Selbst wenn du mich vergisst - Laura Story - E-Book

Selbst wenn du mich vergisst E-Book

Laura Story

4,8

Beschreibung

Nach einer Tumoroperation verliert Laura Storys Mann sein Kurzzeitgedächtnis. Zwar kennt er seine Frau, doch weiß er nicht, dass sie verheiratet sind. Täglich stellt er dieselben Fragen und muss alles neu lernen. Alltägliche Dinge sind unmöglich – Filmabende, Gespräche über Vorträge und Erlebnisse. Ihr Leben ist vom Verzicht geprägt. Doch Laura gibt nicht auf und kämpft für ihren Mann, ihre Ehe und ihren Alltag. Dabei begegnet sie Gott in ihren Fragen, Zweifeln und Tälern, und findet so zu einer engeren Beziehung mit Jesus. Mit Gottes Hilfe wagen die beiden schließlich, eine Familie zu gründen. Die packende Geschichte, die all jenen Mut macht, die mit zerplatzten Träumen leben müssen.

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Seitenzahl: 476

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7410-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5837-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2018

SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41

71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: When God doesn’t fix it

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing, Inc.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Weiter wurde verwendet:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Übersetzung: Dagmar Schulzki

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Titelbild: stocksy.com

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Für Martin

Du bist immer noch der Traum,der für mich wahr geworden ist.

Meine Gnade ist alles, was du brauchst.Meine Kraft zeigt sich in deiner Schwäche.

2. Korinther 12,9

Inhalt

1. Unerwartete Anrufe

2. Eine innere Begegnung in der äußeren Mongolei

3. Wenn Gott nicht tut, worum wir ihn bitten

4. Sei nicht überrascht, wenn sich Schwierigkeiten auftun

5. Komplikationen

6. Durchkreuzte Pläne

7. Gemeinde in Aktion

8. Ein neues Leben

9. Neuer Kummer

10. Warum?

11. Zwiespältige Gefühle

12. Die Furcht, verwundbar zu sein

13. Du brauchst nicht alle Antworten

14. Lass Gott deine Geschichte gebrauchen

15. Sehnsüchte

16. Auferstandene Träume

17. Der Segen von »Blessings«

18. Überreicher Segen

19. Eine bessere Zerbrochenheit

20. Geliebtes Durcheinander

Danksagung

Vergiss nicht!

Über die Autorin

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1.

Unerwartete Anrufe

Der Anruf, der mein ganzes Leben veränderte, erreichte mich an einem Tag im Februar 2006 um die Mittagszeit. Ich war mit zwei meiner Kollegen auf einer christlichen Konferenz in St. Louis. Sie saßen auf den vorderen Sitzen unseres Mietwagens, ich auf dem Rücksitz. Das Radio lief. Wir waren gerade auf dem Weg zu einem Panera-Schnellrestaurant, um dort zu Mittag zu essen. Als ich mein Handy einschaltete, war auf meiner Mailbox eine Nachricht von meinem Mann Martin. Ich rief ihn zurück. Was er mir zu berichten hatte, sollte unser Leben und das Leben der Menschen, die uns am nächsten standen, dramatisch verändern.

Wir alle sind oft nur einen Anruf von etwas entfernt, das unser ganzes Leben verändert: Von einem Testergebnis, einer Affäre, dem Tod eines geliebten Menschen, dem Verlust unseres Jobs oder tausend anderen möglichen Geschehnissen, die unsere Hoffnung in Scherben zerspringen lassen. In solchen Momenten denken wir, dass das Leben, wie wir es bisher kannten, vorüber ist. Die Wahrheit ist, dass nur gerade ein Leben begonnen hat, das wir bisher noch nicht kannten.

Im Sommer 2005 waren Martin und ich ein Jahr verheiratet. Wir wohnten mietfrei in Greenville in South Carolina ganz in der Nähe einer Gemeinde, in der wir den Sommer über arbeiteten. Wir hatten gerade erst unsere Sachen zusammengepackt und unser Haus verkauft, weil wir vorhatten, im Herbst nach Savannah in Georgia zu ziehen, damit Martin dort das SCAD – das Savannah College of Art and Design – besuchen konnte. Martin war jahrelang der Campusdirektor eines Collegedienstes gewesen und hatte dort eine Bibelschule geleitet. Außerdem arbeitete er in den Bereichen Grafikdesign und Webentwicklung für das Wofford College. Ich hatte die Bibelschule abgeschlossen und machte ein bisschen Musik, engagierte mich in verschiedenen Diensten und half Martin bei der Bibelschule, wovon nichts besonders gut bezahlt wurde. Wir planten, uns in Savannah Jobs zu suchen und – sobald Martin das College abgeschlossen hatte – wieder in die Nähe unserer Eltern nach Spartanburg zu ziehen. Der Collegeabschluss würde es Martin ermöglichen, einen gut bezahlten Job als Grafikdesigner zu finden, sodass ich zu Hause bleiben und mich um die Kinder kümmern konnte, die wir eines Tages haben wollten. Das war unser Plan für ein perfektes Leben.

Dieser wurde zum ersten Mal durchkreuzt, als Martins Freund John Roland uns aus Atlanta anrief. »Hey, ich weiß, das ist verrückt«, sagte John zu Martin, »aber wenn ihr bereit wärt, nach Atlanta zu ziehen, hätte ich in meiner Gemeinde einen Job für Laura.«

John arbeitete in der Perimeter-Gemeinde im nördlichen Randbezirk Atlantas. Die Gemeinde suchte einen Lobpreisleiter. Darüber hinaus teilte John uns mit, dass das SCAD in Atlanta vor Kurzem einen neuen Campus eröffnet hatte. Wenn wir nach Atlanta ziehen würden, könnte Martin sein Studium dort fortsetzen und ich hätte einen Job. Zuletzt hatte ich in einem mexikanischen Restaurant in einer Bluegrass-Band Bass gespielt. Mit anderen Worten: Ich besaß keine herausragenden Fähigkeiten, und ein Job in der Gemeinde in Atlanta hörte sich deutlich besser an als ein Job als Kellnerin in Savannah.

Martin reichte mir das Telefon.

»Erzähl mir mehr über den Job«, sagte ich.

John erklärte mir, welche Aufgaben auf mich zukämen. Zu diesen gehörte die Auswahl der Lieder für die Gottesdienste, die Koordination der ehrenamtlichen Mitarbeiter und die Ausbildung von Mitgliedern für das Lobpreisteam. All das hatte ich noch nie gemacht. Natürlich hatte ich Musik als Hauptfach gehabt und in einer Tourband, die auf Freizeiten und Jugendveranstaltungen auftrat, Bass gespielt, aber ich sang grundsätzlich nur, wenn ich keine andere Wahl hatte, weil unsere Sängerin uns verlassen hatte oder krank geworden war. Außerdem wusste ich nichts darüber, wie man den Lobpreis in einer Gemeinde leitet.

»Und die Gemeinde sucht jemanden, der Lobpreislieder schreiben kann«, fuhr John fort.

Deshalb rief John mich also an! Um zu vermeiden, dass wir bei unseren Auftritten Gebühren für gecoverte Titel bezahlen mussten, war jeder in unserer Band dazu angehalten, Lieder zu schreiben. Auch ich hatte ein paar geschrieben, einschließlich eines mit dem Titel »Indescribable« (deutscher Titel: Von den Gipfeln der Welt). Ein Jahr zuvor hatte mich ein leitender Angestellter einer Plattenfirma angerufen und mich gefragt, ob sie mein Lied auf der CD eines Lobpreisleiters aus Texas – einem Mann namens Chris Tomlin – veröffentlichen durften. Ich stimmte zu und Tomlins Label brachte »Indescribable« als Single heraus. Neuerdings wurde das Lied häufig im Radio gespielt.

Außer meinen Freunden, meiner Familie und John wusste niemand, dass dieses Lied aus der Feder des blonden Mädchens stammte, das donnerstags in dem mexikanischen Restaurant Bass spielte. Bis es von irgendjemandem als Lobpreislied bezeichnet wurde, hatte ich es aufgrund der vielen fünfsilbigen Wörter im Refrain nicht einmal als solches betrachtet. Aber ganz gleich, wie gut das Lied ankam, qualifizierten mich weder meine Fähigkeiten als Komponistin noch die Tatsache, dass ich in einer Bluegrass-Band Bass spielte, dafür, in einer Gemeinde den Lobpreis zu leiten.

»John, ich habe ein paar Lieder geschrieben, aber wenn es um die Leitung des Lobpreises geht …«, begann ich in der festen Absicht, sein Angebot abzulehnen.

