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Es ist Hochsommer in Wien. Nichts als Sonne, Hitze und Schweiß. Zur Abkühlung bekommen Chefinspektor Robert Nemecek und seine Kolleginnen Nina Obermayr und Lilly Zukic ungelöste Cold Cases zugeteilt. Doch diese alten Fälle sind vergessen, als plötzlich eine Frau mit einem lautstarken Mordverdacht im Präsidium auftaucht: Ihr Mann sei keinem Unfall zum Opfer gefallen, sondern ermordet worden. Dieser Verdacht setzt eine hitzige Entdeckungsreise in Gang, die Nemecek & Co nicht nur quer durch Österreich, sondern auch in ein internationales Unternehmen führt, das gerade mit einem tiefgreifenden Veränderungsprozess beschäftigt ist.
Wie bei ihrem letzten Fall am Tatort Kanban führen auch die Ermittlungen beim Mikroelektronik-Spezialisten Arcos mitten in die Themenkreise Agilität, Change und Management hinein. Doch kaum, dass die ersten Verdachtsmomente geklärt sind, beginnen die mörderischen Dynamiken erst so richtig zu eskalieren. Geht es dabei tatsächlich um die Unternehmensgeschichte? Welche Rolle spielen diverse Altlasten für die agile Veränderung? Und warum stehen immer Managerinnen und Manager im Zentrum?
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Seitenzahl: 505
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Siegfried Kaltenecker ist geschäftsführender Gesellschafter der Loop GmbH, die sich auf agile Unternehmensentwicklung spezialisiert hat. Seit mehr als 20 Jahren unterstützt er die Umsetzung innovativer Arbeits- und Organisationsformen in den unterschiedlichsten Bereichen. Die Erfahrungen, die er dabei sammelt, verarbeitet er in Artikeln und Büchern wie Kanban in der IT, Selbstorganisierte Teams führen, Selbstorganisierte Unternehmen und Tatort Kanban.
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Siegfried Kaltenecker
Ein agiler Kriminalroman
Siegfried Kaltenecker
Lektorat: Christa Preisendanz
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg
Satz: Gerhard Alfes, mediaService, Siegen, www.mediaservice.tv
Herstellung: Stefanie Weidner
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Druck und Bindung: mediaprint solutions GmbH, 33100 Paderborn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
Print 978-3-86490-820-0
PDF 978-3-96910-149-0
ePub 978-3-96910-150-6
mobi 978-3-96910-151-3
1. Auflage 2021
Copyright © 2021 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
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5 4 3 2 1 0
Mittwoch, 13:09
Ferragosto in Wien
Donnerstag, 11:40
Aufbruch in den Süden
Donnerstag, 15:57
Karawanken-Karibik
Donnerstag, 17:44
Gepflegte Arschbomben
Freitag, 13:51
Freund und Feind
Montag, 8:12
Standpauke im Sitzen
Montag, 9:55
Grelle Trauer
Montag, 12:18
Auf dem Weg zur Wahrheit
Montag, 14:16
Es war Mord
Montag, 17:25
Unfälle, die keine Zufälle sind
Dienstag, 10:01
Agiler CEO
Dienstag, 14:20
Verschollene Verdächtige
Dienstag, 16:00
Marathon-Mann
Dienstag, 18:19
Im Zeichen der Veränderung
Dienstag, 21:22
Seepiratinnen
Mittwoch, 11:03
Der Fall wächst
Mittwoch, 13:53
Tödliches Idyll
Mittwoch, 15:11
Beklemmende Nachrichten
Mittwoch, 16:39
Noch mehr Fragezeichen
Mittwoch, 17:21
Beinahe sprachlos
Mittwoch, 19:22
Hohe Warte
Mittwoch, 21:44
Agiles Management
Donnerstag, 8:33
Urlaubsreporting
Donnerstag, 9:51
12. und 16. Bezirk
Donnerstag, 11:58
Mittagstisch beim Mühlenwirt
Donnerstag, 14:07
Tod dem Management
Donnerstag, 17:30
Wegweisendes
Donnerstag, 18:47
Vom Dörfl zum Cobenzl
Donnerstag, 20:15
Virtuelles Familientreffen
Donnerstag, 21:21
Agiles Ping-Pong
Freitag, 10:14
Südbahn
Freitag, 13:15
Chief Financial Officer
Freitag, 14:41
Verfolgungen
Freitag, 15:58
Casino
Freitag, 17:39
Zwischendurch aus dem Zug
Freitag, 19:43
Über den Dächern von Wien
Samstag, 10:28
Unerwartete Eröffnungen
Samstag, 13:13
Bis auf Weiteres
Samstag, 15:02
Salamitaktik
Samstag, 17:24
Waagrechtes und Senkrechtes
Sonntag, 8:31
Traumhafte Bewegungen
Sonntag, 10:04
Durch und durch agil
Sonntag, 13:32
Sonderschicht
Sonntag, 15:42
Agile Ehrenrunde
Sonntag, 18:24
Familientreffen
Montag, 1:24
Feuer
Montag, 8:25
Müde Knochen
Montag, 11:12
Bitte wenden!
Montag, 14:25
Auf Granit beißen
Montag, 18:32
Am Stein der Weisen
Dienstag, 8:26
Katerfrühstück
Dienstag, 9:28
Jagdfieber
Dienstag, 14:33
Abflug
Dienstag, 18:07
Beim Pokorny
Dienstag, 19:51
Heimwege
Es lebe das agile Management!Eine kurze Skizze einer neuen Führungskultur
Nachwort
Glossar der Figuren
Glossar der Begriffe
Literatur
Musik
Kulinarik
8 Minuten, 23 Sekunden, stellte Chefinspektor Robert Nemecek mit einem kurzen Blick auf seine Stoppuhr fest. Wenn das so weiterging, dann würden sie bald keine fünf Minuten mehr für ihr Standup-Meeting benötigen! Andererseits gab es wahrlich Schlimmeres, als bei 35 Grad Celsius eine Besprechung kurz zu halten, bei der es ohnehin nur wenig abzustimmen gab. Immerhin befanden sie sich mitten in dem, was die Italiener so schön Ferragosto nannten. Denn während sich die Österreicher mit einem einzigen Feiertag begnügten, gingen die südlichen Nachbarn rund um den 15. August für gewöhnlich gleich länger in Urlaub. Dieser Kultur folgend, sollte man die heißeste Zeit des Jahres, wie Bezirksinspektorin Nina Obermayr in schillernden Farben ausmalte, tunlichst am Meer und nicht in einem stickigen Büro verbringen. Doch so begeistert seine Kollegin das hochsommerliche Dolce Vita beschwor, so schwer fiel es Nemecek, dabei nicht an zähe Blechlawinen, überteuerte Hotels und endlose Reihen von Sonnenschirmen zu denken. Ob das wirklich eine attraktive Alternative zu ihrer aktuellen Schwitzhütte war? Zusammengepfercht wie die sprichwörtlichen Sardinen auf einem brandheißen Strand zu liegen? Oder sprach da wieder einmal der klassische Wiener aus ihm, der bekanntlich an allem etwas auszusetzen hatte?
»Was für eine Affenhitze«, stöhnte Nina Obermayr auf, als wollte sie diese Grundhaltung illustrieren. »Da fängt dir ja das Hirn zu kochen an!« Mit einer theatralischen Geste wischte sie sich die Schweißperlen von der Stirn und ließ sich dann auf ihren Bürostuhl plumpsen.
»Aber Nina«, meinte Lilly Zukic grinsend, »damit wir nicht überhitzen, hat uns der Herr Oberst doch mit ausreichend Cold Cases versorgt.« Die junge Kriminalassistentin war zwar erst vor ein paar Monaten zu ihnen gestoßen, fügte sich aber bereits bestens in ihr eigenwilliges Ermittlungsteam ein, zu dem eben auch ihr Chef Heribert Kappacher gehörte.
»Hör mir bloß auf!«, schimpfte Obermayr. »Den machen die Temperaturen endgültig gaga. Wie kann man nur auf so eine bescheuerte Idee kommen?!«
Wenn er ehrlich war, musste Nemecek seiner langjährigen Sparringpartnerin recht geben. Und diese war schon wieder ordentlich in Fahrt. »Gott sei Dank ist er zwei Wochen in Urlaub, da geht er uns wenigstens nicht jeden Tag auf die Nerven!«
»Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch«, kommentierte Zukic. Worauf Obermayr knurrte: »Der Käse, den die Katze zurückgelassen hat, ist allerdings ziemlich ranzig.«
Nemecek schüttelte den Kopf. Natürlich war das wieder mal so eine typische Idee ihres Vorgesetzten gewesen. Eines Morgens hatte er sein Ermittlungsteam zu sich beordert, um ihnen lang und breit darzulegen, dass sie die Saure-Gurken-Zeit in diesem Jahr dafür nützen würden, systematisch alte Fälle aufzuarbeiten. Zu allem Überfluss hatte er offenbar wieder einmal ferngesehen, denn plötzlich hießen diese ungelösten Fälle nach einer amerikanischen Krimiserie.
»Mir reicht’s jedenfalls«, beschloss Obermayr und sprang von ihrem Stuhl auf, als hätte die Sitzfläche gerade Feuer gefangen. »Wie wär’s stattdessen mit einer erfrischenden Zitronade? Selbstverständlich on the rocks, wie sich das für ein weltoffenes Kommissariat so gehört.«
»Gute Idee!«, ließ sich Zukic nicht zweimal bitten, obwohl sie im Unterschied zu Obermayr keinerlei Erschöpfungszeichen zeigte. Aufgrund ihrer kroatischen Wurzeln schien sie in der Hitze eindeutig im Vorteil zu sein. Sie wirkte ruhig und gelassen, während sich ihre oberösterreichische Kollegin schon wieder den Schweiß von der Stirn tupfte.
