Selbstorganisierte Unternehmen - Siegfried Kaltenecker - E-Book

Selbstorganisierte Unternehmen E-Book

Siegfried Kaltenecker

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Beschreibung

Agilität ist in aller Munde. Kaum ein Unternehmen, das nicht beweglicher und reaktionsschneller werden möchte – oder zumindest darüber redet. Doch was muss passieren, damit es nicht bei agiler Rhetorik bleibt? Was genau müssen Manager tun, um eine agile Transformation zu ermöglichen? Worauf sollten sich Coaches konzentrieren, um ihrer Rolle als Impulsgeber gerecht zu werden? Und welche speziellen Chancen ergeben sich aus der Kombination von Führungs- und Beratungskompetenzen? Siegfried Kaltenecker bietet in diesem Buch praxisorientierte Antworten auf all diese Fragen, die unterstreichen, dass unternehmerische Agilität ohne Selbstorganisation nicht zu haben ist. Zentrale Steuerung, hierarchische Entscheidungen und eine pyramidenförmige Aufbauorganisation sind damit nicht vereinbar. Kaltenecker bündelt Praktiken aus über 40 Unternehmen zu acht Gestaltungsbereichen für ein agiles Organisationsdesign: konsequenter Kundenfokus, transparente Steuerung der Abläufe, kurze Feedbackschleifen, kundennahe Entscheidungen, experimentierfreudige Verbesserungs- und Innovationskultur, schlanke Aufbauorganisation, Verteilung von Managementaufgaben sowie laufendes Training und Coaching. Jenseits von vorgefertigten Rezepten lassen sich so die vorhandenen Stärken und Potenziale aller Mitarbeiter bestmöglich nutzen. Dieses Buch rüstet alle, die mit Management und Coachingaufgaben beschäftigt sind, mit einem soliden Verständnis, der richtigen Grundhaltung und einer Fülle an bewährten Werkzeugen aus.

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Seitenzahl: 482

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Siegfried Kaltenecker ist geschäftsführender Gesellschafter der Wiener Unternehmensberatungsfirma Loop, die auf systemische Organisations- und Managemententwicklung spezialisiert ist.

Er ist zertifizierter systemischer Organisationsberater, Scrum Master und Scrum Product Owner sowie Kanban Coaching Professional. Zudem ist er Verfasser zahlreicher Fachartikel zu agilen Themen, Autor von Selbstorganisierte Teams führen und Koautor des Buches Kanban in der IT. Eine Kultur kontinuierlicher Verbesserung schaffen.

Als Experte für Agilität und Selbstorganisation war Siegfried Kaltenecker bereits für viele Unternehmen tätig, von denen in diesem Buch berichtet wird.

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Siegfried Kaltenecker

Selbstorganisierte Unternehmen

Management und Coaching in der agilen Welt

Dr. Siegfried Kaltenecker

Web: www.loop-beratung.at

Mail: [email protected]

Twitter: @sigikaltenecker

Lektorat: Christa Preisendanz

Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg

Fotos: Siegfried Kaltenecker (Abb. 5–4 mit freundlicher Genehmigung von Matthias Patzak, Abb. 14–6 mit freundlicher Genehmigung von sipgate und Oliver Tjaden)

Satz: Birgit Bäuerlein

Herstellung: Susanne Bröckelmann

Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de

Druck und Bindung: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Print978-3-86490-453-0

PDF978-3-96088-195-7

ePub978-3-96088-196-4

mobi978-3-96088-197-1

1. Auflage 2017

Copyright © 2017 dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

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Für Selina & Stella

Vorwort

»Meine Rolle ist die eines Katalysators«, schreibt Ricardo Semler in Maverick, »ich versuche ein Umfeld zu schaffen, in dem andere Entscheidungen treffen« [Semler 1993, S. 3]. Semlers Beschreibung mag einem banal vorkommen angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die den brasilianischen Maschinenbauer Semco zu einem Vorreiter unternehmerischer Selbstorganisation gemacht haben: vom Abbau von Managementfunktionen über die Stärkung lokaler Entscheidungsautorität und die Transparenz aller relevanten Geschäftsinformationen bis hin zur Gewinnbeteiligung der Arbeiter.

Für mich gehört die in Maverick skizzierte Evolution zum Spektakulärsten, was die Geschichte der Selbstorganisation hergibt. Sie erscheint mir als würdiger Auftakt zu meinem neuen Buch, in dem es um viele aufsehenerregende Geschichten geht. Semlers Katalysatoren-Statement pointiert gleich drei Kernelemente selbstorganisierter Unternehmen: erstens die Wichtigkeit des Umfelds, also der Rahmenbedingungen, unter denen gearbeitet wird; zweitens das Treffen von Entscheidungen, durch die wir uns ständig neu organisieren; und drittens, dass diese Entscheidungen von Fachexperten statt von Vorgesetzten getroffen werden.

Ähnlich spektakulär kommt mir die Veränderung vor, die Semlers eigene Rolle im Laufe der weiteren Unternehmensentwicklung erfährt. Nach vielen Jahren als CEO zieht er sich nämlich aus dem operativen Management von Semco zurück. »Nun also bin ich bloß ein weiterer Berater. Aber meine Aufgabe hat sich nicht verändert. Ich versuche, bestimmte Dinge passieren zu lassen, wie ein Katalysator« [Semler 1993, S. 253].

Dass Semler seine Management- und seine Beratungsrolle mit der gleichen Metapher verbindet, halte ich zumindest in zweierlei Hinsicht für interessant: Zum einen werden dadurch zwei Klammern gesetzt, die einen wichtigen Abschnitt von Semcos Evolution umfassen; zum anderen verbindet Semler ad personam jene zwei Aufgabenfelder, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Management und Coaching werden hier als essenzielle Dienstleistungen für eine erfolgreiche Unternehmensentwicklung veranschlagt. Schließlich arbeiten beide gleichsam am offenen Herzen dieser Entwicklung: nämlich an einem Arbeitssystem, das ebenso schlank wie beweglich gestaltet werden muss, um fit für sich rasch ändernde Marktanforderungen zu sein. Selbstorganisation, so die zentrale These, stellt heutzutage eine Kernkompetenz für eine solche Fitness dar. Denn wenn wir nicht die Voraussetzungen für eine konzentrierte Arbeit der Fachleute schaffen, diesen Leuten keine angemessenen Gestaltungsfreiräume geben und nicht darauf vertrauen, dass alle ihr Bestes geben, wird es verdammt schwer.

Der Traum vom agilen Unternehmen, der vielerorts verfolgt wird, ist ohne Selbstorganisation nicht zu verwirklichen. Kluge Konzepte und geschliffene Managementrhetorik sind dafür zu wenig. Es braucht ein profundes Verständnis, flexible Interaktionsformen und ausreichend Kondition für den langen Weg der schrittweisen Verbesserung. Glücklicherweise ist Selbstorganisation heute keine Geheimwissenschaft mehr. Wir kennen längst genügend Unternehmen, die darauf setzen und von denen wir praktisch lernen können, um unseren eigenen Weg zu finden. Semco ist dafür nur ein Beispiel, zahlreiche andere werden Sie in diesem Buch kennenlernen.

Bleibt die Frage, warum ausgerechnet Management und Coaching eine besondere Funktion für selbstorganisierte Unternehmen zukommen sollte. Was genau müssen Manager tun, um solche Unternehmen zu ermöglichen? Worauf sollten sich Coaches konzentrieren, um ihrer Rolle als Impulsgeber gerecht zu werden? Und welche speziellen Chancen ergeben sich aus der Kombination von Führungs- und Beratungskompetenzen?

In vier Buchteilen liefere ich Ihnen Antworten auf diese Fragen. In Teil I geht es um die Grundlagen eines Managements, das den Herausforderungen der agilen Welt gewachsen ist. Dazu versuche ich zuerst einige Mythen zu erhellen, die Agilität und Selbstorganisation beharrlich verfolgen. Danach greife ich einige Themen aus meinem letzten Buch zu Selbstorganisierte Teams führen [Kaltenecker 2015b] auf und zeige unter anderem, wie sich solche Teams weiterentwickeln können.

In Teil II des Buches gehe ich über einzelne Teams und Methoden hinaus, um den unternehmensweiten Einsatz von Selbstorganisation zu beleuchten. Dazu gibt es einen Baukasten mit acht verschiedenen Gestaltungsbereichen, die jeweils in einem Kapitel näher betrachtet werden:

Zuerst der Kunde

Transparente Steuerung der Abläufe

Kurze Feedbackschleifen

Kundennahe Entscheidungen

Mutige Verbesserungs- und Innovationsexperimente

Schlanke Aufbauorganisation

Verteilte Managementaufgaben

Laufendes Training und Coaching

Eine breite Palette an Praxisbeispielen aus den verschiedensten Branchen, Kontexten und Ländern soll Ihnen dabei helfen, Ihr eigenes Bauvorhaben zu verfolgen, ohne dabei auf schablonenartige Anleitungen zurückgreifen zu müssen.

Buchteil III erläutert, warum ich Coaching als Schlüsselqualifikation für ein solches Vorhaben ansehe. Zuerst versuche ich, der Begriffsinflation eine solide Definition gegenüberzustellen: Was ist Coaching? Was unterscheidet diese Beratungsform von anderen Formen professioneller Hilfe? Und was hat sie mit Selbstorganisation am Hut? Dazu stelle ich vier Unterstützungsarten vor, die in selbstorganisierten Unternehmen mittlerweile zum Tagesgeschäft gehören: kollegiale Beratung, kollegiales Feedback, Coaching von Managern sowie Manager als Coaches. Ausgewählte Anwendungsbeispiele sollen auch hier helfen, ein möglichst praxisnahes Verständnis zu vermitteln.

