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Was bedeutet Freiheit – und ist sie für jeden Menschen gleich? Für Landmaus Bruno sind Großstadt und Studium das Abenteuer seines Lebens. Weit weg von seinem behüteten Dorfleben ist er von vielen neuen Eindrücken manchmal reichlich überfordert. Alles scheint plötzlich möglich – vor allem für eine schwule Jungfer. Doch als dann Gideon auf den Plan tritt, wird Brunos Welt vollkommen auf den Kopf gestellt, denn Gideons Vorstellungen von Freiheit sind so ganz anders als Brunos...
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Seitenzahl: 682
Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2014
© 2014 by Isabel Shtar
Verlagsrechte © 2014 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Umschlagillustration: Marek Purzycki
Bildrechte vermittelt durch Shutterstock LLC
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
ISBN ePub: 978-3-95823-502-1
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Klappentext:
Was bedeutet Freiheit – und ist sie für jeden Menschen gleich?
Für Landmaus Bruno sind Großstadt und Studium das Abenteuer seines Lebens. Weit weg von seinem behüteten Dorfleben ist er von vielen neuen Eindrücken manchmal reichlich überfordert. Alles scheint plötzlich möglich – vor allem für eine schwule Jungfer. Doch als dann Gideon auf den Plan tritt, wird Brunos Welt vollkommen auf den Kopf gestellt, denn Gideons Vorstellungen von Freiheit sind so ganz anders als Brunos...
Für alle, die die Taube in der Hand
nicht mit dem Spatzen verwechseln.
Landmaus Bruno
Der Startschuss ins Studentenleben klingelt mir noch in den Ohren, als mir bereits zu dämmern beginnt, dass sich einige Dinge eventuell nicht ganz so entwickeln werden, wie ich sie mir in meinem jüngst verlassenen Kinderzimmer ausgemalt habe.
Ich sitze auf einem klapprigen 80er-Jahre-Stuhl mit bedenklich unergonomischer Rückenlehne und mein Herz klopft wie verrückt. Alle anderen im Stuhlkreis starren mich erwartungsvoll an, Pädagogikprofessor Dingelkamp mit eingeschlossen. Dieses Fossil seiner Zunft hockt vergnügt grinsend auf seinem eigenen Folter-Stuhl und nickt mir wohlwollend zu, während meine künftigen Kommilitonen darum bemüht sind, keinen schlechten ersten Eindruck zu hinterlassen, und angestrengt ihre Gesichtszüge kontrollieren.
Das allein würde mich jedoch nicht an die Grenzen meiner Sprachfähigkeit treiben. Ich würde jetzt gewiss längst das lahme Vorstellungssprüchlein herunterleiern, das ich mir bereits vor Wochen ausgedacht habe – wenn Dingelkamp mich nicht unerwartet mit einem Wollknäuel beschmissen hätte. Reflexartig habe ich das blassgrüne, verfilzte Ding aufgefangen und nun sitze ich hier und gucke blöd aus der Wäsche. Dingelkamp sieht aus, als erwarte er irgendetwas Konkretes von mir. Aber was bloß? Wenn es dumm Glotzen sein sollte, liege ich richtig. Da beschleichen mich jedoch leise Zweifel.
Ich schwitze also Blut und Wasser, meine Mundwinkel zucken zwischen debilem Grinsen und Panikattacke hin und her und Dingelkamp krault sich derweil seinen pittoresken, weißen Rauschebart.
Kurz bevor ich endgültig die Krise bekomme, beugt er sich vor, wirft einen bedeutungsschwangeren Blick in die Runde und verkündet: »Das hier nennt man einen stummen Einstieg!«
Die anderen Studenten nicken ergeben, als würde ihnen das irgendetwas sagen, während ich betreten auf das dusselige Knäuel starre, in das sich meine Finger inzwischen so tief vergraben haben, dass man sie vermutlich nur noch mit chirurgischer Hilfe wieder daraus befreien kann.
»Aufmerksamkeit wird gebündelt! Fragen werden provoziert!«, fährt Dingelkamp mit Inbrunst fort.
Aha. Stimmt. Ich frage mich tatsächlich, wo ich hier gelandet bin. So einen Kram haben meine Lehrer nie mit mir veranstaltet. Die haben ihre Scheußlichkeiten von Ledertaschen aufs Pult geknallt, einen guten Morgen gewünscht und dann die Hausaufgaben kontrolliert, bevor sie neue Aufgaben gestellt oder ewige Monologe gehalten haben. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich so etwas bestimmt auch hinbekomme, weshalb ich schließlich jetzt auch hier sitze.
Dingelkamp kommt mit einer Geschmeidigkeit, die ich einem Mann seines Alters nicht zugetraut hätte, auf seine in Jesus-Latschen steckenden Füße. »Das Wichtigste«, doziert er, während er in bester Moses-Manier ausladende Gesten vollführt, »ist Kom-mu-ni-ka-tion! Kommunikation ist wie ein Netz, ein ineinander verstrickter Faden, der uns miteinander verbindet. Los!«, fordert er mich auf und lächelt, als sei er ein Werbeopa, der seinen Enkel mit Altherrenkaramellbonbons ins Elysium katapultieren will. »Stellen Sie sich bitte kurz vor und verraten Sie uns, warum Sie den Beruf eines Lehrers ergreifen wollen. Welche Hoffnungen haben Sie? Welche Bedenken? Welche Ängste? Dann behalten Sie das Ende des Fadens in der Hand und werfen unser Kom-mu-ni-ka-tions-knäuel an den Nächsten weiter, sodass wir ein Kom-mu-ni-ka-tions-netz bilden können.«
Sind hier versteckte Kameras? Kommen wir jetzt ins Fernsehen? Die Show dürfte den Geschmack meiner Großmutter perfekt treffen, was jedoch kein allzu gutes Zeichen ist.
»Ähm...«, stammele ich ohne Konzept los.
Oh Gott, ich mache mir hier gleich ernsthaft in die Hose! Dabei werde ich nicht einmal von einer wild grölenden und einschüchternden Barbarenarmee angegriffen. In meinem Kopf herrscht tiefe Nacht. Ganz ruhig. Die Blase unter Kontrolle halten. Durchatmen. Rauf auf die Welle und mitschwimmen, los.
Verkrampft pule ich das Knäuel von mir und sehe mich nach einem passenden Opfer um. Ein mehr als rundlicher Kerl, mir schräg gegenüber, hat seinen Blick starr auf mein Gesicht gerichtet. Er wirkt mit seinen vollen Wangen und den dunkelbraunen Augen irgendwie freundlich auf mich. Der will bestimmt der Nächste sein. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein und er ist lediglich vor Schreck paralysiert, wie das Rehkitz im Scheinwerferlicht eines heranbrausenden Lkw.
»Also, ähm...«, bekomme ich nicht gerade intelligent hin und halte die Hände still, um mich besser auf das Sprechen konzentrieren zu können. »Ähm, ja«, probiere ich es noch mal, beiße die Zähne zusammen und blicke so gefasst auf, wie es mir unter diesen Umständen möglich ist.
»Ich heiße Bruno!«, platze ich schließlich heraus. »Bruno Berger. Ich studiere Lehramt, weil...« Mir nichts anderes eingefallen ist, wobei ich Kunst machen könnte und trotzdem nicht arbeitslos wäre. »Ich Lehrer werden will. Und ich, ähm, tja, hoffe... nun... dass ich dann Lehrer werde? Ein guter Lehrer, kein schlechter Lehrer?« Wie kann man bei einer derartigen Leere im Kopf nur so oft Lehrer sagen? Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen, aber diese Situation fällt nach meinem Empfinden nicht unter die Kategorie normal. Ich weiß nicht recht, was ich eigentlich erwartet habe, aber das hier war es mit Sicherheit nicht.
Bevor noch irgendjemand im Raum auf die Idee kommt, meinem peinlichen Auftritt durch einen Kommentar oder eine Nachfrage eine gewisse Schärfe zu geben, schmeiße ich meinem armen Gegenüber schleunigst das dämliche Knäuel zu, der es jedoch nicht auffängt, sondern es erst ächzend vom Fußboden aufheben muss.
