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Zwangsstörungen rufen gewöhnlich einen hohen Leidensdruck hervor und können die Lebensqualität des betroffenen Kindes oder Jugendlichen erheblich beeinträchtigen. Die neue Auflage des Ratgebers beschreibt die Erscheinungsformen von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen sowie die verursachenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen und berücksichtigt dabei aktuelle Erkenntnisse der Zwangsforschung. Anschaulich werden zudem verhaltenstherapeutische Behandlungsmöglichkeiten dargestellt. Teil I des Ratgebers richtet sich an erwachsene Leser und Teil II an betroffene Kinder und Jugendliche, die in leicht verständlicher Sprache die wichtigsten Informationen zu Zwangsstörungen erhalten. Anhand des Beispiels eines 13-jährigen Jungen, der unter einem beharrlichen Fragezwang, einem Tic und Trennungsangst leidet, sowie des Beispiels einer 16-Jährigen mit Wiederholungs-, Ordnungs-, Kontroll- und Waschzwängen wird veranschaulicht, wie mühsam der Weg aus einer Zwangsstörung sein kann, aber auch wie diese bewältigt werden kann. Durch die Beispiele wird nachvollziehbar, wie ein individuelles Störungsmodell entwickelt werden kann, wie Ziele zur Bewältigung der Zwänge daraus abgeleitet werden können und wie schließlich die Behandlung der Zwangsstörung geplant und durchgeführt werden kann. Die Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern und Erzieher erhalten konkrete Hinweise zur Selbsthilfe und zur Bewältigung von Zwängen.
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Sigrun Schmidt-Traub
Zwänge bei Kindern und Jugendlichen
Ein Ratgeber für Kinder und Jugendliche, Eltern und Therapeuten
3., überarbeitete Auflage
Dr. rer. pol., Dipl.-Psych., Dipl.-Soz. Sigrun Schmidt-Traub, Studium der Psychologie und Soziologie in Tübingen, Hamburg, Berlin, Frankfurt und an der Yale University in New Haven (USA). Promotion an der FU Berlin. Ausbildung in Verhaltens-, Gesprächspsycho- und Hypnotherapie. Eigene psychotherapeutische Praxis und Lehrtätigkeit an Universitäten. Dozentin und Supervisorin an verschiedenen Ausbildungsinstituten für Klinische Verhaltenstherapie.
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Illustrationen: Gilla Rost, Essen; www.gillarost.de
Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
3., überarbeitete Auflage 2021
© 2006, 2013 und 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3070-6; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3070-7)
ISBN 978-3-8017-3070-3
https://doi.org/10.1026/03070-000
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Von kleinen und großen Patienten1 habe ich das Meiste, was ich über Zwänge weiß, gelernt und bin ihnen sehr dankbar dafür!
Bezeichnend für eine Zwangsstörung sind wiederkehrende, unerwünschte und aufdringliche Gedanken, die oft zu Zwangshandlungen führen, bei denen Widerstand nicht fruchtet. Zwangsgedanken und -handlungen werden größtenteils als quälend erlebt. Dieses Buch soll Kinder und Jugendliche, die unter einer Zwangsstörung leiden, sowie ihre Eltern über die Entstehung, den Verlauf und die Behandlung von Zwangsstörungen aufklären und sie zu einer psychotherapeutischen Behandlung oder zur Selbsthilfe anregen.
Das Buch besteht aus 2 Teilen. Der erste Teil ist an Eltern und weitere Interessierte gerichtet; der zweite an betroffene Kinder und Jugendliche.
Im Teil I wird zunächst mit Beispielen aus der therapeutischen Praxis veranschaulicht, was unter Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zu verstehen ist. Es folgen Hinweise zur Diagnose einer Zwangsstörung entsprechend den international gültigen Diagnosekriterien. Danach wird auf die Entstehungsbedingungen und das Entwicklungsmodell von Zwangsstörungen eingegangen. Schließlich werden therapeutische Schritte vorgestellt, aus denen sich Selbsthilfemöglichkeiten zur Bewältigung von verschiedenen Erscheinungsformen der Zwangserkrankung ableiten lassen.