In Teil IV fokussiere ich auf die Klammern, die ich eingangs mit Ricardo Semler gesetzt habe. Management und Coaching miteinander verbindend, riskiere ich sogar ein kleines Manifest für selbstorganisierte Führung. Rund um den Begriff der Sparringspartnerschaft versuche ich diese besondere Form der Führung zu umreißen und anhand einiger Erfahrungen aus dem echten Manager- und Beraterleben zu verdeutlichen.

Für wen habe ich diese vier Teile zusammengestellt? Der Untertitel des Buches – Management und Coaching in der agilen Welt – legt nahe, dass ich mich vor allem an zwei Zielgruppen wende: erstens an Linienmanager, die agile Unternehmen gestalten wollen und wissen oder zumindest ahnen, dass sie dafür Selbstorganisation und ein verändertes Verständnis von Führung brauchen; und zweitens an Coaches, die mit ihrem speziellen Fach- und Prozesswissen zu einer solchen Organisation und Veränderung beitragen wollen. Als Coach den Managementteil zu lesen, ist indes so wenig verkehrt, wie sich als Manager in den Coachingteil zu vertiefen. Im Gegenteil: Gerade der verstärkte Einsatz von Managern als interne Berater und Mentoren oder das in Teil IV erläuterte Konzept der Sparringspartnerschaft legen eine derart grenzüberschreitende Lektüre nahe.

Da dieses Buch für Führung auf allen Ebenen plädiert, hat es auch vielen anderen Organisationsmitgliedern etwas zu bieten – seien das nun Fachexperten, Produktmanager, Projektleiter oder Personalspezialisten. Die Verteilung der Managementaufgaben, die selbstorganisierte Unternehmen charakterisiert, die Delegation von Entscheidungsbefugnissen oder die kollegiale Ausrichtung von Beratung und Feedback sind Praktiken, von denen alle etwas haben.

Doch warum sollten Sie jetzt tatsächlich weiterlesen? Was haben Sie davon? Grundsätzlich, so mein zugegebenermaßen vollmundiges Glücksversprechen, erfahren Sie in diesem Buch, wie Sie Ihre Kunden besser versorgen, allen Mitarbeitenden ein zufriedenstellenderes Arbeitsleben ermöglichen und dabei ansehnliche Profite erwirtschaften. Kein schlechter Deal, wie ich meine. Im Speziellen beschreibe ich:

Wie Sie sich als Manager auf das Design zukunftsfähiger Arbeitssysteme konzentrieren können. Ich zeige, wie Sie solche Systeme so ein- und ausrichten, dass Autonomie sukzessive ausgebaut und dennoch über alle Subsysteme hinweg ausreichend Abstimmung abgesichert wird. Ein explizites Entscheidungsmanagement, kurze Feedbackschleifen und die umsichtige Verteilung traditioneller Managementaufgaben sind dafür handlungsleitend.

Wie Sie als Coach zur Kultivierung von Selbstorganisation beitragen, indem Sie für besondere Impulse sorgen. Eine umsichtige Balance von Fach- und Prozessberatung ist dafür ähnlich wichtig wie die Fähigkeit, Manager zu unterstützen und herauszufordern. Dass Manager selbst immer mehr Coachingfähigkeiten mobilisieren, ist für mich eine naheliegende Folge der agilen Veränderung.

Wie Sie Ihre Fachexpertise einsetzen, eine offene Auseinandersetzung miteinander, aber auch mit dem Management pflegen und volle Führungsverantwortung für jene Arbeitsbereiche übernehmen, die nur Sie zielführend gestalten können.

Dieses dreifache Glücksversprechen untermauert meine Hypothese, dass selbstorganisierte Unternehmen imstande sind, die vorhandenen Führungsfähigkeiten kontinuierlich auszubauen. Trotzdem sind dadurch nicht alle Mitarbeiter in der gleichen Position. Im Gegenteil: Der unternehmerische Nutzen von Selbstorganisation liegt gerade darin, dass fachliche, erfahrungsmäßige oder persönliche Unterschiede nicht bloß respektiert, sondern gezielt genutzt werden. Der Austausch und die systemübergreifende Koordination dieser Unterschiede bilden gleichsam den Blutkreislauf der Selbstorganisation.

All das mag Ihnen mehr oder weniger bekannt vorkommen. Falls dem so ist, wünsche ich Ihnen und mir, dass einmal nicht der Teufel, sondern die Erkenntnis im Detail steckt. Und noch mehr wünsche ich, dass Ihnen das eine oder andere Detail in diesem Buch dabei hilft, auf Überraschungen gefasst zu sein und andere überraschen zu können.1

Wenig überraschen wird Sie wahrscheinlich, dass ich das Selbstorganisationsrad nicht neu erfunden habe. Mitterweile gibt es nicht nur zahlreiche Unternehmen, sondern auch einige Publikationen, auf die sich das vorliegende Buch beziehen kann. Insbesondere möchte ich Brian M. Carney, Isaac Getz, Gary Hamel, Dominik Hammer, Stefan Kaduk, Fredric Laloux, Dirk Osmetz, Hans A. Wüthrich und die beiden Corporate Rebels Joost Minnaar und Pim de Morree erwähnen, deren Forschungsarbeiten mich allesamt sehr inspiriert haben.

Inspiration ist auch das Stichwort für die besonderen Einsichten, die mir die Bücher von Selbstorganisationspraktikern wie Hermann Arnold, Corinna Baldauf, Timo Capriuoli, Alexander Gysinn, Klaus Hoppmann, Bodo Janssen, Detlef und Ulrich Lohmann, Tim Mois, Lee Ozley, Ricardo Semler, Rich Teerlink oder Götz Werner offenbart haben.

Mein besonderer Dank gilt all den Gesprächspartnern aus den verschiedensten Unternehmen, die mich großzügig mit Input und Feedback versorgten: Sandra Altnow, Gerhard Andrey, Michael Beyer, Peter Bollenbeck, Katrin Dietze, Hans Gruber, Jutta Handlanger, Erich Harsch, Thijs Havenaar, Achim Hensen, Cliff Hazell, Holger Karcher, Marijke Kasius, Werner Kohl, Stef Lagomatis, Benno Löffler, Ulrich Lohmann, Sönke Martens, Markus Monka, Thu Pakasathanan, Matthias Patzak, Clemens Riedl, Arne Roock, Hartger Ruijs, Michael Rumpler, Peter Stämpfli, Frank Schlesinger, Alexander Schley, Markus Stelzmann, Eva Stöger, Nicole Tietz, Stefan Truthän, Carina Visser.

Danke sagen will ich natürlich auch jenen Unerschrockenen, die sich durch mehrere Versionen dieses Buches gearbeitet und dieses maßgeblich beeinflusst haben: meinem Beratungskollegen und Schmähbruder Klaus Leopold, meiner Lektorin Christa Preisendanz, meinem Busenfreund und intellektuellen Weggefährten Georg Tillner und last but not least meiner Geschäfts- und Lebenspartnerin Sabine Eybl.

Gewidmet ist dieses Buch unseren beiden Töchtern – nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sie einer attraktiveren Organisationswelt entgegenblicken dürfen.

Siegfried KalteneckerWien, im März 2017

Inhaltsverzeichnis

Teil IManagement

1Agile revisited

1.1Das Agile Manifest

1.2Lean und Systemdenken

1.3Selbstorganisation und Management

2Mythen und Realitäten der Selbstorganisation

2.1Falschgeld

2.2Grundgesetze

3Entwicklung selbstorganisierter Teams

3.1Eine Matrix und die Praxis

3.2Entwicklungsvarianten

Teil IISkalierung von Selbstorganisation

4Zuerst der Kunde

4.1Mission und Vision

4.2Strategie und Kultur

4.3Design Thinking

5Transparente Steuerung von Abläufen

5.1Kanban

5.2Flugebenen

5.3Information und Interaktion

6Kurze Feedbackschleifen

6.1Besprechungen

6.2Messungen

6.3Kontrolle

7Kundennahe Entscheidungen

7.1Delegation von Autorität

7.2Explizites Entscheidungsmanagement

7.3Einfache Entscheidungshilfen

8Mutige Verbesserungs- und Innovationsexperimente

8.1Wachstum und Agilität

8.2Lebendiges Organisationsdesign

8.3Entwicklung selbstorganisierter Unternehmen

9Schlanke Aufbauorganisation

9.1Minimum an Vorgaben

9.2Spiegelphänomene

10Verteilte Managementaufgaben

10.1Führung durch Vernetzung

10.2Linienmanagement

11Laufendes Training und Coaching

11.1Kata der Selbstorganisation

11.2Emotionen im Veränderungsprozess

Teil IIICoaching

12Professionelles, systemisches und agiles Coaching

12.1Fach- und Netzwerkorientierung

12.2Expertise und Nicht-Wissen

12.3Fokus auf Personen vs. Fokus auf Systeme

13Kollegiale Beratung

13.1Pairing

13.2Mentoring

13.3Communities of Practice

13.4Fallberatung

14Kollegiales Feedback

14.1Eine besondere Visitenkarte unseres Kollegen

14.2Einander den Rücken stärken

14.3Speed Feedback Dating

14.4Kugellager-Feedback

14.5Feedback and feed-forward

14.6Update zu feedback and feed-forward

14.7Lass’ dir helfen!