»Wir bieten ein festes Gehalt einschließlich Krankenversicherung«, fügte er hinzu.

»Moment mal – hast du Krankenversicherung gesagt?«, fragte ich.

»Ja, und eine Altersvorsorge.«

Ich war keine große Leuchte in Mathematik, aber ich brauchte nicht lange, um das Gehalt mit den zusätzlichen Vergünstigungen zu überschlagen und es mit dem zu vergleichen, was ich in dem mexikanischen Restaurant verdiente – nämlich nichts außer kostenlose Burritos sowie Chips und Salsa, so viel ich wollte.

»Wie ich schon sagte – wenn es um die Leitung des Lobpreises geht, bin ich sehr froh, dass du mich gefragt hast. Ich wäre begeistert, die Lobpreisleiterin eurer Gemeinde zu sein«, sagte ich.

Nachdem Martin und ich darüber gebetet hatten, stand fest, dass wir diesen Weg einschlagen würden. Martin würde in Atlanta aufs College gehen und ich würde im Herbst bei der Perimeter-Gemeinde anfangen.

Im Juni und Juli reisten Martin und ich einige Male nach Atlanta, um nach einer Wohnung zu suchen. Mein zukünftiger Chef Randy Schlichting – einer der Pastoren der Perimeter-Gemeinde – sowie die anderen Mitarbeiter taten alles, um uns das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Obwohl ich nicht wusste, wie meine zukünftige Aufgabe genau aussehen würde, konnte ich es kaum erwarten, damit anzufangen.

Zur selben Zeit war jedoch noch etwas anderes im Gange, von dem ich nicht wusste, ob ich mit jemandem darüber sprechen sollte. Der Juli ging vorüber, es wurde August und der 1. September, an dem ich meinen neuen Job antreten sollte, rückte näher, als mir plötzlich klar wurde, dass ich den Umzug nicht wie geplant durchführen konnte. Ich schloss die Tür des Gemeindebüros, in dem ich arbeitete, und wählte Randys Nummer. Wie immer, wenn ich ihn anrief, schien er sich zu freuen, von mir zu hören.

»Freust du dich schon darauf, zu uns zu kommen?«, fragte er.

»Ähm, ich muss mit dir reden«, stammelte ich, unsicher wie viel ich ihm erzählen sollte. »Ich weiß nicht, ob es wirklich das Beste ist, wenn Martin und ich nach Atlanta ziehen und ich diesen Job annehme.«

Seit einigen Monaten litt Martin unter ungewöhnlichen Symptomen. Er war vergesslicher als sonst. An manchen Tagen wollte er nichts anderes tun als schlafen. Dann gab es wieder Tage, an denen er überhaupt nicht schlief. Sein Herz raste, ihm brach der Schweiß aus und ihm wurde übel, als hätte er eine Panikattacke. Die Symptome hatten im März begonnen und dann wieder nachgelassen, doch im August waren sie zurückgekehrt. Obwohl wir vier verschiedene Ärzte aufgesucht hatten, konnte keiner von ihnen feststellen, was die Ursache dieser Symptome war.

Ich machte eine Pause, während ich nach den richtigen Worten suchte. »Mit meinem Mann stimmt etwas nicht. Wir wissen nicht, ob es körperlich, emotional oder psychisch bedingt ist. Wir wissen nur, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist …«

Mehr konnte ich nicht sagen, weil Randy mich unterbrach: »Dann ist es das Beste, wenn ihr eure Sachen in einen Möbelwagen packt und direkt nach Atlanta kommt. Sobald ihr hier seid, werden wir veranlassen, dass dein Mann untersucht wird und man herausfindet, woran er leidet. Wir lassen euch nicht nur nach Atlanta kommen, damit du unsere Lobpreisleiterin sein kannst; wir lassen euch nach Atlanta kommen, weil ihr jetzt ein Teil der Perimeter-Gemeinde seid. Du und Martin kommt hierher und wir werden uns um eure Familie kümmern.«

»Okay, wir kommen«, sagte ich und legte auf. Während des Telefonats war es mir noch gelungen, meine Tränen zurückzuhalten, doch jetzt strömten sie meine Wangen hinab. Erschöpft ließ ich meinen Kopf gegen die Lehne meines Sessels sinken. Alles wird gut. Und das wurde es auch. Für eine Zeit lang.

Im August zogen wir nach Atlanta, ich trat meinen Job an und Martin begann mit der Schule. In unserer Ehe lief alles großartig, und mit dem Umzug schienen auch Martins Symptome zu verschwinden. Mein Job, meine Kollegen und die Menschen in der Perimeter-Gemeinde wuchsen mir sehr schnell ans Herz. Ich las Bücher darüber, wie man ein Lobpreisteam leitet, und verbrachte viel Zeit damit, von den Pastoren in der Gemeinde zu lernen. Dennoch gab es immer noch vieles, das ich nicht wusste. Die Leitung der Perimeter-Gemeinde erwies sich im Hinblick auf meine Ausbildung als sehr großzügig und regte mich dazu an, einige Konferenzen zu besuchen, die im kommenden Februar stattfinden sollten.

Dieser Sommer war der erste, den Martin und ich nicht mit unseren Eltern verbrachten, aber sie besuchten uns in Atlanta und wir reisten nach South Carolina, sooft es unser Zeitplan erlaubte. Als die Urlaubszeit vorüber war, war Martin ständig erschöpft. Zuerst glaubte ich, er würde nur zu viel arbeiten. Neben der Schule hatte er noch einen Job in einem Coffeeshop. Er ist nur müde, dachte ich. Doch schon bald schlief er während der Bibelschule oder, noch schlimmer, während der Gottesdienste ein. Das war mir sehr peinlich, und wenn wir am Sonntagnachmittag nach Hause kamen, ließ ich ihn das auch wissen.

»Ich weiß, dass du müde bist, aber du kannst doch nicht schlafen, während ich den Lobpreis leite, und schon gar nicht, während mein Chef predigt!«

Er entschuldigte sich und gelobte Besserung.

Dann begann dasselbe bei gesellschaftlichen Ereignissen. Wir waren bei jemandem eingeladen und er schlief ein, während der Gastgeber eine Geschichte erzählte. Einige Wochen später tauchte er auf einer Party nicht auf, weil er eingeschlafen war. Eines Abends hatten wir uns zum Abendessen verabredet und er kam nicht. Ich versuchte, ihn auf dem Handy zu erreichen. Als er sich schließlich meldete, sagte er: »Ich wollte mich nur zehn Minuten auf die Couch setzen, aber ich bin eingeschlafen.«

Ich war frustriert. »Wir wollten uns vor zwei Stunden treffen. Wenn du ein Nickerchen machen wolltest, warum hast du keinen Wecker gestellt?«

»Ich hatte nicht vor, ein Nickerchen zu machen. Ich bin einfach eingeschlafen.«

Nach diesem Abend lehnte ich alle Einladungen ab, weil ich es satt hatte, Entschuldigungen für ihn zu finden.

Als wir frisch verheiratet waren, erzählten wir uns jeden Abend, wenn wir im Bett lagen, gegenseitig von unserem Tag und beteten füreinander. Doch jetzt war Martin, kaum dass er im Bett lag, auch schon eingeschlafen. Ich erzählte ihm gerade noch, wie mein Tag verlaufen war, und dann hörte ich ihn auch schon schnarchen.

»Martin! Du hörst mir überhaupt nicht zu!«, sagte ich und stieß ihn an.

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Bitte erzähl es mir noch einmal.«

Aber noch bevor ich ein Wort sagen konnte, schnarchte er schon wieder.

Martin war immer ein tatkräftiger Mensch gewesen, der vor Energie strotzte. Er war Sportler, erhielt als Student für seine sportlichen Leistungen eine hohe Auszeichnung und bekam dadurch ein akademisches Stipendium für das College. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der er nicht hart gearbeitet hatte. Aber jetzt erkannte ich ihn nicht wieder.

Gelegentlich sprach ich mit einem engen Freund oder einem Familienmitglied darüber, dass Martin nicht mehr derselbe war wie vor unserer Hochzeit. »Er schläft ständig«, klagte ich. »Ich bitte ihn um eine Kleinigkeit, wie die Spülmaschine auszuräumen, und am nächsten Morgen sagt er mir, dass er es vergessen hat. Letzten Sonntag ist er eingeschlafen, während er sich ein Fußballspiel angesehen hat!« Dann lachten sie und sagten etwas wie: »So sind die Männer.«

Aber Martin war noch nie wie andere Männer gewesen. In seinem ersten Semester am SCAD hatte er in allen Fächern mit »sehr gut« abgeschlossen. Aber jetzt hatte er zu kämpfen. Wenn er gegen acht von seinem Job in dem Coffeeshop nach Hause kam, fing er an, seine Hausarbeiten zu machen, und schlief am Tisch ein. Bald blieb ich nachts auf und drängte ihm eine Tasse Kaffee nach der anderen auf, während ich ihm half, sich auf seine Prüfungen vorzubereiten. Aber nichts, was ich tat, konnte ihn wachhalten. Schließlich bekam er erst für seine Arbeiten und dann auch in den Prüfungen ein »Ungenügend«. Er versagte nicht nur in seinen Kursen; er versagte auch im Leben.