Eine halbe Stunde später kann ich beruhigt feststellen, dass mein geistiger Dünnpfiff zwar den Vogel abgeschossen hat, der Rest der Bande sich jedoch nur geringfügig besser geschlagen hat. Vielleicht bekommt man einen Deppen-Bonus, wenn man als Erster drangekommen ist? Die Hoffnung ist gering, aber vorhanden, und Dingelkamp sieht nicht so aus, als würde ihn das verkrampfte Gestammel seiner Studenten irritieren. Eventuell gehört das sogar zur Übung und ist daher total sinnvoll? Er wird's schon wissen, schließlich ist er der Professor und ich nur ein kleiner Student an seinem ersten Tag.
Abschließend philosophiert er noch ein wenig über Kom-mu-ni-ka-tions-strukturen und Gruppenbildung, dann dürfen wir uns wieder entheddern. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Wahnsinn jetzt ein Ende hätte. Als Nächstes nötigt Herr Professor Doktor Dingelkamp uns eine Übung zum nonverbalen Kennenlernen auf. Hört sich hochakademisch an, heißt jedoch konkret, dass wir paarweise pantomimisch ein Tier darstellen sollen.
Ehe ich mich versehe, klebt der rundliche Junge von eben schon an meinem Rücken, während ich mit den Armen herumwackele, um einen imposanten Grizzlybären zu imitieren. Sieht wahrscheinlich eher aus wie eine Vogelscheuche mit nervösen Zuckungen. Meinen Partner lerne ich nur in der Hinsicht besser kennen, dass er bei warmem Wetter wie heute zu wenig Deo verwendet. Damit ist er als Grizzlyarsch natürlich eine Topbesetzung.
Oh Mann. Das kann ja heiter werden. Hoffentlich läuft das hier nicht immer so. Diese Idioten-Polonaise halte ich nicht jahrelang aus. Mein einziger Trost ist, dass die anderen sich ebenfalls mit gequälten Gesichtern zum Affen machen – teilweise sogar wortwörtlich.
Der studentische Tutor, der uns nach Ende der Einführungsveranstaltung in Empfang nimmt, sieht aus, als würde er sich diebisch darüber freuen, dass jetzt andere das erdulden müssen, was man auch ihm zugemutet hat. Immerhin spricht er von Dingen, die tatsächlich etwas mit dem Universitätsalltag zu tun haben, von Bibliotheksausweisen und Stundenplänen und Prüfungsanforderungen und so.
Dennoch ist mein Hirn weiterhin damit beschäftigt, den Dingelkamp-Schock zu verarbeiten. Darüber verliere ich jedoch dank meiner Hans guck in die Luft-Einstellung den Anschluss an meine Gruppe und stehe plötzlich ganz allein da – das Gedränge im Eingangsbereich des pädagogischen Instituts ist enorm.
Egal, wie langhalsig ich mich umsehe, die sind ohne mich ab zum Mittagessen. Ich war immer schon ein Bummelbruder und die Tatsache, dass ich städtisches Leben nicht gewohnt bin, macht es nicht besser. Trotzdem bin ich gerade zwanzig Jahre alt geworden und nicht erst drei, wie Dingelkamps Lehrmethoden es mich fast haben glauben lassen. Nein, ich bin erwachsen und ich mache mir doch nicht ins Höschen, weil ich nicht weiß, wo's langgeht. Und falls doch, tue ich so, als sei nichts. Genau.
Ich strecke den Rücken durch, hebe den Kopf und gebe den furchtlosen Typen mit Durchblick, der entschlossen die Stufen der Fakultät hinunterschreitet, ohne dabei auf die Nase zu fallen, da er in dieser Haltung nicht wirklich sehen kann, wo er hintritt. Vor dem Haupteingang öffnet sich ein mit grauen Pseudo-Kopfsteinen gepflasterter Platz, in dessen Mitte sich ein kreisrunder Brunnen befindet, in dem mehr Entengrütze als Wasser schwappt. Direkt daneben steht ein hölzerner Wegweiser, der neben diversen universitären Einrichtungen mindestens vier Mensen aufführt. Ich folge einfach auf gut Glück dem Weg zur Hauptmensa, aus deren geöffneten Türen Essensdüfte quer über den Campus wabern.
Die Menschenmenge um mich herum besteht aus den unterschiedlichsten Typen. Neben zu spät gekommenen Hippie-Bräuten und Dreadlocks-Aposteln erkenne ich selbst ernannte Bankdirektoren in spe in Anzug und mit perfekt gebundener Krawatte und natürlich den ganzen langweiligen Rest, zu dem ich mich selbst zählen darf. Mein Magen beginnt brav zu knurren, während ich mich mit dem Strom bewege. Höchste Zeit, ihn mit etwas Nahrhaftem vollzustopfen.
Leichter gesagt als getan, denn die in einem gruseligen 50er-Jahre-Plattenbau untergebrachte Hauptmensa ist nicht nur unglaublich, sondern auch unglaublich voll.
Ich gebe es nicht gerne öffentlich zu, aber mein Landmaus-Bruno-Gehirn verkraftet das einfach noch nicht so sonderlich gut, da muss ich mich erst noch dran gewöhnen. Und das werde ich wohl kaum tun, indem ich kneife.
Ich lasse mich also wacker vorwärts schieben, schnappe mir im Vorbeistolpern ein traurig beiges Tablett und lade es mit allem voll, was ich irgendwie erwischen kann. Heraus kommen ein schleimig aussehendes Nudelgericht, in dessen Soße sehr tot wirkende Pilze treiben, ein knallgrüner Wackelpudding und eine kleine Flasche Fanta. Ich werte das mit extrem optimistischer Einstellung als einen Erfolg.
Kaum durch die Kasse, stehe ich vor dem nächsten Problem: Ich sehe einfach keinen freien Sitzplatz, obwohl der Speisesaal so groß ist wie eine Scheune für Schweinemast. In meiner erzwungenen, supercoolen Haltung laufe ich eine Weile ziellos durch die Gegend, nah an der Grenze eines Krampfes in der Rückenmuskulatur, bis das Schicksal endlich Gnade mit mir hat. Der leere Stuhl befindet sich direkt am Förderband für die Tablettrückgabe und mein Sitznachbar ist ein bärtiger Obdachloser mit interessantem Duftbouquet, der sich die Reste vom Band zusammensammelt.
Heute ist wahrhaftig nicht der Tag der Wohlgerüche. Egal, Hauptsache, ich kann mich endlich auch niederlassen. Ich weiß schließlich, dass es grausam und hinterhältig ist, sich über solche Leute zu mokieren, also darf ich mich nicht anstellen. Ich unterdrücke also mögliche Vorurteile und atme bewusst durch den Mund, piekse die Fahne angewandter Toleranz und Nächstenliebe in den Mensalaminatboden und beginne, mich über mein Essen herzumachen. Damit ich aufgrund der Flut an Sinneseindrücken überhaupt zum Essen komme, starre ich angestrengt auf die Tischplatte, während ich die zerkochten Nudeln in mich hineinlöffele.
Das Stimmengewirr bin ich so nicht gewohnt. Bald wird mir das aber nichts mehr ausmachen, schließlich bin ich erst seit drei Tagen in Hamburg. Mein Heimatkaff hat nur fünfzig Einwohner und auch das Landgymnasium, an dem ich Abi gemacht habe, war ziemlich überschaubar.
Wenn Oma und ich mal in die Stadt gefahren sind, dann hieß das im Klartext Itzehoe. Das ist nicht gerade eine internationale Metropole. Klar, ich war auch schon in Hamburg, nicht zuletzt, um meine Mutter zu besuchen, doch das waren nur Stippvisiten, Urlaub in einer fremden Welt. Jetzt wohne ich hier, studiere gar, das ist eine ganz schöne Umstellung, von der ich mir gleichzeitig viel verspreche.
Apropos. Was ist das denn für ein Flyer in der Mitte des Tisches? Neugierig lass ich die Nudeln Nudeln sein und sehe mir den Zettel genauer an.
