botenstoffe mit, und so erlebt es bereits vor seiner Geburt Erfahrungen von Glück, Trauer und Angst.
Bis etwa zum dritten Lebensjahr nimmt ein Mensch Umwelteindrücke auf, ohne diese großartig durchdenken zu können. In dieser Zeit entwickeln wir ein Grundgefühl für die Welt und für das, was wir erwarten. Unsere frühkindlichen Erfahrungen prägen uns deshalb so stark, weil sie grundlegend dafür sind, wie wir später das Leben interpretieren und wahrnehmen. Vielleicht haben Sie beispielsweise schon vom „Urvertrauen“ gehört? Damit meint man eine Grundeinstellung dem Leben gegenüber, die man mit den Worten „Es ist vollkommen okay, dass ich da bin!“ beschreiben könnte. Dieses grundlegende Lebensgefühl begleitet uns dann ein Leben lang. Es verändert sich nur schwer, weil es eben „nur“ ein Gefühl und damit rational wenig zugänglich ist. Hat sich dieses Urvertrauen aber nicht entwickelt, quält das manche Menschen mitunter ihr Leben lang – sogar bis in ihren Glauben hinein, und sie kämpfen darum, Gottes Liebe fühlen zu können.
Wenn ich auf den Anfang meines Lebens zurückblicke, dann weiß ich, dass für meine Entwicklung zwei Prägungen besonders ausschlaggebend waren. Zum einen war die Nachricht, dass meine Eltern mit mir ein weiteres Kind erwarten, eine böse Überraschung. Sie waren beide schon älter, hatten schon vier Kinder, sehr viel Arbeit, sehr wenig Geld und sehr viele Probleme miteinander. Meine Mutter dachte lange Zeit, sie sei in den Wechseljahren, und bemerkte erst spät, dass da ein Kind unterwegs war. Später erzählte sie mir, dass sie verzweifelt versucht hatte, „mich loszuwerden“. Sie arbeitete besonders hart, hob schwere Lasten … „Aber du warst hartnäckig“, sagte sie zu mir, „so bist du bis heute.“
Nach meiner Geburt veränderten sich ihre Gefühle. Von da an liebten und umsorgten mich nicht nur meine Eltern, sondern auch meine vier Geschwister. Besonders meine ältere Schwester war so etwas wie eine „Zweitmutter“ für mich.
Ohne es aber zu wissen, habe ich aus dieser Zeit das Gefühl mitgenommen, nicht gewollt zu sein. Das habe ich viele Jahre nicht verstanden, erst, als ich als erwachsene Frau mit meiner Mutter darüber redete, erzählte sie mir von meiner vorgeburtlichen Geschichte. Für mich war das ein echtes Geschenk und ein absolut erhellender Moment, denn plötzlich merkte ich, wie ich in der Lage war, ein Gefühl zu verstehen, das mich begleitete, für das es aber eigentlich keinen Grund zu geben schien. Zum Glück haben sich aber auch Liebe und Geborgenheit in meine Seele eingeprägt und mein Leben positiv beeinflusst.
Vielleicht entdecken Sie auch bei sich selbst bei genauerem Hinsehen den ein oder anderen merkwürdigen Gedanken über sich, über Mitmenschen oder über Gott. Oder es geht Ihnen wie Paulus, der davon sprach: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Römer 7,19; LU). Das könnte mit „merkwürdigen Prägungen“ zusammenhängen, die uns oft steuern, ohne dass wir es richtig bemerken.
Zum Glück wurden wir aber auch in positiver Weise geprägt. Wollten wir nämlich warten, bis alle merkwürdigen Prägungen gelöscht sind, bevor wir andere Menschen unterstützen können, dann wären wir wohl niemals „fertig genug“. Ich möchte Sie deshalb ermutigen, trotz aller möglichen Unvollkommenheit einfach den Schritt auf den anderen zu zu wagen. Und vielleicht werden sie dabei sogar entdecken, dass Ihre eigene Unvollkommenheit Ihnen helfen kann, Ihr Gegenüber besser zu verstehen.
In Gesprächen mit anderen Menschen werden Sie beispielsweise manchmal feststellen, dass Ihr Gesprächspartner genau wie Sie selbst „gefühlte Überzeugungen“ vertritt:
„Keiner mag mich“,
„Ich komme immer zu kurz“,
„Wenn ich nicht perfekt bin, bin ich nichts.“