Sehen findet im Gehirn statt - Iris Reckert - E-Book

Sehen findet im Gehirn statt E-Book

Iris Reckert

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Beschreibung

Patienten in der Neurorehabilitation sind häufig von Sehstörungen betroffen, z. B. infolge eines Schlaganfalls, eines Schädelhirntraumas oder im Rahmen chronischer neurologischer Erkrankungen. Zu Beginn werden die Komponenten des normalen Sehvorgangs beschrieben und Hinweise für Untersuchungsmöglichkeiten gegeben. Eine Übersicht über visuelle Störungen wird aufgezeigt, um im Anschluss verschiedene Therapieverfahren anhand von Fallbeispielen zu diversen Krankheitsbildern vorzustellen. Das Buch verfolgt die Zielsetzung, dass Untersuchungs- und Therapietechniken auch für nicht orthoptisch ausgebildetes Personal in der Neurorehabilitation durchführbar sind. Trainingsmaterial für die Therapie von visuellen Explorationsstörungen wird als Download zur Verfügung gestellt.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort

Vorwort

1 Normales Sehen – was gehört dazu?

1.1 Eine banale Alltagshandlung – visuell ist aber viel passiert!

1.2 Welche visuelle Fähigkeit brauchen wir wozu?

1.3 Augenbewegungen im Alltag

1.4 Das Augenpaar

1.5 Fazit multiple Aspekte des Sehens

1.6 Ausblick

2 Visuelle Komponenten im Einzelnen betrachtet – Hinweise für die Untersuchung und Rehabilitation

2.1 Die Anamnese – Wir müssen reden

2.2 Von der Befragung zur Untersuchung – die Inspektion

2.3 Die Untersuchung visueller Komponenten

2.4 Nahsehschärfe, Akkommodation und Alterssichtigkeit

2.5 Das Gesichtsfeld – der visuelle Weitwinkel

2.6 Die visuelle Exploration – wohin schauen sie denn?

2.7 Screening der Farbwahrnehmung

2.8 Das Lesen

2.9 Augenstellung, Augenbeweglichkeit und beidäugiges Sehen

3 Neurovisuelle Situationen – ein Überblick von Sehstörungen in der Neurologischen Rehabilitation

3.1 Die Zahlen

3.2 Die Sehstörung gibt es nicht – Visuelle Störungen im Rehabilitationsalltag

3.3 Hirnläsionen und ihre visuellen Folgen

3.4 Chronische neurologische Erkrankungen

3.5 Brillen, Kontaktlinsen und vorbestehende Augenerkrankungen

3.6 Womit müssen Sie sonst noch rechnen?

3.7 Unterschiede zwischen neurologisch und ophthalmologisch bedingten Sehstörungen

3.8 Diagnostische Grundsätze und Überlegungen

3.9 Die rechte und die linke Hirnhälfte – Charakteristika im Überblick

4 Das Augenpaar ist ein Doppelorgan – Augenbewegungsstörungen und Doppelbilder

4.1 Der Sonderfall Augenpaar

4.2 Die Bewegungssteuerung

4.3 Die Störfälle in der Augenbeweglichkeit

4.4 Doppelbilder

4.5 Therapie bei Augenmuskellähmungen und Doppelbildern

4.6 Augenmuskellähmungen: Verlauf, Prognose und Patientenführung

5 Gesichtsfeldausfälle und Neglect

5.1 Gesichtsfeld

5.2 Homonyme Gesichtsfeldstörungen im Alltag

5.3 Der Neglect – ein häufiges Phänomen nach einer Hirnverletzung

5.4 Gesichtsfeldstörung oder Neglect? Oder beides?

5.5 Gesichtsfeldtestung am Perimeter bei Neglect-Patienten

5.6 Die Hemianopsie ist diagnostiziert. Besteht zusätzlich ein Neglect?

6 Therapieverfahren bei Gesichtsfeldausfällen und visuellem Neglect

6.1 Kompensation – Trotz Gesichtsfeldausfall den Alltag bewältigen

6.2 Die Wahl der richtigen Trainingsmethode

6.3 Therapiemethoden auf unterschiedlicher Schwierigkeitsstufe

6.4 Die Verhaltensänderung im täglichen Leben

6.5 Optische Hilfsmittel bei homonymen Gesichtsfeldstörungen

6.6 Der Spezialfall bitemporale Gesichtsfeldstörung

6.7 Der Spezialfall Röhrengesichtsfeld

6.8 Der Spezialfall homonyme Zentralskotome

7 Beidseitige Hirnläsionen: Cerebral Visual Impairment und Balint-Syndrom

7.1 Visuelle Alltagskompetenzen

7.2 Das klinische Bild des Cerebral Visual Impairments

7.3 Therapie bei CVI

7.4 Empfehlenswerte Trainingsmaterialien

7.5 Das Balint-Holmes-Syndrom

8 Sehstörungen bei chronischen neurologischen Erkrankungen: Morbus Parkinson und Multiple Sklerose

8.1 Morbus Parkinson

8.2 Multiple Sklerose

9 Kulturfähigkeit Lesen: Was Sie über Sehschärfe, Brille und Gesichtsfeld wissen sollten

9.1 Normales Lesen

9.2 Visuelle Voraussetzungen für die Lesefähigkeit

9.3 Homonyme Gesichtsfeldausfälle und Lesestörungen

9.4 Trainingsmöglichkeiten bei linksseitigen Gesichtsfeldausfällen und Neglect

9.5 Homonyme Gesichtsfeldausfälle nach rechts und sprachliche Störungen

9.6 Trainingsmöglichkeiten bei rechtsseitigen Gesichtsfelddefekten

9.7 Lesetraining bei homonymen Skotomen nach rechts oder links

9.8 Lesestörungen bei Gesichtsfeldausfällen: was dürfen Sie langfristig erwarten?

10 Erblindung, hochgradige Sehbehinderung und der Verlust eines Auges

10.1 Einseitiger Sehschärfenverlust

10.2 Neurologische Ursachen für eine Erblindung oder hochgradige Sehbehinderung

10.3 Der Umgang mit blinden Patienten

10.4 Hilfsmittel – mechanisch, optisch und digital

10.5 Der Verlust eines Auges

11 Eine kurze Bilanz der langen Berufserfahrung

11.1 Die therapeutische Beziehung – Der Kontakt mit dem Menschen

11.2 Kommunikation

11.3 Wie gut lässt sich ein Therapieerfolg vorhersagen?

11.4 Zum guten Schluss

Glossar

Digitales Zusatzmaterial

Literatur und Quellen

Danksagung

Stichwortverzeichnis

Die Autorin

Iris Reckert, Orthoptistin und Erwachsenenbildnerin. Ab 1995 Aufbau des Therapieschwerpunkts Orthoptik in der Neurorehabilitation, Diagnostik und Therapie bei neurovisuellen Störungen, Entwicklung eigener Therapieverfahren an der Rehaklinik Zihlschlacht, Schweiz.