Im Teil II werden Kinder und Jugendliche, die unter Zwängen leiden, angesprochen, um sie zu ermutigen, ihren Zwängen den Kampf anzusagen. Sie bekommen ein Bild von der Zwangsstörung und ihrer Entstehung vermittelt und erfahren, wie sie ihre Zwänge bewältigen können.
Das vorliegende Buch bietet Kindern und Jugendlichen, die unter Zwängen leiden, und ihren Eltern eine sachkundige Unterstützung beim Abbau |6|der Zwänge in Selbsthilfe. Vielleicht werden auch diejenigen, die unter einer besonders schweren Zwangsstörung leiden, von der Lektüre zu einer Psychotherapie angeregt und darauf vorbereitet. International gilt Kognitive Verhaltenstherapie als Methode der Wahl bei Zwängen.
Berlin, im Herbst 2020
Sigrun Schmidt-Traub
Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird im Text in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen alle Geschlechter (m/w/d). Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
Vorwort
Teil I Für Eltern, Erzieher und Therapeuten
1 Erscheinungsbild und Besonderheiten von Zwängen
1.1 Harmlose Marotten und zwanghafte Gewohnheiten
1.2 Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
1.3 Internationale Zwangsdiagnosen und verwandte Störungen
1.4 Besonderheiten und Schwere der Zwangsstörung
1.5 Zwänge und andere psychische Störungen
1.6 Häufigkeit von Zwängen und Erkrankungsbeginn
1.7 Risikofaktoren und Entstehung von Zwängen
1.8 Die Störungsmodelle von Laula und Michael
2 Therapeutische Vorgehensweise – Anleitung zur Selbsthilfe
2.1 Diagnostische Einschätzung
2.2 Selbstbeobachtung
2.3 Therapeutische Bausteine
2.4 Bewältigungsschritte bei unterschiedlichen Zwangsformen
2.4.1 Waschen, Duschen, Zähneputzen, Reinigen
2.4.2 Wiederholen von Handlungen wie Zählen, Berühren, Bewegen, Lesen usw.
2.4.3 Zwanghafte Kontrollhandlungen
2.4.4 Sammeln und Horten
2.4.5 Bewältigung von Zwangsgedanken
2.5 Vorbeugen gegen Rückschritte und Rückfälle
2.6 Psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten
2.7 Medikamentöse Behandlung
2.8 Behandlung von schweren Fällen mit tiefer Hirnstimulation
2.9 Die Behandlungsverläufe von Michael und Laula
Teil II Für betroffene Kinder und Jugendliche
1 Blödsinnige Gedanken und alltägliche Macken
2 Zwänge
3 Art, Schwere und Vorkommen von Zwängen
4 Hast du noch mehr psychische Auffälligkeiten?
5 Entstehung einer Zwangsstörung
6 Wirkungsvolle Hilfen zur Überwindung von Zwängen
6.1 Aufklärung
6.2 Konfrontation
6.3 Kein Vermeiden mehr
6.4 Veränderung des zwanghaften Denkens
6.5 Reine Zwangsgedanken
6.6 Normalität im Alltag
7 Zum Abschluss: Mias Zwangsabbau
Anhang
Neuropsychologische und neurochemische Einflüsse auf Zwänge
Zwangsstörungen und infektiöse Erkrankungen
Zwangsdiagnosen nach ICD-10 und DSM-5
Exploration von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen bei Kindern und Jugendlichen
Fortschreitende (progressive) Muskelentspannung nach Jacobson
Kontakt- und Internetadressen
Literatur
Sachregister
In Teil I wird auf das Erscheinungsbild und die Diagnostik der Zwangsstörung, auf ihre Besonderheiten, Risikofaktoren, Entstehung und ihren Verlauf sowie auf Behandlungsmöglichkeiten eingegangen.
