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Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit selektivem Mutismus haben eine psychisch bedingte Sprech- und Kommunikationsstörung. In bestimmten Situationen, in Gegenwart von bestimmten Menschen oder bei bestimmten Themen werden Betroffene unruhig, ängstlich erregt und verstummen. Dagegen sprechen sie in ihnen vertrauten Situationen und bei Anwesenheit vertrauter Personen spontan und ausgelassen. Betroffen sind insbesondere Kinder im Vor- und Grundschulalter, aber auch Jugendliche und Erwachsene. Der Band beschreibt zunächst das Erscheinungsbild des selektiven Mutismus und grenzt Mutismus gegenüber anderen psychischen Störungen ab. Anschließend werden verschiedene Faktoren aufgelistet, die zur Verursachung, zur Auslösung und Aufrechterhaltung der Störung beitragen können. In weiteren Kapiteln werden Möglichkeiten der Behandlung – insbesondere wissenschaftlich überprüfte Methoden der Kognitiven Verhaltenstherapie – dargestellt. Wie Eltern, Erzieher, Lehrkräfte und Therapeuten Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung ihrer Sprechangst unterstützen können, wird anhand von Beispielen aufgezeigt. Jugendliche und Erwachsene erhalten Tipps zur Selbsthilfe. Zahlreiche Materialien im Anhang des Bandes dienen der Informationsvermittlung, Selbsthilfe sowie der Unterstützung bei der Behandlung der Störung.
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Sigrun Schmidt-Traub
Selektiver Mutismus
Informationen für Betroffene, Angehörige, Erzieher, Lehrer und Therapeuten
Dr. rer. pol., Dipl.-Psych., Dipl.-Soz. Sigrun Schmidt-Traub, Studium der Psychologie und Soziologie in Tübingen, Hamburg, Berlin, Frankfurt und an der Yale University in New Haven (USA). Promotion an der FU Berlin. Ausbildung in Verhaltens-, Gesprächspsycho- und Hypnotherapie. Eigene psychotherapeutische Praxis und Lehrtätigkeit an Universitäten. Dozentin und Supervisorin an verschiedenen Ausbildungsinstituten für Klinische Verhaltenstherapie.
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Illustrationen: Klaus Gehrmann, Freiburg; www.klausgehrmann.net
Umschlagabbildung: © iStock.com by Getty Images / Juanmonino
Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen
Format: EPUB
1. Auflage 2019
© 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2927-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2927-5)