14.8ABC-Feedback-Trios

14.9Zur Einführung von kollegialem Feedback

15Coaching von Managern

15.1Motive

15.2Voraussetzungen

15.3Erstgespräch

15.4Vom Kontakt zum Kontrakt

15.5Sicherheit gewinnen

15.6Unsicherheit stiften

16Manager als Coaches

16.1Aufgaben

16.2Werkzeuge

16.3Haltungen

Teil IVKleines Manifest für selbstorganisierte Führung

Literatur

Index

Teil IManagement

»Warum schreibst du schon wieder über Management?«, fragte mich meine ältere Tochter, als sie von meinem neuen Buchprojekt erfuhr. »Ich dachte, das hättest du mit deinem letzten Buch erledigt!«

Selbstverständlich kam ich nicht mehr zu einer angemessenen Antwort. Für einen alten Mann ist eine 16-Jährige einfach viel zu agil. Bevor ich noch zu einer Erklärung ansetzen konnte, war sie schon mit ihrem Mobiltelefon zur Tür hinaus. Wenigstens hatte ich mir damit einen plumpen Rechtfertigungsversuch und jenes Augenverdrehen erspart, mit dem meine Töchter darauf zu reagieren pflegen. Stattdessen konnte ich noch einmal nachdenken: War das Thema tatsächlich erledigt? Wussten wir längst alles, was nötig war, um agile Unternehmen gestalten zu können? Litt ich also bloß unter einer Art schriftstellerischem Wiederholungszwang? Getreu dem Motto: Eigentlich ist alles gesagt – nur noch nicht von allen?

Es wäre schön, wenn ich diese Fragen mit einem kategorischen Nein beantworten könnte. Ich muss zugeben, dass ein gewisser Zweifel bleibt – obwohl ich meiner Tochter mittlerweile gute Gründe für ein gepflegtes Revival vorlegen kann: etwa das notwendige Prüfen und Anpassen, immerhin ist seit dem Erscheinen von Kanban in der IT [Leopold & Kaltenecker 2013] und Selbstorganisierte Teams führen [Kaltenecker 2015b] schon einiges Wasser die Donau hinuntergeflossen; die Anregungen, die ich durch das Feedback von Lesern gewonnen habe; oder die neuen Erkenntnisse, die ich in diversen Kundenprojekten sammeln durfte. Alles in allem habe ich das Gefühl, wieder ein wenig schlauer geworden zu sein.

Selbstanzeige

Auf die Gefahr hin, dass das nicht wirklich schlau ist, verwende ich die Begriffe Selbstorganisation, Selbstmanagement und Selbststeuerung weitgehend synonym. Außerdem müsste ich ja streng genommen von sich selbst organisierenden Unternehmen schreiben. Ich weiß, dass ich mir damit eine gewisse Unschärfe einhandle – und bei denjenigen Lesern, die es gerne genau haben, zumindest ein Kopfschütteln auslöse. Zu meiner Verteidigung kann ich mich zumindest auf den agilen Wert der Einfachheit berufen – und auf die Aussicht auf bessere Lesbarkeit.

Wann immer ich von Selbstorganisation schreibe, meine ich damit die freie Gestaltung von Arbeit innerhalb eines definierten Rahmens. Das heißt, dass die Experten selbst bestimmen, welche Aufgaben sie erledigen müssen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Teams legen gemeinsam fest, worauf sie sich verpflichten und wofür sie Verantwortung übernehmen. Und Vertreter verschiedener Geschäftseinheiten bestimmen selbst, wie sie sich mit anderen koordinieren, um möglichst geschmeidige Abläufe zu gewährleisten.

Wenn ich schon dabei bin, will ich gleich einen zweiten Disclaimer anbringen: Ich unterscheide nicht kategorisch zwischen Leadership und Management. Die gängigen Zuschreibungen nach der Formel: Managern geht es um die effiziente Erledigung von Sachaufgaben, Führungskräften um das Gewinnen von Menschen, sind mir zwar geläufig. Ich halte mich in dieser Hinsicht aber lieber an Henry Mintzberg, der überzeugend argumentiert, dass diese Differenz theoretisch zwar ganz interessant, für die Praxis von Managern jedoch weitgehend irrelevant sei [Mintzberg 2010].

So spreche ich in diesem Buch einerseits von Linienmanagern und meine damit eine hierarchisch verankerte Führungskraft. Und unterscheide das andererseits von den Managementaufgaben, die in selbstorganisierten Unternehmen bewusst verteilt werden, sowie von den Führungskräften, die auf allen Ebenen mobilisiert werden.

Daraus folgende Verwirrungen sind bis auf Widerruf gestattet.

Folglich kann dieses Buch als Versuch gelesen werden, die große Idee der kontinuierlichen Verbesserung sozusagen buchstäblich umzusetzen. Selbstorganisierte Unternehmen greift hierzu einige Fragen wieder auf, die man getrost als Dauerbrenner sehen kann: etwa die Frage, wie wir echte Agilität sicherstellen; die Frage, warum Selbstorganisation immer noch von so vielen Mythen umrankt ist; die Frage, wodurch wir die Entwicklung agiler Teams fördern können; oder die Frage, welche Wechselwirkungen zwischen System- und Verhaltensänderung zu beachten sind. Auf der Suche nach neuen, über den Teamkontext hinausgehenden Antworten schlug ich irgendwann eine neue Seite in einem Forschungskapitel auf, das nicht nur meine Tochter für abgeschlossen hielt.

In der Zwischenzeit sind es ein paar mehr Seiten geworden, die ich im ersten Teil dieses Buches zu folgenden drei Kapiteln gebündelt habe:

»Agile revisited« versucht einige Missverständnisse zu klären, mit denen ich in den letzten Jahren immer wieder konfrontiert war – und die ich vielleicht durch meine bisherigen Publikationen mit verursacht habe.

Das Kapitel »Mythen und Realitäten der Selbstorganisation« zeigt die Beharrlichkeit des traditionellen Führungsparadigmas und ruft in Erinnerung, worum es bei der Selbstorganisation eigentlich geht.

»Entwicklung selbstorganisierter Teams« riskiert ein einfaches Wachstumsmodell, mit dem sich der jeweilige Status eines Teams verorten und ein Leitfaden für die weitere Potenzialentfaltung ableiten lässt.

Abb. I–1Galaktische Visionen

1Agile revisited

Fangen wir also noch einmal ganz von vorne an: Was bedeutet es, agil zu sein? Die ethymologische Definition des Wortes steckt die ersten Orientierungspunkte ab. Vom lateinischen agilis abstammend, heißt agil buchstäblich »lenksam, behände, rasch«. Eng verwandt mit agere »tätig sein, handeln, agieren« ist der Begriff mit einer Menge energievoller Synonyme verbunden: betriebsam, beweglich, geschäftig, gewandt, lebhaft.

So positiv agil besetzt ist, so oft kommt es in Unternehmen zu Polarisierungen. Ein dafür typisches Beispiel erlebte ich unlängst in einem deutschen Energieunternehmen. Zuerst verlief der Strategieworkshop, zu dessen Moderation ich eingeladen war, in den gewohnten Bahnen: Es gab Präsentationen zum abgelaufenen Geschäftsjahr, positive und negative Entwicklungen wurden identifiziert und eine Ursachenanalyse zu ausgewählten Themen vorgenommen. Doch als es um die daraus abzuleitenden Verbesserungsmaßnahmen ging, wurde es unversehens hitzig. Sollte man nun Scrum einführen oder nicht? Machte vielleicht sogar die Kombination mit Kanban auf Abteilungsebene Sinn? Brachte das, wie einige meinten, nur unnötigen Overhead mit sich? Oder brauchte man tatsächlich ein zweites Betriebssystem, um rascher auf die aktuellen Marktentwicklungen reagieren zu können? Ich erinnere mich noch genau, wie ein Produktmanager in zunehmend beschwörerischem Ton argumentierte, dass daran kein Weg vorbeiführe: »Agilität ist doch ein Gebot der Stunde!« Und ich erinnere mich ebenso gut an die polternde Replik des Entwicklungsleiters: »Agil ist doch bloß wieder so eine Modewelle, auf der wir jetzt unbedingt dahinsurfen müssen.« Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, schaukelte sich die wechselseitige Empörung rasch auf. Es kam zu einer regelrechten Lagerbildung, sodass ich als Workshopleiter meine liebe Not hatte, das Ganze im zivilisierten Rahmen zu halten. Und die Moral von der Geschicht’? Wie immer, wenn es um Veränderung geht, ist Emotion Trumpf. Die Welt zerfällt in Schwarz oder Weiß, Pro oder Kontra, Ja oder Nein. Erfahrung und Wissen verkommen da leicht zur Nebensache. Agilität wird abgelehnt, ohne dass man genau weiß, worum es eigentlich geht.

Leider gilt das mitunter auch für jene, die agile Vorgehensweisen befürworten. Überzeugung ist angesagt, ein festes Glaubensbekenntnis und eine evangelistische Grundhaltung. Doch wo der missionarische Eifer regiert, bleibt eine differenzierte Auseinandersetzung leicht auf der Strecke. Wozu müssen wir denn agil werden? Wer hat etwas davon? Woran erkennen wir, dass es uns etwas bringt? Und wie sollten wir vorgehen, um das Gewünschte zu erreichen?

Zumindest die letzte Frage wird gerne mit einem Verweis auf das Agile Manifest beantwortet [Beck et al. 2001]. »Dort finden wir alles, was wir über Werte, Dos and Don`ts wissen müssen«, erklärte der bereits erwähnte Produktmanager, als er nach den Koordinaten der von ihm forcierten Veränderung gefragt wurde. »Wir haben uns genau an die Prinzipien gehalten«, berichtete einer seiner Kollegen dazu von seiner letzten Firma, »und das half uns, die Scrum-Teams richtig zu installieren. Damit sind wir deutlich agiler geworden.«

Die Erklärungen erscheinen mir gleich in mehrfacher Hinsicht typisch für das, was ich bereits in zahlreichen Unternehmen erlebt habe:

Agilisierung findet auf Teamebene statt: Bottom-up ist das Motto, top-down höchstens als Hindernis präsent.

Agil wird als etwas betrachtet, das sich problemlos in der bestehenden Systemlandschaft installieren lässt.