»Also gut«, rang sich Nemecek ebenfalls durch, »ein wenig abgestandene Kantinenluft kann an so einem Tag sicher nicht schaden.«
»Wie geht’s eigentlich den Mädels?«, fragte Obermayr, als sie wenig später die Treppe erreicht hatten. »Schwitzen die auch brav vor sich hin?«
»Höchstens am Badesteg.«
»Sind die schon am See?«
»Seit letzten Sonntag. Zwei Wochen Kärnten. Wie immer in Faak. Mit der Frau Mama.«
»Und der Herr Papa?« Zukic blickte ihn neugierig an.
»Wird morgen dazu stoßen. Und sich dann bis Sonntagabend in eine stabile Sommerlage bringen. Nichts als Wasser, Liege, Sonne.«
»O sole mio«, setzte Obermayr gerade zu einer ihrer gefürchteten Singattacken an, als sie plötzlich von lautem Geschrei unterbrochen wurde.
»Das ist doch nicht zu fassen!«, tönte eine aufgebrachte weibliche Stimme aus der Eingangshalle des Polizeipräsidiums zu ihnen herauf. »Glaubt ja nicht, dass ich mir das gefallen lasse!«
Verwundert drehte sich Nemecek zu Obermayr um. Seine Kollegin hatte jedoch auch keine Erklärung, sondern nur ein kurzes Schulterzucken zu bieten. Ohne es zu wollen, beschleunigten sie ihre Schritte. Als sie im ersten Stockwerk angekommen waren, nahm die Schimpftirade neue Fahrt auf. »Das wird ein Nachspiel haben. Darauf könnt ihr alle miteinander Gift nehmen!«
»Kärntnerin, oder?«, versuchte Zukic den Dialekt der Frau zuzuordnen. Während Obermayr noch versuchte, das landestypische Verschlucken der ch-Laute nachzuahmen, konzentrierte sich Nemecek ganz darauf, mit seinen Kolleginnen Schritt zu halten. Denn Zukic hatte ebenfalls einen Zahn zugelegt und nahm nun immer gleich zwei bis drei Stufen auf einmal.
»Das war Mord!«
Der grelle Schrei der unbekannten Frau hallte im Foyer wider, bevor das schwere Eingangstor mit einem dumpfen Knall ins Schloss fiel. Als sie endlich unten ankamen, war nichts mehr von einer Kärntnerin zu sehen. Vor dem Ausgang standen jedoch noch zwei Uniformierte, die sich leise miteinander unterhielten.
»Was war denn da los?«, rief ihnen Obermayr schon von Weitem zu. »Und wo ist die Frau?«
»Gott sei Dank ist die wieder weg«, antwortete der ältere der beiden Beamten, der anscheinend ebenfalls aus Kärnten kam. »Die macht einen noch ganz verrückt.«
»Das geht schon den halben Vormittag so«, bekräftigte sein Kollege in diesem langgezogenen, ein wenig weinerlich klingenden Ton, der in der Wiener Vorstadt zu Hause war. Obermayr drehte sich zur Seite, blies die Backen auf und ließ die Luft dann mit einem kurzen Zischen entweichen. Als sie sich wieder den Beamten zuwandte, schien sie fürs Erste ausreichend Spannung abgebaut zu haben.
»Und worum ging es der Frau, wenn man fragen darf?«
»Na, ihr Göttergatte hat letzte Woche einen tödlichen Unfall gehabt und jetzt ist die Witwe mit den Nerven am Ende.«
»Das kann man ja irgendwie verstehen, wenn man einen geliebten Menschen verliert, oder?«, meinte Zukic.
»Das verstehen wir eh auch. Aber muss man dann gleich so einen Aufstand machen?«
»Die hat sich echt total hineingesteigert, sag ich euch«, bekräftigte sein Kollege.
»Wieso hineingesteigert?«
»Na, die marschiert da rein und behauptet steif und fest, dass ihr Mann ermordet wurde.«
»Ermordet?«, kam nun auch Nemecek ins Staunen. »Wie kommt sie denn auf so was?«
»Das fragt ihr am besten den Bialek. Der hat sich gerade fast eine Stunde mit ihr beschäftigt.«
»Marina Joschak heißt die Frau«, erklärte besagter Bialek, seines Zeichens Chef des Unfallkommandos, wenig später. »Ihr Mann ist vor ein paar Tagen im Faaker See ertrunken.«
»Ausgerechnet im Faaker See?«, meinte Obermayr mit einem Seitenblick auf Nemecek.
»Jawolle, Frau Holle«, entgegnete Bialek betont locker. Er gehörte zu den Menschen, die schallend über ihre eigenen Witze lachen konnten – selbst wenn diese gar nicht lustig waren oder vielleicht dann sogar am meisten.
»Die Gute ist sogar zwei Mal von Wien nach Kärnten und wieder zurück gefahren, um überall für Wirbel zu sorgen.«
»Frau Joschak stammt selbst aus Kärnten?«
»Genau wir ihr verunglückter Mann. Die beiden wohnen aber schon über 30 Jahre in Wien. Wartet kurz.« Bialek hob die Hand wie ein Verkehrspolizist, der ein allgemeines Stopp signalisierte. Während er die linke in der Luft behielt, wühlte er mit der rechten in den vor ihm liegenden Unterlagen. »Da haben wir’s schon.«
»Sie haben gar kein Protokoll aufgenommen?«, wunderte sich Zukic.
»Geh bitte!« Bialek verdrehte demonstrativ die Augen. »Wenn ich für jede aufgeregte Angehörige einen offiziellen Bericht schreiben tät, käme ich den ganzen Tag zu nix anderem.«
Obermayr warf dem Unfallchef einen gefährlichen Blick zu. Nemecek war klar, dass ihr die überhebliche Art des Kollegen total gegen den Strich ging. In seinen Ohren klang Bialek ebenfalls ziemlich respektlos – vom sprichwörtlichen Freund und Helfer ganz zu schweigen. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Erst einmal mussten sie in Erfahrung bringen, worum es hier eigentlich ging.
»Warum war sie denn so aufgebracht?«
»Wie gesagt: Sie war sich sicher, dass die Kärntner Kollegen ihre Arbeit nicht richtig gemacht haben.« Obwohl er sich demonstrativ entspannt zurücklehnte und dabei seinen imposanten Bierbauch zur Schau stellte, war Bialek deutlich anzuhören, wie viel er von einem solchen Vorwurf hielt.
»Aber wie kommt sie darauf?«
»Das müsst’s ihren Psychiater fragen!«
Nemecek hörte, wie Obermayr neben ihm die Luft ausstieß. Lange würde es nicht mehr dauern, bis sie explodierte. Doch Nemecek setzte auf Deeskalation und wiederholte deswegen betont sachlich: »Wie kommt Frau Joschak darauf, dass es sich um Mord handelt?«
Jetzt blies auch Bialek die Backen auf. Es war offenkundig, dass ihm die lästigen Fragen der Kripo-Kollegen allmählich auf die Nerven gingen. Entsprechend säuerlich erklärte er: »Weil sie nicht akzeptieren kann, dass ihr Mann einem ganz normalen Badeunfall zum Opfer gefallen ist.«
»Aber sie wird doch einen Grund für ihren Verdacht haben?«
»Die hat sich eine regelrechte Verschwörungstheorie zusammengesponnen: dass man ihn aus dem Weg räumen wollte, dass sich das schon lange abgezeichnet hat, dass bestimmte Leute nur auf eine passende Gelegenheit gewartet hätten, was weiß ich!«
Während er sich regelrecht in Rage redete, verfärbte sich Bialeks Gesicht mehr und mehr. Mittlerweile hatte es eine besorgniserregende dunkelrote Farbe angenommen. »Glaubt ihr denn wirklich, dass an der G’schicht irgendwas dran ist?«
»Glauben bringt uns nicht weiter«, zischte Obermayr. »Wie wär’s zur Abwechslung mal mit den Fakten? Wen genau hat sie mit ‘bestimmte Leute’ gemeint? Wer wollte ihm etwas antun? Wir brauchen Namen, Bialek, konkrete Anhaltspunkte!«
Bialek warf ihr einen wütenden Blick zu und sah dann mit aufforderndem Gesichtsausdruck zu Nemecek. Es schien, als würde er allen Ernstes erwarten, dass dieser jetzt den Vorgesetzten gab und seine Kollegin zurückpfiff. Nachdem Nemecek keinerlei Anstalten machte, griff der Unfallchef schließlich resigniert nach seiner Computermaus. »Ich weiß zwar nicht, warum euch das so interessiert, aber bitte: Wenn ihr es unbedingt genau wissen wollt, dann schick ich euch halt den Unfallbericht der Faaker Kollegen zu.«
Nemecek hatte keine Ahnung, warum ihn dieser Zwischenfall nicht mehr losließ. Vielleicht war es wegen Bialeks zynischer Art, die ihm den ganzen Abend über sauer aufstieß. Oder es hatte etwas mit seinem kriminalistischen Instinkt zu tun, der nach der bürokratischen Fadesse all ihrer Cold Cases wieder zum Leben erwacht war. Oder er hatte bloß eine willkommene Ausrede gesucht, um der überhitzten Stadt früher als geplant den Rücken zu kehren und zu seiner Familie an den Faaker See zu fahren? Als er Donnerstag früh aus seinem durchgeschwitzten Bettlaken kroch, stand sein Entschluss jedenfalls fest: Ja, er würde die ohnehin geplante Auszeit am See mit einem kleinen Lokalaugenschein verbinden. Was sprach schon dagegen, sich den Unfallort mit eigenen Augen anzuschauen? Und sich anzuhören, was die Kollegen vor Ort dazu zu sagen hatten? Den Faaker Inspektionsleiter Rudi Hinteregger kannte er ja seit vielen Jahren. Der würde ihm sicher ausreichend Auskunft geben können und sich womöglich sogar über seinen Überraschungsbesuch freuen.