ISBN 978-3-8017-2927-1
http://doi.org/10.1026/02927-000
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|5|Für Henner
Vorwort
1 Erscheinungsbild des selektiven Mutismus
1.1 Diagnostische Kriterien
1.2 Kulturell und entwicklungsbedingte Störungen des Sprechens
1.3 Normale Angst, unbegründete Angst und Vermeiden
1.4 Psychische Störungen, die mit selektivem Mutismus einhergehen können
2 Faktoren, die zur Entstehung der sozialen Ängstlichkeit und des selektiven Mutismus beitragen
2.1 Verursachende Bedingungen
2.2 Auslösende Bedingungen
2.3 Aufrechterhaltende Bedingungen
3 Therapeutische Behandlung und Selbsthilfe
3.1 Überblick über Behandlungsmöglichkeiten
3.2 Behandlungsschritte
3.2.1 Beobachtung des unfreiwilligen Schweigens und Aufbau von Veränderungsbereitschaft
3.2.2 Bearbeitung von ängstlichen und anderen negativen Gedanken
3.2.3 Entspannung von Körper und Kehlkopf
3.2.4 Konfrontation mit Angst und Sprechversuchen in Selbsthilfe und Therapie
3.2.5 Wie wird in einer Therapie vorgegangen?
3.2.6 Medikamente für besonders schwierige Fälle
3.3 Elternarbeit
3.3.1 Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern im Überblick
3.3.2 Praktisches Vorgehen für Eltern
3.4 Förderung durch Erzieher und Lehrer
4 Besonderheiten der Selbsthilfe bei selektiv mutistischen Jugendlichen und Erwachsenen
Anhang
Literatur
Hilfreiche Adressen
Arbeitsblätter
Sachregister
Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit selektivem Mutismus haben eine psychisch bedingte Sprech- und Kommunikationsstörung. In vertrautem Kreis reden sie spontan und ausgelassen, aber in bestimmten Situationen und in Gegenwart von Personen, die ihnen gar nicht oder kaum bekannt sind, fühlen sie sich unbehaglich, werden unruhig oder ängstlich erregt und schweigen. In solchen Momenten können sie nicht mehr Rede und Antwort stehen, obgleich ihre Sprachorgane und ihr Gehör normal entwickelt sind. Die meisten befürchten, beim Sprechen Fehler zu machen, für dumm gehalten und ausgelacht zu werden. Diese Überzeugung verschlägt ihnen in kritischen Situationen die Sprache. Darunter leiden sie und mit ihnen die Angehörigen.
Manchmal werden mutistische Personen für stumm gehalten oder für autistisch. Beides trifft nicht zu. Sie schweigen nur an bestimmten Orten, in Gegenwart von bestimmten Menschen oder bei bestimmten Themen. Betroffen sind etwa 0,3 bis 1,0 Prozent der Bevölkerung, die meisten davon sind Kinder im Vor- und Grundschulalter. Auch mutistische Jugendliche und Erwachsene bringen bei Fremden oder in prekären Situationen, z. B. vor der Klasse oder vor Gericht, kein Wort hervor. Ausprägungs- und Schweregrade des selektiven Mutismus sind individuell verschieden.
Selektiver Mutismus ist heute nicht mehr nur eine „allgemeine Störung der sozialen Funktionen“ wie es noch in der ICD-10 heißt (Internationale Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation WHO/Dilling et al., 2000). Weil mutistische Personen in bestimmten („selektiven“) Situationen sich unbehaglich fühlen, ängstlich erregt sind und deshalb schweigen, wird selektiver Mutismus den sozialen Angststörungen zugeordnet (DSM-5, 2013, 5. Revision des Diagnostischen Statistischen Manuals der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft). Angst vor Fehlleistungen und negativer Beurteilung durch andere steigern die innere Anspannung der Betroffenen in bestimmten Situationen, sodass sie nicht sprechen können oder das Sprechen vermeiden.
Angststörungen und selektiver Mutismus lassen sich besonders gut mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) behandeln, wie Therapiestudien be|10|legen. Selektiv mutistische Personen aller Altersgruppen können auf Kosten der Krankenkassen eine KVT machen. Sie werden vom Verhaltenstherapeuten gebeten, mitzuarbeiten und zwischen den Sitzungen viel zu üben. Das Schweigen lässt sich auch in Selbsthilfe mit Unterstützung eines zugewandten und empathischen Angehörigen oder Freundes beheben. Dieses Buch leitet dazu an.
Weil selektiver Mutismus besonders oft im Kindesalter vorkommt und am häufigsten Eltern mit ihren Kindern zur Therapie kommen, werden die meisten Selbsthilfe-Schritte am Beispiel von Kindern, unterstützt durch Eltern, Erzieher und Lehrkräfte1, dargestellt. Auf verblüffend ähnliche Weise können mutistische Jugendliche und Erwachsene ihre Sprechangst überwinden.
Für das Gelingen der Selbsthilfe bei selektivem Mutismus sind eine genaue diagnostische Einschätzung und ein individuelles Erklärungsmodell der Störung erforderlich. Entsprechend ist das Buch aufgebaut:
In Kapitel 1 wird der selektive Mutismus anhand von Beispielen aus der eigenen klinischen Erfahrung und anhand der internationalen Diagnosekriterien dargestellt und von anderen psychischen Störungen abgegrenzt.
In Kapitel 2 wird erläutert, welche Faktoren zur Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung der Störung beitragen.
In Kapitel 3 werden Selbsthilfemöglichkeiten vorgestellt, insbesondere solche, die in ihrer Wirkung wissenschaftlich überprüft und in der Praxis erprobt worden sind. Angehörige, Erzieher und Lehrer erhalten zahlreiche Hinweise.
Thema des 4. Kapitels sind Besonderheiten der Selbsthilfe bei Jugendlichen und Erwachsenen.