Mein Vater und mein Bruder nahmen ihn einmal mit zum Skifahren. Als sie zurückkamen, sagte mein Vater: »Martin ist im Skilift eingeschlafen.«

Es passierten noch mehr seltsame Dinge. Martin war 24 Jahre alt, aber er hatte nochmals einen Wachstumsschub. Innerhalb von neun Monaten wuchs er um 3,8 Zentimeter. Wir hatten in South Carolina vier Ärzte aufgesucht und auch mein Vater war Arzt. Aber keiner von ihnen hatte etwas feststellen können. Martin war einmal scharfsinnig und schnell gewesen, doch jetzt war er lethargisch. Das fiel auch einigen von unseren Freunden auf, die ihre ganz eigene Erklärung dafür hatten.

»Er ist nur faul«, sagte ein Mann.

»Er braucht Seelsorge«, sagte eine der Frauen.

Eines Tages zog mich jemand aus der Gemeinde zur Seite und sagte: »Ich weiß, ihr seid erst seit Kurzem verheiratet und niemand, der frisch verheiratet ist, möchte das hören, aber ich glaube, dein Mann könnte unter einer Geisteskrankheit leiden.«

Bevor wir nach Atlanta zogen, hatte ich einem oder zwei engen Freunden von Martins früheren Symptomen erzählt. Sie versuchten, mich mit Geschichten aus ihrem Umfeld zu trösten. »Das hört sich an wie der Mann meiner Schwester. Er leidet unter Schizophrenie!« Oder: »Ich habe einen Freund, bei dessen Vater eine manisch-depressive Erkrankung diagnostiziert wurde!« Schließlich dachte ich, Martin könnte vielleicht wirklich eine psychische Erkrankung haben, und der Gedanke ängstigte mich.

Die Perimeter-Gemeinde ist sehr groß und verfügt über einen enormen Seelsorgedienst. Wir wussten nicht, was es war, was Martin brauchte – Hilfe, um seine Faulheit zu überwinden, Seelsorge oder gar ärztliche Behandlung –, aber schließlich kamen wir überein, dass wir mit jemandem reden mussten. Martin wusste, dass etwas nicht in Ordnung war, und war ziemlich beunruhigt. Wir beide machten uns langsam Sorgen, dass er Depressionen haben könnte. Der Psychologe Clay Coffee stellte Martin eineinhalb Stunden lang Fragen, während ich mich auf das Schlimmste gefasst machte. Aber Clay kam zu dem Schluss, dass Martin nicht an einer Geisteskrankheit litt.

»Ich glaube, es ist ganz einfach«, sagte Clay. »Du bist deprimiert, weil du nicht wach bleiben kannst und Schwierigkeiten hast, dir Dinge zu merken. Ich weiß, du erwartest, dass ich dir jetzt sage, dass es ein mentales Problem gibt, aber für mich hört sich das an, als hätte das eine körperliche Ursache. Ich denke, du solltest noch einmal einen Arzt aufsuchen.«

Einerseits waren wir erleichtert, dass Clay nichts Schlimmeres vermutete. Andererseits hatten wir beide gehofft, dass Antidepressiva Martins Probleme lösen würden. Er war bereits bei vier Ärzten und jetzt auch noch bei einem Seelsorger gewesen. Keiner von ihnen hatte etwas feststellen können. War es möglich, dass sich in Martins seltsamem Verhalten einfach sein wahres Wesen zeigte?

Bevor Martin und ich uns verlobten, sagte mir ein kluger geistlicher Mentor: »Wenn du Martin sagst, dass du ihn liebst und dass du den Rest deines Lebens mit ihm verbringen willst, musst du bereit sein, das durchzuziehen, auch wenn das erste Hochgefühl vorüber ist, denn in der Ehe geht es nicht nur um ein Hochgefühl.« Irgendwie dachte ich, es würde drei bis fünf Jahre dauern, bis das passierte, nicht zwölf oder achtzehn Monate, aber ich war eine Verpflichtung eingegangen. Ich würde meinen Mann auch dann noch lieben und ihm dienen, wenn das anfängliche Hochgefühl nicht mehr da war.

Ich begann mehr zu beten und mit Gott zu reden. Ich verstehe, Gott. Er ist der Mann, den ich geheiratet habe, und ich werde zu ihm halten. Aber er ist ganz anders, als ich glaubte; ganz anders als damals, als wir frisch verheiratet waren. Hin und wieder sehe ich ganz kurz den Mann in ihm, in den ich mich damals verliebt habe, und daran halte ich mich fest. Wir werden das durchstehen, Gott, aber du musst mir helfen. Es muss sich etwas ändern!

Martins extreme Müdigkeit setzte sich bis in den Februar 2006 hinein fort. Er fing an, Vorlesungen zu versäumen, weil er verschlief. Ich war zunehmend besorgt, weil ich in diesem Monat an zwei Anbetungskonferenzen teilnehmen sollte. Die erste fand in North Carolina statt. Dort sollte ich den Lobpreis leiten. Die zweite war in St. Louis. Dort sollte ich dann lernen, wie man den Lobpreis leitet. Die Ironie dieser Reihenfolge blieb mir nicht verborgen.

Ich war mir nicht sicher, ob ich an den Konferenzen teilnehmen sollte. Ich hatte Angst, Martin allein zu Hause zu lassen. Wie wird er es schaffen, rechtzeitig aufzustehen und zu seinen Vorlesungen zu gehen? Wie wird er seine Hausarbeiten erledigt bekommen? Ich konnte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn ich nicht da war. Aber Martin ermutigte mich zu gehen. »Ich komme schon zurecht.«

Als ich in North Carolina auf der ersten Konferenz war, rief ich ihn zwischen zwei Abschnitten an. Er hörte sich an, als sei er gerade erst aufgewacht. »Was machst du?«

»Oh, ich ruhe mich gerade aus.«

Im Hintergrund hörte ich ein Ding, Ding, Ding. Man brauchte kein professioneller Musiker sein, um zu wissen, dass dieses Geräusch im Auto ertönte, wenn man die Tür öffnete und der Schlüssel noch im Zündschloss steckte.

»Hast du im Auto geschlafen?«, fragte ich.

»Ja, ich hatte auf dem Heimweg Schwierigkeiten, wach zu bleiben.«

»Was meinst du damit, du hattest Schwierigkeiten, wach zu bleiben?«

»Ich bin eingeschlafen und habe eine Leitplanke gestreift. Mir ist nichts passiert, aber das Auto hat ein paar Kratzer. Als ich dann nach Hause kam, habe ich das Auto geparkt und ein Nickerchen gemacht.«

Ich konnte nicht glauben, was er mir sagte. Sobald wir das Gespräch beendet hatten, rief ich seinen Freund John Roland an, der jetzt mein Kollege und unser direkter Nachbar war. Ich erzählte John, was Martin getan hatte. »Du musst ihm den Schlüssel wegnehmen«, sagte ich. »Er kann nicht mehr Auto fahren, und ich glaube, er sollte auch nicht zu seinen Vorlesungen gehen, bis ich wieder in Atlanta bin.«

Als ich nach Hause kam, konnte ich sehen, wie müde Martin war. Ich war überzeugt, endlich zu wissen, was sein Problem war – die Schlafkrankheit. Ich machte mir im Geist eine Notiz, einen Termin beim Arzt für ihn zu vereinbaren, wenn ich von meiner bevorstehenden Reise nach St. Louis zurückkäme.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, drehte Martin sich zu mir um und stellte mir eine sehr seltsame Frage: »Fahren wir heute zum Flughafen?«

»Nein. Wieso sollten wir zum Flughafen fahren?«

»Okay.«

Die Frage war so merkwürdig, dass in meinem Kopf die Alarmglocken läuteten.

»Warum machst du uns nicht einen Kaffee, Martin? Ich bin in einer Sekunde unten«, sagte ich.

Sobald Martin unser Schlafzimmer verlassen hatte, schnappte ich mir das Telefon und ließ mich auf meiner Seite des Bettes heruntergleiten, bis ich auf dem Boden saß. Ich rief meinen Vorgesetzten an.