So kam es, dass er bereits um 8 Uhr 40 in seinem Dienstwagen saß und in Richtung Südautobahn unterwegs war. Um Punkt 9 las er seine Kollegin, mitsamt einer großen Tasche voller Reiseproviant und zwei brühfrischen Kaffees, an der Gumpendorfer Straße auf. Nach einem kurzen Telefonat hatte sich Obermayr spontan zum Mitkommen entschieden. »Mal auf einen Sprung zum Wörthersee«, meinte sie trotz der frühen Stunde überraschend gut gelaunt. »Marie wartet ohnehin bereits seit Wochen auf meinen Besuch.«
Als sie sich eine halbe Stunde später immer noch im Schneckentempo über den wieder einmal hoffnungslos verstopften Wiener Gürtel quälten, war die gute Laune verflogen.
»So ein Mist«, fluchte Obermayr. »Ist heute denn die ganze Stadt unterwegs?«
»Der Wiener Baustellen-Sommer«, bemerkte Nemecek lapidar, bevor der Verkehrsfunk ansprang, um von einem neuen Unfall auf der A2 zu berichten. Also genau auf der Strecke, die sie nehmen wollten. Das konnte ja heiter werden!
»Soll ich mal checken, welche Ankunftszeit uns prophezeit wird?«, fragte Obermayr kauend. Nemecek verfolgte aus den Augenwinkeln, wie sich seine Kollegin ihr Croissant zwischen die Zähne klemmte, um beide Hände für das Navigationsgerät frei zu haben.
»13:23«, presste sie nach einem kurzen Fingerspiel hervor. »Zum Nachmittagskaffee sind wir am See.«
»Na, dann hoffen wir, dass sich der Verkehr ausnahmsweise mal an die Propheten hält«, kommentierte Nemecek und rückte langsam bis zur nächsten Haltelinie vor.
»Gönn dir, gönn dir a zwa Minuten Leichtigkeit, gönn dir, gönn dir die Zeit fia di alan«, tönte es aus dem Radio. Nemecek wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Mittlerweile standen sie bereits seit einer guten halben Stunde im Stau, eingeklemmt zwischen unzähligen anderen Fahrzeugen, die genauso wenig weiterkamen wie sie selbst. Pkws und Lkws so weit das Auge reichte. Ab und an quetschte sich ein Motorrad zwischen der Blechlawine hindurch. Ansonsten hatte sich die Autobahn wieder einmal in einen riesigen Parkplatz verwandelt. Weit und breit keine Spur von Alleinsein, geschweige denn von Leichtigkeit. Während Nemecek den ersten Gang einlegte, um das Auto ein paar Meter nach vorne zu bewegen, empfahl der Sänger unverdrossen ein wenig Gemütlichkeit.
»Der hat leicht singen!«, meinte Obermayr zerknirscht. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, im falschen Takt gegen die Fensterscheibe zu klopfen. Es wirkte, als hätte sie eine ganz andere Melodie im Kopf.
Dann wischte sie erneut über ihr Tablet. »Also, ich rekapituliere.«
»Ich bitte darum«, ermutigte Nemecek und konnte ein weiteres Stöhnen nicht zurückhalten. Wenn sich dieser vermaledeite Stau nicht bald auflöste, würde er noch einen Anfall bekommen. Er wunderte sich ohnehin seit Jahren, dass es im Straßenverkehr nicht mehr Amokläufer gab. Schließlich steckten zigtausende Leute jeden Tag zur selben Zeit an derselben Stelle im Stau fest. Südosttangente, Gürtel, Wienzeile, Altmannsdorfer Straße, ratterte er die neuralgischen Punkte der Bundeshauptstadt herunter. Wie man das bloß aushielt? Oder gewöhnte man sich im Lauf der Zeit daran? Gehörte das einfach dazu, dass man jeden Tag 15, 30, 45 oder noch mehr Minuten im alltäglichen Verkehrsgefängnis absaß? Genau wie die vielen Urlaubsreisenden, die auch jedes Jahr zur selben Zeit in den Sommerurlaub aufbrachen, um dann stundenlang vor dem Tauern- oder dem Karawankentunnel festzusitzen?
»Der Notruf ging am 13. August exakt um 9 Uhr 42 ein«, startete Obermayr nun endlich mit ihrem Bericht. »Anrufer war ein gewisser Harald Kometschnig, wohnhaft am Fischerweg 4 in Faak am See. Laut Protokoll meldete dieser Kometschnig den Fund eines männlichen Körpers, der am Steg neben dem Wiesenbad mit dem Gesicht nach unten zwischen den Booten trieb. Trotz der sofortigen Bergung, die Kometschnig zusammen mit seinem Nachbarn vornahm, kam für den Mann jede Hilfe zu spät.«
Nemecek legte die Stirn in Falten. So weit konnte er sich noch ganz gut daran erinnern, was ihnen Bialek bereits am Vortag berichtet hatte. Nachdem er ihnen das Protokoll der Kärntner Kollegen weitergeleitet hatte, ließ er es sich nämlich nicht nehmen, noch ein paar Spekulationen anzustellen. Sonderbarerweise beschäftigte ihn vor allem die Frage, warum dieser Kometschnig überhaupt zum Steg gekommen war. Doch welche Rolle spielte es, ob dieser nach möglichen Gewitterschäden an der Anlegestelle sehen, bloß sein eigenes Boot vertäuen oder einfach zum See spazieren wollte? Reflexartig schüttelte Nemecek den Kopf, um das schräge Gespräch mit Bialek aus seinem Gedächtnis zu vertreiben.
»Alles okay?«, fragte Obermayr ein wenig besorgt. »Kann ich fortfahren?«
»Apropos fortfahren«, erwiderte Nemecek, nachdem sich vor ihm wieder eine Lücke von ein paar Metern aufgetan hatte. Kaum, dass er zu dem Pkw vor ihm aufgeschlossen hatte, fuhr dieser ein weiteres Stück nach vorne.
»Siehst du, sogar der Verkehr kommt jetzt wieder ins Fließen. So mögen das auch die Informationen tun!«
»Dein Wort in Hermes’ Ohr«, gab Nemecek in Anspielung auf den griechischen Gott zurück, der ja nicht nur göttliche Botschaften überbrachte, sondern auch alle Reisenden beschützte.
»Um 10 Uhr 14 sind jedenfalls die Kollegen am Fundort eingetroffen«, setzte Obermayr ihren Bericht fort. Stichwortartig fasste sie die vorliegenden Fakten zusammen: dass der aus dem See geborgene Körper in schwer ramponiertem Zustand gewesen sei; dass er sich aufgrund des starken Windes zwischen den Booten verfangen habe; dass sein Neoprenanzug in Fetzen hing; dass die Gliedmaßen an mehreren Stellen unnatürlich verformt und die Gesichtszüge kaum zu erkennen waren. Nemecek war froh, dass Obermayr den beigefügten Ordner mit den Tatortfotos vorerst beiseite ließ. So ein paar Horrorbilder hätten ihm jetzt gerade noch gefehlt!
»War sicher kein schöner Anblick, wenn du mich fragst.« Während seine Kollegin ihr Gesicht verzog, schaltete Nemecek zum ersten Mal seit Langem wieder in den dritten Gang hoch.
»Und wie hat man ihn schließlich identifiziert?«
»Das war kein großes Kunststück«, berichtete Obermayr mit neuem Schwung. Auch ihr war die Erleichterung über das Ende der Stauzone deutlich anzumerken.
»Marina Joschak hatte ihren Mann Marco bereits am Vorabend als vermisst gemeldet.«
»Bereits am Vorabend?«
»Ja, mit seiner Frau hatte das Unfallopfer nämlich vereinbart, dass er sich nach seinem Triathlontraining bei ihr melden würde.«
»Hat er aber nicht.« Obermayr nickte.
»Nachdem sie ihn den ganzen Abend über nicht erreichen konnte, rief sie jedenfalls die Polizei in Faak an. Ich bin sicher, dass sie die Kollegen wie üblich zu beruhigen versucht haben – von wegen: vielleicht einen Freund getroffen, noch etwas trinken gegangen oder einfach noch ein wenig Zeit für sich selbst gebraucht. Du kennst ja die übliche Taktik.«
»Wahrscheinlich sind die Kollegen von einer heimlichen Affäre ausgegangen.«
Obermayr nickte. »Gut möglich.«
»Und die Todesursache?«
»Marco Joschak ist ertrunken – das wurde vor Ort bereits vom Amtsarzt konstatiert und zwei Tage später durch die Obduktion bestätigt. Das Opfer hatte offenbar fast zwei Liter Wasser in der Lunge!«
Während Nemecek endlich wieder die auf der Autobahn erlaubte Höchstgeschwindigkeit erreichte, kamen die Erinnerungen zurück: an Bialeks überheblichen Ton, an seinen reichlich schulmeisterlichen Verweis, dass doch jedes Jahr über 30 Menschen in den österreichischen Seen ertrinken würden, dass Marco Joschak trotz Sturmwarnung ins Wasser gegangen sei; dass er immer aussichtsloser gegen die Wellen zu kämpfen hatte, irgendwann keine Kraft mehr gehabt und dann das erste Wasser zu schlucken begonnen hatte. Noch viel stärker erinnerte er sich allerdings an seine Verwunderung darüber, dass all das einem Spitzensportler passiert sein soll, der noch dazu in Faak am See aufgewachsen war!
»Die Botschaft hört ich wohl. Allein mir fehlt der Glaube«, griff Obermayr wieder einmal ins klassische Fach. »Joschak gehörte anscheinend seit vielen Jahren zu den besten Triathleten Österreichs. Beim letzten Iron Man war er in seiner Altersklasse sogar dritter! Und als jemand, der keine zehn Kilometer entfernt aufgewachsen war, kannte er den See sicher wie seine Westentasche.«
»Ja«, bestätigte Nemecek, »schon sehr seltsam, dass ein solcher Modellathlet einfach so verunglückt?«
Obermayr grinste. »Du kennst ja das Sprichwort.«
»Welches Sprichwort?«
»Sport ist Mord!«, äffte Obermayr Bialeks höhnischen Kommentar nach, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Während sie dem Unfallchef gestern fast an die Gurgel gegangen war, konnte sie heute schon wieder Witze darüber reißen. Das war eben Obermayrs Art: Sie kochte schnell hoch, beruhigte sich aber ebenso rasch. Und konnte sich dann über das lustig machen, was sie gerade erst zur Weißglut getrieben hatte. Schlimm wäre nur, so ihr Credo, wenn dir dauerhaft das Lachen vergeht.