SCHWUL? LESBISCH?, steht da in großen Blockbuchstaben am Kopf der Seite. Lesbisch bin ich nicht, dafür fühle ich mich von Punkt eins deutlich mehr angesprochen.
Oh mein Gott! So etwas gibt es wirklich! Nicht nur in der Theorie und im Fernsehen und so. Das war mir zwar schon irgendwie bewusst, doch ich hätte nicht damit gerechnet, dass es mir einfach so beim Mittagessen in den Schoß fällt. Ich verschlinge das Flugblatt mit deutlich mehr Enthusiasmus als mein Menü.
Es ist eine Einladung. Heute Abend schon trifft sich eine studentische Schwulen-Lesben-Gruppe und Neulinge sind herzlich willkommen. Ich! Ich bin herzlich willkommen. Das ist doch unglaublich. 18 Uhr in Raum 212 des soziologischen Instituts. Das ist in nicht mal fünf Stunden. Meine Gebete wurden erhört!
Sicher, ich lebe auch nicht auf dem Mars, dennoch bin ich vornehm formuliert ein Spätzünder. Das hat mehrere Gründe. Der erste und wichtigste ist, dass ich einfach ein braver Junge sein wollte. Oma hätte es echt nicht verdient gehabt, noch so eine Pleite zu erleben wie mit meinem Vater, bei all der Mühe, die sie sich mit mir gegeben hat. Hinzu kommen eine ordentliche Prise Feigheit, Unsicherheit und die Umstände des Lebens in der Provinz. Aber jetzt, in dieser großen, aufregenden, beängstigenden Stadt gibt es Leute, die sind wie ich und die mich so, wie ich bin, kennenlernen wollen!
»Hey, Schwuchtel!«, spricht mich der Pennbruder von links aus an. »Isst du deinen Wackelpudding noch?«
Meine Wirbelsäule verwandelt sich in Wurmkacke. »Was?«, stottere ich überrumpelt und wende mich ihm zu. Ich mag zwar aus einer Ecke stammen, wo offiziell nicht mal die Störche schwul sind, aber Schwuchtel ist gewiss auch in Hamburg kein Kompliment.
Er beehrt mich mit der Entblößung seines maroden Gebisses, das mich an ein kubistisches Gemälde erinnert. Schiefe, eckige, braune Dingsdas, die in seinem Fall wohl Zähne darstellen sollen. »Ich habe gefragt, ob du deinen Pudding noch willst?«, wiederholt er freundlich.
»Nee...«, erwidere ich und reiche ihm die Schale.
»Danke, Hübscher«, freut er sich und macht sich darüber her.
Irritiert sehe ich mich um. Steht mir das etwa auf die Stirn geschrieben? Seit wann das denn? Bisher hat das doch nie jemand erkannt. Vielleicht hat die Klarsicht meines Nachbarn auch etwas damit zu tun, dass ich den Schwul-Lesbisch-Flyer ein ganzes Weilchen verzückt angestarrt habe wie ein böser Nazi die Bundeslade bei Indiana Jones. Das ist für die bösen Nazis bekanntlich nicht zufriedenstellend ausgegangen. Gut, dass ich keiner bin und sich meine Begehrlichkeiten eher im harmlosen Rahmen bewegen.
Da mein Nachbar jetzt sowieso schon im Bilde ist, bestaune ich dieses Geschenk des Himmels in meiner Hand einfach ungeniert weiter. Plötzlich bin ich guter Dinge. Deswegen bin ich schließlich hergekommen. Mein Leben als Erwachsener soll jetzt endlich losgehen. Als Student. Und als schwuler Mann. Das hier könnte ein Anfang sein und daher genieße ich die angenehme Aufregung, die mich beim Anblick des schlecht kopierten Zettelchens überkommt, in vollen Zügen.
Nieder mit den Discohuschen!
Mein Enthusiasmus sinkt beträchtlich, als die Stunde der Wahrheit näherrückt. Der Nachmittag hat mir einiges von der Verstörtheit genommen, die Dingelkamp mit seiner Kamikaze-Pädagogik verursacht hatte, da wir mit unserer Tutandengruppe, zu der ich im Seminarraum wieder stoßen konnte, Büchersuchspiele und Bibliotheksführungen veranstaltet haben. Endlich Dinge, bei denen ich so etwas wie Sinn erkennen konnte. Ich habe mir eifrig Notizen gemacht, damit ich bloß nichts vergesse.
Doch jetzt, da ich schwer atmend vor Raum 212 des soziologischen Instituts stehe und die Sekunden auf dem Zifferblatt meiner von Opa geerbten Armbanduhr herunterzähle, geht mir der Arsch ganz schön auf Grundeis. Ich höre Stimmen durch die Tür, weibliche wie männliche, und weiß: Das sind sie wirklich. Echte Schwule, echte Lesben. Keine Tagträume, keine Pornodarsteller, was im Groben und Ganzen meinen Erfahrungsschatz ausmacht.
Als ich sechzehn war, habe ich, besoffen von zu viel Ale, mit meinem englischen Gastbruder in Bristol rumgeknutscht. Am nächsten Tag konnte er sich offiziell an nichts erinnern und ich bin abgereist. Das war's. Hinter dieser Tür wartet aber gewiss auch nicht mein Märchenprinz auf mich.
An den glaube ich sowieso nicht. Ich mag zwar unerfahren sein, aber ich bin keine dreizehnjährige Glitzervampir-Schmacht-Kreischerin. Ich muss nur an meine Eltern denken, um zu wissen, wie der Hase wirklich läuft. Zwar hoffe ich schon, dass es bei mir besser wird, aber so dumm, mich in eine Traumwelt zu flüchten, bin ich auch nicht. Fürs Erste reicht es mir, überhaupt mit echten Menschen von Angesicht zu Angesicht zu reden, die auch homosexuell sind.
Der Zeiger wandert auf die zwölf, ich hole ganz tief Luft und öffne die Tür. Mir ist schwummerig. Die Gespräche im Raum verstummen abrupt. Sechs Augenpaare richten sich interessiert auf mich. Das Zimmer selbst ist ein völlig unspektakulärer Seminarraum mit zur Seite geräumten Tischen, grauem Nadelfilzboden und einer Wandfarbe, die sich am besten als verdreckt beschreiben lässt. Die tiefstehende Sonne hüllt alles in ein schmeichelhaftes Licht.
Allerdings nicht so schmeichelhaft, dass sie die anwesenden Herren attraktiver erscheinen lässt. Binnen eines Herzschlags habe ich sie bereits in die tiefe Grube der Aussortierten geschmissen. So viel zum Thema innere Schönheit. Offensichtlich lege ich keinen Wert darauf. Immerhin muss ich zugeben, dass der kleine, etwas rundliche Lockenkopf, der als Erster seine Stimme wiederfindet, zumindest Sympathie in mir wachruft.
»Hi«, begrüßt er mich mit schwacher Stimme.
Die anderen Jungs glotzen mich einfach stumm weiter an, sodass ich mich in meiner Haut sehr unwohl fühle, und die beiden Frauen beginnen zu kichern. Wenigstens die sind echt hübsch und sehen überhaupt nicht aus wie die Klischee-Lesben. Eigentlich ein ziemlich gemeiner Gedanke, ich Charakterschwein, ich. Sie tragen beide Sommerkleider, wie sie gerade überall in den Auslagen angepriesen werden, haben langes Haar, die eine heller, die andere dunkler brünett, und absolut nichts Burschikoses an sich.
Das habe ich davon, meine Bildungslücken mit unreflektierten Vorurteilen zu stopfen. Ich wäre schließlich auch entsetzt, wenn mir jemand sagen würde, ich könne nicht schwul sein, weil ich nicht das Schwulen-Klischee à la gebrochenes Handgelenk erfülle. Das tun die anderen Typen hier allerdings auch nicht.
Neben dem, der mich angesprochen hat, ist noch ein Hagerer mit blondem Pferdeschwanz da, der vermutlich wie Legolas aussehen möchte und doch wirkt wie ein totaler Nerd, und zwei Heinis, die mich an die Gründer und einzigen Mitglieder eines Schul-Schachclubs erinnern, Kastenbrillen und -köpfe inklusive.