Das Mittel wird mit dem Zweck verwechselt: Im Handumdrehen mutiert die Einführung agiler Vorgehensweisen selbst zum Ziel.

Agilität wird auf Methoden reduziert: Wir sind so sehr mit Scrum oder Kanban beschäftigt, dass wir uns nicht mehr länger fragen, was das Unternehmen eigentlich davon hat – ganz zu schweigen vom Kunden.

Das Manifest der agilen Softwareentwicklung oder der Scrum Guide [

Schwaber & Sutherland 2016

] erlangen Bibelstatus – und gelten unversehens auch dort, wo es gar nicht um Softwareentwicklung geht.

1.1Das Agile Manifest

Die Leitwerte dieses Manifests sind rasch heruntergebetet: Individuen und Interaktionen werden über Prozesse und Werkzeuge gestellt, funktionierende Software über umfassende Dokumentation, Zusammenarbeit mit dem Kunden über Vertragsverhandlung und das Reagieren auf Veränderung über das Befolgen eines Plans. So weit, so gut. Doch kaum jemand macht sich die Mühe, sich genauer mit diesen Werten und den damit verbundenen Prinzipien zu beschäftigen – geschweige denn, diese kritisch zu hinterfragen. Es wirkt, als sei das agile Mantra des Prüfens und Anpassens außer Kraft gesetzt. Das führt dazu, dass das Manifest weniger als Kind seiner Zeit, sondern als historische Grundfeste betrachtet wird – gleichsam in Stein gemeißelt wie die zehn Gebote.

Prinzipien hinter dem Manifest der agilen Softwareentwicklung

Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufrieden zu stellen.Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden.Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.Fachexperten und Entwickler müssen während des Projektes täglich zusammenarbeiten.Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist das Gespräch von Angesicht zu Angesicht.Funktionierende Software ist das wichtigste Fortschrittsmaß.Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.Ständiges Augenmerk auf technische Exzellenz und gutes Design fördert Agilität.Einfachheit – die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren – ist essenziell.Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch Selbstorganisierte Teams.In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an. [Beck et al. 2001]

Was könnte uns auffallen, wenn wir diese Prinzipien mit historisch-kritischer Brille lesen? Zuerst würden wir wohl einige Schwerpunkte erkennen:

Der Kunde ist als zentrale Instanz gesetzt

Es geht um dessen Zufriedenheit, die wir durch die verlässliche Lieferung wertvoller Software sicherstellen (Prinzipien 1 und 3), sowie um dessen potenziellen Wettbewerbsvorteil, den wir durch die grundsätzliche Offenheit für Veränderungen bieten (Prinzip 2).

Das Team ist der Motor agiler Entwicklung

Agilität wird durch motivierte Individuen (5), direkte Kommunikation (6), intensive Zusammenarbeit (4), nachhaltige Entwicklung (8), regelmäßige Retrospektiven und Verhaltensverbesserungen (12) sowie das Prinzip der Selbstorganisation vorangetrieben (11).

Die Produktqualität ist das Wesentliche des agilen Vorgehens

Funktionierende Software ist das wichtigste Fortschrittsmaß (7), technische Exzellenz und gutes Design der Agilität förderlich (9), Einfachheit und Fokussierung (10) essenziell.

Haben wir damit also das agile Erfolgsrezept definiert: Kunde – Team – Qualität? Ist eine Organisation, die diesem Rezept folgt, quasi automatisch agil? Dem offiziellen Manifest und Guide folgend dürfen wir das wohl bejahen – uns zumindest auf dem richtigen Weg wähnen. Wenn wir dieses Rezept aber aus einer Lean-Perspektive betrachten, fällt uns das Ja-Wort nicht mehr ganz so leicht.

Prinzipien von Lean

Definiere den Wert aus Kundensicht.Identifiziere den gesamten Wertstrom.Bringe den Wert zum Fließen.Folge dem Prinzip des Ziehens (Pull) und liefere nur das, was der Kunde möchte und wann er es möchte.Verbessere dich kontinuierlich. (vgl. [Womack & Jones 1996])

Der Vergleich macht Sie sicher, heißt es. Halten wir die beiden Satzungen von Lean und Agile also einmal nebeneinander. Offenbar steht hier wie dort der Kunde im Mittelpunkt. Beide beschäftigen sich mit ähnlichen Grundfragen: Was wollen unsere Kunden? Was ist ihnen besonders wichtig? Wann ist unser Produkt oder Service für sie wertvoll? Freilich ließe sich sogleich hinterfragen, ob wir unsere Kunden überhaupt kennen, ob wir mit ihnen in Kontakt stehen und ob wir laufend Feedback von ihnen erhalten. Doch dazu später mehr. An dieser Stelle können wir uns mit der zugegebenermaßen eher trivialen Einsicht begnügen, dass Lean- und agile Prinzipien gleichermaßen auf den Kunden konzentriert sind. Zudem legen die jeweiligen Prinzipien ähnliches Augenmerk auf die Produktqualität und das Primat der Einfachheit: Liefere das, was gewünscht wird, zur richtigen Zeit.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten sehe ich allerdings einen großen Unterschied in der Ausrichtung. Denn während die agilen Prinzipien das Team als Kraftzentrum setzen, steht und fällt Lean mit dem Wertstrom. Diese Differenz mag harmlos wirken – bei genauerer Betrachtung aber beginnen sich hier die Agilitätsgeister zu scheiden. Die Scheidung wird offensichtlich, wenn wir noch einmal zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren: Wann ist eine Organisation agil? Per definitionem bedeutet Agilität, in allen Bereichen flexibel auf sich ändernde Bedingungen reagieren zu können. Responsivität heißt die Kernkompetenz, die Unternehmen erlaubt, sich rasch auf neue Herausforderungen einzustellen. Schließlich wollen sie ja wendige Schnellboote sein und nicht behäbige Dampfer, die Ewigkeiten für einen Kurswechsel brauchen.

Die Flussmetapher, mit dem diese Wunschbilder einhergehen, erinnert nicht von ungefähr an die Lean-Prinzipien. Unternehmen leben bekanntlich davon, dass Arbeit in ihnen fließt und im Zuge dieses Fließens Wert generiert: gewissermaßen von der Quelle einer ersten Nachfrage oder Entwicklungsidee bis zur Mündung eines zufriedenen Kunden. Ein solcher Arbeitsfluss ist immer vorhanden, egal auf welcher Organisationsebene wir das betrachten. Ab einer gewissen Unternehmensgröße setzt sich dieser Fluss meistens aus mehreren Abschnitten zusammen. Einzelne Teams oder Fachexperten sind dann Glieder einer größeren Wertschöpfungskette. Folglich hängt die Qualität dessen, was dem Kunden schließlich geliefert wird, ganz wesentlich davon ab, wie gut dieser Fluss über alle Subsysteme hinweg koordiniert wird. Wie lange ist eine Arbeit eigentlich durch unsere Organisation unterwegs, bis sie dem Kunden geliefert wird? Wie viele Schleusen oder andere Hindernisse muss sie passieren? In wie viele Staubecken gerät sie, in denen wir nicht aktiv sind, sondern nur warten? Wie verbinden wir die einzelnen Flussabschnitte zu einem möglichst geschmeidigen Wertstrom? Und woran erkennen wir zu guter Letzt, welchen Wert wir tatsächlich liefern?

Abb. 1–2Arbeit im Fluss

Was ist ein System?

Es wird höchste Zeit, mein Verständnis eines Begriffs zu klären, der implizit durch meinen Argumentationsfluss mäandert. Jetzt darf er endlich auftauchen. Doch was darf man sich unter einem System vorstellen? Aus dem Altgriechischen kommend bedeutet sýstēma wortwörtlich »ein aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes«. Einfach gesagt versteht man unter einem System also eine Gesamtheit von Elementen, die so miteinander verbunden sind, dass sie als zielorientierte Einheit funktionieren. Ein System ergibt sich nicht aus der Summe der Elemente, es ist vielmehr das Produkt seiner Interaktionen [Ackoff 1994].

Eine solche Definition hat weitreichende Folgen. Auf der einen Seite bedeutet es, dass auch die Interaktionen zwischen den Elementen agil sein müssen, wenn wir agile Systeme schaffen wollen. Auf der anderen Seite bedeutet es, dass wir selbst dann auf das Ganze schauen sollten, wenn wir Subsysteme gestalten. Der Einsatz interdisziplinärer Teams und agiler Methoden in einzelnen Bereichen reicht nicht aus, wenn wir selbstorganisierte Unternehmen schaffen wollen. Dafür müssen wir alle Abläufe, Steuerungsmechanismen oder Feedbackschleifen mit dem Blick auf das große Ganze gestalten (siehe Teil II).

1.2Lean und Systemdenken

Der Begriff des Wertstroms legt drei Schlussfolgerungen nahe: Erstens sollten wir uns weniger aufs Arbeiten als darauf konzentrieren, damit Wert zu generieren; zweitens kann es nicht darum gehen, uns beschäftigt zu halten, selbst wenn wir das höchst effizient tun; und drittens sind die Funktionsfähigkeit, Fehlerfreiheit und technische Exzellenz zwar wichtig, garantieren jedoch noch keinen Kundennutzen – selbst die raffiniertesten Produkte und Services sind für den Kunden mitunter völlig wertlos.

Spätestens an dieser Stelle sollte das Problem mit dem Teamansatz deutlich geworden sein. Denn viele agile Teams sind nur für einen bestimmten Abschnitt des Wertstroms verantwortlich. Damit der Kunde einen Unterschied merkt, müssen wir jedoch mehr als nur einzelne Abschnitte agilisieren. Um hier noch einmal die Schiffsmetapher aufzugreifen: Was bringt es dem auf uns wartenden Kunden, wenn wir zwar zwischen zwei Anlegestationen mit dem Schnellboot unterwegs sind, aber dann wieder auf einen Dampfer umsteigen?