»Ich bin jedenfalls gespannt, was die Kärntner Kollegen dazu sagen. Aber dafür ist morgen noch Zeit genug. Lass uns heute nur noch einen kurzen Lokalaugenschein machen. Ich würde mir nämlich gerne den Ort ansehen, an dem sie Joschak gefunden haben.«
»Apropos morgen«, meinte Obermayr, als hätte sie Nemeceks Vorschlag gar nicht gehört. »Ich lade dich in Faak ab und nehme mir den Dienstwagen, um zu Marie an den Wörthersee zu fahren – wenn das für dich passt.«
»Sowieso«, versicherte Nemecek, bevor er den vor ihm fahrenden Lkw überholte und gleich darauf in den nächsten Tunnel eintauchte.
Nemecek ließ seinen Blick über das Wasser schweifen. Er musste sich die Hand vor die Augen halten, so sehr blendeten ihn die kleinen Sonnenpunkte, die über das Wasser tanzten. Dennoch war die Aussicht atemberaubend. Der Faaker See hatte jetzt wieder diese türkisblaue Färbung angenommen, die ihn so auszeichnete. Die Karibik der Karawanken hatte das ein findiger Tourismusmanager einmal genannt. Dazu das Grün des Grases, das trotz der spätsommerlichen Hitze immer noch erstaunlich frisch wirkte. Selbst die Nadelbäume auf der gegenüberliegenden Insel schienen zu leuchten. Keine 500 Meter entfernt, das wusste Nemecek von seinen zahlreichen Seeüberquerungen, sei es nun schwimmend, mit dem Ruderboot oder dem sogenannten Wassertaxi, das alle Gäste zwischen Festland und Inselhotel hin und her transportierte. Er hob den Kopf. Über dem Dobratsch hingen tiefschwarze Wolken. Ob es heute noch gewittern würde?
»Die dunklen Flecken stammen wahrscheinlich von Joschaks Blut«, holte ihn Obermayr aus der Seeidylle wieder in die Gegenwart ihres Lokalaugenscheins zurück. Nachdem sie sich eine Zeit lang in der näheren Umgebung umgesehen hatten, standen sie nun wieder nebeneinander auf dem Steg.
Nemecek blickte seine Kollegin entgeistert an. »Seit wann verliert eine Wasserleiche noch Blut?«
Obermayr war so perplex, dass sie lachen musste. »Upps! Da ist wohl meine kriminalistische Fantasie mit mir durchgegangen.«
»Du solltest dir vielleicht weniger Horrorfilme ansehen – und mehr von diesen forensischen Videos. Da sind auch jede Menge Ertrunkene dabei.«
»Jaja, ich weiß schon, die Blutlosen.« Obermayr nickte abwesend und streckte dann noch einmal die Hand aus. »Den Fotos vom Fundort zufolge, lag er genau hier, als die Kollegen eingetroffen sind.«
Nemecek folgte ihrer Geste: Ja, laut Protokoll hatten sie Joschaks Körper in diesem Bereich aus dem Wasser gefischt. Sonst aber deutete nicht das Geringste darauf hin, dass an dieser Stelle vor Kurzem ein Mensch ums Leben gekommen war. Wie gewohnt schaukelten die Boote im leichten Wellengang. Zwölf, zählte Nemecek, oder dreizehn, wenn man das kleine Schlauchboot mitrechnen wollte, das ganz vorne am Stegende befestigt war. Die anderen Boote waren ebenfalls relativ klein, schließlich war am Faaker See nur Elektroantrieb erlaubt. Kein Vergleich mit dem keine fünfzehn Kilometer entfernten Wörthersee, der von vielen großen Motorbooten und Ausflugsschiffen bevölkert war. Hier am Faaker See gab es nichts davon. Keinen Lärm, keinen Gestank und nichts von diesem aufgeregten Treiben, das seine Töchter gerne als Halligalli bezeichneten.
Nemecek ließ seinen Blick noch einmal über den See gleiten: von der Reihenhausanlage, die sie vor ein paar Jahren im Ort errichtet hatten, über den breiten Schilfgürtel, der sich vom Faaker Campingplatz auf der Westseite nach Norden zog, bis zum Tabor, dem Hausberg, der am Ostufer knapp 800 Meter in die Höhe ragte. Erst jetzt fiel Nemecek auf, dass von den Unwettern der letzten Tage kaum mehr etwas zu sehen war. Üblicherweise war der See nach Gewittern immer ziemlich aufgewühlt. Ab und an trat er sogar über die Ufer und sorgte für großräumige Überflutungen. Tagelang war das Wasser dann ganz braun gefärbt und überall schwammen Gras- und Schilfreste herum. Jetzt allerdings ließen nur mehr die mächtigen Schotterbänke erahnen, was sich hier in den letzten Tagen abgespielt hatte. Laut Wetterdienst hatte es nicht nur sintflutartige Regenschauer gegeben, vielmehr waren auch Unmengen Steine und Sand aus dem Gebirge in die Tiefe gestürzt. Wer einmal das bis zu 50 Meter breite Flussbett gesehen hatte, das sich in Richtung Mittagskogel in die Landschaft grub, verstand den Ausdruck Naturgewalten sicher um einiges besser.
Nemecek schreckte hoch. Hatte Obermayr etwas zu ihm gesagt? Als er jedoch zur Seite blickte, sah er sie ganz ruhig am Steg stehen. Nur ihre Augen waren ganz eng zusammengekniffen, da auch sie ihre Sonnenbrille im Auto vergessen hatte. Soweit er feststellen konnte, gab es keinen Hinweis darauf, dass ihm seine Kollegin eine Frage gestellt hatte. Stattdessen schien sie ähnlich in Gedanken versunken zu sein wie er selbst. Er trat einen Schritt zurück. Je länger sie am Steg standen, desto unsicherer war sich Nemecek, was er hier eigentlich zu finden hoffte. Eine überraschende Spur? Einen konkreten Hinweis auf den Tathergang? Gar ein Gefühl für den Toten?
Er blickte auf die Uhr. Verdammt, schon fast fünf Uhr! Dabei hatte er seiner Familie versprochen, spätestens um vier am Strand zu sein. Sie sollten hier Schluss machen. Immerhin hatten sie sich nun ein Bild von der Umgebung gemacht und gedanklich einige Szenarien durchgespielt.
»Brauchst du noch Zeit?«
»Nicht im Geringsten.« Demonstrativ streckte Obermayr ihre verschwitzten Arme aus und deutete einen Kopfsprung an. »Ich verzehre mich danach, ins kühle Nass einzutauchen!«
Nemecek grinste. Da war es wieder, das dramatische Talent, das seine Kollegin zwischendurch gerne aufblitzen ließ. »Dann lass uns hier die Zelte abbrechen und endlich ins Wasser hüpfen. Sonst bilden sich womöglich noch Blasen auf unserer Haut.«
»Bist du zu lange in der Sonne, beschert der Brand dir keine Wonne«, kalauerte Obermayr. Damit war von ihrer Seite her wohl wieder einmal alles gesagt. Doch Nemecek täuschte sich, denn keine zwei Schritte später fragte sie plötzlich: »Verdammt! Wollten wir nicht noch Lillys Recherchen durchgehen?«
Nemecek fluchte innerlich. Wie konnte er das nur vergessen? Natürlich war es sinnvoll, sich noch ein möglichst vollständiges Bild zu machen, bevor sie morgen früh die Kärntner Kollegen trafen. Also musste das Schwimmvergnügen weiter warten.
»Wo sind wir denn stehen geblieben?«, fragte er ungeduldig.
»Beim beruflichen Werdegang von Marco Joschak. Aber keine Sorge, das geht schnell.«
»Hoffentlich.«
Obermayr zog ihr Tablet aus der Tasche. »Alsdann in medias res. Nachdem Joschak 1994 die Schule abgebrochen und sich ein paar Jahre lang mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hatte, absolvierte er 1999 die Abendmatura. Nur fünf Jahre später hatte er das Diplomstudium Informatik abgeschlossen und weitere zwei Jahre danach auch noch einen MBA in der Tasche. Scheint ihm irgendwie der sprichwörtliche Knoten geplatzt zu sein.«
Nemecek gab ein anerkennendes Pfeifen von sich. Das musste man erst einmal bringen!
»Ab 2001, also noch während seines Studiums, war Joschak für die Firma Best Data als Softwareentwickler tätig. Eine kleine IT-Firma in Klagenfurt, die drei Jahre später von der Acros gekauft wurde.«
»Dieser Mikroelektronik-Bude in Villach?«
»Genau. Ab 2004 war der frisch gebackene Diplomingenieur dort als Projektleiter, dann auch als Teamleiter eingesetzt. 2006 machte man ihn zum stellvertretenden Leiter der Softwareentwicklung, eher er ein Jahr später die Gesamtleitung übernahm.«
»Aha«, fühlte sich Nemecek zumindest zu einer nonverbalen Reaktion verpflichtet. Das Ganze erinnerte ihn unweigerlich an die SafeIT, jenes auf digitale Sicherungssysteme spezialisierte Familienunternehmen, das letztes Jahr in einen spektakulären Mordfall verwickelt war. Während ihrer Ermittlungen in diesem Unternehmen hatten sie allerdings nicht nur dunkle Machenschaften, sondern auch erhellende Arbeitsweisen entdeckt. In der SafeIT wurde nämlich allerorten das sogenannte visuelle Arbeitsmanagement mit Kanban eingesetzt, das ursprünglich aus der Automobilproduktion stammte und im Laufe der letzten Jahre auf alle möglichen Bereiche komplexer Wissensarbeit übertragen wurde. Aufgrund dessen hatten sie bereits im Laufe ihrer Ermittlungen damals vom Tatort Kanban gesprochen.