»Hi«, erwidere ich auch viel zu leise. »Ich bin Bruno.« In blödsinnigen Vorstellungen habe ich heute ja bereits Übung bekommen. Ich gebe mein Bestes, um selbstbewusst und sicher zu wirken. Das ist auf die Dauer ganz schön anstrengend. Mein Herz klopft wie verrückt, ich glaube sogar, dass ich vor lauter Aufregung und latenter Panik ein wenig zittere.
»Das hier ist ein schwul-lesbisches Treffen«, informiert mich der Hagere brüsk.
»Ich weiß«, erwidere ich weniger selbstbewusst. »Deswegen bin ich ja auch hier.«
»Du?«, fragt mich der Pummelige verdutzt.
»Wir sind zu sechst und du nur einer«, stellt einer der Schachclubeigner mit warnender Stimme klar.
»Was? Wieso?« Ich verstehe nicht, was sie von mir wollen, und strauchele erschrocken rückwärts.
»Ruhig Blut«, fährt uns das Mädel mit den dunkleren Haaren dazwischen, tritt auf mich zu und legt beruhigend ihre rechte Hand auf meine Schulter, sodass meine Flucht jäh unterbrochen wird.
Kopfschüttelnd richtet sie sich an die Runde. »Ihr solltet euch mal sehen«, tadelt sie sie. »Ihr jammert den ganzen Tag, dass sowieso mal wieder keiner kommt. Dann passiert das Gegenteil und ihr führt euch auf, als sei der Arme ein Tentakelwesen aus dem All, das eure Milz fressen will. Was kann denn... Bruno?... dafür, dass er aussieht wie etwas, das Falk heimlich auf seiner Festplatte bunkert? Wie war das mit der Toleranz?«
»Das war für eine Recherche über sexuelle Ausbeutung und Geschlechterstereotypen«, protestiert der Dürre mit hochrotem Kopf.
»Wer's glaubt«, haut ihn sein rundlicher Kompagnon in die Pfanne.
»Wie bitte?«, stehe ich derweil kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
»Hey, Mann«, grinst mich die Brünette, die sich so schützend zwischen mich und die vier von der Tankstelle geworfen hat, rotzfrech an. Ihre Augen sind tiefgrün und in ihnen blitzt der Schalk.
»Ich kann das ja völlig ungeniert sagen, denn du fällst absolut nicht in mein Beuteschema und ich wohl hoffentlich nicht in deins. Wenn ja, hast du Pech gehabt, denn das da ist meine Freundin Katrin.« Sie deutet auf das andere Mädchen, das mir freundlich mit einem Bier zuprostet. Sie hat ein herzförmiges Gesicht und eine kecke Stupsnase.
»Absolut nicht«, schwöre ich Stein und Bein.
»Brav«, lobt sie mich. »Ich stehe zwar nicht auf Schwänze, aber wenn du obendrein auch noch in zusammenhängenden Sätzen sprechen kannst, würde ich dich eines Tages für eine Samenspende in Betracht ziehen.«
»Was?«, kreische ich nun tatsächlich und kläre so rasch die Frage nach den zusammenhängenden Sätzen. Und ich dachte, Dingelkamp sei schon der Gipfel des Tages in Sachen Irrsinn gewesen!
Das andere Mädchen, Katrin, tritt vor, und legt ihre Hand auf meine andere Schulter. »Keine Panik«, grinst sie. »Lea ist zuweilen ein enfant terrible. Ganz locker. Was sie damit zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass du zu heiß bist, als dass dich die Jungs hier erwartet hätten. Deswegen halten sie dich jetzt alternativ für ein Killerkommando oder den Teufel.«
»Was?«, krächze ich erneut an der Grenze zu komplett sprachgestört. Und so etwas wie ich will Germanistik studieren. Ich weiß, dass ich nicht verstörend hässlich bin, sodass wildfremde Menschen auf der Straße mich entsetzt anstarren würden, doch damit endet die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung auch schon. Ich bin Modell blond und blauäugig, knapp über eins achtzig und laut ärztlicher Untersuchung in bester gesundheitlicher Verfassung. Meine Schulkameraden fanden mich okay, aber die wollten auch nichts weiter von mir. Den Mädchen bin ich zu gekonnt aus dem Weg gegangen, als dass ich ihre detaillierte Bewertung hätte erfahren können. Als heiß wurde ich allerdings noch nie bezeichnet und das meines Erachtens nach auch völlig zurecht. Haben die sie hier nicht mehr alle?
Die Jungs starren betroffen Löcher in den Boden, nur Katrin lacht munter weiter.
»Tut uns leid«, wagt schließlich das lange Elend den ersten Schritt und sieht zu mir auf. Seine Augen sind blau, wirken jedoch ein wenig verkniffen. »Ich bin Falk. Er«, er deutet auf den Rundlichen, »heißt Felix. Und das sind Lennard und Franz.«
»Sehr angenehm«, zeige ich mich wohlerzogen, wie Oma es mir beigebracht hat.
»So ist's recht«, gurrt Lea. »Komm, setzen wir uns doch. Willst du ein Bier, Bruno?«
Ich nehme dankend an und atme schließlich erleichtert auf. Nach ein paar weiteren peinlich gezwungenen Minuten legt sich die Spannung allmählich und ich komme dazu, meine zuvor bereitgelegten Fragen zu stellen. Ich erfahre, dass die Gruppe einiges tut, um Bewusstsein und Toleranz zu wecken und die Rechte derjenigen zu wahren, wie zu fördern, die nicht dem sexuellen Mainstream entsprechen. Ich finde es gut und richtig und sehe durchaus ein, dass ich auch meinen Teil leisten sollte. Bisher habe ich ja gar nichts getan, dennoch will auch ich das, was sie vertreten.
»Tut mir echt leid«, entschuldigt sich Lennard … oder Franz rückwirkend. »Du sahst echt aus wie eine der Discohuschen aus dem Sweet Dreams.«
»Häh?«, steuere ich wenig geistreich zur Konversation bei.
»Ach«, schnaubt Falk, der so etwas wie der Gruppenchef zu sein scheint. »Diese Spaßschwestern, die denken, ihren Beitrag geleistet zu haben, wenn sie auf dem CSD einmal mit der Federboa in die Kamera gewedelt haben. Die tanzen, ficken, sich die Birne voll-dröhnen und behaupten, das sei eben schwuler Lifestyle und alle anderen nur Spießer. Diese Idioten regen mich echt auf! Okay, sie können treiben, was sie wollen, ist ja ein freies Land, aber sie machen es für alle anderen nur umso schwerer, indem sie dieses Klassenclown-Image kultivieren und fröhlich alle Klischees bedienen.«
Dieser Gedankengang kommt mir bekannt vor. Mit schwul haben in meinem Umfeld auch alle etwas ganz anderes assoziiert als einen führenden Politiker, obwohl dazu durchaus Anlass bestanden hätte.
Deswegen habe ich immer mein Maul gehalten. So wollte ich einfach nicht wahrgenommen werden. Den Schneid, den Gegenbeweis anzutreten, hatte ich einfach nicht. Vielleicht ändert sich das nun ja auch?
»Sind die echt alle so drauf?«, staune ich beklommen.