Marotten sind Anflüge von zwanghaft erscheinenden Handlungen, die jeder kennt: Wir räumen den Schreibtisch penibel auf, klopfen auf Holz oder sagen toi-toi-toi und hoffen dabei auf Glück. Kinder versuchen, nicht auf Plattenfugen zu treten, weil sie damit Unglück verhindern wollen. Einige setzen auf Glück bringende Zahlen oder wiederholen Reime und Beschwörungsformeln. Um das Glück spielerisch heraufzubeschwören, zupfen sie die Blütenblätter von Gänseblümchen oder Margariten einzeln ab und skandieren dazu „sie liebt mich, sie liebt mich nicht ...“. Manchmal wird eine bestimmte Melodie zum Ohrwurm.
Jeder hat bisweilen besorgte Gedanken. Manche führen zu Schreckreaktionen, etwa beim Fliegen durch Luftlöcher – „Wir stürzen gleich ab!“ oder auf der Autobahn „Der Laster vor uns schert aus!“ oder beim Blick auf den Kalender „Morgen ist Freitag, der 13.!“ Die meisten Menschen schrecken auf beim plötzlichen Gedanken, die Wohnungstür sei noch offen, das Bügeleisen an oder der Herd nicht ausgeschaltet.
Normalerweise werden solche Gedanken für etwas überzogen gehalten. Manchmal sind es nur spielerische, leicht abergläubige Gewohnheiten. Zumindest ist den Betroffenen klar, dass in Wirklichkeit nichts Ernsthaftes geschieht. Sie können die vorgestellte Katastrophe abschütteln oder mit einem Schmunzeln beenden. Damit ist für sie die Sache erledigt. Bei Personen mit einer Zwangsstörung ist das anders: Sie fühlen sich weiterhin bedroht, schuldig oder unvollständig. Infolgedessen müssen sie sich immer wieder rückversichern, dass nichts Schlimmes passiert oder von ihnen etwas nicht ganz richtig bzw. vollends abgeschlossen wurde.
Neben Marotten und sorgenvollen Gedanken gibt es noch gewohnheitsmäßige Abläufe oder Rituale, die Zwängen ähneln. Rituale gehören zur kindlichen Entwicklung und werden von Kindern als angenehm erlebt. Es sind lieb gewordene Gewohnheiten, die Alltagsängste abmildern. |12|Gute-Nacht-Rituale – mit Vorlesen, Geschichtenerzählen oder Beten – vermitteln Kindern ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeit. Bei geregelten Mahlzeiten nach dem Kindergarten oder der Schule schildern Kinder ihre besonders bewegenden Erlebnisse, erfahren Anteilnahme und gefühlsmäßige Entlastung. Das abendliche Zubettgeh-Ritual wird mit Duschen und Zähneputzen eingeleitet und vielleicht mit einer Geschichte abgerundet. Mit einem Ritual beginnt auch das Aufstehen am nächsten Morgen. Alltägliche Rituale strukturieren den Tag und geben Orientierung und Halt. Zahllose festliche Rituale – an Geburtstagen, Weihnachten, Ostern, bei der Einschulung, Kommunion, Konfirmation, Eheschließung und Beerdigung – bieten Gelegenheit für intensive emotionale Erlebnisse und binden den Einzelnen enger in das Gemeinschaftsleben ein.
Demgegenüber sind zwanghafte Gedanken, Handlungen und Rituale höchst unangenehm und belastend. Alltägliche Rituale, Verhaltensweisen und Gedanken gehen in zwanghafte Gewohnheiten über, sobald Kinder oder Jugendliche wiederholt den inneren Drang verspüren, unbedingt und immer wieder auf eine bestimmte Art und Weise zu reagieren. Gleichzeitig fühlen sie sich unwohl, befürchten Unheil und sind erregt. Durch die Zwangshandlung lassen Unruhe und Angst nach, sie werden „neutralisiert“.