Das Buch kann zur Vorbereitung auf eine kognitive Verhaltenstherapie genutzt werden, dient aber hauptsächlich als Leitfaden für das Vorgehen in Selbsthilfe.
Selektiver Mutismus ist manchmal extrem hartnäckig, sodass die Bewältigung der sozialen Angst und Sprechhemmung viel Geduld erfordert. |11|Das habe ich von meinen eigenen Patienten gelernt und auch von vielen Kollegen und Supervisanden in intensiven Gesprächen mit und über selektiv mutistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie bei der Begleitung ihrer Behandlungen immer wieder gehört. Ihnen allen sei gedankt. Ich danke auch den HNO-Ärzten Dr. Klaus Buck, Essen, und Dr. Rainer Seidl, Berlin, für hilfreiche Hinweise zur Stimmbildung. Mein besonderer Dank gilt zum einen meinem Mann, Henner Schmidt-Traub, der die durch das Schreiben bedingte Einschränkung unserer Freizeit toleriert und mich technisch unterstützt hat. Zum anderen danke ich meiner Lektorin, Susanne Weidinger, für die wie immer zuverlässige Organisationsabwicklung und den großen Freiraum bei der Gestaltung des Buches.
Berlin, November 2018
Sigrun Schmidt-Traub
Um das Lesen zu erleichtern, wurde auf die Nennung der weiblichen und männlichen Form verzichtet. Obwohl größtenteils die männliche Form verwendet wird, sind immer beide Geschlechter gemeint.
Selektiver Mutismus tritt über die gesamte Lebensspanne auf, am häufigsten im Vor- und Grundschulalter. Ältere Personen mit selektivem Mutismus waren schon als kleine Kinder scheu, gehemmt und nicht in der Lage, in kritischen Situationen zu sprechen. Sie leiden auch noch im Erwachsenenalter unter unüberwindbar erscheinenden Sprech-Blockaden. Das Ausmaß des Schweigens und der Beeinträchtigung fällt individuell ganz unterschiedlich aus – von eher leicht bis umfassend und schwer. Wie jede körperliche oder psychische Erkrankung wird auch der selektive Mutismus von Belastungen gesteuert. Etliche selektiv mutistische Personen haben noch mehr psychische Auffälligkeiten, meistens sind es weitere Angststörungen oder Depressionen wie die folgenden Beispiele von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zeigen:
Beispiel: Laura
Die 4-jährige Laura reagiert nicht, wenn sie jemand anspricht, nicht einmal, wenn ihr beim Bäcker oder an der Wursttheke etwas Leckeres angeboten wird. Sobald sie angesprochen wird, erstarrt sie, wendet sich ab und schweigt. Im Kindergarten macht sie – wortlos – bei fast allen Aktivitäten mit. Zu Hause geht sie aus sich heraus, spielt ausgelassen mit ihren Geschwistern und redet manchmal wie ein Wasserfall.
Beispiel: Vanessa
Die 5-jährige Vanessa war immer auffallend ängstlich und zurückhaltend in Gegenwart von Fremden. Seit der Geburt ihres kleinen Bruders vor einem Jahr spricht sie nur noch mit ihren Eltern, der Oma mütterlicherseits und dem Familienhund. Kommt Besuch, |14|versteckt sie sich in ihrem Bett und wartet dort stundenlang, bis er wieder gegangen ist. Im Kindergarten schweigt sie genauso beharrlich und spricht mit niemandem. Sie erscheint dabei ziemlich entschlossen, sodass die Erzieherinnen ihr Verhalten als „trotzig“ und „oppositionell“ erleben, berichten die Eltern.
Beispiel: Sandra
Nach einem 14-tägigen Krankenhausaufenthalt bringt die 6-jährige Sandra, die immer schon leicht gehemmt wirkte, im Kindergarten kein Wort mehr hervor. Sie zieht sich nun zurück und weicht Blickkontakt aus, zeigt keinerlei Gefühlsregungen, weint nicht und gibt keine Geräusche von sich. „Das Kind ist autistisch“, meint eine Erzieherin. Zu Hause ist Sandra gelöst, fröhlich und häufig eine „Quasselstrippe“.