Iris Reckert

Sehen findet im Gehirn statt

Ein orthoptischer Ratgeber für die Rehabilitation hirnverletzter Erwachsener

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Fotos und Bildbearbeitung: Iris ReckertZeichnungen: Dr. med. Kathrin Althaus

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-038528-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-038529-0epub: ISBN 978-3-17-038530-6

Geleitwort

Daniel Zutter

Stellen Sie sich vor, Sie wären der Catcher bei einem Baseballspiel und der Pitt käme aus einer Entfernung von 18 m mit einer Geschwindigkeit von etwa 150 km/h auf Sie zugeflogen. Damit Sie in der Lage wären, den Ball nach dem Wurf 0.4 Sekunden später in ihrem Fanghandschuh landen zu lassen, bräuchten sie vor allem drei Dinge: ausgezeichnete Augen, ein rasch schaltendes Gehirn und eine hervorragende Augen-Hand-Koordination. Um zu verhindern, dass das Geschoss auf ihrem Kopf aufschlägt, müssten ihre Augen sich präzise simultan bewegen, dabei ihre eigene Kopf- und Körperbewegung miteinbeziehen, zwei unterschiedliche Bilder fusionieren und auf den Kopf stellen, das Gesehene interpretieren und fein abgestimmte motorische Signale an Arm und Hand versenden.

Glücklicherweise wird von unserem visuellen System nicht alltäglich eine solch extreme Höchstleistung verlangt. Die meisten von uns sind damit gesegnet, dass der alltägliche Sehvorgang praktisch »von alleine« abläuft, ohne dass wir uns hierfür groß anstrengen müssten. Deshalb brauchen wir uns in unserem täglichen Leben über unser gut funktionierendes visuelles System keine allzu großen Gedanken zu machen. Ohnehin ist der Vorgang des Sehens und der visuellen Wahrnehmung so komplex, dass es nur unter erheblicher Anstrengung und Denkleistung gelingt, diesen in der Tiefe zu verstehen. Ein Grund vielleicht, weshalb sich die meisten Neurologen und Ophthalmologen nicht die Mühe machen, sich diesem faszinierenden Gebiet zuzuwenden.

Sehstörungen bei neurologischen Erkrankungen sind häufig. Dies erstaunt nicht, da ein großer Teil des zentralen Nervensystems dem Sehen dient. Im Rahmen eines Schlaganfalls kommt es in rund 1/3 der Fälle zu Sehstörungen, z. B. zu einer Herabsetzung des Visus, Aufmerksamkeitsdefizite im Raum, Auftreten von Doppelbildern oder Störung des Gesichtsfelds. Die Fähigkeit diese Störungen des visuellen Systems zu erkennen und korrekt einzuordnen ist sehr hoch anzusiedeln. Die Betroffenen können nämlich ihre Sehstörung häufig nicht differenziert schildern und geben im Allgemeinen lediglich an, »schlecht zu sehen«, was in der Ursachenklärung nicht weiterhilft. Hier die richtigen Nachfragen zu stellen, verlangt einiges an Erfahrung und einen guten Überblick über dieses Gebiet.

In der Neuroophthalmologie werden Sie auch immer wieder auf scheinbar kuriose Phänomene stoßen. Wie würden Sie einem offensichtlich blinden Mitmenschen begegnen, der überzeugt ist, sehend zu sein? Wie schätzen Sie die Situation eines schwer sehbehinderten Menschen ein, der problemlos Tischtennis spielen kann? Falls Sie diese Fragen für sich jetzt noch nicht eindeutig beantworten können, dann liegen Sie mit dem Erwerb dieses Buches richtig.

Die Autorin Iris Reckert hat ihr berufliches Leben dem Thema der neuroophthalmologischen Störungen und deren Behandlung gewidmet und es auf diesem Gebiet zur Meisterschaft gebracht. Doch wann darf man eine Person als Meister oder in diesem Fall als Meisterin bezeichnen? Was muss ein Mensch geleistet haben, um eine solche Bezeichnung zu verdienen? Im Gegensatz zum Gesellen gründet eine Meisterin ihre eigene Werkstatt mit eigenen Lehrlingen. Die Meisterin verbringt einen Teil ihrer Zeit damit, ihre Fertigkeiten, ihr Können und ihre Erkenntnisse an jene weiterzugeben, die weniger erfahren sind als sie selbst. Iris Reckert hat im Rahmen ihrer beinahe 30-jährigen klinischen Tätigkeit nicht nur eigene, neue Therapieverfahren zur Behandlung neuroophthalmologischer Störungen entwickelt und bei unzähligen Patienten erfolgreich angewendet, sondern auch immer ihr Wissen im persönlichen Austausch, an Vorträgen und Lehrgängen mit Ärzten, Pflegenden und Therapeuten geteilt. Hierfür gebührt ihr großer Dank. Mit dem vorliegenden Buch, in welchem sie ihr breites und von Erfahrung geprägtes Wissen an einen weiteren Kreis interessierter Fachpersonen weitergibt, findet ihre Tätigkeit eine vorläufige Krönung.

Dr. med. Daniel ZutterChefarzt/Ärztlicher Direktor der Rehaklinik Zihlschlacht, CH

Vorwort

Iris Reckert

Warum dieses Buch?

Kompetente Bücher über Gesichtsfeldstörungen, Neglect und visuelle Wahrnehmungsstörungen sind zahlreich vorhanden. Ophthalmologische Werke über Schielen und Neuroophthalmologie ebenfalls. Ein neuro-orthoptischer Ratgeber mit der Nähe zur Augenheilkunde und sowohl diagnostischem als auch therapeutischem Fachwissen fehlt bisher.

Der vorliegende Ratgeber beschreibt neurovisuelle Situationen und gibt Hinweise auf Therapieverfahren, die teilweise als Download zur Verfügung gestellt werden. Das Buch soll den visuell nicht ausgebildeten Berufsgruppen Informationen zum Verständnis der Sehvorgänge liefern und vor allem vermitteln, dass es nicht die Sehstörung gibt, sondern eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen neurovisuellen Symptomen.

Den visuellen Berufsgruppen ohne neurologische Spezialisierung soll der Ratgeber die Vielfalt der neurorehabilitativen Situationen und der neurologischen Begleitsymptomatik nach einer Hirnverletzung näherbringen. Das Buch enthält zahlreiche Patientenbeispiele, um diese Situationen spürbar zu machen. Die Vorbilder für diese Patientenschicksale hat es tatsächlich gegeben. Aus Gründen des Datenschutzes wurden die persönlichen Biografien so verändert, dass sie nicht mehr identifizierbar sind.

Das Buch gibt Hinweise auf diagnostische Testverfahren und Therapiemethoden, die den verschiedenen Berufsgruppen den Umgang mit neurovisuellen Störungen erleichtern und therapeutische Anregungen geben sollen. Grenzen sind dort gesetzt, wo zur Beurteilung einer Situation oder Durchführung eines Testes eine spezialisierte Berufsausbildung erforderlich ist. Dies gilt vor allem für das Kapitel über Okulomotorik und beidäugiges Sehen. Dies ist ein orthoptisches Kerngeschäft, das außer von Augenärzten und einigen Optikern von keiner anderen Berufsgruppe übernommen werden kann. Kompetenz im Umgang mit neurorehabilitativen Patienten bedeutet auch, dass man die eigenen Grenzen realistisch einschätzt, die Spezialisten anderer Berufsgruppen kennt und sie bei Bedarf herbeizieht.