Zwanghaftes Verhalten wie dreimal die Tür aufmachen und wieder schließen oder alle Stecker rausziehen erscheint anderen übertrieben, wenn nicht sogar unsinnig. In ruhigen, besonnenen Momenten halten die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihre zwanghaften Impulse und Handlungen meist auch für unvernünftig, manche sind aber doch etwas unsicher.
Zwänge sind sehr belastend, denn der Druck, auf einen schrecklichen Gedanken hin oder bei einem unbehaglichen Gefühl eine Zwangshandlung ausführen zu müssen, ist stark und meistens höchst unangenehm. Viele haben keine Ahnung, was genau ihnen unheimlich ist. Dennoch fühlen sie sich unruhig und unwohl. Sie hätten gerne mehr Gewissheit und Sicherheit. Einige wissen, wovor sie sich fürchten – vor Ansteckung, Verschmutzung oder Verletzung. Sie wollen entweder Schaden vermeiden oder etwas vervollständigen. Die dranghaften Zwangsgedanken (vgl. S. 17) gehen mit unangenehmen Gefühlen (Unruhe, Angst oder Ekel) einher. Wie noch zu zeigen sein wird, schwächt zwar zwanghaftes Han|13|deln (vgl. S. 19) wie Händewaschen oder Türschlösser kontrollieren das unangenehme Gefühl – aber nur für kurze Zeit. Bald kehrt es wieder. Weil diese dranghaften Gedanken und negativen Gefühle so hartnäckig wiederkehren, zermürben sie allmählich und führen zur Beeinträchtigung im Alltag und zu depressiven Verstimmungen.
Mit Logik und Vernunft ist den Zwangsgedanken und -handlungen nicht beizukommen. Sie lassen sich auch nicht einfach unterdrücken. Bei diesen Zwängen handelt es sich um psychische Störungen von leichtem bis schwerwiegendem Ausmaß.
Zwänge können sehr früh beginnen. Bei einigen Kindern treten sie bereits im Vorschulalter auf. Etwas häufiger kommen sie bei 8- bis 11-Jährigen, besonders bei Jungen, vor, noch mehr mit Beginn der Pubertät und am häufigsten im Erwachsenenalter zwischen 20 und 30 Jahren.
Um Zwänge und ihren Verlauf zu veranschaulichen, werden im Folgenden zwei typische Fälle vorgestellt: Einmal ist es die Zwangsstörung eines 12-jährigen Jungen und zum anderen die einer 16-jährigen Jugendlichen. Das Erscheinungsbild und der Verlauf der Zwangsstörung der beiden werden den Leser durch Teil I des Ratgebers begleiten.
Beispiel: Michael (12 Jahre) leidet unter Zwangsgedanken, Fragezwang und Waschzwang
Seit drei Jahren, besonders stark seit über einem Jahr, wird Michael von der Angst gequält, seinem Vater könnte etwas Schlimmes zustoßen. Laut Eltern ist er ein „Papa-Kind“ und sorgt sich den ganzen Tag um seinen Vater. Während er darüber spricht, muss er weinen. Immer wieder ruft er ihn tagsüber am Arbeitsplatz unter irgendeinem Vorwand an. Beim Zubettgehen nimmt die Sorge um den Vater überhand: Dann muss Michael besonders hartnäckig kontrollieren, ob es ihm gut geht. Er kommt 10- bis 20-mal und mehr aus seinem Zimmer, um den Vater zu fragen, ob er sich auch wirklich wohlfühlt. Er scheint zu erwarten, dass ihm jeden Moment etwas Verheerendes zustoßen könnte, und er, Michael, dann dafür verantwortlich wäre.
|14|Der Vater macht sich Sorgen über das Verhalten seines Sohnes. Gleichzeitig fühlt er sich aber auch belästigt und „genervt“ von seinem beharrlichen Kontrollieren. Da der Junge oft stundenlang wach ist und sich Sorgen macht, legt sich der Vater ein- bis zweimal die Woche zu ihm ins Bett, um ihn zu beruhigen. Michael schläft dann sofort ein.