»Einige Jahre lang ist die Acros rasant gewachsen, aber in den letzten Jahren scheint die Expansion ins Stocken geraten zu sein. Angeblich kam es vermehrt zu Qualitätsproblemen, sodass das Unternehmen sogar einige Großkunden verlor und in die roten Zahlen abrutschte. Anfang des Jahres hat man offenbar die Notbremse gezogen und einen neuen CEO geholt. Einen Schweizer namens Reto Pflückinger.«
»Aha«, wiederholte Nemecek, weil ihm nichts Besseres einfiel. Irgendwie hing er immer noch in seinen Erinnerungen an die SafeIT fest, ohne dass er darin einen besonderen Hinweis entdecken konnte. Wie sollte ihm der alte Fall schon in seiner aktuellen Situation weiterhelfen?
»Und jetzt rate mal, womit der gleich Schlagzeilen gemacht hat.«
Unwillkürlich presste Nemecek die Lippen aufeinander. Obermayr wusste ganz genau, dass er solche Rätselfragen nicht leiden konnte. Warum nervte sie ihn ständig damit?
»Du wirst es mir hoffentlich gleich sagen«, knurrte er.
»Pflückinger hat sich vor allem dadurch einen Namen gemacht, dass er im gesamten Unternehmen auf zukunftsweisende Arbeitsmethoden setzte.«
»Zukunftsweisende Arbeitsmethoden?«
»Ich sag nur: agil, lean, selbstorganisiert!«
»Nicht schon wieder!«, entfuhr es Nemecek, der sich nun endgültig wie auf einer Zeitreise in die Vergangenheit fühlte. Auch bei der SafeIT wurde ja die gesamte Organisation völlig neu gestaltet, was zu neuen Formen der Zusammenarbeit und sogar zu einem aufsehenerregenden neuen Bürogebäude führte. Ein derartiges Unternehmen, das gänzlich auf die traditionellen hierarchischen Strukturen und Ebenen verzichtete und stattdessen auf das Arbeiten auf Augenhöhe und Selbstverantwortung setzte, war Nemecek zuvor noch niemals untergekommen. Obwohl der Mordfall damals einen gewissen Schatten auf das Unternehmen warf, schien ihnen der anhaltende Erfolg recht zu geben. Der strategischen Kombination von Kundennähe und interner Vernetzung schien die Zukunft zu gehören.
»Unternehmerische Agilität stellt das Management vor völlig neue Herausforderungen.«
Nemecek blickte irritiert zur Seite. »Sagt wer?«
»Pflückinger himself. Und zwar in einem Interview mit dem Economy-Magazin.«
»Und was sagt er noch so?«
»Eine ganze Menge – zumindest, wenn man von den Artikeln ausgeht, die uns Lilly beigelegt hat. Ich leite dir das gleich weiter. Ist garantiert eine unterhaltsame Strandlektüre.«
»Pflückinger sieht sich also als agiler Manager?«
»Scheint so«, bestätigte Obermayr. »Zumindest wird er in dem Interview als mutiger Pionier in Sachen innovatives Organisationsdesign bezeichnet.«
»Innovatives Organisationsdesign?« Nemecek blieb seiner skeptischen Linie treu. »Große Worte. Fragt sich, was da tatsächlich dahintersteckt.«
»Offenbar geht es um die Gestaltung von Unternehmen, die einerseits nahe am Markt sind und andererseits attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. Einfach gesagt: Kunden- und Mitarbeiterorientierung so miteinander verbinden, dass man möglichst rasch und flexibel agieren kann.«
Nemecek schürzte die Lippen. »Das sollten wir uns wirklich noch genauer anschauen.«
Obermayr steckte ihr Tablet in die Tasche zurück. »Doch bevor wir uns in diese ganzen Klugheiten vertiefen, dürfen wir hoffentlich mal in den See springen.«
»Jawolle, Frau Holle«, bekräftigte Nemecek mit ungeahntem Schwung. Bis ihm gleich darauf einfiel, dass ihr Kollege Bialek keine 24 Stunden zuvor genau dieselben Worte gebraucht hatte.
»Achtung, Achtung!«, rief Lea, während sie im Vollsprint auf die Stegkante zuraste. »Arschbombeeee!« Ihr Schlachtruf endete mit einem lauten Klatschen und einer eindrucksvollen Wasserfontäne. Das darauf folgende Geschrei machte deutlich, dass Nemeceks ältere Tochter ihre Ankündigung perfekt umgesetzt hatte. Wie von der Tarantel gestochen sprangen ihre zwei Jahre jüngere Schwester Sophie sowie deren Freundinnen Lydia und Klara auf und rissen ihre Handtücher vom Steg. Die dunkle Färbung des Holzes dokumentierte eindrucksvoll, wie gut Leas Paradesprung gelungen war.
»Leaaaa!«, empörten sich die drei Mädchen lauthals, während sie leicht panisch über ihre Smartphones wischten.
»Na warte«, verkündete Sophie gleich darauf mit erhobener Faust. »Das wirst du büßen!«, sekundierte Lydia und auch Klara zeigte mit einer kurzen Handbewegung an, dass sie ihr am liebsten den Hals abschneiden würde.
»Ihr kriegt mich eh nicht«, heizte die große Schwester noch weiter an. Das konnten sich die drei Arschbombenopfer selbstverständlich nicht gefallen lassen. Zuerst der heimtückische Angriff und jetzt auch noch Spott! Kaum, dass sie ihre Strandsachen in Sicherheit gebracht hatten, nahmen sie die Verfolgung auf.
»Racheeee!«, versprach Sophie, bevor sie sich fast zeitgleich mit ihren Freundinnen in den See stürzte. Zu dritt jagten sie nun die Übeltäterin, die wohlweislich bereits ein Stück weiter hinaus geschwommen war.
Schmunzelnd verfolgte Nemecek die turbulente, von spitzen Schreien und lautem Gelächter begleitete Jagd. Blitzlichtartig flammten Erinnerungen an die eigene Kindheit auf, in der er sich mit seinen Freunden ausgedehnte Wasserschlachten geliefert hatte. Das waren noch Zeiten gewesen, als Sebastian Neufeldner, Rudolf Pokorny und er fast den ganzen Sommer an der alten Donau verbrachten!
»Eine wilde Bande, oder?«, holte Bettina ihn aus seiner sentimentalen Reise wieder in die Gegenwart zurück.
»Ja. Die Kids wissen halt, wie man den Sommer genießt!«
»Tust du das etwa nicht?«
Irritiert blickte Nemecek zu seiner Frau. »Doch, natürlich«, beteuerte er rasch. Auf das alte Thema, dass er die Arbeit nicht aus dem Kopf bekam, hatte er jetzt wirklich keine Lust. »Ich bin froh, dass ich mal zum Lesen komme.«
»Was liest du denn?«
»Ach, ein bisschen dies, ein bisschen das.«
»Soso.« Bettina war deutlich anzumerken, dass ihr die ausweichende Antwort ihres Mannes nicht schmeckte.
Wenn Nemecek ehrlich gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, dass seine Gedanken in der letzten Stunde ständig zu Marco Joschak gewandert waren. Wie war er ums Leben gekommen? Was genau war passiert? Warum ertrank jemand, der als ausgezeichneter Schwimmer galt? Nemecek versuchte den Gedanken an den Mordvorwurf von Marina Joschak abzuschütteln, der war jedoch klebrig wie einer dieser altmodischen Fliegenfänger.
Um sich abzulenken, hatte er sich das von Zukic zusammengestellte Dossier vorgenommen. Die vorliegenden Fakten waren rasch abgehakt. Doch dann blieb er längere Zeit bei dem Interview hängen, das der neue Vorstand der Acros für dieses Wirtschaftsmagazin gegeben hatte – und entdeckte daraufhin sogar einen Artikel, der in einem Sammelband zu Die Zukunft der Unternehmen veröffentlicht wurde. In beiden bot Pflückinger starke Kernbotschaften: Von veränderten Anforderungen war da die Rede, von der konsequenten Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kunden, von der Fähigkeit, rasch auf veränderte Wünsche zu reagieren, und der Notwendigkeit, entsprechend bewegliche Prozesse zu gestalten. Die wichtigste Aufgabe des Managements ist die Gestaltung geeigneter Rahmenbedingungen, schrieb Pflückinger an einer Stelle. Manager sind heutzutage viel weniger als Verwalter denn als Gestalter gefragt. Business-Designer statt Business-Administratoren.
Nemecek musste zugeben, dass das alles ziemlich interessant klang – und ihn einmal mehr in die Zeit zurück katapultierte, als sie in der SafeIT im Mordfall Paul Steiner ermittelt hatten. Damals hatte er sich ja auch schon mit den Phänomenen Agilität, Selbstorganisation und Führung beschäftigt. Er erinnerte sich noch gut, dass er dazu einiges gelesen und sich viele Notizen gemacht hatte. Er hatte allerdings keine Ahnung, wo seine Notizbücher von damals abgeblieben waren. Wäre sicherlich interessant, noch einmal nachzulesen, was er sich damals dazu aufgeschrieben hatte. Schließlich hatte ihm sein früherer Chef und Mentor Josef Kallinger jahrelang eingeschärft, dass man den Kontext klären musste, wenn man die Textur eines Verbrechens erkennen wollte. Bislang hatte sich dieses Credo noch in jedem Fall bewahrheitet. Ohne die genauen Umstände erhellt zu haben, waren weder das Motiv noch die Mittel eines Mordes zu entschlüsseln. Geschweige denn die Gelegenheit, die der Täter für seinen tödlichen Anschlag genutzt hatte. Was ihn einmal mehr auf die alles entscheidende Frage zurückwarf, ob sie es in der aktuellen Situation überhaupt mit einem Mordfall zu tun hatten. Und, falls ja, welche Rolle dabei die Themen spielten, über die Pflückinger sprach. Hatte Joschaks Tod überhaupt etwas mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun? Spielte es eine Rolle, dass er als Manager tätig war? Und wenn ja, lag das Motiv möglicherweise in den Veränderungsprozessen begründet, die die Acros gerade durchlief?