Für wen ist dieses Buch gedacht?

Dieser Ratgeber soll verschiedene Fachleute ansprechen, die im Kontakt mit hirnverletzten Menschen sind. Es wird für keinen Leser »genau richtig« sein, aber hoffentlich für viele Leser hilfreich. Manche Leser werden bereits neurologische Kenntnisse haben und die visuellen Informationen als Kenntniserwerb nutzen. Visuelle Fachleute hingegen werden diverse Sehfunktionen und deren Untersuchung bestens kennen, nicht aber die neurologischen Rahmenbedingungen.

Den einen wie den anderen wünsche ich, dass dieser Ratgeber ihnen den Umgang mit den hirnverletzten Patienten erleichtert.

Piktogramme im Buch

Info/MerkevTippSSelbstversuchPatientenbeispielFazitDownload

1 Normales Sehen – was gehört dazu?

Was erwartet Sie?

Sie betrachten die vielfältigen visuellen Funktionen, die zum normalen Sehvorgang gehören. Sie befassen sich mit dem komplexen Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte der Wahrnehmung, der Augenbeweglichkeit und mit den Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen. Was wir als normale Wahrnehmung als selbstverständlich betrachten, ist komplexer als man meint.

Die visuelle Wahrnehmung – es gibt viel zu tun!

Unser Alltag ist in hohem Maße visuell geprägt. Informationen aus unserer Umwelt nehmen wir zu rund 80 % über das Sehen wahr – was wir in gesundem Zustand als selbstverständlich betrachten. Dabei handelt es sich um vielfältige Vorgänge, die unser Netzwerk Gehirn rasant schnell erledigt. Banal erscheinenden Alltagshandlungen liegen visuelle Prozesse zugrunde, die hochkomplex und sehr vernetzt sind. Weite Teile des Gehirns sind daher mit der visuellen Verarbeitung und der Koordination des Augenpaares befasst.

Einen Raum betreten und sich orientieren. Abschätzen, wo die Möbel stehen und wie weit sie voneinander entfernt sind. Farben und Formen wahrnehmen. Gegenstände finden, Personen erkennen, Geschwindigkeit abschätzen und zielsicher nach einem Objekt greifen – dies sind nur wenige Beispiele für die visuellen Leistungen, die im Netzwerk Gehirn geplant, gesteuert und verarbeitet werden.

1.1 Eine banale Alltagshandlung – visuell ist aber viel passiert!

Wir betreten einen Supermarkt und greifen nach einem Einkaufskorb. Ein Blick auf unseren Einkaufszettel zeigt uns, welche Artikel wir suchen. Von links kommt eine ältere Dame auf uns zu. Das ist ja Frau Nef, unsere frühere Nachbarin! Wir laufen nach rechts zum Gemüsestand und überlegen, ob wir große oder kleine Tomaten möchten. In diesem Moment fällt auf der linken Seite ein Apfel aus dem Gestell. Wir schauen blitzartig hin und versuchen, ihn aufzufangen.Visuell hat unser Gehirn in dieser kleinen Alltagsszene viel geleistet. (▶ Abb. 1.1)

Abb. 1.1:Alltagszene im Supermarkt (Kathrin Althaus)

Gesichtsfeld und Orientierung

Wir erfassen mehrere Gegenstände und Gebäudestrukturen zugleich, wenn wir einen Supermarkt betreten. Das Gesichtsfeld ist der Weitwinkel unserer Wahrnehmung, der dies ermöglicht. Da wir mehrere Gegenstände, Menschen oder Umweltinformationen gleichzeitig sehen, können wir sinnvolle Augenbewegungen machen, um von einem Ziel zum nächsten zu schauen.

Würde es nicht funktionieren:Mit einer massiven Gesichtsfeldeinschränkung, zum Beispiel einem Röhrengesichtsfeld, würden wir nur einen kleinen Ausschnitt wahrnehmen. Wir könnten beispielsweise die Türklinke sehen, nicht aber die ganze Türe und schon gar nicht die Umgebung. Die Orientierung in unbekannter Umgebung wäre praktisch unmöglich.

Tiefensehen und Hand-Augen-Koordination

Den Einkaufskorb haben wir entdeckt. Nun muss das Gehirn berechnen, wie weit der Griff entfernt ist und einen entsprechenden Impuls an die Hand schicken, damit wir gezielt zugreifen können.

Würde es nicht funktionieren:Wir würden danebengreifen!

Sehschärfe und Lesefähigkeit

Für das Erkennen des Einkaufszettels brauchen wir eine alltagstaugliche Sehschärfe, d. h. wir müssen in der Lage sein, kleine Striche und Punkte voneinander zu unterscheiden. Voraussetzung dafür ist häufig die passende Brille. Zudem muss unser Gehirn die erkannten Buchstaben zu einem Wort zusammenfügen, dieses als Sprachinformation verarbeiten und mit der entsprechenden Bedeutung verknüpfen.

Würde es nicht funktionieren:Reicht unsere Sehschärfe nicht aus, so würden wir die einzelnen Striche der Buchstaben nicht voneinander unterscheiden können. Die Buchstaben wären nicht erkennbar.

Wäre unser Wortformzentrum im Gehirn ausgefallen, würden wir die Buchstabenkombination nicht als Wort erkennen und könnten keine Bedeutung ableiten.

Gesichtserkennung

Frau Nef kommt auf uns zu, was wir zunächst als diffuse Bewegung im linken Gesichtsfeld bemerkt haben. Wir schauen zu ihr hin und unser Gehirn zieht aus verschiedenen Komponenten des Gesichts Informationen und verknüpft diese mit dem Gedächtnis. Dies funktioniert auch, wenn Frau Nef unterdessen eine Brille trägt und sich die Haare färbt.

Würde es nicht funktionieren:Wir würden bemerken, dass eine Person kommt und allenfalls äußere Merkmale wie die Größe der Person oder die Kleidung wahrnehmen. Die Gesichtserkennung und Zuordnung zu einer bestimmten Person wären nicht möglich.

Raumwahrnehmung und Visuelle Exploration

Beim Betreten des Supermarktes haben wir den Raum mit orientierenden Augenbewegungen erforscht. Den Gemüsestand rechts haben wir zunächst diffus im peripheren Gesichtsfeld gesehen und dann genauer hingeschaut. Die intakte visuell-räumliche Analyse lässt uns die Position und Entfernung abschätzen und wir dosieren unsere Körperdrehung entsprechend und laufen los.

Würde es nicht funktionieren:Wir hätten uns keinen Überblick verschafft, möglicherweise eine Raumhälfte ausgelassen und könnten nicht genau abschätzen, wo sich der Gemüsestand befindet. Die Körperdrehung wäre nicht präzise und wir müssten korrigieren. Die Bewegung im Raum wäre sehr unsicher.

Visuelles Erkennen und Größenvergleich

Möchte ich große oder kleine Tomaten? Dies erfordert, dass ich die »roten Dinger« als Tomaten identifiziere. Unser Gehirn analysiert Objektinformationen wie Form, Farbe und Struktur und kommt zum Ergebnis »Tomate«. Auch die Unterscheidung »groß – klein« ist eine Erkennensleistung des Gehirns.

