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Sydney, Australien: Daß ein nackter Rollschuhläufer an der Hafenpromenade Fotoapparate stiehlt, ist ungewöhnlich. Ein Fall wird für Chief Detective Sam Cicchetta aber erst daraus, als der flüchtende Dieb durch die Trümmer eines explodierenden Hauses getötet wird und der ihn verfolgende Polizist sein Augenlicht verliert. Die Spuren führen ins Rotlichtmilieu. Abgründe von Gewalt und Voyeurismus tun sich vor Cicchettas Augen auf, und langsam wird ihm klar, daß Blicke auf sehr unterschiedliche Art töten können ...
Ein spannend erzählter, psychologisch genauer Krimi rund um das Sehen, der die Atmosphäre der australischen Metropole in fast filmischen Szenen erstehen läßt.
"Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an zu Hause fühlt. Jaumann bezaubert immer wieder durch kluge, feinsinnige Erzählweise und beobachtungsgenaue Sprache." ZEIT.
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Seitenzahl: 425
Bernhard Jaumann
Sehschlachten
Roman
Inhaltsübersicht
1 Lachlan O’Neill schaute übers Wasser
2 Rotblaues Licht fiel vom Dach
3 Wenn Kaufman nur halb so abgefuckt aussah
4 Ein Augenblick nur
5 Es war verdammt schwer, nicht rot zu sehen
6 Momentan keine Drachen in Sicht
7 Ryan erstarrte. Er starrte nach vorn
8 Grau blickte der Tag auf sich herab
9 Bilder tanzten an Cicchetta vorbei
10 In erster Linie war O’Neill blind
11 Ein fingerlanger Schatten steckte in seiner Brust
Informationen zum Buch
Über Bernhard Jaumann
Impressum
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Für Barbara
Lachlan O’Neill schaute übers Wasser von Sydney Cove. Es war hellgrün, nur die Bugwellen der ein- und ausfahrenden Fährschiffe wurden von der Vormittagssonne in glänzendes Weiß getaucht. Von Wharf 3 legte gerade die »Freshwater« ab. Sie würde sich gleich vorbeischieben, einige Wellen gegen die Kaimauer schwappen lassen und nach Steuerbord drehen, um hinter den Dachmuscheln des Opera House zu verschwinden. Sie würde Kurs auf Manly nehmen, vorbei an Fort Denison, und Taronga Zoo am Nordufer links liegen lassen, Nielsen Park rechts. Vor Middle Head würde der Seegang rauher werden, wenn der Pazifik seine Wellen in den Hafen hereinschickte. Ein paar Spritzer würden aufs Vorderdeck schlagen, ein paar Touristinnen würden einen schnellen Schritt zurück tun und angesichts der Gischtspritzer auf ihren T-Shirts einen verhalten erschrockenen Gesichtsausdruck aufsetzen. Die Surfer auf dem Weg zu Manlys Ocean Beach würden einen Mundwinkel geringschätzig hochziehen, einander wissende Blicke zuwerfen und ihr Brett unter den anderen Arm klemmen. So weit war alles in Ordnung.
Einen Moment lang sah sich O’Neill selbst auf dem Surfbrett liegen, weit draußen, bevor die Wellen ins Weiße umkippten, sah sich, wie er den Kopf hob und in den Ozean hinaus spähte, um die Welle rechtzeitig zu sehen, die große Welle, die Jahrhundertwelle, auf die sie alle immer warteten und hofften. Vielleicht könnte er am Abend noch schnell hinausfahren, nach Dienstschluß. Wenn er pünktlich Schluß machen konnte. Wenn nichts Unvorhergesehenes passierte. Es konnte immer etwas Unvorhergesehenes passieren. O’Neill war Kriminalpolizist. Er lehnte sich ans Geländer des Kais und sah an sich hinab. Er trug ein weißes T-Shirt der Größe XL, Shorts und seine Joggingschuhe. Über der rechten Schulter hing die Kamera, eine Hasselblad, in der kein Film war.
O’Neill war ein Detective, der hoffte, wie ein Tourist auszusehen. Zumindest für die anderen. Sich selbst könnte er nicht täuschen. Er würde sofort erkennen, wenn sich jemand als Tourist nur herausgeputzt hätte. Denn ein echter, ein authentischer Tourist sieht nicht nur wie ein solcher aus, er bewegt sich auch in einer ganz unverwechselbaren Weise. Langsamer als Geschäftsleute, doch nicht so gemächlich wie die einheimischen Rentner, die nur im Sonnenschein spazierengehen wollen. Sein Kurs ist weniger zielstrebig als der von Hausfrauen beim Einkaufen, doch beileibe nicht beliebig. Nie geht er lange geradeaus, nie promeniert er auf und ab. Wie durch Magneten wird der Tourist von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt gezogen, entlang einer Zickzacklinie, die aufs Pflaster zu zeichnen sich O’Neill ohne weiteres zutrauen würde. Am deutlichsten erkennt man einen Touristen jedoch an seiner Art zu schauen, an seinen Foto- und Panoramablicken, an seiner Vorliebe für das Ferne und die oberen Etagen der Stadt, an seinem zufriedenen passiven Schauen, das nicht durch prüfende Gedanken getrübt wird.
Zumindest war das hier so, in O’Neills Revier, am Circular Quay, mitten in Sydney, dem Gateway Australiens, am schönsten Hafen der Welt, der sich heute in der klaren Morgensonne von seiner besten Seite zeigte: gelassen, jung, sportlich, selbstbewußt, lebenslustig. Einfach schön.
Es war O’Neills Revier. Er hatte dafür zu sorgen, daß die Touristen hier unbehelligt promenieren und den schönsten Hafen der Welt bewundern konnten. Daß sie stehen konnten, wo er jetzt stand, und in Ruhe den Blick schweifen lassen konnten über den riesigen Bogen der Harbour Bridge, über das Hin und Her der Fähren und Sightseeing-Boote, über Akrobaten und Musiker an der Uferpromenade, die mit ihren Vorführungen ein paar Dollar zu machen versuchten, und über die Skyline Sydneys, die hinter den Kaianlagen aufragte. Jeder sollte sich in Ruhe und Frieden satt sehen können, sollte das Leben mit seinen Augen einsaugen können, einschlürfen wie Austern, denn es war schön hier, es war der schönste Fleck, den O’Neill kannte. Er würde dafür sorgen, daß das so blieb. Er war für Sicherheit und Ordnung zuständig. Es gab keine Schönheit ohne Harmonie, und keine Harmonie ohne Sicherheit und Ordnung. Dessen war sich Lachlan O’Neill sicher. Das war der Sinn seines Jobs. Und sein Job bestand im Moment darin, als angeblicher Tourist am Circular Quay East zu stehen und seine Augen offenzuhalten. Er war im Dienst. So weit war alles in Ordnung.
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