Mit anderen Worten: Wenn wir responsiv sein wollen, müssen wir den gesamten Wertstrom im Auge haben. Denn am Ende des Tages nützt es keinem, wenn wir in bestimmten Organisationsbereichen reaktionsschnell sind, während wir in anderen statisch bleiben – oder uns durch rigide Finanzierungs- oder Personalprozesse entsprechend lähmen.

Solche Lähmungserscheinungen zeigte etwa ein österreichisches Infrastrukturunternehmen, das zwar in vielen Teilbereichen Scrum-Teams einsetzte, die Budgetierungs- und Kostenkontrollprozesse jedoch unberührt ließ. Dass auch die hierarchische Führung in Amt und Würden blieb, führte gleichsam zu einer Agilisierung mit angezogener Handbremse.

Ähnliches passierte in einer schwedischen Telekommunikationsfirma: Einerseits wurde in vielen Projekten Kanban eingesetzt, was die Übersicht und Steuerbarkeit nachweislich verbesserte; andererseits wurden weder der Input koordiniert noch der WIP limitiert. Agil hieß für das Management vor allem, jederzeit ins Projektgeschäft eingreifen zu können.

Auch der Versuch eines schweizerischen Versicherungsunternehmens, die gesamte IT-Entwicklung in selbstorganisierten Teams abzuwickeln, blieb im Ansatz stecken. Obwohl diese Teams intensive Trainings- und Coachingprogramme durchliefen und tatsächlich viele agile Elemente aus XP, Scrum und Kanban einsetzten, konnten weder der Durchsatz noch die Durchlaufzeiten nennenswert verbessert werden. Ob es wohl klug war, gleichsam über Nacht die gesamte mittlere Managementebene aufzulösen, ohne ein geeignetes Koordinationssystem für die teamübergreifende Abstimmung auszuarbeiten?

Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Agile Teams allein sind nicht genug. Es ist zwar schön, wenn wir in einzelnen Bereichen beweglicher werden, rascher auf Kundenwünsche reagieren und neue Vorgaben flinker verarbeiten – das nützt aber alles nur wenig, wenn unsere Arbeitsflüsse insgesamt verstopft bleiben.

Selbstverständlich geht es mir hier nicht darum, die Notwendigkeit von Agilität infrage zu stellen. Schon gar nicht geht es mir darum, sie mit Lean-Argumenten auszuhebeln. Stattdessen möchte ich dafür plädieren, unseren Agilitätskonzepten gewissermaßen eine Schlankheitskur zu verordnen. Zusammen mit einem Veränderungsansatz, der die gesamte Organisation in Bewegung setzt, eröffnet eine solche Kur zumindest drei Möglichkeiten, unsere unternehmerische Fitness zu steigern:

Wir können

Agilisierung als systemische Veränderung

konzipieren, die sowohl das bestehende Arbeitsmanagement als auch die aktuelle Führungskultur umfasst. Bottom-up-Impulse sind gut, sie müssen jedoch top-down und vertikal integriert werden. Wenn wir nicht bei lokaler Verbesserung stehenbleiben und globale Suboptimierung in Kauf nehmen wollen, brauchen wir einen konzertierten Einsatz aller Beteiligten.

Um das Agilisierungskonzert richtig anzustimmen, setzen wir bei der

Ablauforganisation

an. Wenn wir uns auf die Koordination systemübergreifender Wertströme konzentrieren, werden wir rasch Verbesserungen erzielen können. Aufbauorganisatorische Veränderungen (z. B. agile Teams) oder neue Rollenkonzepte (z. B. der agile Manager) machen unsere Kunden selten glücklicher – ganz zu schweigen von den Mitarbeitern, die oft mit mehr Verwirrung als Klarheit konfrontiert sind.

Die

gemeinsame Gestaltung wertschöpfender Arbeitsmanagementsysteme

ist wichtiger als die Methodik, die dafür eingesetzt wird. Hier soll nicht einem fröhlichen Eklektizismus das Wort geredet werden, der unter Scrum-But, seichtes Kanban oder LeanFat ins Gerede gekommen ist. Allerdings möchte ich für weniger Dogmatismus und mehr Vertrauen in die unternehmerische Intelligenz plädieren – und damit zugleich für eine konstruktive Verbindung von agiler und systemischer Expertise.

1.3Selbstorganisation und Management

Wie schaffen wir also ein System, das die einzelnen Elemente der Organisation so zu einem kundenorientierten Ganzen verbindet, dass maximale Beweglichkeit gewährleistet ist? Wer mich kennt, sei es nun als Autor, als Trainer oder als Berater, wird wenig überrascht von meiner Antwort sein: durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die geschmeidige Arbeitsflüsse gewährleisten und Selbstorganisation fördern. Ebenso wenig sollte überraschen, dass ich es als die zentrale Aufgabe des Managements ansehe, für die Entwicklung und die kontinuierliche Verbesserung eines solchen Systems zu sorgen.

Was bedeutet es, systemisch zu managen? Meiner Ansicht nach bedeutet es vor allem, den Fokus von den Mitarbeitern und deren Aktivitäten auf die Prozesse und Strukturen zu verschieben. Es geht nicht darum, Experten zu kontrollieren, damit diese arbeiten, wie sie sollen. Es geht um das Management der Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich diese Expertise entfaltet: von der allgemeinen Mission über die Ablaufprozesse und Interaktionsregeln bis hin zu den Strukturen, die wir für die Zielerreichung brauchen. Kurzum, Makro- statt Mikromanagement ist angesagt.

Wie ich bereits in früheren Publikationen argumentiert habe, kann Selbstorganisation nur gelingen, wenn wir auch das Management darauf ausrichten. Je nach Reifegrad des Unternehmens verschiebt sich dessen Aufgabenportfolio schrittweise:

von der Administration der internen Aufbauorganisation zur Gestaltung von Geschäftsprozessen, die konsequent auf den Kunden ausgerichtet sind;

von der operativen Steuerung zum strategischen Design von Rahmenbedingungen;

von einer zentralistischen zu einer netzwerkartigen Führungslogik, die durch transparente Steuerung, Selbstkontrolle und kurze Feedbackschleifen geprägt ist;

von der routinierten Anwendung einmal gelernter Konzepte zur laufenden Prüfung und gegebenenfalls Veränderung des eigenen Tuns.

Abb. 1–3Himmlische Aussichten

Die Maxime der Wandlungsfähigkeit ist alles andere als neu. Sie gehört mittlerweile genauso zum Tagesprogramm des Managements wie das wechselseitige Hochschaukeln von technischem Wandel und veränderter Nachfrage. Bestehende Kunden mit neuen Bedürfnissen, neue Kunden mit anderen Anliegen oder ehemalige Kunden mit unbekannten Motiven halten Organisationen allerorts auf Trab. Diese reagieren mit einer Fülle von Maßnahmen: Interdisziplinäre Teams, dezentrale Einheiten, umfassende Kaizen-Programme oder autonome Innovationszentren gehören zum Standardprogramm. Die Frage ist allerdings, wie konsequent diese Maßnahmen eingesetzt werden. Helfen sie tatsächlich, die erhöhte Komplexität der Umwelt besser in den Griff zu bekommen – oder verlagern sie die bestehenden Probleme bloß? Werden sie in maßgeschneiderter Form eingesetzt – oder folgen sie standardisierten Rezepten? Und sind sie Teil eines durchdachten Systems, das auf allen Ebenen die Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit fördert – oder stehen sie im Zeichen des lokalen Aktionismus? Wollen Unternehmen in der Zukunft bestehen, brauchen sie jedenfalls responsive Systeme – darüber hinaus benötigen sie eine Kooperationskultur, die dieser Dynamik gewachsen ist. »Führung als Teamsport« habe ich jene funktions- und hierarchieübergreifende Zusammenarbeit in meinem letzten Buch genannt [Kaltenecker 2015b]. »Führung als Breitensport« würde ich im Kontext dieses Buches paraphrasieren, um uns auch hier von der Teamfixierung zu lösen. Jedenfalls geht es bei diesem Sport darum, Führung auf allen Ebenen zu fördern.

Eine solche Förderung wird vor allem von einem gemeinsamen Verständnis unternehmerischer Fitness getragen. Wie halten wir unseren wertgenerierenden Kreislauf in Schuss? Was nährt uns als Organisation? Welche Impulse halten uns in Bewegung? Wann sind wir gesund? Und welches Fitnessprogramm sollten wir verfolgen, damit das auch so bleibt? Die Beantwortung dieser Fragen hängt davon ab, dass alle Beteiligten verstehen, was sie eigentlich tun, warum sie das tun und für wen sie es tun. Das heißt, dass sie ihre Organisation durch eine Brille betrachten, deren Linse auf Kundeninteressen ausgerichtet ist. Derart sehen zu lernen bedeutet, wie John Seddon formuliert, »eine andere Perspektive einzunehmen. Wenn wir eine Organisation als System fassen wollen, gehen wir von außen nach innen vor. Wir erfassen den Zweck des Systems aus Kundensicht. Wenn wir mehr über das System lernen, finden wir heraus, wie gut seine Geschäftstätigkeit auf den Kunden abgestimmt ist. Auf Basis dieses Wissens können wir Verbesserungen mit Weitblick in Angriff nehmen« [Seddon 2003, S. 109].