Würde es nicht funktionieren:Wir könnten keine Bedeutung zuordnen. Die Bedeutung der »roten Kugeln« könnte nicht erschlossen und ihre Größe nicht abgeschätzt werden. Es bliebe unklar, sind es jetzt Tomaten, Äpfel oder Kirschen.

Peripheres Gesichtsfeld und reflexartiges Hinschauen

Links fällt ein Apfel aus dem Gestell. Zunächst nehmen wir eine Bewegung im peripheren Gesichtsfeld wahr, dies verursacht reflexartig eine Blickbewegung dorthin. Wir sehen den Apfel fallen und ein ebenfalls reflexartiger Befehl geht an unsere Hand, um den Apfel zu fangen. Dieser Ablauf ist rasend schnell und ohne bewusste Handlungsplanung.

Würde es nicht funktionieren:Wenn wir einen Gesichtsfeldausfall nach links hätten, würde uns aus dem linken Gesichtsfeld keine Information erreichen. Der Apfel würde ungesehen fallen. Die Blickbewegung dorthin und der reflexartige Impuls des Auffangens würden ausfallen.

1.2 Welche visuelle Fähigkeit brauchen wir wozu?

Fähigkeiten des Einzelauges:

Sehschärfe

Unter Sehschärfe oder Visus verstehen wir das Auflösungsvermögen des Auges, also die Fähigkeit, zwei Punkte noch eben als getrennt wahrzunehmen. Eine ausreichende Sehschärfe ist wichtig, um Schrift, Zahlen oder Strichzeichnungen erkennen zu können. Bei guter Sehschärfe ist der Abstand zwischen den Punkten sehr klein. Je schlechter die Sehschärfe ist, umso größer muss eine Schrift sein, damit sie noch erkannt werden kann. (▶ Abb. 1.2)

Abb. 1.2:Visustafel (Kathrin Althaus)

Selbstversuch

Reduzieren Sie Ihre Sehschärfe, indem Sie durch eine Klarsichtfolie (z. B. Frischhaltefolie für Lebensmittel) schauen, beobachten Sie, wie sich dabei die Erkennbarkeit von Zeitungsdruck verändert. Falten Sie die Folie mehrfach und beachten Sie, wie sich die Sehschärfe zunehmend verschlechtert.

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Die Sehschärfe ist die Fähigkeit, zwei Punkte noch eben als getrennt wahrzunehmen.

Kontrastsehen

Die Fähigkeit des visuellen Systems, Helligkeitsunterschiede von benachbarten Flächen wahrzunehmen, wird als Kontrastempfindlichkeit bezeichnet. Sie ermöglicht es, auch bei geringen Helligkeitsunterschieden, Kanten, Schatten und Gegenstände von der Umgebung zu unterscheiden. Das Kontrastsehen ist zudem bei der Erkennung von Gesichtern wichtig, da hier keine kontrastreichen Konturen wahrzunehmen sind, sondern unterschiedlich helle Hautflächen das Gesicht bilden. (▶ Abb. 1.3)

Abb. 1.3:Sehzeichen in schwachem Kontrast (Kathrin Althaus)

Selbstversuch

Schreiben Sie eine Zahl auf dem PC, schwarze Schrift auf weißem Hintergrund. Kopieren Sie diese Zahl und ändern die Schriftfarbe in hellgrau, sodass Sie eine schwarze und eine hellgraue Zahl in gleicher Größe sehen. Entfernen Sie sich vom Bildschirm bis Sie die schwarze Zahl gerade noch so erkennen können. Beobachten Sie, wie gut die graue Zahl noch erkennbar ist.

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Kontrastsehen ist die Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede von benachbarten Flächen wahrzunehmen.

Farberkennung

Die Farberkennung entsteht durch die Fähigkeit des visuellen Systems, Helligkeiten unterschiedlicher Wellenlängen als Farben wahrzunehmen (Pschyrembel Online 2021). In der Natur und in unserem Alltag haben Farben eine Signalwirkung. Gegenstände können wir zwar auch ohne Farbinformation erkennen, dennoch verbinden wir aufgrund unserer Erfahrung bestimmte Farben mit bestimmten Gegenständen.

Selbstversuch

Schauen Sie durch farbiges Glas, beispielsweise durch eine grüne oder braune Flasche. Beobachten Sie, wie dieser Farbfilter die Farbwahrnehmung in Ihrer Umgebung verändert.

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Farberkennung ist die Fähigkeit, verschiedene Farben unterscheiden zu können.

Gesichtsfeld

Die Gesamtheit der Wahrnehmung bei unbewegtem Auge, wird als Gesichtsfeld bezeichnet. Das Gesichtsfeld ist die Grundlage für unsere Orientierung. Zudem ist es die Basis für orientierende Augenbewegungen. Wenn im peripheren Gesichtsfeld etwas Interessantes auftaucht, schauen wir hin.

Selbstversuch

Fixieren Sie einen Punkt an der Wand und bewegen Sie ihr Auge nicht. Beobachten Sie, was Sie außerhalb des Fixierpunktes noch wahrnehmen.

Oder schränken Sie Ihr Gesichtsfeld ein. Decken Sie ein Auge mit der einen Hand zu und bilden mit der anderen Hand eine Faust, die ein Loch lässt. Schauen Sie durch dieses Loch und beobachten Sie, wie sehr dieses Röhrengesichtsfeld Ihre Wahrnehmung reduziert.

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Das Gesichtsfeld ist die Gesamtheit der Wahrnehmung des unbewegten Auges.

Visuelle Exploration

Das visuelle Erforschen eines Raumes, eines Bildschirms oder einer Textseite wird als visuelle Exploration bezeichnet. Das Gesichtsfeld bietet dafür die Grundlage. Die Exploration geschieht über Augenbewegungen und wird durch die visuelle Aufmerksamkeit gesteuert.

Selbstversuch

Bewegen Sie sich (vorsichtig!) in Ihrer Umgebung, indem Sie einen Punkt fixieren und darauf achten, dass Sie Ihre Augen nicht bewegen. Sie werden bemerken, dass im peripheren Gesichtsfeld gelegene Dinge unscharf abgebildet sind und die Bewegung sehr unsicher ausfällt.

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Exploration ist das Überblicken oder visuelle Erforschen der Umgebung mit bewegten Augen.

Akkommodation

Ein scharfes Bild in unterschiedlichen Distanzen erfordert eine Veränderung der Brennweite des Auges als optisches System. Dieser »Autofokus« wird durch die Augenlinse erreicht, die sich wölben kann, um die Brechkraft zu erhöhen und ein scharfes Bild in der Nähe herzustellen. Das Akkommodationsvermögen nimmt im Laufe des Lebens ab. Ca. ab Mitte 40 ist der kritische Punkt erreicht, an dem in der Lesedistanz von 40 cm das Bild nicht mehr scharf gestellt werden kann.

Selbstversuch

Falls Sie bereits alterssichtig sind und eine Lesebrille brauchen, verfügen Sie über eine hinlängliche Selbsterfahrung. Sie wissen, dass Sie ohne Brille im Nahbereich unscharf sehen.