»Martin hat mich gerade gefragt, ob wir heute zum Flughafen fahren. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit ihm«, flüsterte ich. »Ich werde den Tag frei nehmen und mit ihm zum Arzt gehen.«

An diesem Nachmittag gingen Martin und ich zu einer Allgemeinärztin, die uns von einem Freund empfohlen worden war. Die Ärztin führte an diesem Tag viele Tests durch und ließ uns dann zu einem späteren Termin wiederkommen, um die Ergebnisse zu besprechen.

Bei unserem zweiten Besuch sagte sie: »Im Wesentlichen sieht alles gut aus, aber Ihr Hormonspiegel ist ziemlich niedrig.« Sie nannte uns einige mögliche Ursachen, einschließlich Martins Schilddrüse und etwas, das mit seinen Hoden zu tun hatte.

»Das ist es nicht!«, sagte Martin abwehrend.

»Ich sage nicht, dass das der Grund ist«, schmunzelte sie. »Tatsächlich scheint alles auf die Hirnanhangdrüse hinzudeuten. Ich würde gerne eine Computertomografie und eine Kernspintomografie machen lassen, um zu sehen, ob dort etwas nicht in Ordnung ist.«

Erleichtert darüber, dass sie nicht noch mehr in privaten Bereichen forschte, vereinbarten wir für den folgenden Dienstag einen Termin, wo die Tomografien durchgeführt werden sollten. Ich würde an diesem Tag auf der Konferenz in St. Louis sein, aber John sagte uns zu, dass Martin bei ihm wohnen könne und er ihn dann zu dem Termin fahren würde.

Ich besuchte die Konferenz mit Jeff Wreyford und Eric Gilbert, zwei meiner Kollegen. Schon seit ich den Vertrag unterzeichnet hatte, hatte ich mich auf diese Konferenz gefreut. Ich war erst seit sechs Monaten bei der Gemeinde angestellt und musste noch viel darüber lernen, wie man den Lobpreis leitet. Der erste Sprecher war Pastor Scotty Smith aus Nashville. Er versprach, dass sich der erste Abschnitt nur um die Anbetung drehen würde – nicht darum, wie man die Lieder aussuchte oder einen Musikstil wählte, und auch nicht um die Leitung oder die Koordination des Lobpreises. Wir würden uns einzig und allein darauf konzentrieren, was es bedeutete, Gott anzubeten und ihn ungeachtet unserer Umstände anzubeten. Während dieses Abschnitts erinnerte er uns daran, dass sich unser Dienst nicht in erster Linie auf die Gemeinde, sondern auf unsere Familien konzentrieren sollte. »Lasst euch von eurem Job nicht in die Irre führen. Euer erster Dienst wird immer eure Familie sein. Diese Gemeinden werden euch völlig vereinnahmen, wenn ihr es zulasst, aber die größte Gelegenheit zu dienen, habt ihr nicht in der Gemeinde, sondern in eurem Zuhause.«

Das ist großartig, dachte ich, aber auf mich trifft das nicht zu. Martin und ich haben keine Kinder, und wenn wir einmal welche haben, werde ich bei ihnen zu Hause bleiben. Ich hoffte, dass die Abschnitte am Nachmittag mehr praktische Anleitung beinhalten würden.

Direkt danach steuerten meine Kollegen und ich den Parkplatz an, um zum Mittagessen zu gehen. Als ich auf den Rücksitz des Mietwagens schlüpfte, sah ich, dass auf der Mailbox meines Handys eine Nachricht von Martin war. Er bat mich, ihn so schnell wie möglich zurückzurufen. Ich rief ihn auf dem Handy an. »Was ist los?«

»Hey, ich habe Neuigkeiten. Ich habe einen Gehirntumor.«

»Was?«

»Ja, die Ärztin hat gesagt, die Scans zeigen, dass ich einen Gehirntumor habe. Er drückt gegen meine Hirnanhangdrüse, wodurch auch mein Hormonhaushalt durcheinandergeraten ist. Deshalb bin ich immer so müde. Es wird kein Adrenalin mehr ausgeschüttet.«

Er hörte sich ungezwungen an, fast als sei es eine Erleichterung zu wissen, dass der Befund ein Gehirntumor war. Ich war erschüttert. Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, was er sagte. In meinem Kopf hallte immer nur das Wort Gehirntumor wider. Ich musste verarbeiten, was gerade passierte, aber meine Gedanken rasten.

»Könnt ihr bitte das Radio leiser stellen?«, bat ich Jeff und Eric. Wir fuhren gerade auf den Parkplatz und ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen.

»Äh, Martin, ich rufe dich gleich zurück. Wir sind gerade bei Panera angekommen.«

»Was ist los?«, fragte Jeff besorgt.

»Martin hat einen Gehirntumor.« Meine Stimme zitterte. »Geht ihr schon hinein. Ich rufe ihn zurück und komme dann nach.«

»Bist du okay?«, fragte Eric.

Ich begann zu weinen.

»Was können wir tun?«, wollte Jeff wissen.

»Ich weiß es auch noch nicht. Lasst mich ihn erst zurückrufen.«

»Wir warten auf dich«, sagte Jeff, als er seine Tür öffnete.

»Und wir werden beten«, fügte Eric hinzu.

Die Ziffern auf meinem Handy verschwammen vor meinen Augen, als ich Martin erneut anrief. »Geht es dir gut?«, fragte ich ihn, während ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu kontrollieren.

»Ja. Sie haben gesagt, ich müsse einen Termin mit einem Neurochirurgen vereinbaren, um die Operation zu besprechen. Ich wollte warten, bis du zurückkommst. Ich dachte, du willst vielleicht dabei sein.«

Angesichts dieser Neuigkeiten floss mein Herz vor Mitleid und Liebe zu Martin über. Jetzt, wo ich wusste, dass er schon die ganze Zeit über an einem Gehirntumor gelitten hatte, kam ich mir dumm vor, weil ich mich so über sein Verhalten geärgert und mich dafür geschämt hatte.

»Martin, es tut mir so leid«, sagte ich, während ich meinen Tränen freien Lauf ließ.

Obwohl die Diagnose unheilvoll und beängstigend war und ich mir große Sorgen machte, verspürte ich auch Erleichterung. Ich hatte dafür gebetet, dass sich etwas änderte. Martin hatte dafür gebetet, zu erfahren, was los war. Er hatte schon das Gefühl gehabt, den Verstand zu verlieren. Schließlich hatten wir eine Antwort bekommen. Obwohl es keine gute Antwort war, ließ sie uns zumindest hoffen, dass es eine Lösung gab. Ich hörte die Erleichterung und die Hoffnung in Martins Stimme, als wir am Telefon zusammen weinten.

»Wann kommst du nach Hause?«, fragte Martin.

»Ich weiß es noch nicht genau. Ich werde Randy anrufen und dir dann Bescheid sagen.«

Ich legte auf und ließ mich in den Sitz zurücksinken. Meine Tränen flossen und mein Herz klopfte heftig. Ich musste mich erst ein wenig beruhigen, bevor ich das nächste Telefonat führen konnte. Nachdem ich mich ausgeweint und ein paarmal tief Luft geholt hatte, rief ich Randy an – denjenigen, der uns ermutigt hatte, nach Atlanta zu ziehen. Er hatte uns damals versprochen, dass sich die Gemeinde um uns kümmern würde, aber er hatte sicher keine Vorstellung davon gehabt, worauf er sich einließ, als er mir dieses Versprechen gab.

»Martin hat einen Gehirntumor …«

Bevor ich meinen Satz beenden konnte, fiel Randy mir ins Wort: »Okay, du kommst mit dem ersten möglichen Flug nach Hause. Ich werde veranlassen, dass dich am Flughafen jemand abholt.«

Ich rief Martin zurück und wir sprachen kurz miteinander. Seine ruhige Akzeptanz der Diagnose ermutigte mich. Er war entschlossen, den Tumor zu besiegen, damit wir wieder ein normales Leben führen konnten. Wir hatten schon ein ganzes Jahr verschwendet, weil wir nicht wussten, was los war. Jetzt war es an der Zeit zu handeln. Unser Plan war, die Sache hinter uns zu bringen und dann normal weiterzuleben.

Eric und Jeff fuhren mich zum Hotel. Zu dritt warfen wir meine Sachen in meinen Koffer und rasten dann zum Flughafen. Ich war wie betäubt, als ich durch die Sicherheitskontrolle auf den Flugsteig ging. Bis zum Abflug hatte ich noch neunzig Minuten Zeit.