Es wäre hilfreich, wenn wir diese Verbesserung weniger in den Kategorien des Sollens oder gar Müssens fassen als in Kategorien des Dürfens und Wollens. Unternehmen, die auf das Pull-Prinzip und maßgeschneiderte Unterstützung setzen, verändern sich wesentlich leichter als Organisationen, die Leute mit standardisierten Trainings à la Management 3.0 oder Digitialisierung 4.0 zwangsbeglücken. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich mehr Widerstand gegen das Verändertwerden als gegen die Veränderung richtet. Die Erfahrung zeigt, dass die damit verbundenen Lernprozesse leichter gelingen, wenn sie nicht allzu moralisch daherkommen. Die meisten Leute reagieren nämlich ablehnend, wenn sie unter Druck gesetzt oder gar erpresst werden.

Wie Sie vor allem im zweiten Teil dieses Buches noch sehen werden, hängt die professionelle Unterstützung managementspezifischer Lernprozesse von einer positiven Grundhaltung ab. Dafür ist es wenig förderlich, Manager pauschal als größte Hindernisse für die Agilisierung zu brandmarken und deren Überflüssig-Werdung als einzige Entwicklungsperspektive in Aussicht zu stellen. Jenseits solcher Polemik tun sich meiner Erfahrung nach neue Kooperationsfelder auf, in denen Prozessberatung, Wissensvermittlung und Skillstraining sinnvoll verbunden werden. Coaching ist dafür nur ein allgemeiner Begriff, zeigt aber zumindest die Richtung an, um die es in selbstorganisierten Unternehmen geht: um mehr Service, um eine bessere Balance von kundenorientierter und kollegialer Dienstleistung sowie um wechselseitiges Helfen in den verschiedensten Konstellationen.

Statt uns auf Defizite zu konzentrieren, könnten wir uns versuchsweise auch einmal mit den Gewinnoptionen beschäftigen. Was hat ein Manager davon, Selbstorganisation zu unterstützen? Wozu sollten sich Teamleiter, Abteilungsleiter, Projektmanager oder Head ofs auf die agile Reise einlassen? Und welche Vorteile bringt es der Geschäftsführung, wenn ihre Organisation systemisch vorgeht?

Wozu selbstorganisierte Unternehmen?

Was könnten Unternehmen davon haben, wenn sich Teams selbst managen? Wenn Experten interdisziplinär zusammenarbeiten und Führung zum hierarchieübergreifenden Breitensport wird? Frederic Laloux, Autor des einflussreichen Buches Reinventing Organizations, sieht vor allem zwei Glücksversprechen: erstens die Freisetzung von Energien, die zuvor gar nicht verfügbar waren – etwa durch eine ambitionierte Mission, durch die Verteilung von Macht, durch kontinuierliches Lernen oder durch eine geringere Verschwendung von Energien in nutzlosen Meetings oder sinnfreien Regelwerken; und zweitens die bessere Kanalisierung vorhandener Energien – beispielsweise durch eine umsichtigere Wahrnehmung durch alle Mitarbeiter, durch bessere Entscheidungen oder durch effektivere Koordination [Laloux 2014, S. 290 f.]. In Teil II erfahren Sie im Detail, wie diese Glücksversprechen praktisch umgesetzt werden.

Alles in allem liefern uns Unternehmen, die durchgehend auf Selbstorganisation setzen, unter anderem folgende Antworten auf die eingangs gestellte Frage nach dem Wozu:

Schneller auf neue Herausforderungen reagieren.Komplexität effektiver verarbeiten.Besser auf die Interessen von Kunden und andere Stakeholdern eingehen, dadurch dass das Sensorium aller Mitarbeiter genützt wird.Neue Kundenwünsche und Innovationsfelder früher erkennen.Effektivere Kommunikationswege und wechselseitige AbstimmungenKürzere Feedbackschleifen, nicht zuletzt von KundenseiteHöhere Qualität von Entscheidungen, da diese für gewöhnlich auf eine breitere Informationsbasis zurückgreifen können.Effizientere Verbesserungsmaßnahmen, da Probleme früher wahrgenommen und Lösungen rascher umgesetzt werden.Mehr Verantwortungsbewusstsein, da Mitarbeiter ihre Arbeit selbst managen und kontrollieren. Zudem zeigen sie mehr Initiativkraft und sind auch eher bereit, sich für das große Ganze einzusetzen.Eine höhere Motivation und mehr Spaß bei der Arbeit. Das stärkt sowohl die Bindung ans Unternehmen als auch dessen Attraktivität für junge Talente.

Ich bin davon überzeugt, dass alle im Unternehmen viel gewinnen können, wenn konsequent auf Selbstorganisation gesetzt wird. Ich bin aber ebenfalls davon überzeugt, dass Linienmanager und Fachexperten Sehhilfen brauchen, um diese Gewinnoptionen zu erkennen. Wir können ihnen eine solche Hilfe nicht aufzwingen. Coaching, Training oder Mentoring muss gewollt und kann nicht verordnet werden. Wir können aber sicher mehr tun, um Selbstorganisation attraktiv darzustellen – nicht zuletzt, indem wir …

… Manager als

kreative Nach- und Vordenker

ansprechen: Was haben wir bisher gemacht? Was könnten wir in Zukunft anders machen? Und woran erkennen wir, dass dadurch etwas besser wird?

… Manager in ihrer

Experimentierfreude

unterstützen: Lass uns doch einmal etwas anderes versuchen!

… ihren

Sportsgeist

wecken: Ich bin sicher, dass die Arbeit besser und leichter von der Hand gehen kann!

… Manager bei der

Ehre

packen: Ihr seid zu mehr fähig als zu Business-Adminstration, der

ulitma ratio

gelernter MBAs!

… ihre

Karriereinteressen

bedienen: Schließlich stellt einschlägige Erfahrung im agilen Umfeld heute ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Wert am Stellenmarkt dar.

Freilich wird all das nicht ohne eine gewisse Offenheit und Bereitschaft aufseiten des Managements funktionieren. Für Letzteres hat John Seddon einen kleinen Katalog vorgelegt, den ich gerne als Hand-aufs-Herz-Fragen bezeichne:

»Wollen Sie (als Manager) eine Organisation leiten, in der diejenigen, die die Arbeit machen, diese auch kontrollieren und laufend verbessern? Das bedeutet, dass Sie Entscheidungsautorität delegieren müssen. Dafür ist es nicht genug, das Wort empowerment in den Mund zu nehmen: Sie müssen Ihr derzeitiges Managementkonzept aufgeben. Die Leute, die die Arbeit machen, werden diese mit anderen Mitteln steuern als den Ihnen bekannten. Und Sie selbst werden ebenfalls einen anderen Job machen. Sind Sie bereit, Ihre eigene Rolle zu ändern? Können Sie Ihre Arbeit als Arbeit am System konzipieren? Sind Sie bereit, herauszufinden, wie sehr sich das von dem unterscheidet, was Sie derzeit tun? Werden Sie diese Dinge auch tun, wenn Ihre Vorgesetzten das nicht verstehen oder billigen? Wenn diese weiterhin die zu erreichenden Zahlen diktieren, unterlaufen sie Ihre Möglichkeiten, diese zu erreichen. Sind Sie darauf gefasst, diese Spannung auf sich zu nehmen, während Sie Ihr System weiter zu verbessern versuchen? Können Sie sich dagegen zur Wehr setzen, weiter mit den vorgegebenen Mitteln zu managen? Und würden Sie auch der Bote der von Ihnen entdeckten Neuigkeiten sein?« [Seddon 2003, S. 136].

Um die gewünschte Offenheit zu fördern, sollten wir uns allerdings noch mit einigen Fehlwahrnehmungen und Denkblockaden rund um das Thema Selbstorganisation auseinandersetzen. Genau das ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

Was Sie aus diesem Kapitel mitnehmen können

Agil zu sein ist in Mode. Kaum eine Organisation, die nicht beweglicher und reaktionsschneller werden will – oder zumindest darüber redet. In diesem Kapitel haben Sie erfahren, welche Grundideen Agilität verfolgt und was es braucht, um sie unternehmerisch wirksam zu machen. Ein Vergleich zwischen agilen und Lean-Prinzipien hat gezeigt, dass dafür weder der Einsatz von Methoden wie Scrum oder Kanban noch die Konzentration auf Teams ausreicht. Stattdessen müssen wir kundenorientierte Wertströme und agile Interaktionen ins Zentrum stellen.

Ob das gelingt, hängt meiner Ansicht nach zumindest von drei Voraussetzungen ab:

Von einem Blick für das Ganze, der vom systemischen Denken inspiriert ist

Von einer geschmeidigen Gestaltung der Ablauforganisation im Sinne von Lean

Von der konsequenten Förderung von Selbstorganisation und gemeinsamer Führungsverantwortung auf allen Ebenen

Das Topmanagement trägt eine besondere Verantwortung für die Umsetzung dieser Leitlinien: Es sichert die Rahmenbedingungen, damit unternehmerische Selbstorganisation gelingen kann. Es versteht, warum es kontinuierlich am System weiterarbeiten muss, um die Experten im System bestmöglich zu unterstützen. Und es weiß, dass Führung in selbstorganisierten Umfeldern anders funktioniert.

2Mythen und Realitäten der Selbstorganisation

Ich wüsste nicht, was uns das bringen soll«, meinte der Entwicklungsleiter eines mittelständischen Automobilzulieferers, als es um die bewusste Delegation von Entscheidungsautorität ging. Auf die Frage, wie er denn die angestrebte Stärkung der Teamverantwortung erreichen wolle, ohne mehr Raum für Selbstorganisation zu geben, winkte er nur kurz ab: »Ach, Selbstorganisation! Das ist ja, wie wenn die Affen den Zoo regieren.«

Ob der Entwicklungsleiter nun bewusst oder unbewusst auf den legendären Ausspruch von Frank Borman, den einstigen CEO der amerikanischen Eastern Airlines zurückgegriffen hat – sein Verdikt bringt eine gängige Managementhaltung auf den Punkt. Wenn ich als Gesamtverantwortlicher mehr Selbststeuerung zulasse, läuft alles außer Rand und Band – und ich mache mich selbst zum Affen.