Jüngere Menschen nehmen einen Text und betrachten ihn in einer Distanz, in der sie ihn scharf sehen. Dann nähern Sie den Text soweit an, bis er verschwimmt. An diesem Punkt reicht die Akkomodationsfähigkeit Ihrer Augenlinse nicht mehr aus und Sie sehen verschwommen. Je jünger Sie sind, umso näher wird dieser Punkt sein.

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Akkommodation ist das Scharfstellen des Netzhautbildes in verschiedenen Distanzen durch die Augenlinse.

Hell-Dunkeladaptation der Netzhaut

Die Helligkeit variiert im Laufe eines Tages zwischen grellem Sonnenlicht am Mittag und der diffusen Beleuchtung während der Dämmerung. Diese Unterschiede sind enorm. Die Netzhaut passt sich diesen Helligkeitsunterschieden an, damit bei unterschiedlicher Beleuchtung die Kontrastwahrnehmung erhalten bleibt und wir uns nicht allzu sehr geblendet fühlen.

Selbstversuch

Betrachten Sie eine helle Fläche, z. B. den grauen Himmel oder eine weiße Wand. Decken Sie mit der hohlen Hand ein Auge für ca. fünf Minuten ab. In dieser Zeit setzt eine teilweise Dunkeladaptation der Netzhaut ein. Die Netzhaut des abgedeckten Auges stellt sich auf die Dunkelheit ein.

Betrachten Sie anschließend mit beiden Augen erneut die helle Fläche und vergleichen Sie den Helligkeitsunterschied des dunkeladaptierten Auges mit dem helladaptierten Auge.

1.3 Augenbewegungen im Alltag

Wir brauchen verschiedene Augenbewegungen, um die visuellen Anforderungen des Alltags bewältigen zu können. Wir schauen von einem Sehobjekt zum nächsten, wenn wir uns im Raum orientieren, vom Fernseher auf den Sofatisch schauen oder beim Lesen von Silbe zu Silbe »hüpfen«. Das Beobachten bewegter Objekte, das rasche Reagieren auf bewegte Objekte, aber auch das konstante Sehen bei eigener Körperbewegung erfordern verschiedene Arten der Augenbewegung.Wir unterscheiden:

Langsame Blickfolge

Bis zu einer Geschwindigkeit von 40° pro Sekunde können wir einem bewegten Objekt mit unseren Augen folgen. Ziel der langsamen Blickfolgebewegung ist, das Sehobjekt stabil in der Netzhautmitte zu halten (Bynke, 2000). Wir brauchen diese Augenbewegungsart beispielsweise, wenn wir einem Fußgänger oder einem langsam fahrenden Auto hinterherschauen.

Selbstversuch

Nehmen Sie einen Kugelschreiber und betrachten Sie die Spitze. Bewegen Sie den Stift langsam hin und her. Sie werden die Spitze weiterhin scharf sehen, solange Sie die Bewegung nicht zu schnell ausführen.

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Langsame Folgebewegungen ermöglichen ein scharfes Netzhautbild beim Beobachten sich langsam bewegender Objekte.

Rasche Blickzielbewegungen

Das schnelle Hin- und Herschauen zwischen zwei Sehobjekten und auch das reflektorische Hinschauen, wenn im peripheren Gesichtsfeld etwas Interessantes auftaucht: all das sind Blickzielbewegungen, auch Blicksakkaden genannt. Sie können eine Geschwindigkeit bis zu 700° pro Sekunde erreichen (Bynke, 2000).

Blicksakkaden dienen dazu, die Blicklinie sehr schnell von einem Fixationspunkt zum nächsten zu bewegen. Sie werden beispielsweise eingesetzt, einen Raum abzuscannen und für die Orientierung zu sorgen. Aber auch die kleinen ruckartigen Augenbewegungen beim Lesen von einer Buchstabengruppe zur nächsten sind Blicksakkaden.

Selbstversuch

Suchen Sie sich in Ihrer Umgebung zwei markante Punkte und schauen Sie zwischen beiden hin und her. Die Zielpunkte Ihrer Blicksakkaden werden Sie scharf sehen, alles dazwischen ist verwischt, wackelt aber nicht. Außerdem werden Sie feststellen, dass Sie die Blicksakkade unterwegs nicht stoppen können.

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Blicksakkaden sind schnelle Augenbewegungen, die es ermöglichen, die Fixation rasch zu wechseln.

Vestibulo-okulärer Reflex (VOR)

Unter dem vestibulo-okulärem Reflex versteht man eine Ausgleichsreaktion der Augen.

Wenn wir unseren Kopf oder auch den ganzen Körper bewegen, geht ein Impuls an die Augenmuskulatur, um die Augen in einer ruhigen Position zu halten. Das Netzhautbild bei Eigenbewegung wird auf diese Weise stabilisiert. Wir sehen beim Laufen scharf, auch wenn Kopf und Körper in Bewegung sind.

Selbstversuch

Fixieren Sie die Buchstaben eines kurzen Textes und bewegen Sie den Kopf langsam von rechts nach links oder von oben nach unten. Sie werden weiterhin scharf sehen, da der vestibulo-okuläre Reflex Ihre Augen stabilisiert (Beim Tragen einer Gleitsichtbrille entstehen hier Unschärfen, aber dies liegt am optischen Aufbau des Gleitsichtglases.).

Halten Sie anschließend den Kopf ruhig und bewegen die Textvorlage. Sie werden bemerken, dass Sie nicht mehr scharf sehen.

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Der vestibulo-okuläre Reflex stabilisiert die Augen bei Körperbewegungen, um das Wegrutschen des fixierten Gegenstandes von der Stelle des schärfsten Sehens zu vermeiden.

Blickhaltefunktion

Das stabile Beibehalten einer Blickposition ist erforderlich, damit wir etwas anschauen können, ohne dass die Augen wegdriften. Auch beim Blick in eine periphere Richtung, können wir etwas beliebig lange betrachten, ohne dass die Augen in den Geradeausblick zurückrutschen.

Selbstversuch

Suchen Sie einen Gegenstand im rechten oder linken Gesichtsfeld. Schauen Sie diesen Gegenstand an, ohne den Kopf zu bewegen. Bleiben Sie eine beliebige Zeit in dieser Blickposition. Die Blickhaltefunktion wird Ihre Augen stabil halten. Sie könnten minutenlang diese seitliche Blickposition aufrechterhalten. (Im Alltag würden Sie dies nicht sehr komfortabel finden und deshalb den Kopf drehen.)

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Die Blickhaltefunktion ist nötig, damit die Augen beim Fixieren eines Objektes nicht wegdriften.

1.4 Das Augenpaar

Das Augenpaar bietet gegenüber dem Einzelauge diverse Vorteile.