Ohne es zu wollen, zuckte Nemecek mit den Schultern. Zweifellos war es noch zu früh, um darauf schlüssige Antworten liefern zu können. Bis es so weit war, konnte er immerhin sein Verständnis über die neue Arbeitswelt vertiefen. Dementsprechend entschlossen klickte er auf einen weiteren Link auf seinem Tablet.
»Wir sollten uns allmählich eingestehen, dass wir diese neue Welt niemals mit unseren alten Landkarten bewältigen können.« (Meg Wheatley)
Nemecek setzte den Stift ab. Diese Verbindung von Welt und Landkarte gefiel ihm – nicht zuletzt, weil sie auch einiges mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun hatte. Sie weckte Erinnerungen an legendäre Diskussionen, die sie in der Familie bei Wanderungen regelmäßig hatten. Einmal war Lea sogar wutentbrannt in den Wald gelaufen, nachdem sie als Navigationsverantwortliche lautstark infrage gestellt wurde. Damals waren sie noch mit echten Wanderkarten unterwegs gewesen, aus Papier und so trickreich gefaltet, dass Nemecek sich regelmäßig verhedderte. Statt einer kompakten Mappe glichen die von ihm zusammengelegten Karten eher einem unförmigen Stapel Papier.
Die Karte in ihrer Hand hinderte Lea damals freilich nicht daran, die gesuchte Abzweigung gleich zweimal zu verpassen. Während die ganze Wandergruppe im Kreis lief, mehrte sich der Unmut der anderen Kinder, die schon länger über Hunger klagten und am liebsten den direkten Weg zur Jausenstation eingeschlagen hätten. Lea schwor natürlich Stein und Bein, dass dies der richtige Weg war. Nemecek stellte fest, dass es auf der Karte genau danach aussah. Umso größer war die Überraschung, als sie später im Biergarten entdeckten, dass es sich gar nicht um eine Karte des Anninger handelte, auf dem sie unterwegs waren, sondern um eine des benachbarten Prielstein!
Die ganze Geschichte war letztlich halb so wild, schließlich war ihnen die Umgebung vertraut. Nachdem sich die Gemüter wieder einigermaßen beruhigt hatten, mussten sie nur einem der ausgetretenen Pfade folgen, um zu dem gesuchten Rastplatz zu kommen. Da war die Welt in globaler Hinsicht schon ein ganz anderes Kaliber. Allein, wenn er Revue passieren ließ, welche tiefgreifenden Veränderungen seit der Geburt seiner beiden Töchter stattgefunden hatten: seien es nun politische Veränderungen, wie die weltweiten Flüchtlingsströme, ökologische, wie sie die von seinen Töchtern leidenschaftlich unterstützte Friday for Future-Bewegung thematisierte, soziale Veränderungen, die nicht zuletzt durch die sozialen Medien forciert wurden, oder eben ökonomische Veränderungen, die Unternehmen vor ungeahnte Herausforderungen stellten. Dafür gab es eben schon lange keine verlässlichen Landkarten mehr, geschweige denn ausgetretene Pfade, denen man einfach folgen konnte. Dazu kam, dass sich mit dem Markt auch die inneren Anforderungen an Organisation und Management gewandelt hatten. Schließlich legten die Kunden mittlerweile auf ganz andere Dinge wert, als dies 20 Jahre zuvor der Fall war. Und dasselbe galt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der diversen Generationen X, Y und Z, die klammheimlich die Unternehmenskulturen dieser Welt veränderten.
»Wir bewegen uns durch unbekanntes Gelände«, las er weiter, »und dafür brauchen wir neue Formen der Navigation.« Das war zwar reichlich metaphorisch, doch Nemecek liebte seit jeher starke Bilder, die nicht nur trockene Fakten boten, sondern Raum zum Nachdenken öffneten. In diesem Fall wurde die Tür zu einer der Kernfragen der Agilität aufgestoßen: Wozu das Ganze? Wenn der Weg in eine erfolgreiche Zukunft durch unbekanntes Gelände führt, so die Argumentation, brauchen Unternehmen jedenfalls mehr Flexibilität. Und sie brauchen andere Formen der Steuerung, um eine solche Flexibilität zu gewährleisten.
Das leuchtete ihm ein und er vertiefte sich weiter in den Text. Wenn sich die Welt schneller drehte und zugleich immer unberechenbarer wurde, müssen Unternehmen möglichst bewegliche Systeme schaffen. Das konnte jedoch nur gelingen, wenn die Unternehmen agiler wurden, was ja buchstäblich mehr Beweglichkeit und Schnelligkeit versprach. Die gewünschte Agilität hing allerdings davon ab, dass man überhaupt mitbekam, was sich rundherum tat. Dafür benötigte man wiederum eine besondere Form des Radarsystems, das den eigenen Informationsstand beständig aktualisierte. Fragte sich bloß, wie das in der Praxis gelingen konnte.
Nur wenig später stieß er auf eine überzeugende Antwort: Um für ein möglichst breites Sensorium zu sorgen, hieß es da, müssen nicht nur einzelne Spezialisten, sondern alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Fühler ausstrecken. Sie würden, argumentierte die Autorin weiter, gleichsam zu Spionen, die das Geschehen auskundschaften, indem sie mit Kunden reden, deren Wünsche erkunden, neue Möglichkeiten ausloten und ihre fachkundigen Schlüsse zogen. Um die wahrgenommenen Chancen und Risiken möglichst effizient verarbeiten zu können, brauchte es wiederum geeignete Kommunikationsformate und Arbeitsprozesse. Denn die beste Information nützte wenig, wenn man organisationsintern nicht imstande war, die neuen Anforderungen rasch zu teilen und entsprechend umzusetzen, um dem Kunden bessere Produkte und Dienstleistungen zu liefern.
»Hallooo? Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?«
Nemecek hob den Kopf. Anscheinend war er so vertieft gewesen, dass er seine Frau nicht mehr wahrgenommen hatte. Bettina musterte ihn skeptisch. »Du kannst wohl niemals abschalten, oder? Und wenigstens für ein paar Stunden ganz bei uns sein?«
Mehr als ein hilfloses Schulterzucken hatte Nemecek nicht zu bieten. Er merkte, dass ihn die kritischen Worte seiner Frau störten. Aber noch mehr störte ihn die Ahnung, dass sie recht hatte.
»Also noch einmal«, sagte Bettina eindringlich. »Was wollen wir denn heute Abend essen? Die Kinder haben Hunger. Und wie du weißt, duldet das keinen Aufschub. Du kennst sie ja!«
Erst jetzt fiel Nemecek auf, dass die vier Mädchen bereits ihre Badesachen in den Händen hielten. Er hatte weder bemerkt, wie ihre große Seeschlacht weiterverlaufen, noch wann sie zu Ende gegangen war. Aber nun war offenkundig Aufbruch angesagt. Nemecek stand von seiner Liege auf und ging auf die jungen Damen zu.
»Hallo Mädels«, rief er mit demonstrativer Fröhlichkeit, »wie war’s im See?«
»Eh lustig«, beschied Sophie kurz angebunden. »Nun haben wir aber vor allem eines: einen riesigen Hunger.«
»Ich könnte ein Mammut verdrücken!«, bestärkte Lea.
»Noch jemand, der Lust auf Mammut hat?«
»Papa!«, mahnte Sophie und hielt sich die Hand auf den Bauch. »Lass deine müden Witze. Sag uns lieber, was es zu Essen gibt.«
»Worauf habt ihr denn Lust?«
»Wie wär’s mal wieder mit Pizza?«, preschte Klara vor.
»Oder Huhn«, meinte Lydia.
»Oder Lasagne«, ergänzte Sophie.
Nemecek musste lachen. »Was denn nun? Könnt ihr euch nicht auf ein Gericht einigen?«
»Wie wär’s mit Kindergruppenessen?« Bettina blickte gespannt in die Runde.
»Ja«, riefen Sophie und Lea wie aus einem Munde. »Das machen wir!«
»Was ist Kindergruppenessen?«, fragte Klara skeptisch. Für sie klang das wahrscheinlich ein wenig nach Babybrei.
»Das ist unser Lieblingsgericht«, klärte Sophie ihre Freundin auf. »Das hat der Papa immer gemacht, wenn er in der Kindergruppe Kochdienst hatte.«
Klaras Zweifel schienen nicht geringer geworden zu sein. Kochdienst klang wohl nur wenig vertrauenserweckend.
»Und was ist das nun für eine Wunderspeise?«
»Hühnergeschnetzeltes mit Karotten, Zwiebeln und Paprika in einer weißen Sauce. Dazu Reis und Salat. Ur lecker!«
»Darin ist unser Dad ein echter Spitzenkoch«, bestätigte Lea.
»Von mir aus«, gab sich Klara geschlagen, klang jedoch alles andere als überzeugt.
»Und du?«, wollte Sophie nun auch von Lydia wissen.
»Okay.«
»Also«, zeigte sich der designierte Spitzenkoch entschlossen, »dann nehme ich hiermit eure offizielle Bestellung an! Ich hoffe nur, wir haben alle Zutaten im Haus.«
»Und ich hoffe, es dauert nicht lange. Ich habe nämlich schon einen totaaaalen …«
»Das wissen wir schon!«, fuhr Sophie ihrer Schwester in die Parade. »Du musst nicht alles tausendmal wiederholen.«
Die Sonne fiel durch die Blätter und warf ein zackiges Schattenmuster auf den Weg. Mit jedem Laufschritt ergab sich ein neues Bild. Zu seiner Rechten rauschte der Bach leise in Richtung See. Der Duft des Waldes kitzelte ihn in den Nasenlöchern. Nemecek atmete tief durch, um seine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen. Obwohl die Sonne wieder gnadenlos herunter brannte, herrschte hier eine angenehme Temperatur. Die hohen Bäume spendeten ausreichend Schatten und das fließende Gewässer brachte eine zusätzliche Kühlung. Nemecek spürte, wie sich seine Anspannung allmählich zu lösen begann. Der gleichmäßige Bewegungsrhythmus war genau das, was er jetzt brauchte. Der Ausdruck »sich ein wenig Auslauf zu gönnen« fiel ihm dazu ein, aber auch »auf dem Laufenden zu sein«. Auf alle Fälle tat das sowohl seinem Körper als auch seinem Kopf gut.