Auf die Frage, was dem Vater Schreckliches passieren könnte, hat Michael zunächst keine Antwort. Erst durch weiteres Fragen und Überlegen wird dem Jungen allmählich klar, dass er Verlustangst hat. Der Vater könnte schwer erkranken und sterben – genau wie sein jüngerer Bruder, Michaels Onkel. Vor 3 Jahren erkrankte dieser an Krebs und starb im Alter von 30 Jahren. Da war Michael 9 Jahre alt. Keiner sprach damals mit ihm über Sterben und Tod. Infolgedessen gelang es ihm auch nicht, den Verlust richtig zu verarbeiten. Seither kommt immer häufiger der schreckliche Gedanke in ihm auf, er könnte auch den Vater verlieren. Im vergangenen Jahr steigerten sich die innere Anspannung und der Kontrollzwang ins schier Unerträgliche.
Seit einem halben Jahr muss Michael sich außerdem mehrfach die Hände waschen, nachdem er verschiedene „Schulsachen“ berührt hat. Er wäscht sie, weil er sich vor dem Nägelkauen seiner Nebensitzerin in der Schule „ekelt“: Diese beißt sich die Nägel und Fingerkuppen blutig. Er befürchtet, sie könnte mit ihren „ekligen“ Fingern seine Schulmaterialien berührt haben. Weil er es nicht mehr neben ihr aushalten konnte, setzte er sich an einen anderen Platz. Obwohl sie seine Sachen nun nicht mehr „beschmutzen“ kann, schafft er es nicht, die ekligen Vorstellungen abzustellen und mit dem übertriebenen Händewaschen aufzuhören. Das Bild der abgenagten Finger hat er mehrfach am Tag vor Augen und verspürt dann jedes Mal den Drang, sich die Hände gründlich zu waschen.
Außerdem wäscht er sich die Hände, nachdem er die Mülltüte weggebracht, schimmeliges Obst gesehen oder „etwas Dreckiges in der Ecke angefasst“ hat. Zusätzlich zum notwendigen „normalen“ Händewaschen wäscht er sich etwa 15- bis 30-mal am Tag die Hände, oft mehrfach hintereinander.
Schließlich hat Michael noch verschiedene Gesichts-Tics (vgl. S. 23), die zeitgleich mit den Zwängen auftraten.
|15|Im Verlauf einer vom Kinderarzt verordneten tiefenpsychologischen Behandlung haben die Zwänge in den letzten sieben Monaten zugenommen. Weil die Mutter ihre Zwänge mit einer kognitiven Verhaltenstherapie in den Griff bekommen hatte, sorgte sie für einen Therapiewechsel.
Beispiel: Laula (16 Jahre) quält sich mit Zwangsgedanken, Zählzwang, wechselnden Wiederholungs-, Ordnungs- und Waschzwängen
Seit ungefähr zwei Jahren muss Laula bei vielen Alltagsverrichtungen bis 3 zählen, wenn nicht sogar jeweils 3-mal hintereinander bis 3, z. B. beim Verabschieden vom Wellensittich am Abend, beim Bettenmachen, Händewaschen oder Anziehen. Sie muss zudem 3-mal Texte lesen und 3-mal auf die Uhr schauen. Gegenstände kann sie nur mithilfe dieses Zählrituals hinstellen. Ihr Zählzwang ist ein verdeckter Zwang, weil er für andere nicht sichtbar ist. Ihre Zwänge sind für Laula zeitaufwendig und lästig, da sie ihren Handlungsspielraum einengen. Ihre wichtigsten Zwänge laufen wie folgt ab:
Beim Bettenmachen am Morgen schüttelt sie das Kissen 3-mal hintereinander jeweils 3-mal zurecht und klopft danach noch 9-mal darauf. Dasselbe wiederholt sie mit dem zweiten Kissen. Auf die halb gefaltete Bettdecke klopft sie 9-mal, auf die andere Hälfte ebenfalls 9-mal und auf die am Ende geglättete Decke nochmals 9-mal. Dann kommen die Kuscheltiere dran, die ähnlich abgeklopft und hingestellt werden. Es folgen die beiden Tagesdecken. Das Ganze dauert natürlich. Aber anders würde sie es nicht als richtig erledigt erleben.