Zwar verfügt das Einzelauge über visuelle Leistungen wie Sehschärfe, Kontrastsehen, Farbwahrnehmung und Gesichtsfeld. Dennoch sind wir mit zwei Augen ausgestattet, was entwicklungsgeschichtlich Vorteile hatte. Ein Augenpaar ermöglicht ein größeres Gesichtsfeld als ein Einzelauge, was bei unseren in der Steppe lebenden Vorfahren bei der Flucht vor Feinden ein Evolutionsvorteil gewesen sein dürfte. Präzises Tiefensehen, die sogenannte Stereopsis, wird im Gehirn aus den leicht verschoben eingehenden Bildern der beiden Augen berechnet. Die beidäugige Stereopsis ist der Tiefeneinschätzung des Einzelauges deutlich überlegen. Die Stereopsis dürfte also ein Evolutionsvorteil gewesen sein. Sie ermöglichte es unseren Verwandten, den Affen, beim Hangeln von einem Ast zum anderen, blitzschnell präzise zu greifen und nicht abzustürzen.

Sobald man ein Auge durch Krankheit oder Unfall verliert, ist ein Reserveauge ein enormer Vorteil.

Das Augenpaar ist ein bewegliches Doppelorgan, wie es sonst im Körper nicht vorkommt. Die Bilder beider Augen werden im Gehirn gemeinsam verarbeitet. Das Augenpaar wird miteinander bewegt und Bewegungsimpulse gehen immer an beide Augen.

Die beidäugige Zusammenarbeit

Die beiden einäugig wahrgenommenen Bilder werden im Gehirn zu einem einzigen Bild verschmolzen, dies nennt man Fusion. Voraussetzung dafür ist eine gerade oder annähernd gerade Augenstellung und eine möglichst gleichwertige Bildqualität beider Augen. Ist die Fusionierung beider Bilder nicht möglich, beispielsweise weil der Mensch schielt, entstehen bei Erwachsenen Doppelbilder. Im Kindesalter ist das Gehirn flexibler. Es schaltet den Seheindruck des schielenden Auges ab.

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Das Augenpaar hat gegenüber dem Einzelauge die Vorteile des größeren Gesichtsfeldes und der beidäugigen Stereopsis.

Die Koordination der Augenbeweglichkeit

Jeder Augapfel wird von sechs äußeren Augenmuskeln bewegt, die von dem III., IV. und VI. Hirnnerven angesteuert werden. Die Nervenimpulse gehen dabei immer an beide Augen.

Die präzise Koordination der Augenbewegungen ist erforderlich, damit eine nahezu punktgenaue Abbildung entsteht, die im Gehirn zu einem Bild verschmolzen werden kann (Fusion). Die Augenbewegungen werden von Zentren für vertikale Bewegung (Mittelhirn) und horizontale Bewegung (Brücke) gesteuert, damit sich beide Augen in gleichem Maße und in gleicher Geschwindigkeit in eine Blickrichtung bewegen.

Selbstversuch

Stellen Sie sich vor einen Spiegel und versuchen Sie, ein Auge einzeln zu bewegen. Sie werden scheitern. Ein Bewegungsimpuls geht immer an beide Augen.

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Bewegungsimpulse gehen immer an beide Augen, um eine exakte beidäugige Wahrnehmung zu gewährleisten.

Konvergenz

Bei Blick in die Ferne stehen die Augenachsen parallel. Für den Blick in die Nähe müssen sie sich zueinander ausrichten (konvergieren), was einer zentralen Steuerung bedarf. Dieser Mechanismus ist erforderlich, um in verschiedenen Distanzen mit beiden Augen punktgenau das gleiche Objekt zu fixieren. Wenn die Konvergenzleistung nicht vorhanden ist, entsteht in der Nähe ein Außenschielen, das bei Erwachsenen in aller Regel Doppelbilder verursacht.

Selbstversuch

Nehmen Sie einen Kugelschreiber, fixieren Sie die Spitze und nähern Sie den Stift langsam Ihrer Nase an. Ab einem bestimmten Punkt wird das ziemlich anstrengend und dann kommt der Moment, an dem die Konvergenz nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Sie sehen doppelt.

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Die Konvergenz ermöglicht beidäugiges Sehen im Nahbereich.

Beidäugiges Sehen und Stereopsis

Die von beiden Augen wahrgenommenen Einzelbilder werden im Gehirn zu einem Bild verschmolzen (Fusion) und wir haben den Eindruck, nur mit einem, in der Mitte der Stirn gelegenen Auge, zu sehen.

Aus den leicht verschobenen, sogenannt disparaten Bildern beider Augen berechnet das Gehirn ein dreidimensionales Tiefensehen, die Stereopsis. Sie ermöglicht uns im Nahbereich ein präzises Abschätzen des Abstandes zweier Objekte.

Die Stereopsis hat vor allem in Kombination mit raschen Bewegungen eine entscheidende Bedeutung. Ping-Pong spielen, nach einem Fußball treten oder einen herunterfallenden Apfel auffangen, das sind Tätigkeiten, die reflektorisch und rasant ausgeführt werden. Eine bewusste Überlegung würde dabei zu viel Zeit kosten. Und ohne dreidimensionales Tiefensehen würden wir nicht treffen.

Selbstversuch

Nehmen Sie zwei Stifte und halten sie diese in einem Abstand von ca. 20 cm übereinander. Nun treffen sie möglichst schnell mit dem oberen Stift auf den unteren. Verschieben Sie den unteren Stift und führen Sie den Versuch nochmals durch. Vermutlich sind Sie ziemlich treffsicher.Nun kneifen Sie ein Auge zu und wiederholen den Treffversuch. Treffen Sie daneben?

Dieser Treffversuch wird auch klinisch zur Beurteilung des beidäugigen Tiefensehens eingesetzt (Lang 1976).

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Die beidäugige Tiefenwahrnehmung (Stereopsis) ermöglicht ein Abschätzen des Abstandes zweier Objekte zueinander.

1.5 Fazit multiple Aspekte des Sehens

Der Anfang unserer Analyse ist gemacht. Wir haben eine Vielzahl von Sehfunktionen betrachtet, die die Grundlage für die normale visuelle Wahrnehmung und die sinnvolle Weiterverarbeitung im Gehirn sind.

Für die Bewältigung des visuellen Alltags sind Funktionen wie Sehschärfe, Kontrast- und Farbwahrnehmung, aber auch das Fokussieren des Sehobjektes, die Augenbeweglichkeit und das Gesichtsfeld ausschlaggebend. Das Augenpaar bietet gegenüber dem Einzelauge den Vorteil des größeren Gesichtsfeldes und des beidäugigen Tiefensehens.

Es handelt sich bis dahin um rein visuelle Funktionen. Erst ihre Verarbeitung im Gehirn ermöglicht das, was wir als »normales Sehen« bezeichnen.

Normale Sehfunktionen im Alltag – ein komplexer Vorgang

Die höhere Verarbeitung im Gehirn

Wir verfügen über normale Sehfunktionen, d. h. wir sehen scharf im Fern- und Nahbereich (mit oder ohne Brille), wir sehen farbig, können unsere Augen schnell und langsam bewegen und wir verfügen über ein ausreichendes Gesichtsfeld.

Bis dahin ist es so, als hätten wir Knochen, Muskeln, Sehnen und Bindegewebe. Balletttanz ist dennoch etwas anderes! So auch der Sehvorgang. Die basalen visuellen Funktionen durchlaufen im Gehirn verschiedene Aufmerksamkeitsfilter und Analysevorgänge. Erst so entsteht die normale Sehweise.