Ich sollte Mom und Dad anrufen, dachte ich und griff in meine Jackentasche, um mein Handy herauszuholen. Aber es war nicht da. Vielleicht war es in meiner Handtasche? Ich schluckte hart, als mir klar wurde, dass ich es in dem Mietwagen liegen gelassen hatte. Das war der denkbar ungünstigste Moment, kein Handy dabei zu haben und ganz auf mich allein gestellt zu sein. Mir schwirrte der Kopf. Es gab so viele Menschen, die ich informieren musste, und ich wollte mit Martin reden. Aber in diesem Moment gab es eine noch wichtigere Person, mit der ich reden musste. Gott, wo bist du in alledem? Hättest du den Ärzten nicht helfen können, den Tumor früher zu entdecken? Warum mussten Martin und ich das alles durchmachen, bevor wir endlich eine Diagnose bekommen haben?

Meine Traurigkeit, meine Erleichterung und meine Furcht vermischten sich mit Zorn, weil die Ärzte ein ganzes Jahr gebraucht hatten, um den Tumor zu entdecken. Ich war sogar versucht, zornig auf Gott zu werden, der die Ärzte zur richtigen Diagnose hätte führen können. Aber dann kam mir ein anderer Gedanke. Werde ich zulassen, dass meine Umstände bestimmen, wie ich Gott sehe, oder werde ich Gott bestimmen lassen, wie ich meine Umstände sehe?

Diese Frage war weitreichender, als mir in diesem Moment bewusst war. Aber ich beantwortete sie im Gebet. Gott, ich will dich. Obwohl ich Christus schon vor Jahren als meinen Herrn und Retter angenommen hatte, wusste ich, als ich auf dem Kunstledersessel auf dem geschäftigen Flughafen saß und auf das Rollfeld hinausblickte, dass Martin und ich dabei waren, eine neue Reise anzutreten. Sobald das Flugzeug in Atlanta landete, würde alles anders sein. Ich würde mich sofort auf die Suche machen – nach Antworten, nach dem besten Arzt und einem Heilmittel für das, was den Tumor verursacht haben mochte. Aber in diesem Moment auf dem Flughafen wollte ich Gott erneut wissen lassen, dass er für mich an erster Stelle stand und dass ich für so vieles dankbar war.

Danke, dass du meine Gebete hörst. Ich habe für eine Veränderung gebetet und du hast sie uns geschenkt. Danke Gott für eine Diagnose. Für diese Diagnose.

Ein operabler Gehirntumor schien so viel besser zu sein, als ein Leben lang die Unwägbarkeiten einer Geisteskrankheit ertragen zu müssen.

Danke, dass da ein Tumor ist, den die Ärzte entfernen können.

Ja, es war beängstigend, und sicher war es ein vorübergehendes Abweichen von dem Lebensplan, den wir uns zurechtgelegt hatten, aber ich war zuversichtlich, dass wir schon bald wieder zu unserem gewohnten Leben zurückkehren könnten. Martin würde auf dem College ein oder zwei Semester hinterherhinken, aber er konnte dennoch seinen Abschluss machen und einen Job als Grafikdesigner bekommen. In ein paar Jahren würden wir in die Nähe meiner Eltern ziehen. Ich würde meinen Job aufgeben und Hausfrau und Mutter sein, genauso wie meine Mutter. In der Zukunft würde uns der Gehirntumor eine großartige Gelegenheit bieten, anderen zu erzählen, wie Gott uns durch all das hindurchgetragen hatte, und wir alle würden glücklich leben bis an das Ende unserer Tage.

Ich hätte nicht naiver sein können.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2.

Eine innere Begegnung in der äußeren Mongolei

Martin und ich lernten uns im August 1994 auf einem Grillfest des Fellowship of Christian Athletes kennen. Er war Sportler und ich versuchte, mit einem solchen in Kontakt zu kommen. Es war die erste Veranstaltung des FCA, die ich je besuchte, und ich ging nur hin, weil sie im Garten einer Freundin stattfand. Sonst wäre ich viel zu unsicher gewesen, um mich dort hinzutrauen.

Obwohl ich ein ziemlicher Wildfang war, mochte ich Sport nicht besonders. Ich zog künstlerische Dinge wie Klavierspielen oder das Spielen im Orchester vor. Als mageres, etwas sonderbares Kind war ich ein Freigeist, der etwas von einem Umweltschützer und einem Hippie in sich trug. Darüber hinaus war ich modisch ganz offensichtlich völlig unbedarft. Das zeigte sich darin, dass ich zu dem Grillfest einen Overall trug – und nicht nur irgendeinen Overall, sondern einen mit Elchen darauf. Du kannst dir also vorstellen, dass ich fast aus meinen Birkenstock-Latschen kippte, als sich dieser über einen Meter neunzig große, blonde, blauäugige, gut aussehende Baseballspieler neben mich setzte. Um ein Haar wäre ich an meinem Hotdog erstickt!

Es war das Wochenende, bevor die Highschool wieder beginnen sollte. Ich war im vierten Jahr, Martin im dritten. Später fand ich heraus, dass er der beste Spieler des Baseballteams war. Er war extrem aufgeschlossen – und habe ich schon erwähnt, wie gut er aussah? Aber was mich wirklich anzog, war, dass er so albern war. Mit dieser Eigenschaft konnte ich mich trotz meiner Unsicherheit identifizieren.

Irgendwie entstand zwischen dem künstlerisch veranlagten Mädchen und dem sportlichen Jungen eine Liebesbeziehung. Ein Jahr lang trafen wir uns hin und wieder, bis ich aufs College wechselte. Und selbst dann kam ich an den Wochenenden nach Hause, um mit ihm zusammen zu sein. Wir hatten eine angenehme und vertraute Beziehung. Trotz der Entfernung waren wir beste Freunde.

Nachdem ich ein Semester auf dem Calvin College absolviert hatte, bekam ich ein Musikstipendium an der University of South Carolina. Mit sieben Jahren hatte ich begonnen, Klavier zu spielen, und mit zehn den Kontrabass. Die ganze Mittelstufe hindurch wie auch auf dem College war ich stets Teil eines Musikensembles. Ich spielte in einem Orchester und einer Bluegrass-Band und allem, was es sonst noch gab, das einen Kontrabass erforderte. Ich war viel mit anderen Musikern zusammen, die für gewöhnlich sehr beeindruckt waren, weil ich nach Gehör Klavier spielen konnte. Jahrelang fand ich meine Identität in meiner Musik. Manchmal bat mich jemand, ein Lied zu spielen, und das gelang mir stets mühelos. Hier war ich in meinem Element. Das war einer der Gründe, warum die Menschen mir Aufmerksamkeit schenkten.

Es gab noch andere Dinge, die dazu beitrugen, meine Selbstachtung zu stärken, wie der schöne 300ZX-Sportwagen, mit dem ich zum College fuhr. Dann war da mein Freund, der gut aussehende Baseballspieler. Bei meinen Mitschülern und Freunden war ich bekannt für mein musikalisches Talent, und meine harte Arbeit wurde mit einem Musikstipendium belohnt.

Rückblickend ist leicht zu erkennen, dass sich in meinem Leben alles um mich drehte, nicht um Gott. Ich hatte mich dafür entschieden, Christus nachzufolgen, als ich zehn war. Doch während meiner Collegezeit hatte mein Glaube keine große Bedeutung für mich. Es war schwer, die Christen von den anderen Studenten zu unterscheiden, weil wir alle auf dieselben Partys gingen und dieselben Getränke konsumierten. Ich dachte nicht viel über meinen Glauben nach. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich cool und fühlte mich gut – und ich genoss jede Minute davon. Bis alles ein Ende hatte.

An einem Frühlingstag während meines ersten Jahres auf dem College fuhr ich übers Wochenende nach Hause. Martin und ich spielten in einem Park ein bisschen Fußball. Wir alberten herum und er versuchte, mir den Ball abzujagen. Ich schaffte es, den Ball zu behalten, aber ich fiel hin und Martin stürzte auf mich. Im selben Moment hörte ich ein lautes Knacken. Als ein unerträglicher Schmerz durch meinen rechten Arm schoss, wurde mir klar, dass etwas gebrochen war.

»Au! Das tut weh!«

»Ach, beiß die Zähne zusammen. Das wird schon wieder«, sagte Martin.

Aber mein Arm schmerzte sehr. Ich bat ihn, mich nach Hause zu bringen. Bis er mich absetzte, war mein Ellbogen auf die dreifache Größe angeschwollen. Mein Vater war Arzt und untersuchte meinen Arm. »Das muss behandelt werden«, sagte er sofort.