»Bestimmt nicht. Nur die, die es sind, sind eben präsenter, weil sie die gängigen Vorstellungen bedienen und schlichtweg auffälliger sind«, bemerkt Katrin. »Geht uns Lesben ja auch nicht anders. Wenige prägen die allgemeine Wahrnehmung, ohne dass sich die Leute die Mühe machen, darüber nachzudenken, dass das vielleicht nicht ganz verallgemeinerbar ist. Da heißt es wohl einfach weiter unverdrossen aufzuklären.«
»Ja.« Langsam werde ich mit dieser Sache wohl auch warm. »Wir sind doch auch alle verschieden, nicht wahr? Genau wie die Heterosexuellen, Bisexuellen, was auch immer? Das ist doch auch nur ein Teil von uns.«
»So ist es«, stimmt mir Felix zu. »Und darum geht es. Unser erklärtes Ziel ist es, uns selbst überflüssig zu machen.« Er lacht und zeigt dabei zwei tiefe Grübchen. »Wir wollen normal wahrgenommen werden, wie wir es schließlich sind. Jeder Mensch sollte sein können, wie er ist, wie er sein möchte. Das ist nicht leicht in die Köpfe zu bekommen, wenn einige nie ihren Arsch hochkriegen und stattdessen auf Selbstgettoisierung machen. Klar müssen wir untereinander Kontakt halten, aber eben nicht im Sinne einer Parallelgesellschaft oder kompletter Ignoranz auch unsererseits.«
Ich nicke bedächtig. Dann platze ich heraus: »Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wovon ihr redet. Ich komme aus einem Pupsnest namens Hasenfuhrt und da ist der Name Programm. Okay, im Fernsehen habe ich das natürlich schon mal gesehen. Aber wie ist das wirklich? Gibt es das alles überhaupt in echt?«
»Wo liegt denn Hasenfuhrt?« fragt mich Lennard … oder Franz mitleidig. »Auf dem Pluto?«
»Kreis Steinburg«, erwidere ich etwas beleidigt. »Westlich von Hamburg, gar nicht weit weg.«
»Da gab es doch gewiss auch Straßen?«, erkundigt sich Felix interessiert und beugt sich vor, bis ihm seine Locken in die Stirn fallen und er aussieht, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Deswegen schneide ich mir meine Haare immer kurz, sonst sehe ich bei meiner Haarfarbe aus wie ein Mitglied einer Weihnachtsdeko-Schnitzengel Kapelle aus dem Erzgebirge. »Solche, die wegführen?«
»Ja«, bestätige ich gedehnt. »Das war halt nicht so einfach. Ich wollte meiner Großmutter keine Scherereien machen.«
Erneut sehen sie mich alle mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mitleid an. Ist es etwa peinlich, seiner Oma, bei der man aufgewachsen ist, nicht den letzten Nerv rauben zu wollen? Außerdem hat sie mich schon von klein auf darauf getrimmt, dass es kein erklärtes Lebensziel sein kann, ein Hallodri zu werden wie mein Vater, auch, wenn sie ihn vor mir nie so explizit fertiggemacht hat. So weit würde sie nie gehen, auch da hat sie ihre Prinzipien, doch ich kann schon eins und eins zusammenzählen.
»Ist doch völlig okay«, beschwichtigt mich Katrin und reicht mir ein weiteres Bier. Ein Blick auf den Buffettisch am Fenster hat mir schnell gezeigt, dass hier weder großer Andrang noch diätversessene Abstinenzler erwartet wurden. Es gibt Bier und Wein und massenhaft Chips.
»Wirklich«, pflichtet Felix Katrin bei, bevor die anderen murmelnd folgen. »Ist doch klasse, wenn deine Großmutter keinen Aufstand gemacht hat. Das läuft auch heute noch bei einigen nicht so super.«
»Ja, ich weiß. Da hatte ich Glück. Sie ist auch sehr in Ordnung. Deshalb wollte ich ihr eben keinen Kummer machen, indem ich – wie war das Wort? – die Discohusche hinlege. Das war eh nie so meine Welt. Aber ein bisschen neugierig bin ich schon«, muss ich zugeben.
»Wisst ihr was?«, reißt Lea das Gespräch wieder an sich. »Das machen wir. Bruno kann als schwuler Neu-Hamburger ein bisschen Unterstützung wirklich gebrauchen.«
Falks Augen beginnen zu leuchten.
»Klar«, fängt er Feuer. »Es gibt total viel hier, das man machen kann. Vom schwulen Fußballverein bis zum Filmtreff. Gerade läuft eine Ausstellung zur Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich.«
»Ja, ganz super«, unterbricht ihn Lea durchaus charmant. »Vielleicht will Bruno für den Anfang einfach nur wissen, wie die Dinge im Hier und Jetzt so stehen – und zwar nicht nur von der pessimistischen Perspektive aus betrachtet?«
»Das andere hört sich auch toll an«, versuche ich Falks langes Gesicht mit Lob zu entkrampfen. Eigentlich hört es sich fantastisch an. So viele Möglichkeiten. Fußball ist zwar nicht mein Ding, trotzdem öffnet sich bei diesen Aussichten der Horizont für mich. Jetzt habe ich erst mal einfach Blut geleckt, weil es sich so weltmännisch, städtisch anhört, mal einen Blick in diese mir fremde Welt zu riskieren. Alleine würde ich mich das niemals trauen. Hier bietet sich die Chance, mit Rückendeckung über den Zaun in den Garten des Unfassbaren zu blicken. Dieser Versuchung kann ich nicht widerstehen.
»Genau«, fährt Katrin fort. »Hamburg für schwule Neubürger? Da darf das Sweet Dreams eben nicht fehlen.«
»Ach«, meint Felix naserümpfend. »Ich weiß, ihr hängt da gerne mal rum. Ist für euch auch irgendwie anders. Ich finde es nur frustrierend. Ich meine, als Mann wird man dort nur danach beurteilt, ob man einen Waschbrettbauch hat oder nicht. Und wer hat den schon, der im Leben auch Besseres zu tun hat, als den halben Tag in der Muckibude rumzuhampeln.«
Ich – aber das sage ich jetzt besser nicht laut. Muckibuden waren in Hasenfuhrt zwar Mangelware, aber die Kreisschwimmhalle war gerade mal eine halbe Stunde von zu Hause entfernt. Seit meinem fünften Lebensjahr habe ich dort trainiert, war sogar bei Jugend trainiert für Olympia, und das habe ich nicht getan, um der schönste Frosch im Tümpel zu sein, sondern weil ich einfach gerne schwimme.
»Hey«, tröstet Lennard … oder Franz Felix und drückt ihn mit dem Arm um die Schultern an sich. »Es sind doch echt nicht alle da so drauf. Den Schuh musst du dir nicht anziehen.«
»Stimmt schon«, gibt Felix seufzend zu. »Aber einige schon und es ist einfach kein tolles Gefühl, angeguckt zu werden, als sei man eine wertlose Made.«
»Wer dich so anguckt, der ist eine wertlose Made«, stellt eins der Mitglieder des von mir unterstellten Schachclubs die Sache klar und hat damit vom Prinzip her völlig recht. Das gehört zu Omas Lehren: Der Wert eines Menschen bemisst sich gewiss nicht nach seinem Äußeren. Stimme ich vollkommen zu. Nur dieser amoralische Sensor in mir pfeift da total drauf, denn der bekommt gepflegt das Würgen bei dem Gedanken, Felix' Speckrollen zu küssen.
Mein schlechtes Gewissen schimpft mich innerlich mit Omas Stimme aus und das habe ich auch wirklich verdient. Ich kann's trotzdem nicht ändern, in der Hinsicht bin ich in der Tat eine wertlose Made. Allerdings wäre es das Allerletzte, das auch noch nach außen zu tragen. Es sei mein kleines, schmutziges Geheimnis, mit dem ich leben muss.
»Ja, scheiß auf die Freddies dieser Welt!«, knurrt Falk feindselig.
»Freddies?«, rutscht mir postwendend raus.
Felix verzieht angewidert das Gesicht und die anderen drei tun es ihm gleich. »The king of fucking everything«, erklärt er mir. »Und das ist wörtlich zu nehmen. Er ist der Nummer eins Platzhirsch. Er sieht selbstredend aus wie ein Aftershave-Zahnpasta-Unterhosen-Model und geilt sich daran auf, dass jede Schwester von hier bis zum Nordpol sich den rechten Arm abreißen würde, um bei ihm zu landen oder wie er zu sein.«
»Komisch«, kommentiere ich. Solche Menschen soll's ja beiderlei Geschlechts geben, auch wenn mir die Beweggründe schleierhaft sind.
»Der und seinesgleichen fressen jemanden wie Bruno doch ohne zu kauen«, klagt Felix und deutet dabei ungeniert mit dem Zeigefinger auf mich.