Beim Verabschieden des Vogels geht sie zum Käfig und klopft jeweils 3-mal gegen den Futternapf, die Trinkröhre, das Käfigtor und die Sandwanne. Während sie den Spiegel zurechtschiebt, zählt sie wieder bis 3, dasselbe macht sie mit der Hänge und der Glocke. Am Ende sagt sie dem Vogel drei Dinge: (1) „Tschüs“, (2) „Ich hab dich lieb“ und (3) „Bis später“ und beendet das Ritual mit „Tschüs, tschüs, tschüs“.
Vor dem Zubettgehen muss sie ihren Bauch nach Knubbeln absuchen, um eine Krebserkrankung auszuschließen.
Im Bett kann sie das Licht nur ausschalten, wenn der Sekundenzeiger der Wanduhr auf einer Zahl steht, die sich durch drei teilen lässt.
|16|Laula kontrolliert auch die Steckdosen in der Wohnung und beobachtet genau, ob gesundheitsschädliche Funken oder Strahlen herauskommen. Hat sie ihr Handy oder Elektrogeräte angefasst, muss sie sich wegen der Strahlenbelastung die Hände übertrieben waschen. Das erfolgt wiederum nach einem starren Ablauf im Dreiertakt: 3-mal seift sie die Hände ein, reibt sie 3-mal in bestimmter Reihenfolge, spült sie 3-mal sauber und trocknet sie hernach 3-mal ab. Verlässt Laula als letzte die Wohnung, muss sie vorher 3-mal einen „Rundgang“ machen, bei dem sie Fenster, Herd, Kaffeemaschine, Kühlschrank und andere Geräte berührt und nach Funken kontrolliert. Getrieben wird sie dabei von der Befürchtung, es könnten „Strom und Strahlen auf die Haut kommen“ und sie schädigen. Im Anschluss an die Rundgänge durch die Wohnung muss sie sich nochmals die Hände zwanghaft waschen.
Die Mutter macht einen ähnlichen Kontrollgang und verschließt die Wohnungstür übertrieben gründlich. Währenddessen muss sie sich laut sagen, dass die Tür verschlossen ist. Außerhalb des Hauses fragt sich die Mutter noch einmal, ob alles zu ist. An manchen Tagen muss sie zurückkehren, um die Tür erneut zu überprüfen.
Laula weiß nicht, warum sie ihre Zwänge durchführen muss. Sie registriert nur den Drang und hinterfragt ihn nicht. Erst im Laufe der Gespräche wird ihr klar, dass sie Angst vor Krankheitserregern und Strahlenschäden hat. Sie befürchtet, durch Bakterien zu erkranken oder durch Verstrahlung einen Tumor zu bekommen. Dahinter steht wahrscheinlich Todesangst.
Schließlich spricht sie von ihrem ausgeprägten Ehrgeiz. Sie setzt sich ganz schön unter Leistungsdruck. In der Schule ist sie eine der besten Schülerinnen. Der Preis dafür ist jedoch sehr hoch: Für Klassenarbeiten und Tests arbeitet sie konzentriert drei Tage lang, „zu viel“ wie sie selber einräumt. Ehrgeizig ist sie auch beim Klavierspielen und bei Tennisturnieren.