Nichtsdestotrotz lastete die unklare Situation nach wie vor auf seinen Schultern. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Warum ging er gerade diesem Unfall nach? Was, wenn es sich doch bloß um eine Verkettung tragischer Umstände handelte? Möglicherweise entpuppte sich der Mordvorwurf als völlig haltlos? Wie aufgescheuchte Vögel kreisten ihm die vielen offenen Fragen im Kopf herum.
Als Nemecek heute Mittag die kleine Polizeistation in Faak betreten hatte, sah alles noch ganz anders aus. Aufgrund seiner langjährigen Bekanntschaft hatte ihn Inspektionsleiter Rudi Hinteregger zwar freundlich begrüßt. Vonseiten seines Kollegen Andreas Ruschitz war ihm indes sofort eine deutlich ablehnende Haltung entgegengeschlagen. Während er einen vergnüglichen Small Talk mit Hinteregger führte, verfolgte Nemecek aus den Augenwinkeln, wie sich die Miene des jungen Polizisten zunehmend verfinsterte. Dass man es als Zumutung empfand, einen eigentlich abgeschlossenen Fall nochmals aufrollen zu müssen, konnte er durchaus nachvollziehen. Sogar Hinteregger schluckte merkbar, als Nemecek sein eigentliches Anliegen vorbrachte. Ruschitz aber machte kein Hehl aus seinem Ärger. Ohne ein einziges Wort zu sagen, stellte er klar, dass sich die Großstadtsheriffs wieder einmal in Angelegenheiten einmischten, die sie im Grunde überhaupt nichts angingen. Und nachdem er zu Nemeceks Erklärungen mehrfach geschnaubt und einmal sogar verächtlich aufgelacht hatte, verließ er kopfschüttelnd den Raum – natürlich nicht ohne mit der krachend ins Schloss fallenden Tür einen kraftvollen Schlusspunkt zu setzen.
Am Ende war sich Nemecek nicht ganz sicher, warum ihm Hinteregger dennoch seine Hilfe zusicherte. Vielleicht, weil er nach dem provokanten Verhalten seines Kollegen die Harmonie wahren wollte, vielleicht aber auch, weil im Laufe des Gesprächs immer mehr Fragen aufgetaucht waren, die er nicht zu beantworten vermochte. Warum hatte sich Joschak nicht rechtzeitig vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht? Wann genau war er ertrunken? Und was genau hatte letztendlich zu seinem Tod geführt? Immerhin schien es eher unwahrscheinlich, dass ein durchtrainierter Athlet einfach so unterging.
Schließlich willigte Hinteregger ein, sich doch noch auf die Suche nach Augenzeugen zu machen, obwohl allen Beteiligten klar war, dass das der vielzitierten Suche nach der Nadel im Heuhaufen glich. Selbiges galt für die Kameraaufnahmen, die man in Betracht ziehen konnte – immerhin gab es rund um den See zahlreiche Campingplätze und Hotels. Möglicherweise, spekulierte Nemecek laut, konnte man sogar am Tabor etwas Brauchbares finden. In dem Hochseilgarten, der sich dort befand, waren ziemlich sicher Kameras angebracht, die auch den ganzen See überblickten.
Nemecek verlangsamte seinen Laufschritt und blickte rasch von links nach rechts. »Aichwaldsee«, stand auf dem obersten der gelben Hinweisschilder, die hier durch den Wald führten. Er entschied sich für die rechte Weggabelung, die ihn über die letzten Stationen des Fitnessparcours in Richtung Bahntrasse und dann zur Bundesstraße bringen würde. Dort konnte er sich immer noch entscheiden, ob er weiterhin bergauf laufen oder umkehren wollte.
Während er wieder Tempo aufnahm, schwenkten seine Gedanken zum nachmittäglichen Treffen mit Obermayr. Gemeinsam hatten sie die ermittelten Fakten sortiert: Als geklärt galt der Zeitpunkt, zu dem Joschak das Villacher Büro verlassen hatte. Seine Arbeitskollegen gaben an, ihn bereits gegen 16 Uhr 30 am Parkplatz vor der Acros gesehen zu haben, und bestätigten, dass sich sein Rad bereits auf dem Dachträger seines Wagens befunden hatte. Wie immer, wenn er am Kärntner Firmenstandort zu tun hatte, parkte Joschak direkt unter dem Bürofenster, sodass sein roter Karbon-Renner schwer zu übersehen war. Dementsprechend wahrscheinlich war es, dass sich seine Schwimm- und Laufsachen ebenfalls bereits im Wagen befunden hatten, sodass er nicht später als 17 Uhr am Parkplatz des Matschnighofs eingetroffen sein musste. Den Hotelchef Karl Matschnig, seinerseits ein alter Schulkollege von Marco Joschak, hatten sie gleich ganz oben auf ihrer Liste möglicher Augenzeugen gesetzt. Bislang war er nicht befragt worden – wozu auch, wenn man von einem tragischen Unfall ausging? Doch vielleicht hatten die alten Kameraden ja noch ein paar Worte miteinander gewechselt. Oder Matschnig hatte Joschak sogar am See beobachtet.
Den meteorologischen Aufzeichnungen zufolge brach das Gewitter erst gegen 17 Uhr 45 los, sodass Joschak eigentlich genügend Zeit geblieben wäre, sein Schwimmtraining abzubrechen und zum Hotelstrand zurückzukehren. Warum er trotz des zunehmenden Sturms nicht aus dem Wasser gegangen war, blieb rätselhaft.
Noch rätselhafter war allerdings, warum man seine Leiche genau am gegenüberliegenden Seeufer gefunden hatte. Man musste herausfinden, wo genau Joschaks übliche Trainingsstrecke verlief. Wenn man davon ausging, dass er mindestens 30, eventuell sogar 45 Minuten im Wasser und dabei in seinem üblichen Trainingstempo unterwegs war, musste er die Seerunde bei Ausbruch des Gewitters eigentlich bereits abgeschlossen haben. Oder sich zumindest wieder auf dem Rückweg und also in der Nähe seines Startpunkts beim Hotel befunden haben. Angespült wurde seine Leiche jedoch nicht am Nord-, sondern am Südufer. Stärkte das nicht die Vermutung, dass ihm während seines Schwimmtrainings etwas Ungewöhnliches zugestoßen war?
Angesichts der jüngsten Entwicklungen war klar, dass er noch heute Staatsanwalt Gunther Rüdinger anrufen musste. Der würde zwar keine Jubelsprünge machen, wenn er ihm am Wochenende einen neuen Fall aufhalste. Aber zumindest eine Vorermittlung sollte er ihm genehmigen. Denn einerseits wollte er Radingers offizielles Okay für eine neue Sonderkommission, bevor er mit Joschaks Witwe sprach, und andererseits brauchte er die notwendigen Kompetenzen, um den Leichnam noch einmal gründlich untersuchen zu lassen. Einen Herzinfarkt hatte man bei der ersten Totenschau ja ebenso ausgeschlossen wie einen Gehirnschlag. Doch doppelt hielt bekanntlich besser – und für besser gab es nur eine Adresse: Gerda Probisch.
Nemecek musste nur noch seinen Charme spielen lassen, damit sich die Grande Dame der österreichischen Gerichtsmedizin möglichst rasch an die Arbeit machte. Ausnahmsweise hatte er ja seit ihrem letzten Fall, den sie intern nur den Ziegelmord nannten, sogar etwas gut bei ihr. Schließlich war Probischs Sohn Raimund in diesen Fall involviert und eine Zeit lang sogar einer der Hauptverdächtigen gewesen. Oder zumindest der von Kappacher, der es sich zur Herzensaufgabe gemacht zu haben schien, Raimund Probisch hinter Gitter zu bringen. Anscheinend waren zwischen seinem Chef und der eigenwilligen Rechtsmedizinerin noch ein paar alte Rechnungen offen. Mehrmals hatte der Oberst auf eine Verhaftung gedrängt und es war nur Nemeceks Sturheit zu verdanken, dass es nicht dazu gekommen war. Dank seines Sondereinsatzes kam Raimund Probisch am Ende äußerst glimpflich davon. Mit Fug und Recht konnte Nemecek nun auch ein außerordentliches Engagement von der Chefforensikerin erwarten, die ja weithin als fachliche Koryphäe, aber eben auch als Diva bekannt war.
Nemecek schreckte hoch. Er war wieder einmal so in Gedanken versunken gewesen, dass er beinahe die Straße übersehen hätte. Die Hupe des gelben Sportwagens bewahrte ihn vor einem Blackout. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass er jetzt einen Unfall baute! Während er dem schnittigen Cabriolet mit offenem Mund nachsah, rauschte das Blut in seinen Ohren. Als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte, schaute er sogar zweimal von links nach rechts, bevor er endlich die Bundesstraße überquerte und den Weg in Richtung Aichwaldsee fortsetzte.
Es dauerte eine Weile, bis er gedanklich den Anschluss wiederfand. Zum einen saß ihm noch der Schrecken über seine Unachtsamkeit im Nacken, zum anderen nahm das sich verdichtende Wurzelwerk seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Vor allem bergauf konnte man leicht ins Stolpern geraten und nach dem gerade Erlebten wollte Nemecek keinen Sturz riskieren. Als er das letzte Waldstück durchquert und die große Wiese erreicht hatte, atmete Nemecek auf. Spürbar erleichtert ließ er noch einmal die nächsten Ermittlungsschritte Revue passieren, die er mit den Kärntner Kollegen vereinbart hatte. Hinteregger würde sich, wie er im Hinblick auf seinen heißspornigen Kollegen betonte, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften auf die Suche nach möglichen Augenzeugen machen. Der Hoteldirektor und seine Angestellten waren ja bereits gesetzt, aber auch die kleineren Hotels und die Campingplätze sollten überprüft werden. Außerdem würden sie nach Kameraaufzeichnungen fahnden. Wäre doch gelacht, zeigte sich der Faaker Inspektionsleiter am Ende überzeugt, wenn es da rund um den See nichts zu finden gäbe!