»Ach was«, sträube ich mich und schüttele wie wild den Kopf. Ein ganz krankes Bild entsteht in meinem Hirn, in dem ich von einem Rudel schwuler Hühner niedergepickt werde.
Das ist natürlich total bescheuert, da Hühner weiblich sind und demzufolge im Zweifelsfalle lesbisch, womit sie keinerlei Interesse an mir haben dürften. Ich wurde als Kleinkind ja mal von einem sehr heterosexuellen Gockel angefallen, der sein Weibsvolk gegen meine Knuddelattacken verteidigen wollte. Noch heute habe ich eine kleine Narbe am Hals, wo er versucht hat, mir die Kehle aufzuschlitzen. Er hat seine Heldentat mit einer Karriere als Suppeneinlage bezahlt. Das Landleben ist hart.
»Außerdem sind wir doch da«, triumphiert Lea, wendet sich mir zu und nimmt unbefangen meine Hand. »Wir passen schon auf dich auf«.
»Danke«, erwidere ich lahm. Ich kann mich meiner Haut eigentlich selbst erwehren. Behaupte ich mal, aber auch da fehlt mir Praxiserfahrung. Nichtsdestotrotz bin ich froh darüber, dass sie mich in ihrer Mitte willkommen heißen und mir die Welt zeigen wollen. Souveränität, Mut und Durchblick trage ich gerade wie ein Faschingskostüm mit mir herum, unter dem ich grässlich schwitze.
Und so bin ich plötzlich verabredet. Für Freitag. Unglaublich. Ich hatte wirklich Schiss, das ganze Wochenende über alleine dazuhocken. Oma hat strikte Order gegeben, dass ich erst mal hier bleiben solle, um mich einzufinden. Das gelingt mir gerade doch gar nicht mal so schlecht. Ein bisschen stolz bin ich schon.
Bald schon bin ich um sechs Handynummern reicher und bekomme bildreich beschrieben, wo wir uns treffen werden. Den restlichen Abend verbringe ich beschwingt inmitten meiner neuen Bekannten, während wir uns weiter beschnuppern. Sie geben mir Tipps zum Studium und plaudern auch über sich selbst. Ich erfahre, dass Katrin Kunstgeschichte studiert, Lea Musik und Englisch auf Lehramt, Falk Politologie, Felix Soziologie und Lennard – Franz, in der Tat beide etwas Naturwissenschaftliches. Mist, ich bekomme es einfach nicht hin, die beiden auseinanderzuhalten, sie sehen einander so ähnlich.
Als der Hausmeister um elf Uhr abends das rauschende Fest beendet, spüre ich eine freudige Ruhe in mir, die vor allen Dingen darauf zurückzuführen ist, dass ich mich nicht mehr so furchtbar allein in diesem Moloch wähne. Ich kenne jetzt wirklich und wahrhaftig Menschen, die sind wie ich, und denen gegenüber ich im entscheidenden Punkt offen sein kann. Experiment geglückt, sozusagen.
Gemeinsam mit Lea und Katrin trete ich anschließend den Heimweg zum Bahnhof an. Die beiden halten sich bei den Händen und wirken so glücklich. Bei dem Anblick werde ich ein bisschen wehmütig. Wie das wohl ist, verliebt zu sein und beruht auf Gegenseitigkeit? Sicherlich habe ich mich schon das ein oder andere Mal in jemanden verguckt. Mehr als stille Schwärmerei war aber nie drin. Das, was die beiden Frauen haben, möchte ich auch. Wer nicht? Ab heute gehört es wirklich zu den Möglichkeiten, den unzähligen Möglichkeiten, die mein neues Leben verheißt.
Zwei Kaulquappen
Der nächste Tag steht dem ersten in nichts nach. Die Kunstprofessorin, die heute die Hauptveranstaltung hält, beginnt nicht mit verstörenden Begrüßungsspielchen wie Dingelkamp. Frau Professor Schellhorn ist ihr Name. Ohne viel Drumherum sagt diese dürre, ältere Frau mit hochgesteckten, aschblonden Haaren und weit ausgestellten Leinenklamotten, was Sache ist. Dafür bin ich ihr dankbar. Besonders begierig bin ich auf die Kurse in angewandter Gestaltung. Es gibt so viele Techniken, die ich noch nicht beherrsche. Moderne Kunst steht im Mittelpunkt.
Ich hingegen bin – freundlich formuliert – ein Traditionalist. Im hiesigen Jargon auch rückwärtsgewandter Spießer genannt. Meine Passion ist die naturalistische Malerei, darin bin ich wirklich gut. Ein Ölgemälde von Hasenfuhrts schöner Flora? Kein Problem. 1810 wäre ich voll der Kracher gewesen. Wenn man heutzutage noch mit Staffelei und Pinseln malt, dann höchstens mit Kuhkacke. Im Zweifelsfalle sitze ich da in Hasenfuhrt ja an der Quelle, auch wenn mich der Gedanke nicht so begeistert.
Gegen achtzehn Uhr schleppe ich meine mit Literaturlisten, Infoblättern und den ersten Bibliotheksbüchern vollgestopfte Tasche stolzgeschwellt nach Hause und fühle mich dabei wie ein richtiger Student. Das bin ich ja auch. Ich muss es wohl erst noch voll und ganz realisieren.
Bis Altona sind es nur ein paar Stationen, wo sich wenige Minuten vom Bahnhof entfernt mein Domizil in einer Seitengasse befindet. Ein klassisches Studentenviertel ist es nicht, es wohnen eher ältere Leute und junge Familien hier, und es ist trotz der Lage relativ ruhig.
Die Straße besitzt sogar noch Kopfsteinpflaster und ist beidseitig mit gepflegten Rabatten begrünt. An der Ecke befindet sich ein eingezäunter Kinderspielplatz, Läden für Biokost und ökologisch hergestellten Krimskrams säumen den Bürgersteig.
Im Erdgeschoss des Hauses, in dem ich wohne, befindet sich ein Käseladen, was meinen Bedürfnissen sehr entgegenkommt. Ich bin ein Käse-o-holic. Je stinkender, desto besser. Als ich die Haustür aufschließe, atme ich genüsslich den Duft sehr reifer Molkereiprodukte ein, der verführerisch durch die sommerliche Luft wogt.
Meine Wohnung liegt im zweiten Obergeschoss. Es ist ein Einzimmerappartement. Man gelangt direkt vom Flur aus in den geräumigen Hauptraum. Links befindet sich eine kleine Küchenzeile, am großen Fenster gegenüber des Eingangs steht mein Schreibtisch. Rechter Hand habe ich meine blaue Schlafcouch aufgebaut. Ein paar noch ziemlich leere Regale, ein uralter Röhrenfernseher und ein Kleiderschrank runden das Bild ab. An der Wand rechts neben der Eingangstür geht es in ein winziges Bad. Damit alles reinpasst, musste man das Klo schräg anmontieren. Es riecht alles so neu hier und fühlt sich auch noch nicht recht wie meins an.
Die Wohnung hat meine Mutter organisiert, sie entspricht ihren Vorstellungen von dem, was angemessen für mich ist. Meine Mutter ist stinkreich, hat jedoch so ihre Prinzipien. Das verzogene Wohlstandsblag, das zum Achtzehnten gleich mit einem Ferrari beschenkt wird, kam für sie nicht in Frage.
Wenn es sich hingegen um etwas Sinnvolles handelte, war immer Geld da. Sprachferien in England? Sofort. Angesagte Designerjeans wie sie alle Jungs in meinem Alter gerade tragen? Verdien sie dir selbst, wenn du sie willst. Das habe sie schließlich auch getan. Sie hat die von ihrem Vater übernommene Provinzkanzlei in eine Gelddruckmaschine direkt an der Alster verwandelt.
Den Preis für die Mutter des Jahres wird sie aus diversen Gründen niemals gewinnen, aber sie hat immer penibel darauf geachtet, ihrer Auffassung von mütterlichen Pflichten nachzukommen.