Beispiel: Denise
Die 8-jährige Denise ist in der Schule still und redet mit niemandem. Wird sie angesprochen, senkt sie den Kopf und gibt keinen Muckser von sich. Zu Hause ist sie völlig anders, lebhaft, redselig und ausgelassen. Weil sie sich nicht am Unterricht beteiligt, sind ihre schulischen Leistungen schwach, obwohl sie durchschnittlich begabt ist. Freunde hat sie nicht. Außerdem fürchtet sie sich vor Spritzen und kann auch nicht allein zu Hause bleiben.
Beispiel: Lucy
Die 9-jährige Lucy ist ängstlich und scheu. In der Schule schneidet sie in schriftlichen Arbeiten ordentlich ab, beteiligt sich aber nicht am Unterricht. Mit drei Schulfreundinnen flüstert sie nur. Diese sind ihr Sprachrohr beim Austausch mit den Lehrern. Sie lässt sich nur von ihrer Mutter zur Schule bringen, nicht vom Vater. Zu seinem Leidwesen redet sie nicht mit ihm und er kann sich nicht erklären, weshalb. In Abwesenheit der Mutter hat Lucy Trennungsangst und befürchtet, die Mama und der kleine Bruder könnten gekidnappt werden. Außerdem hat sie Angst vor Hunden, Menschenansammlungen und Aufzügen. Bei ängstlicher Erregung bekommt sie Kopf- und Bauchschmerzen.
|15|Beispiel: Jamal
Der 10-jährige Jamal ist vor knapp einem Jahr mit seiner Familie aus Syrien geflüchtet. In der Schule fällt er als sehr schüchtern auf, er schaut viel weg und spricht mit niemandem. Die Klassenlehrerin kann deshalb schlecht einschätzen, wie viel Deutsch er versteht. Er sprach auch nicht mit dem Vater einer syrischen Mitschülerin, den sie bat, mit ihm auf Syrisch zu reden. Mit seiner Mutter, die ihn bringt und abholt, kann sie das nicht klären, weil sie kaum Deutsch spricht. Mit ihr spricht Jamal ganz leise auf Syrisch. Die Anweisungen der Lehrerin scheint er teilweise zu verstehen, denn er arbeitet mit, orientiert sich aber wohl auch an den Mitschülern. In der Pause spielt er mit ihnen Fußball. Es besteht der Verdacht, dass er nicht nur Sprachschwierigkeiten, sondern auch selektiven Mutismus hat.
Beispiel: Lasse
Der 11-jährige Lasse erstarrt und verstummt, sobald jemand Kritik an ihm übt, egal ob es die Eltern, die Lehrer, der Fußball-Trainer oder Gleichaltrige sind. Mit jemandem, der ihn kritisiert, spricht er den ganzen Tag nicht mehr. Weil er eine leichte Sprechflüssigkeitsstörung hat, geht er in logopädische Behandlung und besucht eine Sprachförderschule (wie auch schon sein Vater).
Beispiel: Doro
Die 12-jährige Doro redet mit niemandem in der Schule, weder mit den Lehrern noch mit Klassenkameraden. Sie flüstert nur einer vertrauten Mitschülerin ins Ohr und bittet diese, für sie zu sprechen. Zudem hat sie Angst, in Klassenarbeiten zu versagen. Obwohl die Schule ganz in der Nähe ist, muss die Mutter sie täglich hinbegleiten und auch wieder abholen. Zu Hause kann sie mit der älteren Schwester ausgelassen und albern sein, manchmal streiten sie auch lautstark. Sobald mehr als vier Personen, die nicht zur Familie gehören, zu Besuch sind, schweigt sie. Doro behält die Mutter dauernd im Blick und lässt die Eltern nicht ausgehen, aus Angst, ihnen könnte Unheil zustoßen (Trennungsangst).
|16|Beispiel: Melanie
Die 13-jährige Melanie beteiligt sich nicht am Unterricht. Spricht sie ein Lehrer an, wendet sie sich brüsk ab, versteckt sich hinter ihren Haaren und bringt kein Wort hervor. Im Unterricht malt sie unablässig in ein Heft, um Blickkontakt zu vermeiden. Die Lehrer haben schon aufgegeben, sie zur Mitarbeit anzuregen, und lassen sie in Ruhe. Mit zwei Mädchen aus der Klasse tuschelt sie in der großen Pause, im Unterricht schreiben sie sich Briefe.