Als Martin später an diesem Abend wieder vorbeikam, war mein Arm in Gips und ich war wütend. Er entschuldigte sich, aber das interessierte mich nicht. »Du hast keine Ahnung, was das bedeutet! Ich habe Musik als Hauptfach und mit einem gebrochenen Arm kann ich kein Instrument spielen!« Ich war so wütend auf Martin, dass ich sagte: »Mit uns ist es aus!«

Ich machte mit ihm Schluss, weil er meinen Arm gebrochen hatte. Da ich die Gangschaltung meines schicken Sportwagens mit dem eingegipsten Arm nicht bedienen konnte, fuhren meine Eltern mich am Sonntag zurück ins College. Mein Dad musste meine Bücher und meine Wäsche in meinen Schlafraum tragen. Am Montag ließ ich die Hälfte meiner Kurse sausen, weil ich keinen Kontrabass mehr spielen konnte.

Aber das war noch nicht alles. In der nächsten Woche war Valentinstag. Ich konnte die entzückten Aufschreie der Mädchen hören, die Blumen, Süßigkeiten und Parfüm von ihren Freunden bekamen. Wunderschöne Bouquets füllten die Schlafräume meiner Freundinnen und im Hausflur hatte es nie besser gerochen. Und ich hatte mich noch nie schlechter gefühlt. Ich lag allein in meinem Zimmer auf dem Bett, während der Gipsverband schwer auf meinem Magen lastete. Ich hatte keinen Freund, ich hatte kein Auto und konnte in meinem Hauptfach keinen Unterricht besuchen. Die Musik war der einzige Grund gewesen, warum ich aufs College gegangen war. Jetzt fehlte sie mir, genauso wie mein hübscher früherer Freund. Alles, was mich cool gemacht hatte, was mir Aufmerksamkeit verschafft und mein Ego genährt hatte, war plötzlich nicht mehr da.

Zum ersten Mal fragte ich mich: Worum geht es im Leben eigentlich? Habe ich eine Bestimmung? Ist das alles, was das Leben zu bieten hat? Die Dinge, die in meiner Welt wichtig gewesen waren, waren mir genommen worden, und alles, was mir noch blieb, war ein Fragezeichen. Wenn alles, was mir Freude bereitete oder Bedeutung verschaffte, so flüchtig war, dass es sich mit einem Knacken in meinem Ellbogen in Luft auflösen konnte, was hatte es dann für einen Sinn?

Eine Freundin aus meinem Schlafsaal betete für mich. Eines Tages lud sie mich zu einem christlichen Treffen auf dem Campus ein. Seit ich das College besuchte, war ich nur einige wenige Male in einer Gemeinde gewesen, und so dachte ich, wenn es je eine Zeit gab, wieder einmal in einen Gottesdienst zu gehen, dann jetzt. Dort hörte ich eine Predigt, die mich daran erinnerte, wie sehr Gott mich liebt. Ich hatte nichts, das ich ihm dafür bieten konnte. Tatsächlich konnte ich nicht einmal selbst mein Deodorant auftragen; ich musste eine Zimmerkameradin um Hilfe bitten. Aber der Sprecher sagte, dass Gott nichts von mir wollte, sondern etwas für mich hatte. Er sagte, ich sei Gottes Kind und er wolle, dass ich aufhörte wegzulaufen, damit er mich lieben konnte. Was er sagte, war so inspirierend, dass meine Freundin und ich uns spontan anmeldeten, als er von einer bevorstehenden Reise in die Mongolei berichtete. Da ich hier sowieso für niemanden von Nutzen war, dachte ich: Wenn Gott mich dort gebrauchen kann, kann ich ebenso gut mitgehen. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einließ.

Ich wuchs in materiellem Wohlstand auf. Meine Eltern waren sparsam, aber mein Vater war Kardiologe und verdiente gutes Geld. Wir waren Mitglied im Country Klub, und so konnte ich bestellen, was immer ich wollte, und einfach dafür unterschreiben. Als ich auf der Highschool war, überraschten mich meine Eltern mit einem teuren Instrument – meinem eigenen Kontrabass. Kurz gesagt: Ich war verwöhnt. Als ich in die Mongolei kam, erlitt ich den Kulturschock meines Lebens.

Wir landeten in Ulaanbaatar, der dortigen Hauptstadt. Aufgrund seiner geografischen Lage zwischen China und Russland hatte das Land bis 1990 unter sowjetischem Einfluss gestanden. Sechs Jahre später war dieser Einfluss noch immer zu sehen. Die Wohnhäuser waren alle identisch gebaut und mussten dringend renoviert werden. Alles war schmutzig.

An den ersten vier Tagen trafen wir uns mit den Leitern der örtlichen Gemeinden. Sie führten uns in eine Pizzeria. Auf der Speisekarte standen drei Arten von Pizzen zur Auswahl– mit Hammelfleisch, mit Käse und nach amerikanischer Art. Letztere war mit Schinken, Mais und Hammelfleisch belegt. Offensichtlich wussten sie nicht, dass wir Peperoni mögen.

Aber es wurde noch schlimmer, als wir aufs Land hinausfuhren. Am fünften Tag machte sich unsere Gruppe zusammen mit einigen Übersetzern in fünf Jeeps auf den Weg. Wir hatten zwei riesige runde Zelte, die man Jurte nannte – eines für die Männer und eines für die Frauen. Wir fuhren mitten ins Nirgendwo, wobei das Nirgendwo tatsächlich einen Namen hatte – Äußere Mongolei. Abgesehen von einigen kleinen Hügeln sah man kilometerweit nichts als Gras. Unser Plan war, mit den buddhistischen Nomaden zu sprechen, die ihre Herden auf den dortigen Wiesen weideten.

Jeden Morgen nach dem Frühstück beteten wir. Dann teilten wir uns in Gruppen von drei oder vier Personen auf, denen jeweils ein Übersetzer und ein Fahrer zugeteilt wurden, und fuhren in verschiedene Richtungen. Wenn wir auf eine Jurte trafen, hielten wir an, der Übersetzer stellte uns vor und sagte der Familie, die dort lebte, dass wir aus Amerika kamen. Wir fragten sie, ob sie gerne einen Film über Gott sehen wollten. Sie sagten fast immer Ja. Die meisten hatten noch nie zuvor einen Film gesehen. Dann baute der Übersetzer den Generator und den Filmprojektor auf und projizierte den Jesus-Film auf eine Wand ihres Zeltes. Der Rest des Teams blieb im Lager, wusch die Wäsche im Fluss und kochte das Essen, damit es fertig war, wenn die anderen zurückkehrten. Das Essen war jeden Abend dasselbe – Hammeleintopf mit Karotten. Gelegentlich bekamen wir ein Brot mit Marmelade. Wenn das passierte, war das wie Weihnachten für uns!

Wenn wir mit den Mongolen zusammen aßen, mussten wir auf ihre Traditionen achten. Die Nomaden benutzten beispielsweise kein Toilettenpapier. Stattdessen trugen sie lange Gewänder, und um die Hygiene zu wahren, behielten sie ihre linke Hand – die Hand, die sie auf der Toilette benutzten –, innerhalb dieses Gewandes. Wenn sie uns Essen reichten oder wir ihnen etwas anboten, mussten wir aufpassen, dass wir nicht unsere linke Hand benutzten. Glücklicherweise war mir der Gips von meinem rechten Arm abgenommen worden, bevor wir losfuhren. Sonst hätte ich nicht in der Öffentlichkeit essen können!

In der Äußeren Mongolei roch alles nach Schweiß und Mist – einschließlich uns. Meine einzigen Besitztümer waren mein Rucksack mit einem Satz Kleider zum Wechseln, einer Zahnbürste und meiner Bibel. Während unserer Freizeit saß ich oft stundenlang am Fuß eines Hügels und las in der Bibel. Im Lauf der Zeit veränderte sich meine Art zu beten. Statt selbstsüchtig und unglücklich zu sein, war ich jetzt dankbar für meine Zeit in der Mongolei. Gott hatte mich aus meinem selbstzentrierten Leben herausgehoben und mich mitten ins Nirgendwo versetzt, damit ich mit ihm allein sein konnte. Das veranlasste mich, ihn in einem anderen Licht zu betrachten als zuvor.

Während unseres Aufenthalts in der Mongolei sah ich den Jesus-Film – einen Kinofilm über das Evangelium nach Lukas – jeden Tag drei oder vier Mal. Für mich war das eine tägliche Begegnung mit Jesus. Als ich immer wieder sah, dass er ein vollkommenes Leben geführt hatte und einen Tod gestorben war, den er nicht verdient hatte, nur um mich zu retten, war ich zutiefst berührt. Ich war nicht die Einzige, die Jesus begegnete. Wenn die Mongolen die Botschaft dieses Films hörten und verstanden, dass Gott sie liebte und er Jesus gesandt hatte, damit dieser für sie starb, wurden ihre Augen groß und füllten sich mit Tränen.