Mich höchstpersönlich großzuziehen, kam darin nicht vor. Dafür bin ich ihr im Nachhinein durchaus dankbar, auch wenn ich damit früher zeitweise arg zu kämpfen hatte. Alles in allem war Oma für den Job deutlich geeigneter als sie.
Ich packe meine Tasche aus und sortiere die Zettel in die dafür vorgesehenen Ordner ein. Zufrieden mustere ich mein Werk. Jetzt sieht es fast schon nach Studentenbude aus – wenn auch nach der eines Strebers und nicht eines alternativen Partykrachers.
Der nächste Akt besteht darin, die von mir zu diesem Zwecke mitgebrachten Gemälde aus meinem Œuvre aufzuhängen. Verschiedene Ansichten von Hasenfuhrt, der Vollmond über Bauer Hinrichsens Scheune, Oma auf dem Sofa beim Fernsehen. Und ein nach einem Foto gefertigtes Gemälde von Papa. Wild geschminkt und mit Indianer-Kopfschmuck. Fertig.
Es ist gerade mal kurz nach sieben. Was jetzt? Ich bin unruhig, will etwas machen, aber noch mehr Uni-Input vertrage ich nicht. Wozu hat man Hobbys?
Kurzerhand packe ich meine Schwimmsachen zusammen, google die Lage des nächstgelegenen Schwimmbads und mache mich erwartungsvoll auf den Weg. Die Sonne wärmt meine Haut, während ich die schiere Anzahl all dieser Menschen auf mich wirken lasse. Die Fülle erscheint mir plötzlich gar nicht mehr so beängstigend, sondern einfach nur groß und voller Möglichkeiten.
Das Schwimmbad, das ich mir rausgesucht habe, ist eher von der prosaischen Art. Kein Wellness-Tempel, sondern ein sanierter 70er-Jahre-Bau, der seinen Schwerpunkt ernsthaft aufs Schwimmen legt. Der typische Geruch nach Chlor dringt mir entgegen, als ich an der Kasse ein Ticket zum Studententarif löse. Kein Schülerrabatt mehr, das ist doch mal cool, auch, wenn es am Ende auf denselben Preis hinausläuft.
Den Blick bewundernd auf das Studententicket gerichtet, passiere ich die Absperrung. Ich husche in eine der Kabinen und schlüpfe rasch in meine Badehose, auf der mein goldenes Schwimmabzeichen prangt. Oma hat die Dinger immer angenäht, seitdem ich das Seepferdchen gemacht habe. Ich bin schon stolz darauf, es so weit gebracht zu haben.
Ich verfrachte meine Sachen in einen Spind, klemme mir Handtuch und Schwimmbrille unter den Arm und dann geht es nichts wie ab unter die Dusche und rein ins kühle Nass. Herrlich! Es ist ein wenig wie fliegen, finde ich. Man teilt das Wasser, sucht den Weg, spürt die Kräfte des eigenen Körpers, ist lebendig.
Ich beginne zu kraulen, ziehe Bahn um Bahn, bis sich ein leichtes Ziehen in meinen Armen und Schultern breitmacht, dann gebe ich noch mal alles, bevor ich langsam das Tempo drossele. Ein letztes Mal tauche ich unter und schieße auf die Beckenkante zu.
Statt schlüpfrige Keramik umfasst meine Hand jedoch etwas merkwürdig geschmeidig Hartes.
Ich komme schwer atmend an die Oberfläche, streife mir mit der Linken die Schwimmbrille ab und fixiere ratlos das, was ich da erwischt habe. Es ist ein Bein. Ein Männerbein, kräftig und mit leichtem Haarwuchs auf dem Unterschenkel. Wo kommt das denn her?
»Tschuldigung«, nuschle ich immer noch nach Luft schnappend, lasse los und schaue nach oben.
Ein fataler Fehler, denn das, was ich da sehe, wirft mich völlig aus der Bahn. Nur meine antrainierten Reflexe halten mich davon ab, postwendend zu ersaufen. Hektisch kralle ich mich an der Überschwapprinne fest, während meine Augen die Größe von Untertassen annehmen. Fliegenden Untertassen. Voller riesiger Untertassenaliens.
Vor mir sitzt ungerührt, und vor allem ohne Vorwarnung, der schönste Mann, den ich je gesehen habe.
»Kein Ding«, sagt er leichthin und lächelt, dabei weiße, gerade Zähne entblößend, zu mir herab.
Ich bin überwältigt. Mein Hirn verwandelt sich in eine zitternde Kaulquappe. Eine einzige, die obendrein auch für Kaulquappen-Maßstäbe strunzdoof ist und auf dem Trockenen liegt. Ich weiß nicht, was es ist, das mich an ihm so gnadenlos umhaut. Alles. Das ist ein wenig schwammig, aber die Wahrheit.
Schon die Beschreibung seiner Augen hätte ein in Einhornleder gebundenes, 20-bändiges Epos verdient. Sie stehen, umgeben von dichten, schwarzen Wimpernkränzen, leicht schräg in seinem Gesicht und funkeln in einem Ton, der zwischen Grün und Gold changiert. Wie eine Christbaumkugel, beschienen von Kerzenlicht, nur viel schöner und viel männlicher.
Sein Gesicht ist oval, der Kiefer kräftig, am Kinn eher weich gerundet, die Wangenknochen hoch und ausgeprägt, ohne übertrieben zu wirken, der Mund breit und sinnlich, die Nase gerade, irgendwo zwischen stolz und keck, und die Ohren... Wie zur Hölle beschreibt man schöne Ohren? Meine Kaulquappe scheitert kläglich. Sein dunkelbraunes, modisch gestutztes Haar ist feucht zurückgestrichen und sein Körper ist... nun... die Kaulquappe ist doch kein Einzelkind. Sie hat ein Brüderchen weiter unten, das auf sehr indiskrete Art und Weise verrät, welche Wirkung er auf mich hat.
Scheiße! Ich bin doch nicht zwölf und besuche schon mein Leben lang öffentliche Schwimmbäder voll leicht bekleideter Männer, ohne dass das je ein ernst zu nehmendes Problem gewesen wäre. Jetzt ist es eins, denn die Mutter-Kind-Schwimmgruppe im Nebenbecken dürfte kein Verständnis für meine jähen Blutverteilungsprobleme aufbringen können. Mit Müh und Not presse ich mich dicht an den Beckenrand, um das Dilemma zu kaschieren, während ich ihn weiterhin wortlos anglotze.
»Alles klar bei dir?«, erkundigt er sich sichtlich besorgt. »Du siehst irgendwie blass aus.«
»Ja. Nein. Alles super!«, platze ich heraus, was ohne funktionierendes Kleinhirn wirklich eine Meisterleistung ist.
»Sicher?«, hakt er nach und beugt sich aufmerksam zu mir herab.
Was ist nur an ihm, das mich hier gerade den Verstand verlieren lässt? Bilder von schönen Männern gibt es in Hülle und Fülle in Zeitschriften und im Netz zu bewundern, was ich auch ausgiebig getan habe. Der wahnwitzige Unterschied zwischen den Traumgestalten meiner Sehnsüchte zu diesem Fremden besteht darin, dass er echt ist, wirklich da, ein atmender, sich bewegender Mensch inmitten einer Alltagssituation und nicht einer Fantasiekulisse.
»Ja, wirklich«, schwöre ich, auch wenn es das komplette Gegenteil der Wahrheit ist. Was soll ich auch sagen, wenn ich überhaupt in der Lage wäre, das, was in mir vorgeht, in zusammenhängende Sätze zu fassen? Im Zweifelsfalle bekäme ich dann seine schöne Hand direkt auf die Nasenwurzel gedonnert, da nun mal nur eine Minderheit der Männer begeistert darauf reagiert, von einem Geschlechtsgenossen völlig ungeniert angesabbert zu werden.
Und er kann nicht schwul sein, das wäre allzu grausam, denn wie könnte er dann seinen Anblick im Spiegel überleben? Da würde es ihm glatt so gehen wie diesem Typen in der antiken Sage. Tulpe war's nicht. Primel? Narziss! So hieß der. Ist verreckt, weil er sich nicht vom eigenen Spiegelbild lösen konnte, in das er sich unsterblich verliebt hatte.