Allein die Metaphern sprechen Bände: die Organisation als Zoo, der Manager als Zoodirektor, die Mitarbeiter als Affen, die dann zwangsläufig hinter Gittern arbeiten. In solchen Sprachbildern spiegelt sich der emotionale Widerstand gegenüber Selbstbestimmung drastisch wider: Abwehr steht auf der Tagesordnung. Diese Abwehrhaltung wird jedoch nicht allein von Emotionen befeuert. Sie stützt sich auch auf eine Mischung von falschen Annahmen, gepflegten Vorurteilen und verzerrten Wahrnehmungen – kurz gesagt auf kognitive Landkarten, die nur wenig mit der heutigen Unternehmenslandschaft zu tun haben.

In seinem vieldiskutierten Buch Reinventing Organizations beschäftigt sich Fredric Laloux mit vier Selbstorganisationsmythen, die diese Landkarte prägen [Laloux 2014, S. 134 ff.]:

Es gibt keine Struktur, kein Management, keine Führung.

Alle sind gleich.

Es geht um Empowerment.

Selbstorganisation befindet sich noch im Experimentierstadium.

Nicht wenige behaupten, dass es in selbstorganisierten Umfeldern keine klaren Strukturen gibt – um gleichsam im selben Atemzug zu unterstellen: Weder Management noch Führung spielen noch länger eine nennenswerte Rolle. Doch Selbstorganisation, so Laloux’ Entgegnung, bedeute keineswegs, dass sich jede Ordnung auflöst. Sie bedeute jedoch, dass diese Ordnung nicht mehr länger dem hierarchischen Weisungs-und-Kontroll-Paradigma folgt. Sie stützt sich heute auf die Dezentralisierung von Managementverantwortung. Das kann als Folge einer fachlichen Spezialisierung von Wissensarbeitern gesehen werden, die längst nicht mehr von einem omnipotenten Superexperten geführt werden können – oder als Ausdruck eines erhöhten Freiheitsanspruchs, den die Generationen Y und Z an Unternehmen stellen.

Die Demontage des Zoodirektors führt also nicht zu anarchischen Zuständen. Ganz im Gegenteil, Unternehmen, die konsequent auf Selbstorganisation setzen, zeichnen sich durch eine Fülle von Führungsimpulsen aus, auf die ich im zweiten Teil dieses Buches näher eingehen werde. Diese Unternehmen demonstrieren auch, dass es eine Vielzahl von Sensoren braucht, um mit den aktuellen Veränderungsanforderungen Schritt halten zu können. Diese Sensoren nehmen indes nicht nur die jeweilige Kundenzufriedenheit und neue Bedürfnisse wahr, sondern treffen auch laufend Entscheidungen. Das setzt, wie wir noch sehen werden, ein gerüttelt Maß an Unabhängigkeit und Vertrauen voraus. Doch wenn das Haus brennt, fragen die Feuerwehrleute auch nicht zuerst um Erlaubnis, bevor sie zu löschen beginnen.

Abb. 2–1Wenn der Horizont brennt

Ein weiteres klassisches Vorurteil lautet, dass in selbstorganisierten Unternehmen alle gleich sind. Dafür wird Selbstorganisation kurzerhand mit radikaler Basisdemokratie gleichgesetzt: Jeder redet bei allem mit, alles wird bis ins Letzte ausdiskutiert, Entscheidungen kommen nur im Konsens zustande. Solchen Szenarien setzt Laloux die Praxis verteilter Entscheidungskompetenzen entgegen. Seiner Ansicht nach ist es gerade die Vielfalt der Expertisen, Erfahrungen und Persönlichkeiten, aus denen Unternehmen heute besondere Kraft ziehen. Wären alle gleich, entstünden viel weniger Entwicklungsimpulse als durch die Unterschiedlichkeit. Und auch die Beweglichkeit, die allerorts großgeschrieben wird, entspringt der Diversität und nicht der Konformität der Interaktionen.

Gri-Gra-Gruppenzwang

Mit Unterschieden zu arbeiten, hat im agilen Umfeld bekanntlich einen hohen Stellenwert. Es geht um interdisziplinäre Zusammenarbeit, wechselseitige Unterstützung und gemeinsames Lernen über verschiedene Bereiche hinweg. Mitunter ist die dafür nötige Differenzierung schwierig – vor allem, wenn man das Gefühl hat, mit seiner Ansicht alleine dazustehen. So führten die Kinderpsychologen D. Haun und M. Tomasello einmal ein Experiment durch, bei dem alle beteiligten Kinder gleich aussehende Bilderbücher bekamen. Folglich dachten die Kinder, dass sie alle dieselben Bilder sehen würden. In Wahrheit zeigte jedoch eines der Bücher statt eines Tieres die Eltern des Kindes. Und das Ergebnis dieser kleinen Studie? In 18 von 24 Fällen passte sich dieses Kind der Mehrheit an. Es sah zwar ein Foto der eigenen Mutter, behauptete aber wie alle anderen, dass es einen Goldhamster sähe.

Vielleicht denken Sie jetzt: Das ist aber drollig! Diese Kinder! Doch wie Haun und Tomasello feststellten, gilt das Ergebnis des Experiments im Wesentlichen auch für Erwachsene. Sie stehen ebenfalls oft unter sozialem Druck und suchen eher die Zustimmung als die Abweichung. Diversität bleibt ein hoher Anspruch, insbesondere, wenn es darum geht, selbst einen Unterschied zu machen (Haun & Tomasello 2011, zit. n. [Kaduk et al. 2013, S. 40]).

Modernes Management, so hat sich mittlerweile herumgesprochen, beteiligt Mitarbeiter, statt sie zu bevormunden. Es schreibt hochqualifizierten Experten, die wissen, was sie zu tun haben, nicht vor, was sie zu tun haben, und es schätzt den Einzelnen und bietet jedem maßgeschneiderte Entwicklungschancen. Empowerment lautet der magische Begriff, mit dem man gerne Selbstorganisation ins Unternehmen zaubern möchte. Doch Selbstorganisation, so Laloux’ dritte Entmystifizierung, hängt keineswegs von einer humanistischen Managementhaltung ab. Es geht nicht um eine großzügige Abgabe von Verantwortung, damit die Mitarbeiter merken, dass man ihnen wirklich etwas zutraut. Die Ermächtigung, die es braucht, erfolgt durch die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Arbeit stattfindet – und nicht durch die gönnerhaften Gesten gütiger Managementfürsten.

Was uns zum vierten großen Mythos führt: nämlich dem, dass sich Selbstorganisation noch im Experimentierstadium befindet. Am Beispiel von elf ausgewählten Unternehmen verdeutlicht Reinventing Organizations eindrucksvoll, dass Selbstorganisation längst den Kinderschuhen entwachsen ist. Ebenso wenig ist sie bloß eine Spielwiese für Start-ups oder alternative Netzwerke. Die Palette an Unternehmen, die auf alternative Formen des Managements setzen, umfasst heute die unterschiedlichsten Branchen, Größen und Organisationsstrukturen: von traditionsreichen Industrievertretern, wie dem Textilhersteller Gore, der Drogeriekette dm oder dem Tomatenproduzenten Morning Star, über hochspezialisierte Serviceorganisationen, wie den amerikanischen Design-Thinking-Guru IDEO, die deutschen Unternehmensberater Vollmer & Scheffczyk oder das niederländische Pflegenetzwerk Buurtzorg, bis hin zu Onlineplattformen wie dem schwedischen Musik-Streamer Spotify, der deutschen Scout24-Gruppe oder dem amerikanischen Schuhhändler Zappos.

2.1Falschgeld

Was sagen uns diese Mythen? Welche Schlüsse können wir aus den darin verarbeiteten Vorurteilen ziehen? Und wie erklären wir uns deren Beharrlichkeit? »Die Existenz von Irrtümern«, schreiben Walter Krämer und Götz Trenkler in ihrem lesenswerten Lexikon populärer Irrtümer, sei gar nicht »das eigentlich Verblüffende, sondern dass sie häufig wie Falschgeld so erstaunlich lang im Umlauf bleiben« [Krämer & Trenkler 2006, S. 7].

Abb. 2–2Revolutionäres An- und Ausschalten

Überraschenderweise ist auch im agilen Umfeld jede Menge Falschgeld unterwegs:

Wir betrachten Selbstorganisation als etwas, das gewissermaßen per Knopfdruck ins Leben gerufen werden kann. Sie gleicht einer urknallartigen Revolution, für die wir nur den richtigen Schalter umlegen müssen. Im Krisenfall können wir sie dann ja auch wieder ausschalten.

Wir starten große Lean-Initiativen, geben den Leuten jedoch fertige Steuerungssysteme vor. Statt die Leute sinnvoll zu beteiligen, setzen wir eine Heerschar von Fachberatern ein, statt unsere Systemleistung zu optimieren führen wir individuelle Effizienzmessungen ein, statt einer lebendigen Verbesserungskultur fördern wir ein formales Vorschlagswesen.

Wir nennen unsere Teams agil, geben ihnen aber nur wenig Bewegungsspielraum. Wichtige Entscheidungen bleiben in der Hand des Linienmanagements, Meetings werden nach wie vor für Statusreports genutzt, Verbesserungsmaßnahmen zwar angedacht, dann aber dem operativen Druck des Alltagsgeschäfts geopfert.

Wir senden Führungskräfte auf agile Schulungen, setzen dafür aber weder klare Lernziele noch kümmern wir uns um einen effektiven Transfer des Gelernten. Derart wird Training zum singulären Event, dessen Effekte rasch verpuffen. Die regelmäßige Übung neuer Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, idealerweise begleitet von ebenso regelmäßigem Feedback, bleibt auf der Strecke.