»Warum ging Jesus für mich ans Kreuz?«, fragten sie. »Warum musste er sterben? Warum ich?«

Ihre Fragen erschütterten mich. Noch zwei Monate zuvor hatte auch ich oft gefragt: »Warum ich?« Aber meine Fragen entsprangen Selbstsucht und Stolz. »Warum bekomme ich keine Blumen? Warum habe ich einen gebrochenen Arm? Warum kann ich meinen Sportwagen nicht fahren?« Mein Denken war von überzogenen Ansprüchen geprägt gewesen. Ich glaubte, ich würde ein Musikstipendium, einen Sportwagen und einen Freund verdienen. Aber als ich in der Mongolei am Fuß des Hügels saß und in der Bibel las, erkannte ich, dass es nur eines gab, das ich verdiente – die Hölle.

Ich begann, mir dieselben Fragen zu stellen wie die Mongolen: »Warum kam Jesus, um mich zu retten?« Gott kannte mich in- und auswendig. Er kannte das Gute in mir, das Schlechte und das wirklich Hässliche. Trotzdem war er bereit, seinen Sohn zu schicken, damit dieser für mich starb. Warum er das tat, war mir unbegreiflich.

Zwei Wochen nachdem wir angekommen waren, war ich an der Reihe, im Lager zu bleiben und bei der Wäsche und beim Kochen zu helfen. Während ich meine Aufgaben erledigte, dachte ich viel nach. Ich wusch die Kleider anderer Menschen in einem kalten Fluss. Ich besaß fast keine materiellen Güter. Aber ich war glücklicher als je zuvor. Als ich fertig war, nahm ich meine Bibel, setzte mich auf einen Hügel und blickte auf einen strahlend blauen Himmel über einem grünen Teppich aus Gras. Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt. Alles fühlte sich so real an. Gott fühlte sich so real an.

In diesem Moment brauchte ich all die Dinge, von denen ich einmal geglaubt hatte, nicht ohne sie leben zu können, nicht mehr. Ich musste nicht in dem Orchester spielen. Ich brauchte keinen Freund. Ich brauchte keinen materiellen Komfort. Was ich brauchte, war mehr von Gott. Meine Gedanken wurden zu einem Gebet. Es sind nicht materielle Dinge, die mich glücklich machen. Es sind nicht einmal Anerkennung oder Erfolge, die mich glücklich machen. Du bist es, der mich glücklich macht, Gott. Ich möchte dir mein Leben geben und anderen Menschen von dir erzählen.

Ich hatte ein Übergabegebet gesprochen, als ich zehn war, aber an diesem Tag, als ich mitten in der Äußeren Mongolei auf einem Hügel saß und mich von der Sonne wärmen ließ, begegnete ich Jesus ganz neu. Von diesem Moment an war in meinem Leben nichts mehr wie zuvor.

Auf unserem Rückflug saß ich im Flugzeug neben Adrian Despres, der die Reise leitete. »Was wirst du tun, wenn du nach Hause kommst?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich möchte den Menschen von Jesus erzählen. Die Musik interessiert mich nicht mehr. Der Reiz, den sie früher für mich hatte, ist völlig verschwunden. Vielleicht sollte ich mich dem Friedenskorps oder etwas Ähnlichem anschließen.«

»Laura«, sagte er sanft, »du solltest deine Musik gebrauchen, um den Menschen von Jesus zu erzählen.«

Bei dem Gedanken musste ich kichern. Wer hatte je von einem Kontrabass spielenden Evangelisten gehört? Bass zu spielen war perfekt für unsichere Menschen wie mich, die ein gutes Gehör für Musik hatten. Wenn ein Orchester eine Sinfonie spielte, standen die Kontrabassspieler mit ihrem großen Holzinstrument vor sich in der hintersten Reihe. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie sie über Jesus sprachen.

»Wie soll ich das anfangen?«

Adrian erzählte mir von dem Bibelcollege, das er besucht hatte – die Columbia International University. Er sagte mir, dass diese Schule Menschen wie mich dazu ausbildete, ihr Talent im Dienst für Jesus einzusetzen. »Sie werden dir helfen, herauszufinden, wie du deine musikalische Gabe zu Gottes Herrlichkeit gebrauchen kannst.«

Columbia hörte sich gut an. Ich hatte dort bereits einen Mietvertrag für eine Wohnung unterschrieben. Dennoch war ich unsicher. Aber während des Rückflugs überzeugte Adrian mich davon, dass Gott alles tun konnte und dass es mir mit der richtigen Ausbildung möglich sein würde, Menschen durch die Musik zu Jesus zu führen. Dann gestand mir Pastor Despres, dass er sich bei unserem Vorgespräch bezüglich der Missionsreise nicht sicher gewesen war, ob er mich mitnehmen sollte. Er sagte: »Ich betete: ›Gott, ich wüsste nicht, was sie in unser Team einbringen könnte.‹ Aber je mehr ich betete, umso mehr spürte ich, wie Gott sagte, dass du mitgehen sollst. Diese Reise hat mir gezeigt, dass Gott etwas in dir tut.«

Das tat er ganz offensichtlich. Davon war ich überzeugt.

Ich kam im Juli nach Hause; die Schule sollte Ende August beginnen. Meine Eltern willigten ein, dass ich sie besuchen konnte, sofern sie akkreditiert war. Ich prüfte meine Entscheidung, forderte die nötigen Bewerbungspapiere an, füllte sie aus und prüfte meine Entscheidung nochmals. Vor dem Zulassungsgespräch erinnerte Pastor Despres mich daran, dass es sich bei der Schule um eine konservative Einrichtung handelte. Aber es interessierte mich nicht, welche politischen Überzeugungen sie dort hatten; ich wollte nur mein Talent einsetzen, um Menschen von Jesus zu erzählen. Ich packte meine Unterlagen zusammen und ging zu dem Gespräch.

»Erzählen Sie uns von Ihrem Hintergrund«, sagte der Sachbearbeiter für die Zulassungen.

Ich berichtete ihm von meiner Vorgeschichte und der Missionsreise und sagte, dass Pastor Despres mir die Schule empfohlen hatte.

»Haben Sie im vergangenen Jahr Alkohol getrunken?«

»Oh ja, ich habe letztes Jahr viel Alkohol getrunken. Ich war Studienanfänger an der University of South Carolina.«

Er zog eine Augenbraue hoch und schrieb etwas auf seinen Block. »Haben Sie eine Zigarette geraucht?«

»Ja.«

»Wie oft waren Sie letztes Jahr im Gottesdienst?«

»Einschließlich der Zeit, in der ich in der Mongolei war?«

Jetzt kritzelte er wie wild auf seinen Block. Ich fragte mich, warum er mir all diese Fragen stellte. Nach dem Gespräch rief ich Adrian an und erzählte ihm davon. Ich hörte ihn lachen. »Laura, als ich sagte, dass die Schule konservativ ist, habe ich nicht über Politik gesprochen.«

Im August 1996 begann mein Unterricht an der CIU. Aus irgendeinem Grund hatten sie beschlossen, mich aufzunehmen. Erst viel später erfuhr ich, dass Adrian bei der Schule angerufen und gesagt hatte: »Ich weiß, sie ist keine ideale Kandidatin, aber ich glaube wirklich, dass Gott etwas mit ihr vorhat.«

In unser aller Leben gibt es Zeiten, in denen wir nicht wissen, was wir als Nächstes tun sollen. Wir fühlen uns unbedeutend und schlecht ausgerüstet. Adrian erinnerte mich daran, dass Gott einen Plan für mein Leben hatte. Ich hoffte und betete, dass er damit recht hatte.

Ich wuchs in einer Familie auf, die mehr als sparsam war. Während andere Familien ihre Schuhe in einem Einkaufszentrum kauften, gingen wir zu Gilbert’s, einem Lagerverkauf für Schuhe. Dort gab es unzählige Kisten mit Schuhen, die nicht zusammenpassten. Wir durchsuchten sie, um ein passendes Paar zu finden. Bei den meisten Schuhen war etwas nicht in Ordnung. Sie hatten Fabrikationsfehler oder andere Mängel. Bei einigen fehlte die Zunge, andere hatten ein Loch in der Sohle. Manche von ihnen waren alt. Sie hatten in einem Laden gestanden, bis die Farbe verblasste oder die Schnürsenkel verloren gingen und man sie nicht mehr verkaufen konnte.