Anders als bei Michael wechseln Laulas Zwänge häufig. Sie lernt recht schnell, einzelne Zwänge zu unterlassen. Dafür treten aber gleich wieder neue auf. So wäscht sie sich deutlich seltener die Hände und macht ihr Bett inzwischen ohne zwanghaften Ordnungs- und Klopfablauf. Stattdessen cremt sie nun die Haut zwanghaft ein – sie leidet unter Neurodermitis. Die Lotion verteilt sie 3-mal über die gesamte Körperhaut und reibt ihre Handgelenke 12-mal ein.
|17|So wechselhaft Laulas Zwangshandlungen sind, so konstant bleibt hingegen die Bedrohungsthematik mit dem entsprechenden Gefühl: Angst vor Krankheit und Tod. Wie Michael neigt sie zur Fehleinschätzung von drohenden Schäden. Die Angst vor Leistungsversagen ist nicht so ausgeprägt.
Schließlich hat Laula noch erhebliche Entscheidungsschwierigkeiten bei Alltagsverrichtungen, Hausarbeiten und Einkäufen. Selbst ganz gewöhnliche Entscheidungen traut sie sich kaum zu und hat auch Schwierigkeiten, das umzusetzen, wofür sie sich entschieden hat, befürchtet, es nicht richtig hinzubekommen. Außerdem geht sie ungern Risiken ein. Ihr fehlt es an ausreichendem Selbstwertgefühl.
Sowohl Michael als auch Laula vertrauen weder ihren Sinneseindrücken noch ihrem gesunden Menschenverstand, obgleich Michael erkennen kann, dass sein Vater wohlauf ist, und Laula, dass sie bei guter Gesundheit ist. Obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass nichts Gefährliches passieren kann, werden sie immer wieder innerlich erregt, ganz unsicher und zweifeln viel. Diese Zweifel führen wahrscheinlich zu dem Drang, zwanghaft zu fragen oder zu zählen. Danach haben sie für eine Weile mehr Ruhe.
In bis zu 90 % der Fälle treten zwanghafte Gedanken und Handlungen gemischt auf. Zwänge werden größtenteils von Angst gesteuert, aber auch von anderen Gefühlen wie Ekel, Unruhe aufgrund des Empfindens, nicht richtig gehandelt zu haben.
Zwangsgedanken (negative Intrusionen) sind plötzlich und dranghaft auftretende unangenehme Ideen, Impulse oder Vorstellungen. Sie drängen sich immer wieder auf, sind nicht gewollt und lassen die Person nicht mehr los. Die Inhalte sind meist unerfreulich und haben mit Verschmutzung, Ansteckung, Gewalt oder unmoralischen Themen zu tun, stimmen mit den |18|eigenen Ansichten und Werten nicht überein und werden als bedrohlich, scheußlich oder peinlich erlebt. Entsprechend gehen sie mit unbehaglichen Gefühlen einher – Angst, Ekel, Schuldgefühle oder Unvollkommenheitsempfinden gegenüber dem eigenen Verhalten oder der eigenen Person.
Beispiel
So leidet Michael unter der Angst, er könnte seinen Vater verlieren. Außerdem ekelt er sich vor den abgekauten Nägeln seiner Mitschülerin. Die Tics sind nicht mit unangenehmen Gedanken oder Befürchtungen verknüpft, sodass er sie leichter ertragen kann.
Demgegenüber fürchtet sich Laula vor Ansteckung und Strahlenschäden mit tödlichem Ausgang. Außerdem zeigt sie ein ausgeprägtes Streben nach Perfektionismus.
Bei Zwängen geht es entweder um das Bemühen, Schaden zu vermeiden oder etwas vollständig und richtig zu machen. Nach Häufigkeit des Vorkommens geordnet, nennen Kinder und Jugendliche mit Zwängen folgende Gedankeninhalte und Befürchtungen (manche sprechen von mehreren):
Am häufigsten Kontamination und Verschmutzung,
Aggressive oder sexuelle Gedanken,
Symmetrie oder Ordnung,
Befürchtung, dass etwas Schlimmes passiert,
Ekel vor Ausscheidungen wie Speichel, Urin oder Kot,
Furcht, andere zu verletzen,
Magisches Denken,
Sonstige Zwangsgedanken.