Wir reduzieren unternehmerische Selbstorganisation auf einen Nebeneffekt agiler Methoden. Wir gehen davon aus, dass wir sie gleichsam als Gratisbeilage frei Haus geliefert bekommen, sobald wir Scrum oder Kanban implementiert haben. Die notwendige Reifezeit von Selbstorganisation wird ebenso ausgeblendet wie deren professionelle Unterstützung.

Diese Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Wichtiger als eine vollständige Auflistung scheint mir die Suche nach dem berühmten roten Faden. Was haben diese unterschiedlichen Mythen gemein? Wovon nähren sie sich? Und was brauchen wir, um sie außer Kraft zu setzen?

Es fällt nicht schwer, auf dem agilen Falschgeld das Wasserzeichen des mechanistischen Organisationsbildes zu entdecken. Veränderung wird dabei auf die Lösung technischer Probleme reduziert. Wir installieren Konzepte, implementieren Lösungen und schalten Systeme frei. Dass wir dabei die Komplexität sozialer Prozesse ausblenden, ist alles andere als eine neue Erkenntnis. Zudem offenbaren solche Mythen ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Mitarbeitern. Selbst wenn es sich um ausgewiesene Fachleute handelt, droht ohne hierarchische Führung gleich alles aus dem Ruder zu laufen. Hinter der vordergründigen Besorgtheit um das Wohl der Organisation verbirgt sich freilich eine gehörige Portion Unsicherheit. Unsicherheit aber, so viel Psychologie muss dann doch sein, ruft defensives Verhalten auf den Plan. Agilität wird gewünscht, der damit einhergehende Freiheitsdrang jedoch mit höchst gemischten Gefühlen wahrgenommen. Das kann mitunter dazu führen, dass man die Geister, die man selbst gerufen hat, unwillkürlich sabotiert.

Agile Schrebergärten

»Wir müssen agiler werden! «, zeigte sich der Geschäftsbereichsleiter eines deutschen Fahrzeugausstatters überzeugt. Seiner Ansicht nach sei die Time to Market immer noch zu lange, selbst einfache Kundenanforderungen bräuchten ewig und viele gelieferte Lösungen seien nach wie vor fehlerhaft. So krempelten die Vertreter aus den unterschiedlichen Fachbereichen also die Ärmel hoch, um in dem vom mir moderierten Kaizen-Workshop angemessene Verbesserungsmaßnahmen auszuarbeiten.

Das schien mir alles Hand und Fuß zu haben. In der Pause erfuhr ich jedoch, dass einzelne Teams bereits vor mehr als einem Jahr agile Methoden eingeführt hatten, dabei aber nur wenig unterstützt wurden. Der Geschäftsbereichsleiter habe das zwar grundsätzlich gutgeheißen, neue Formen der teamübergreifenden Koordination aber kategorisch abgelehnt. Retrospektiven hätte er sowieso als Zeitverschwendung gesehen, denn seiner Meinung nach gäbe es ohnehin schon viel zu viele Meetings. Und eine volle Cross-Funktionalität der Teams habe er ebenfalls verweigert, da einige Experten einfach in zu vielen verschiedenen Bereichen gebraucht werden würden. »Es fühlt sich an, als ob wir nur ja nicht unsere jeweiligen Schrebergärten verlassen sollten«, meinte einer der Teamleiter resigniert, »am besten bleibt jeder bei seinem eigenen Blumenbeet!«

Die emotionale Distanzierung gegenüber Selbstorganisation wird von einem gewissen Maß an intellektueller Realitätsverweigerung unterstützt. Weder werden die eigenen Annahmen an den aktuellen Herausforderungen gemessen noch beschäftigt man sich mit den praktischen Beispielen von Unternehmen, die längst erfolgreich auf Selbstorganisation setzen. Stattdessen hält man krampfhaft an alten Überzeugungen fest: Effektives Management wird weiterhin auf die Steuerung von Leuten und Aktivitäten bezogen, Leistung ins Korsett individueller Zielvorgaben gezwungen, die Motivation als Ergebnis richtiger Mitarbeiterführung gesehen.

2.2Grundgesetze

Im Hinblick auf die Selbstorganisation scheint jeder seine eigenen Lieblingsillusionen zu pflegen. Im besten Fall sind diese problematisch, im schlimmsten Fall schädlich für das Unternehmen. Dabei wissen wir längst genug. Wir kennen die Grundgesetze der Selbstorganisation:

Sie kommt zustande, indem sich eine ursprünglich ungeordnete Sammlung von Komponenten durch lokale Interaktionen selbstständig zu einem einheitlichen System formt.

Dieser Formungsprozess setzt drei Dinge voraus:

Einen Rahmen, der das System umfasst und seine Identität definiert

Individuelle Unterschiede etwa hinsichtlich Wissen, Erfahrung, Ausbildung, Alter, Geschlecht oder kulturellem Hintergrund, aber auch strukturelle Unterschiede in Bezug auf die fachliche Positionierung oder die strategische Zielsetzung

Einen offenen Austausch innerhalb der jeweiligen Organisationseinheiten sowie im Wechselspiel mit dem Umfeld [

Eoyang 2002

]

Abbildung 2–3 führt diese konstitutiven Elemente der Selbstorganisation in vereinfachter Form vor Augen.

Abb. 2–3Voraussetzungen für Selbstorganisation (angelehnt an [Eoyang 2002])

Die systemische Entfaltung der Selbstorganisation hängt von einem unterstützenden Kontext ab: von einer guten Infrastruktur, gerechter Entlohnung, transparenten Informationen oder effektiven Feedbackschleifen. Dieser Kontext gleicht dem, was Pflanzen zum Gedeihen brauchen: fruchtbare Erde, sauberes Wasser, gute Luft, ausreichend Licht.

Selbstorganisation ist also kein Ausnahmezustand, sondern der natürliche Weg, um für globale Ordnung zu sorgen. In diesem Sinne könnte man Laloux entgegnen, dass es weniger um eine Neuerfindung von Organisationen geht als um die Wiederentdeckung einiger Gundprinzipien.

Folglich muss Selbstorganisation keinesfalls künstlich implementiert werden. Sie steckt immer schon im Unternehmen. Fragt sich bloß, wie versteckt sie ist, d. h., inwiefern die bestehende Unternehmenskultur eher förderlich oder hinderlich ist.

Mittlerweile kennen wir weit mehr als bloß die Grundprinzipien – wir kennen auch genügend praktische Umsetzungsbeispiele. Als Erstes kommt einem dazu wahrscheinlich die längst unüberschaubare Zahl an agilen Teams in den Sinn: in der IT, insbesondere in der Softwareentwicklung mit Scrum, Kanban, XP oder diversen Kombinationen, aber ebenso der Autoproduktion, im Maschinenbau und sogar in Banken. Selbstorganisation steht freilich nicht allein auf Teamebene hoch im Kurs. Immer mehr Geschäftsbereiche greifen auf ihre Prinzipien zurück. Etwa in der IT des Onlinewettanbieters bwin, im Produktionsbereich von Sun Hydraulics oder in den verschiedenen Marktsegmenten von ImmobilienScout24. Dazu gibt es eine erkleckliche Zahl an Unternehmen, die wenn schon nicht durchgehend, so doch zumindest in großen Bereichen auf Selbstorganisation setzen: mittelständische Unternehmen, wie die Autowelt Hoppmann, der Logistiker allsafe JUNGFALK oder der Brandschutzexperte hhpberlin, aber auch größere Firmen, wie der Maschinenbauer Semco, der Tomatenproduzent Morning Star oder der Outdoorspezialist Patagonia mit jeweils rund 1000 Mitarbeitern, bis hin zu konzernartigen Organisationen, wie dem Textilunternehmen Gore mit rund 10.000, dem amerikanischen Finanzdienstleister USAA mit 26.000 oder der Drogeriekette dm mit 46.000 Mitarbeitern.

Für all diese Unternehmen ist Selbstorganisation ein wesentliches Steuerungsmittel. Sie gilt als Schlüssel zu operativer Exzellenz – und als Medium einer neuen Aufmerksamkeit, die dabei hilft, unternehmerische Chancen und Risiken besser wahrzunehmen und notwendige Veränderungen so früh wie möglich zu initiieren. In selbstorganisierten Umfeldern wird jeder zu einem besonderen Sensor – ähnlich wie in einem lebenden Organismus jede Zelle ihre Umwelt wahrnehmen und uns entsprechend informieren kann. Eine solche Sensibilität gibt es überall – in traditionellen Organisationen gehen die dabei gesammelten Informationen allerdings leicht verloren oder werden bewusst herausgefiltert.

Neben der wachsenden Zahl an praktischen Fallbeispielen weisen theoretische Abhandlungen in seltener Einigkeit darauf hin, dass Selbstorganisation sowohl die Motivation der Mitarbeiter als auch die Effektivität der Arbeitsprozesse erhöht. Gegenüber traditionellen Organisationsmodellen zeigen selbstorganisierte Systeme eindrucksvoll, dass sie:

bessere Ergebnisse erzielen,

mehr Geschäftswert schaffen,

effizienter zusammenarbeiten als zentral geführte Gruppen,

schneller lernen,

mit mehr Motivation und Spaß arbeiten und

persönlich befriedigender sind [

Rico et al. 2009

].

Kleine Philosophie der Selbstorganisation

Niemand hat das Recht zu gehorchen – mit diesem Statement hat Hannah Arendt einst zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. Ein Blick in die zeitgenössische Unternehmenswelt zeigt, dass dieser Ruf immer öfter Gehör findet. Bürokratisches Management, autoritäre Steuerung und engmaschige Kontrollsysteme weichen Organisationsformen, die auf Selbstständigkeit und Freiheit basieren.