Sehen findet im Alltag immer unter verschiedenen Anforderungen statt. Bleiben wir bei unserem Beispiel: Wir gehen mit dem Einkaufszettel in den Supermarkt, treffen Frau Nef, suchen am Gemüsestand nach Tomaten und fangen einen herunterfallenden Apfel auf.Was ist dabei in den höheren zerebralen (zum Gehirn gehörenden) Zentren passiert?

Wir haben im Gesichtsfeld verschiedene Sehobjekte wahrgenommen und diese mit einer Augenbewegung gezielt fixiert. Was wir sehen verbindet unser Gehirn mit Gedächtnisinhalten, d. h. wir erkennen eine Eingangstüre sofort als solche und müssen nicht überlegen, was dieses Rechteck wohl sein könnte.

Auf der Basis unserer Handlungsplanung suchen wir den Einkaufskorb, den wir ebenfalls als solchen erkennen und wir greifen dank unseres Tiefensehens gezielt zum Griff. Für das Identifizieren der grauhaarigen Dame, die wir zunächst im linken Gesichtsfeld wahrgenommen haben, ist eine intakte Gesichtserkennung notwendig, die dann mit Gedächtnisinhalten verknüpft wird. Auch kommen subjektive Bewertungen hinzu, die auf gemachter Erfahrung beruhen oder den Filter unseres Wertesystems durchlaufen. Frau Nef? Welch nette Person, sie hat doch immer mal wieder unsere Katze gehütet. Aber angezogen ist sie ja wieder furchtbar, so ein scheußlicher Pullover und so weiter.

Erkenntnisse aus dem Einkaufszettel gewinnen wir, weil wir auf einen Blick aus einer Buchstabenkombination ein Wort erkennen, z. B. »Brot«. Die Grundlage dafür hat unser Gehirn vor langer Zeit erlernt. Wir wissen, dass »B« ein sinnvoller Buchstabe ist. Kollektiv hat man sich darauf verständigt, dass der Längsstrich mit zwei Halbkreisen auf der rechten Seite die Bedeutung und den Laut »B« darstellt. Diese visuell-sprachliche Information ist in unserem Gedächtnis abgelegt. Wörter lesen wir, indem wir die Wortform erkennen und sofort mit einer Bedeutung verknüpfen.

Die Orientierung im Raum gelingt bei ausreichendem Gesichtsfeld, wobei die einzelnen Objekte zu einer sinnvollen Raumwahrnehmung analysiert werden. Je nach Aufmerksamkeitsfokus suchen wir aus, was wir beachten oder ansteuern. Ziel ist im Beispiel der Gemüsestand rechts. Die Getränkewerbung auf dem Weg dorthin übersehen wir möglicherweise, weil sie nicht unserem derzeitigen Bedürfnis entspricht.

Orientierung und Raumwahrnehmung unterliegen verschiedenen Mechanismen. Immer ein ausreichend großes Gesichtsfeld vorausgesetzt, können wir rein reflektorisch auf Bewegung oder Interessantes im peripheren Gesichtsfeld reagieren, zum Beispiel auf den herunterfallenden Apfel.

Wir können aber auch ein definiertes visuelles Ziel haben, beispielsweise suchen wir bewusst den Gemüsestand oder im Bahnhof die Hinweistafel mit den Abfahrtszeiten. Der Raum wird dann mit Augenbewegungen abgesucht, bis das Zielobjekt gefunden ist. Dies nennt man visuelle Exploration. Selbstverständlich nehmen wir während dieses Suchvorganges eine Vielzahl von anderen Objekten oder Menschen wahr. Wenn sie jedoch nicht unserem Aufmerksamkeitsfokus entsprechen, werden sie oft nicht beachtet.

Ohne ein konkretes visuelles Ziel ist ebenfalls eine visuelle Orientierung möglich. Wir explorieren (erforschen) den Raum, ohne dass wir etwas Konkretes suchen. Wir lassen den Blick mal hierhin, mal dorthin schweifen und verschaffen uns einen Überblick. Wenn im Gesichtsfeld dann etwas Wichtiges auftaucht, schauen wir hin oder reagieren nahezu unbewusst, indem wir beispielsweise über eine Schwelle hinwegsteigen oder den Kopf einziehen, weil wir im oberen Gesichtsfeld wahrgenommen haben, dass die Türe zu niedrig ist. An diese Vorgänge verschwenden wir kaum einen bewussten Gedanken.

Visuelle Aufmerksamkeit – wir sehen, wonach wir schauen.

Das sogenannte Gorilla-Experiment von 1999 zeigt eindrucksvoll, dass wir offensichtliche Dinge, ja sogar einen Gorilla, der durch die Szene läuft, nicht sehen, weil wir uns auf anderes konzentrieren.

Basis für das Experiment ist ein 1-minütiges Video. Der Film zeigt zwei Teams mit je drei Basketballspieler/-innen. Ein Team trägt weiße, das andere schwarze T-Shirts. Die Zuschauer haben die Aufgabe, die Ballwechsel der weiß gekleideten Spieler zu zählen.

Nach einiger Zeit läuft eine Person, in einem Gorillakostüm durch das Bild. Während dieses unerwarteten Ereignisses setzen die Basketballspieler ihre Ballwechsel unbeirrt fort.

Im Schnitt übersehen mehr als 50 % der Betrachter den Gorilla. Man nennt dies Unaufmerksamkeitsblindheit (The invisible gorilla, 2022).

AnekdoteAls Vortragende sprach ich auf einer Tagung mit 120 visuellen Experten, also Augenärztinnen und Orthoptisten, über zerebrale Sehstörungen. Um das Thema visuelle Aufmerksamkeit zu erläutern zeigte ich das Video mit dem Gorilla-Experiment. Da zu vermuten war, dass die meisten Teilnehmer das Video bereits kannten, startete ich ein eigenes Experiment. Während sich die Teilnehmer mit dem Gorilla-Video befassten, wechselte ich im Hintergrund meinen Schal und meine Brille.Wie viele der visuell spezialisierten Teilnehmer haben das veränderte Aussehen der Vortragenden wohl bemerkt? Niemand!

Fazit:

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Normales Sehen ist ein komplexer Vorgang, der verschiedene visuelle Grundkomponenten wie Sehschärfe, Farbsinn, Gesichtsfeld und eine intakte Augenbeweglichkeit erfordert.

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Für unsere zahlreichen visuellen Alltagsaktivitäten ist eine Verarbeitung im Gehirn und Vernetzung mit Sprache, Gedächtnis und Kognition erforderlich.

1.6 Ausblick

In Anbetracht der Vielseitigkeit visueller Komponenten und der Komplexität der Verarbeitung im Gehirn wird deutlich, dass es nicht »Die Sehstörung« gibt. Vielmehr können im Auge, im Sehnerv und der Weiterleitung im Gehirn, beispielsweise in der Sehbahn und in den analysierenden Hirnarealen nach einer Hirnverletzung charakteristische Störungen auftreten. Es bedarf einer Untersuchung der verschiedenen Sehfunktionen, die je nach technischer Ausstattung, Know-how der Untersuchenden und je nach Zustand und Belastbarkeit der Betroffenen, unterschiedlich ausfallen kann.