»Okay?«, erwidert er nicht wirklich überzeugt, was er mir durch ein dezentes Zusammenziehen seiner geraden Brauen zu verstehen gibt. »Du bist richtig klasse geschwommen.«
»Dankeschön«, murmle ich in meinen nicht vorhandenen Bart und zwinge mich, einen wohlbeleibten Opa zu betrachten, der neben uns seine Bahnen zieht. Er hat sogar Haare auf dem Rücken, ein richtiges Fell. Der Anblick verpasst der Kaulquappe in meiner Badehose einen gehörigen Dämpfer, nur leider längst nicht den Gnadenstoß.
»Wirklich«, beharrt er und strahlt wie die Sommersonne. Zumindest in meiner Wahrnehmung.
Aber auch das lässt mich nicht erblinden, sodass ich gezwungen bin zu verfolgen, wie er seine wohlgeformten Beine, so lang und kräftig, aus dem Wasser zieht und mit den Zehen im Becken herumplanscht. Selbst seine Füße sind bildhübsch, die beiläufigen Bewegungen seiner Zehen eleganter als ein Hollywoodstar im Smoking. Es ist irgendwie die Art und Weise, wie er sich bewegt, wie er seinen Kopf hält und unbewusst seine Muskeln anspannt, die mich so gaga macht. Nicht die Einzelteile, sondern ihr Gesamtbild. Sexy, singen die Kaulquappen im Duett, das ist Sexappeal, was der da hat.
»Danke«, hauche ich erneut überfordert.
»Sieht man selten genug hier. Ich bin übrigens Gideon«, stellt er sich vor und streckt mir seine Hand entgegen, die sich prima für das Cover eines Schnulzenromans über klavierspielende Superchirurgen eignen würde.
Mit Müh und Not gelingt es mir, danach zu greifen. Er verzieht keine Miene, obwohl sich mein Händedruck gewiss anfühlt wie ein Griff in die Mitte eines Komposthaufens – schlabberig, feucht und irgendwie eigenartig.
»Bruno«, presse ich passend dazu hervor. »Ich bin Bruno.«
»Schön, dich kennenzulernen«, meint er höflich. »Ich hab dich hier noch nie gesehen, obwohl ich mehrmals die Woche hier trainiere.«
»Ich... bin... auch... neu... hier«, formt mein Mund unter Gewalt-anstrengungen die Worte.
»Arbeit? Studium?«, schlägt er vor und lässt mich wieder los. Zu dumm, dass ich mich in einem fest gemauerten Schwimmbecken befinde. Ich hätte mir gewünscht, dass sich der Boden unter mir auftäte, um mich und meine Peinlichkeit zu verschlucken.
»Studium«, krähe ich stattdessen.
»Was studierst du denn?«, macht er fröhlich weiter Smalltalk. Er scheint nicht zu bemerken, was gerade mit mir los ist. Er kann ja nicht ahnen, dass mir gerade ein unsichtbares Geweih wächst und ich anfange, innerlich Brunftgeröhr von mir zu geben.
»Lehramt. Kunst. Deutsch.« Noch. Wenn das so weitergeht, sollte ich mir lieber Gedanken über eine Karriere als Crashtest-Dummy oder lebende Statue machen.
»Cool! Da wäre ich glatt gerne wieder Schüler«, lächelt er sehr breit. Was auch immer er damit meinen mag, seine Stimme klingt toll. Tief und melodisch, mit einer leicht rauen Andeutung von Heiserkeit. Sie tropft von seinen Lippen wie Milch und Honig, direkt hinein in meine unwürdigen, dreckigen Ohren.
»Und du?«, wage ich mich nun wieder an die flüssige Aussprache zweier zusammenhängender Worte.
Ich habe Glück, denn er scheint immer noch nichts von meinem Dilemma zu bemerken: »Musikwissenschaften.«
»Irre«, lobpreise ich, auch wenn ich mir darunter konkret nichts vorstellen kann. Er macht es, also muss es grandios sein. Im Augenblick würde ich das auch dann denken, wenn er Proktologe, Auftragskiller oder russischer Präsident wäre.
Er zuckt nonchalant mit den Schultern, ohne weiter darauf einzugehen. »Bist du dann ab jetzt öfter hier?«, erkundigt er sich bei mir.
»Ja. Glaube schon.«
»Klasse. Für heute bist du sicher durch, aber ich suche schon ewig nach einem vernünftigen Trainigspartner, ohne einen auf Vereinsheimeligkeit machen zu müssen. Von dem, was ich eben gesehen habe, haben wir in etwa ein Niveau. Ich will mich echt nicht aufdrängen, aber wenn du Lust hättest...?«, gibt er mir ungerührt den Rest.
»Klar«, jubele ich, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, los. Was zum Teufel tue ich da? Das gibt doch die Riesenkatastrophe, so wie ich auf ihn reagiere. Andererseits – ich muss ihn wiedersehen. Ich muss einfach, gleichgültig wie unvernünftig das sein mag.
»Prima«, freut er sich offen. »Ich bin immer dienstag- und donnerstagabends hier, manchmal auch Sonntagnachmittag. Komm doch einfach, wenn du Zeit und Lust hast.«
»Gerne«, gelobe ich einsilbig und verfolge gebannt, wie er aufsteht. Seine Badehose ist dunkelgrün mit hell abgesetzten Nähten und Beinansatz und natürlich ohne appliziertes Schwimmabzeichen, für das ich mich plötzlich sehr schäme. Sein hochgewachsener Schwimmerkörper zeigt genau die richtige Mischung aus Muskeln und Geschmeidigkeit, seine Haut ist leicht gebräunt und die feine Linie aus Haaren, die unter seinem Bauchnabel beginnt, macht mich fix und fertig. Er zieht seine Schwimmbrille hinunter und grinst mich herausfordernd an.
»Also dann«, verabschiedet er sich. »Ich leg mal los. Kannst ja mal schauen, ob du nicht die Katze im Sack kaufst. Wir sehen uns.«
»Tschüss«, hauche ich, als er sich mit einem gekonnten Sprung ins Wasser befördert und untertaucht.
Ich schließe die Augen und lasse meinen Kopf auf den vermutlich mit Fußpilz verseuchten Beckenrand sinken. Es ist mir gerade total egal, ob ich demnächst juckenden, stinkenden Ausschlag an den Ohren bekomme. Stimmt nicht, in diesem Augenblick wäre er mir sogar sehr willkommen. Ich konzentriere mich, denke an Hungersnöte in Afrika, Darmfisteln und Hodenprellungen, bis ich mir sicher bin, dass ich mich aus dem Wasser wagen kann, ohne von der Mutter-Kind-Gruppe mit ihren mit putzigen Comicfiguren verzierten Schwimmreifen erdrosselt zu werden.
Dann stemme ich mich völlig geschafft aus dem Wasser. Ein sehr vorsichtiger Blick zurück verrät, dass Gideon nicht zu viel versprochen hat. Er ist wirklich gut, krault mit kräftigen Zügen rhythmisch voran. Sicherheitshalber schlinge ich mir das Handtuch um die Hüften und trete die Flucht an, auch wenn ein anderer Teil von mir ihm bis zum jüngsten Tage zusehen möchte.
Oh Mann. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als ich unter der Dusche stehe, werde ich rückwirkend knallrot, so sehr geniere ich mich für meinen Aussetzer, mein dümmliches Gestammel und meine durchgedrehten Gedankengänge. Gideon hält mich jetzt gewiss für den allerletzten Trottel und ich kann es ihm nicht verdenken.
Toller erster Eindruck.
Die Seite von mir, die noch ganz naives Landei ist, tanzt und jubiliert und singt untalentiert, aber enthusiastisch himmlische Choräle auf seinen Namen, die ihm unterstellen, gewiss obendrein noch einen wundervollen Charakter zu haben und mindestens den IQ eines Physiknobelpreisträgers zu besitzen.
Der kleine zurechnungsfähige Rest rauft sich entsetzt die Haare darüber.
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