Parallel zur genaueren Untersuchung des Leichnams würden Obermayr und er gleich Montag früh mit der Witwe reden. Außerdem sollten sie möglichst bald einen Termin bei Reto Pflückinger bekommen, um Joschaks berufliche Hintergründe zu durchleuchten. Parallel dazu sollte sich Zukic um Joschaks Handydaten und seinen PC kümmern. Neben den Anrufen und einschlägigen Nachrichten gab der Browserverlauf oft wertvolle Hinweise, womit sich jemand besonders intensiv beschäftigte.
Während er am Aichwaldsee vorbei bergab zu laufen begann, ertappte sich Nemecek aufs Neue dabei, dass er insgeheim von einem beruflichen Zusammenhang ausging. Die Acros schien ihn auf ähnlich magische Weise anzuziehen, wie das ein Jahr zuvor die SafeIT getan hatte. Oder war es viel weniger das Unternehmen selbst als die tiefgreifende Veränderung, die es gerade durchmachte, die ihn lockte? Jener vielschichtige Übergang von der aktuellen Situation zu neuen Vorgehensweisen in der Arbeitswelt, die Menschen und Strukturen in Bewegung setzten? Und kam dann nicht die intellektuelle Herausforderung hinzu, sich einmal eingehender mit den Themen Management und Organisation zu beschäftigen, über die er in seinem Polizeialltag immer wieder stolperte?
Doch je stärker er sich vom Thema Agilität angezogen fühlte, umso heftiger mahnte er sich zur Umsicht. Einerseits war er Chefinspektor und kein, wie ihm Kappacher schon des Öfteren vorgeworfen hatte, verkappter Philosoph. Andererseits war zum jetzigen Zeitpunkt eine Beziehungstat genauso wahrscheinlich wie eine beruflich motivierte. Wer sagte ihnen, dass nicht eine alte Feindschaft hinter Joschaks Tod steckte? Die Konkurrenz zwischen Sportlern, die oft genug krankhafte Auswüchse annahm? Eine heimliche Affäre Joschaks, die einen gehörnten Ehemann ausrasten ließ? Vielleicht steckte sogar Joschaks Frau selbst hinter dem tödlichen Anschlag, den sie so heftig beklagte. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Täterin auf diese Weise ihre Schuld zu verschleiern versuchte. Was umso wahrscheinlicher war, wenn es eine Lebensversicherung gab. Zukic sollte klären, ob es eine entsprechende Police gab. Und sie sollte mit den Nachbarn der Joschaks reden, ob diese irgendwelche Auffälligkeiten in deren Ehe wahrgenommen hatten.
Ein dichtes Programm, bilanzierte Nemecek. Dennoch durften sie jetzt nichts überstürzen. Sie mussten Schritt für Schritt vorgehen. Eigentlich sollte er ja noch Kappacher über die neuesten Entwicklungen informieren. Andernfalls würde sich dieser sicher wieder aufregen, wie er das schon so oft getan hatte, wenn er sich zu wenig eingebunden oder gar übergangen fühlte, insbesondere wenn es um so weitreichende Entscheidungen wie die Einrichtung einer Sonderkommission ging.
Als er jedoch den Faaker See wieder vor sich auftauchen sah, stand Nemeceks Entschluss fest. Wenn er schon den gestrigen Feiertag und den heutigen Brückentag gewissermaßen in geheimer Mission unterwegs war, sollte zumindest der Rest des Wochenendes seiner Familie gehören. Und für Montag früh war ohnehin eine Besprechung mit dem frisch aus seinem Urlaub zurückgekommenen Oberst Kappacher angesetzt.
Im Raum wurde es still, aber es war eine angespannte Stille wie zwischen einem Blitz und dem darauffolgenden Donnerschlag. Unwillkürlich musste Nemecek an das Gewitter denken, währenddessen Joschak ums Leben gekommen war. Dann räusperte er sich, um endlich die erwartete Antwort zu geben.
»Wir hatten ausreichend Hinweise, dass es sich hierbei nicht um einen Unfall handelte.«
Kappacher holte tief Luft. Und dann krachte es tatsächlich.
»Ausreichend Hinweise!«, bellte er, nachdem er mit der flachen Hand auf seinen Mahagoni-Schreibtisch geschlagen hatte. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Warum sind Sie der Sache nachgegangen, ohne sich vorher mit mir abzustimmen?«
»Sie waren im Urlaub und ich sah Gefahr im Verzug.«
»Gefahr im Verzug«, brauste Kappacher neuerlich auf und riss seine Arme in die Höhe. »Gefahr im Verzug«, wiederholte er nicht weniger laut, aber deutlich langsamer, als müsste er über die besondere Bedeutung dieser Worte nachdenken. Dann ließ er seine Arme wieder nach unten sinken.
Nemecek betrachtete seinen Vorgesetzten. Er war braun gebrannt und wirkte erstaunlich gut erholt. Die erste Urlaubswoche in den Bergen schien ihm gut getan zu haben, obwohl er sich wochenlang über seine Frau mokiert und gebetsmühlenartig geklagt hatte: »In den Tiroler Alpen! Ausgerechnet!« Immerhin handelte Kappacher mit seiner besseren Hälfte aus, dass sie die zweite Urlaubswoche am Meer verbringen würden. Angesichts des aktuellen Ärgers fragte sich Nemecek jedoch, wie lange der Erholungseffekt wohl anhalten würde. Die roten Flecken an Kappachers Hals ließen nichts Gutes ahnen.
»Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt«, beteuerte nun auch Obermayr, die bislang ungewohnt zurückhaltend agiert hatte.
»Nach bestem Wissen und Gewissen?«, kam prompt von der anderen Seite des Schreibtischs zurück. Nemecek fragte sich, wie lange Kappacher wohl jeden Satz wiederholen würde und ob dieses Echo ein Gradmesser für seinen Zorn war. Natürlich hatte Nemecek eigenmächtig gehandelt und ihm war von Anfang an klar gewesen, dass das ein Nachspiel haben würde. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sich sein Vorgesetzter dermaßen aufregen würde.
Sich echauffieren, fiel Nemecek plötzlich der altmodische Ausdruck ein, nach dem er zuvor vergeblich gesucht hatte. Diese Erkenntnis half allerdings nur mäßig gegen das Donnerwetter, das sie nun über sich ergehen lassen mussten.
Nemecek vermutete, dass Kappacher vor allem deswegen so in die Luft ging, weil er immer noch viele Leute vom Kärntner Landeskriminalamt kannte. Immerhin war er in Klagenfurt aufgewachsen, hatte dort die Polizeiakademie besucht und sich später seine ersten Sporen als Kriminalbeamter verdient. Gut möglich, dass er mit dem aktuellen Polizeidirektor sogar persönlich verbunden war. War der nicht genau in Kappachers Alter?
»Mit ihrem unverantwortlichen Alleingang haben Sie uns in eine unmögliche Lage gebracht«, kam schon der nächste Vorwurf. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das dem Karl erklären soll.«
Also lag er mit seiner Vermutung richtig, dass Kappacher den Kärntner LKA-Direktor Glantschnig gut kannte. Wahrscheinlich hatte ihn dieser noch am Wochenende angerufen und sich mächtig über das Vorgehen seiner Leute beschwert. Ob ihn der junge Kollege in der Faaker Inspektion angeschwärzt hatte? Der brauchte ja bloß jemanden im Bezirk zu kennen, der jemanden in der Stadt kannte, der wiederum jemanden im Landeskriminalamt kannte – und schon stieg der oberste Polizeichef auf die Barrikaden. Wie es nun einmal so lief in Österreich. Am wichtigsten schien es, das eigene Revier zu verteidigen.
»Sie kennen einander?«, versuchte Nemecek einen möglichst harmlosen Ton anzuschlagen.
»Natürlich kennen wir einander! Seit Ewigkeiten schon!« Aus irgendeinem Grund fragte sich Nemecek, ob sich die beiden aus dem Polizeidienst oder vom Studium her kannten, für das Kappacher später aus seiner Heimat in die Bundeshauptstadt wechselte. War Glantschnig ebenfalls Jurist? Und gehörten sie womöglich derselben Studentenverbindung an, die gewisse Kreise besonders intensiv zusammenschweißte?
»Wie gedenken Sie also, wieder aus dieser Sache herauszukommen?«
»Gar nicht. Wir machen erst einmal weiter wie geplant.« Obermayrs Trotz war nicht zu überhörbaren.
»Weiter wie geplant!«, polterte Kappacher postwendend. »Jetzt wird’s mir aber langsam zu bunt!«
»Hätten Sie’s denn lieber in Schwarz-Weiß?«, konnte sich Obermayr eine Widerrede nicht verkneifen.
Kappacher sah Obermayr an, als ob er sich gleich auf sie stürzen würde.
»Wenn dann schwarz auf weiß«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Ich spreche von Fakten, falls Sie schon einmal davon gehört haben, Frau Kollegin!«
»Selbstverständlich, Herr Oberst.« Obermayr blieb gelassen. Kappachers drohender Unterton schien wieder einmal von ihr abzuperlen, als wären ihre Ohren mit Teflon beschichtet. »Deswegen sind wir der Sache ja nachgegangen.«
Nemecek sah, wie sein Vorgesetzter die Augen aufriss. Hinter seinen dicken Brillengläsern wirkten sie unnatürlich groß, wie unter einer Lupe. Hinter dem Brillenbügel sah man seine Schlagader heftig pulsieren. Dazu schienen Kappachers Kiefer gerade ein paar Kieselsteine zu zermahlen.