Und immer ist zu bedenken: alle visuellen und zerebralen Fähigkeiten, die wir haben, können gestört sein oder ausfallen. Davon wird in den nächsten Kapiteln die Rede sein.

2 Visuelle Komponenten im Einzelnen betrachtet – Hinweise für die Untersuchung und Rehabilitation

Was erwartet Sie?

Sie befassen sich mit der visuellen Anamnese und Inspektion. Sie lernen eine Auswahl von Untersuchungsverfahren für die Testung von Sehschärfe, Gesichtsfeld und visueller Exploration kennen. Die Standardverfahren der Augenheilkunde werden Sie hier nicht vorfinden, da dafür ophthalmologische Lehrbücher (z. B. Grehn, 2012) zur Verfügung stehen.

Inspektion, normierte Verfahren und klinischer Eindruck – man tut, was man kann.

Untersuchungen in der Medizin, Optik, Neuropsychologie oder Orthoptik umfassen ein breites Spektrum an Präzision und Normierung. Bildgebungsverfahren und histologische Analysen können Gewebe bis in kleinste Einheiten beurteilen. Hightech-Verfahren wie die Optische Kohärenz Tomographie (OCT) liefern Analysen der feinsten Netzhautschichten. Dabei müssen die Patienten zwar kooperieren, aber nicht sprechen.

Im Rehabilitationsalltag verwenden wir hingegen meist psycho-physische Testungen, bei denen wir auf Antworten oder Angaben einer Person angewiesen sind. Das Spektrum ist dabei breit. Wir können Patienten mit normierten und validierten Testverfahren befragen oder beobachten. Wir können inspektorisch einen Blick auf die Augenstellung, das Blickverhalten oder die Konfiguration des Gesichtes werfen. Wir beobachten und interpretieren Verhaltensweisen und kommen so zu Ergebnissen, deren Präzision und Reproduzierbarkeit sehr unterschiedlich sein können.

»Man tut, was man kann,« für den Rehabilitationsalltag bedeutet dies, dass wir mit unterschiedlicher technischer Ausstattung und beruflicher Ausbildung zu einem Ergebnis kommen. Wenn kein Perimeter vorhanden ist, müssen wir andere Verfahren anwenden, um uns ein Bild über das Gesichtsfeld einer Person zu machen. Wenn keine Visustestung mit einer normierten Sehzeichentafel möglich ist, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen, um herauszufinden, ob eine Person wohl eine alltagstaugliche Sehschärfe hat.

Die Kompetenz der untersuchenden Person liegt darin, die Qualität der Messverfahren und der jeweiligen Untersuchungssituation kritisch zu beurteilen. »Wer misst, misst Mist,« ist ein Wortspiel, das auf die zahlreichen Fehlerquellen bei Messverfahren hinweist.

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Es kommen Untersuchungsverfahren unterschiedlicher Präzision zum Einsatz. Die Kooperationsfähigkeit des Patienten ist ein entscheidender Faktor für die Wahl des Verfahrens.

2.1 Die Anamnese – Wir müssen reden

Ziel ist es, im Anamnese-Gespräch die jeweiligen Beschwerden unseres Gegenübers zu erfassen, aber auch die medizinische Vorgeschichte, die für unser Fachgebiet relevant sein kann. Dabei wird der Patient selbst befragt (Eigenanamnese) oder seine Angehörigen (Fremdanamnese).

Ein Fragebogen hat in dieser Situation eine Checklistenfunktion. Er wird – soweit möglich – zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen ausgefüllt. Je nach Berufsgruppe und therapeutischem Auftrag, ist es sinnvoll, sich einen eigenen Anamnesebogen zu erstellen. Was man aus seinem Fachgebiet wissen möchte, gehört auf den Fragebogen! Die Angaben zu den aktuellen Symptomen, deren Ausprägung und Differenzierung können dabei ebenso wichtig sein wie die Vorgeschichte.

In der Neurologie ist es wichtig, die Qualität der Anamneseangaben zu bewerten. Patienten mit einer Anosognosie (fehlende Wahrnehmung der eigenen Krankheitssymptome) haben kein adäquates Konzept für die ihre Krankheitssituation und machen entsprechend weniger gut verwertbare Angaben. Eine Aphasie (Sprachstörung) kann ein Anamnesegespräch sehr schwierig oder sogar unmöglich machen. Dies sollte als Bewertung im Anamneseblatt vermerkt werden.

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Vermerken Sie im Anamnesegespräch aktuelle und vorbestehende medizinische Fakten. Bewerten Sie die Aussagekraft des Gesprächs.

Patientenbeispiel: Die Vorgeschichte ist wichtig

Herr Breitenmoser1 erlitt einen Infarkt der linken Arteria cerebri media. Bei Aufnahme in die Rehaklinik fiel auf, dass er sein rechtes Auge nicht vollständig abduzieren konnte. Außerdem sah er mit dem rechten Auge sehr schlecht. Musste man dies als Abduzensparese rechts und Visuseinbuße rechts nach seinem Infarkt interpretieren? Aber eigentlich passte der Augenbefund nicht zur neurologischen Diagnose!

Erhellend waren hier die Angaben zur Vorgeschichte. Herr Breitenmoser berichtete, bereits als Kind geschielt zu haben. Wegen der Schielschwachsichtigkeit des rechten Auges habe er damals in die Sehschule müssen. Diese Angaben machten es möglich, die aktuellen visuellen Phänomene als vorbestehend einzuordnen.

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Die Vorbefunde liefern wertvolle Informationen und ermöglichen eine Interpretation des aktuellen klinischen Bildes.

Zihlschlachter Anamnesebogen

Für die Befragung zur visuellen Situation nutzen wir in der Rehaklinik Zihlschlacht einen Fragebogen, der sich als gutes Instrument für die orthoptische Untersuchung erwiesen hat.

(▶ Zusatzmaterial 1 Zihlschlachter Anamnesebogen). Je nach Berufsgruppe, sind die Themen unterschiedlich gewichtet. Der Zihlschlachter Anamnesebogen soll Anregungen geben, einen eigenen Bogen zu erstellen für alles, was Sie über den Patienten erfahren möchten.

Neben den medizinischen Angaben ist es auch wichtig, etwas über die Aktivitäten des Patienten im Alltag zu erfahren. Beispielsweise erfragen Sie, ob Ihr Gegenüber vor der Erkrankung Auto gefahren ist, da die visuellen Funktionen wie Visus, beidäugiges Sehen und Gesichtsfeld für die Fahreignung relevant sind. Auch die Frage nach der Berufstätigkeit ist für die visuelle Beurteilung relevant. Die Sehanforderungen sind unterschiedlich, je nachdem ob jemand Taxifahrer ist oder als Informatiker stundenlang vor einem Bildschirm sitzt.

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Erfragen Sie im Anamnesegespräch den persönlichen Kontext.

Einige Tipps für die Anamnese:

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Bei linkshirnigen Läsionen müssen Sie mit einer Sprachstörung (Aphasie) rechnen. Überprüfen Sie die Kommunikation