Gewöhnlich reagieren zwanghafte Kinder und Jugendliche entsetzt oder peinlich berührt auf manche zwanghaften Gedanken („Wie kann ich nur so etwas Scheußliches denken?“), denn sie widersprechen ihren Ansichten und Moralvorstellungen. Oft haben sie Angst, die Kontrolle zu verlieren und diese grässlichen, dranghaften Gedanken in die Tat umzusetzen. Sie befürchten vor allen Dingen, anderen oder sich selber Schaden zuzufügen. Dabei gibt es kein wirkliches Risiko – denn die Gefahr besteht nur in ihrem Kopf.
Einige erkennen in den Zwangsgedanken eigenes Denken und wissen, dass es im Grunde genommen unsinnig ist. Manche haben dagegen weniger Einsicht und denken, ihre zwangsbezogenen Überzeugungen tref|19|fen wahrscheinlich zu. Schließlich gibt es Personen, die glauben, dass ihre zwangsbezogenen Überzeugungen zutreffen. Kleine Kinder unter acht bis neun Jahren sind in ihrem Denken noch nicht reif genug, um dies richtig auseinanderhalten zu können.
Zwanghafte Bilder wie im folgenden Beispiel sind eher selten:
Beispiel
Eine Jugendliche sah bisweilen Fratzen und grimassierende Gesichter in ihrer Umgebung. Diese Wahrnehmungen erschreckten sie sehr und sie befürchtete, verrückt zu werden. Offensichtlich hing das mit der Sorge zusammen, den Anforderungen in ihrer Lehre nicht gewachsen zu sein: Sobald sie Versagensangst bekam oder Kritik und höhnische Reaktionen von anderen befürchtete, traten solche Bilder auf.
Zwanghaften Personen fällt es außerordentlich schwer, sich gegen negative Intrusionen und den entsprechenden negativen Gefühlen zur Wehr zu setzen. In der Not versuchen sie, diese Gedanken einfach zu unterdrücken. Dadurch treten sie aber noch häufiger auf. Die meisten verspüren einen Handlungsdruck und müssen die gedankenbezogenen negativen Gefühle durch irgendwelche Verhaltensweisen (Zwangshandlungen) abschwächen oder „neutralisieren“. In den weitaus meisten Fällen treten Zwangsgedanken kombiniert mit Zwangshandlungen auf.
Zwangshandlungen können übertriebene Kontroll-, Ordnungs- oder Sauberkeitshandlungen wie Händewaschen sein. Oder es sind mentale Handlungen auf der Vorstellungsebene wie Beten, Zählen oder lautloses Wörter wiederholen. Infolge des inneren Drucks, der oft durch Zwangsgedanken ausgelöst wird, muss das zwanghafte Verhalten trotz besseren Wissens immer wieder gleichförmig durchgeführt werden. Manchmal fühlt sich die Person auch dazu gezwungen, Regeln bei einer Pflichtübung streng zu befolgen. Einige kommen sich fast wie Roboter vor.
Mit Zwangshandlungen wird entweder bedrohlichen Ereignissen und negativen Gefühlszuständen vorgebeugt. Oder unangenehme Gefühle wie Unruhe, Angst, Schuldgefühle oder Ekel werden damit neutralisiert. Bei |20|innerem Drang müssen Personen, die zu Zwängen neigen, solange zwanghaft handeln, z. B. für Symmetrie und Ordnung sorgen, bis sie spürbar ruhiger werden. Damit vermeiden sie das negative Gefühl. Die Ruhe danach hält aber nur solange an, bis der nächste dranghafte Gedanke aufkommt.