Ich durchwühlte immer Kiste um Kiste, bis ich einen Schuh fand, an dem alle Teile vorhanden waren, der in etwa meine Größe hatte und nicht zu ausgeblichen war. Aber das war erst die Hälfte des Paars. Der zweite Schuh konnte in jeder anderen Kiste in dem Laden stecken. Aus irgendeinem Grund waren die beiden Schuhe eines Paars nie zusammen am selben Ort. Die Chance, auch den zweiten Schuh zu finden, war ungefähr so groß wie die Wahrscheinlichkeit, zweimal vom Blitz getroffen zu werden – verschwindend gering.

Den größten Teil meiner Kindheit fühlte ich mich wie ein Schuh bei Gilbert’s. Ich hatte immer das Gefühl, als hätten mir, als ich von dem himmlischen Montageband auf die Erde geschickt wurde, noch einige wesentliche Teile gefehlt, oder als wären von den vorhandenen Teilen die Farben verblasst. Mir mangelte es an grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, und mir fehlte immer ein Schuh zu einem Paar.

Aber in der Bibel lesen wir, dass uns der Apostel Paulus etwas ganz anderes sagt: »Denn wir sind Gottes Schöpfung. Er hat uns in Christus Jesus neu geschaffen, damit wir zu guten Taten fähig sind, wie er es für unser Leben schon immer vorgesehen hat« (Epheser 2,10). Paulus schreibt, dass wir von Gott und für Gott erschaffen wurden. Wir sind seine Schöpfung, sein Meisterstück.

Ich lernte, was Nachfolge bedeutet, als ich zwölf Jahre alt war. Mein Vater plante für die ganze Familie einen einwöchigen Skiurlaub. Weil er sparsam war, beschloss er, die Kosten für einen Mietwagen zu sparen und ein Hotel direkt an der Skipiste zu buchen. Das Problem dabei war, dass die meisten dieser Hotels teuer sind – sehr teuer. Um die Kosten dennoch so gering wie möglich zu halten, gab sich mein Vater große Mühe, eines zu finden, das günstiger war, und er schaffte es. Es lag nur fünfzig Meter vom Skihang entfernt. Doch diese fünfzig Meter ging es steil nach oben.

Als wir an unserem ersten Morgen aufwachten, hatte es über Nacht über einen Meter geschneit. Neuschnee ist großartig für das Skilaufen. Aber als zwölfjähriges Mädchen in bauschigen Skihosen und Skistiefeln stand ich ziemlich ratlos vor dem steilen Anstieg. Mein Vater konnte meine Ausrüstung nicht tragen, aber ich konnte es keinesfalls allein bis auf den Gipfel schaffen. Ich wollte weinen, aber ich fürchtete, die Tränen würden auf meinen Wangen gefrieren und meine Skibrille würde anlaufen.

Da schritt mein Vater ein – buchstäblich. Er sagte zu mir: »Lass mich vorgehen und trete dann genau in meine Fußstapfen. Setz deinen Fuß dorthin, wo ich meinen Fuß hebe. An diesen Stellen ist der Schnee dann schon zusammengedrückt und du wirst es auf den Gipfel schaffen.«

Setze deine Füße genau dorthin, wo ich meine hingesetzt habe. Dieses Bild fällt mir jedes Mal ein, wenn ich darüber nachdenke, wie Gott gute Taten für uns vorbereitet. Wir brauchen nicht mehr zu tun, als ihm zu folgen und unsere Füße dort hinzusetzen, wo seine Füße bereits einen Weg gebahnt haben. Die harte Arbeit wurde schon getan. Wir müssen uns nicht erst den Weg bahnen – wir brauchen unsere Füße nur so zu setzen, wie unser Vater uns führt.

Mein gebrochener Arm war die erste große Prüfung in meinem Leben. Aber diese hatte zur Folge, dass ich die Gelegenheit bekam, Gott nachzufolgen und gute Werke zu tun, um ihn zu verherrlichen. Gott liebte mich so sehr, dass er mich von allem und jedem befreite, sodass ich den »überragenden Reichtum seiner Gnade« (Epheser 2,7; ELB) empfangen konnte. Paulus sagt uns, dass die Gnade, die uns errettet, nicht auf etwas beruht, das wir getan haben oder je tun könnten. Sie ist ein Geschenk von Gott, das er uns gewährt, wenn wir ihm unser Leben anvertrauen und an ihn glauben.

Ich glaube nicht länger an den Mythos, dass Prüfungen ein Fluch sind. Prüfungen sind eine Gelegenheit. Sie sind eine Einladung, gute Werke zu tun, um unseren Vater im Himmel zu verherrlichen und unser Leben von innen nach außen zu verändern, und sie führen uns in die Arme und in die Fußstapfen von Jesus.

Während ich jetzt, einige Jahre nach dieser Missionsreise, auf dem Flughafen in St. Louis saß, mir Sorgen um Martin machte und darauf wartete, dass mein Flug aufgerufen wurde, betete ich: Gott, ich weiß, dass diese Prüfung für Martin und mich eine Gelegenheit ist. Ich weiß, dass wir auf einem beängstigenden neuen Abenteuer sind. Ich habe keine Ahnung, wo es uns hinführen wird, aber ich bin bereit, vorwärts zu gehen. Ich glaube, dass ich dein Meisterstück bin – nicht weil ich mich so fühle, sondern weil du es sagst. Obwohl ich mich pausenlos mit meinen Schwächen und Unsicherheiten beschäftigen könnte, weiß ich, dass du mich für die guten Werke, die du für mich vorbereitet hast, perfekt erschaffen hast. Hilf mir in dieser Zeit der Prüfung, in deinen Fußstapfen zu gehen, damit ich diese Werke zu deiner Herrlichkeit vollbringe.

MYTHOS: Prüfungen sind ein Fluch.

WAHRHEIT: Prüfungen sind eine Gelegenheit.

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3.

Wenn Gott nicht tut, worum wir ihn bitten

Martin saß auf dem Untersuchungstisch, seine langen Beine hingen ungelenk an der Seite herunter. In der Woche, die hinter uns lag, war Martin von einem Arzt an den anderen verwiesen worden. Er hatte viele Tests hinter sich gebracht und wir hatten viel dafür gebetet, dass Gott das in Ordnung bringen würde, was bei Martin gesundheitlich nicht stimmte. Schließlich hatte man uns zu einem Neurochirurgen geschickt, der exakt über die Operation ein Buch geschrieben hatte, die bei Martin durchgeführt werden musste. Er begrüßte uns, als wir den Raum betraten, und sah sich Martins medizinische Vorgeschichte und die Testergebnisse an.

»Er ist bösartig«, sagte er, während er umblätterte.

Ich spürte, wie ein kalter Schauer mir vom Nacken her den Rücken hinunterlief. Mein Herz raste, aber mein Verstand raste noch schneller, als sich eine Million Fragen in mir auftaten. Ich musste mich beherrschen, um nicht einfach damit herauszuplatzen. Ich sah Martin an. Er starrte auf den Boden, Kiefer fest zusammengepresst.

Nach einer langen Pause blätterte der Arzt eine weitere Seite um und sagte: »Aber ich glaube nicht, dass es Krebs ist.«

Mir klappte der Unterkiefer herunter. Bedeutet bösartig nicht, dass es Krebs ist?

»Natürlich kann ich das erst mit Sicherheit sagen, wenn wir operieren«, fügte er hinzu und legte die Akte zur Seite. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich nicht um Krebs handelt.«

»Was bedeutet das nun?«, fragte Martin.

»Es bedeutet, dass es durchaus möglich ist, auf Dauer mit einem gutartigen Tumor zu leben, solange er keine Probleme verursacht. Das Problem mit Ihrem ist, dass er noch wächst.«

Indem er mit seinen Händen die Struktur des Tumors beschrieb, erklärte er uns, dass dieser zystenähnlich war und sich ausdehnte und wieder zusammenzog. Jedes Mal, wenn er sich ausdehnte, drückte er gegen die Hirnanhangsdrüse und stoppte dadurch den Hormonfluss. »Deshalb sind Sie immer so müde«, sagte er zu Martin. »Wenn die Hirnanhangsdrüse zusammengepresst wird, wird kein Adrenalin ausgeschüttet. Aber wenn sich der Tumor zusammenzieht, steigt Ihr Hormonspiegel stark an, Sie schwitzen und Ihr Herzschlag wird schneller. Ihr Körper wird mit Adrenalin vollgepumpt. Das ist auch der Grund, warum Sie drei oder vier Tage ohne Schlaf auskommen. Aber wenn wir den Tumor entfernen, wird sich das alles wieder normalisieren.«