Beispiel: Markus
Der 14-jährige Markus spricht nicht mit Gleichaltrigen. In der Schule kommuniziert er nur mit der Klassenlehrerin, allerdings kaum hörbar, einsilbig oder nur pantomimisch. Auch mit seinen Eltern spricht er wenig. Er redet nur mit dem jüngeren Bruder, der ebenfalls schüchtern ist, normal, manchmal sogar fröhlich und laut, z. B. wenn beide Fußball auf dem Hof spielen.
Beispiel: Julian
Dem 15-jährigen Julian fällt es extrem schwer, andere Kinder und Erwachsene anzusprechen. Seit er wegen eines krassen Leistungsabfalls vor einem Jahr vom Gymnasium auf die Gesamtschule wechseln musste, spricht er mit keinem mehr außerhalb der Familie. Immer häufiger klagt er über Bauchschmerzen und weigert sich, in die Schule zu gehen. Seine Eltern nehmen ihm das übel, denn sie glauben, er „lüge“ und wolle nur zu seinem Vorteil „tricksen“.
Beispiel: Annika
Die 15-jährige Annika sitzt abgewandt und sichtlich angespannt auf der Stuhlkante, vermeidet Blickkontakt und beteiligt sich nicht am Gespräch. Ihre Eltern sagen, sie wolle eine Therapie machen, um mehr sprechen zu können. Annika errötet dabei, gibt aber keinen Laut von sich, nickt auch nicht. Von Kindheit an spricht sie zu Hause nur in „abgehackten“, oft unvollständigen Sätzen, außerhalb der |17|Familie fast gar nicht. Sie kann auch nicht telefonieren, weiß sich aber inzwischen zu helfen, indem sie sich z. B. eine Pizza übers Internet bestellt, berichtet die Mutter. Mit ihren beiden Freundinnen simst sie viel und tauscht sich auch in Internet-Foren aus.
Beispiel: Oliver
Der 16-jährige Oliver ist ein Nachkömmling; er hat vier wesentlich ältere Geschwister. Seit dem Umzug in die Großstadt (da war er 8 Jahre alt) spricht er nur noch innerhalb der Familie und mit zwei Freunden der großen Schwester. Freunde hat er nicht. In der Förderschule für emotional auffällige Jugendliche nickt er nur. Manchmal schreibt er dem Lehrer kleine Notizen. Verlangt jemand etwas von ihm, kann er ungehalten werden, mit dem Stuhl ruckeln und Türen zuknallen.
Beispiel: Sophie
Die 17-jährige Sophie spricht nicht im Unterricht. Sie wirkt verlangsamt und entwicklungsverzögert, obgleich sie nur leicht unterdurchschnittlich begabt ist. Wegen Sprachentwicklungsstörungen (Rhinophonie, einer Störung des Stimmklangs und der Artikulation infolge einer gestörten Nasenresonanz; Dyslalie, einer Störung der Aussprache; Dysgrammatismus, einer Störung der Anwendung grammatikalischer Regeln) geht sie auf eine Sprachheilschule. In der Therapie spricht sie nur beim Spielen – sehr schnell und kaum hörbar.
Beispiel: Jasmin
Die 28-jährige Jasmin erinnert sich, dass sie schon im Kindergarten immer am Rande saß und für sich allein spielte. Das Geschehen in der Gruppe verfolgte sie jedoch aufmerksam. Erst in der Grundschule fand sie eine Freundin, mit der sie unter vier Augen sprechen konnte. Am Unterricht nahm sie mündlich nicht teil. Heute ist sie immer noch gehemmt gegenüber weniger bekannten Personen und schweigt. Ist sie innerlich angespannt, spricht sie entweder kein Wort oder die Worte sprudeln nur so aus ihr hervor, die Stimme wird dann „brüchig“ und sie redet unüberlegt und zusammenhanglos. Mit nahestehenden Personen kann sie problemlos sprechen, auch mit Kollegen. Sie ist als Bürokauffrau in einem Handwerksbetrieb tätig.
|18|Beispiel: Greta