Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (* 20. November 1858 auf Gut Mårbacka in der heutigen Gemeinde Sunne, Värmland, Schweden; † 16. März 1940 ebenda) war eine schwedische Schriftstellerin. Sie ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes und gehört zu den schwedischen Autoren, deren Werke zur Weltliteratur zählen. 1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und wurde 1914 als erste Frau in die Schwedische Akademie aufgenommen. Sie verfasste religiöse, fantasievolle und heimatverbundene Werke sowie Kinderbücher. Ein sehr bekanntes Werk Lagerlöfs ist "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen", das sie 1906 schrieb. Inhalt der "Gesammelten Werke": - Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen - Christus Legenden: Die heilige Nacht / Des Kaisers Vision / Der Brunnen der weisen Männer / Das Kindlein von Bethlehem / Die Flucht nach Aegypten / Zu Nazareth / Im Tempel / Das Schweißtuch der heiligen Veronika / Das Rotkehlchen / Unser Heiland und Sankt Peter / Die Lichtflamme - Das heilige Leben - Das Mädchen vom Moorhof - Der Fuhrmann des Todes - Der Ring des Generals - Die Königinnen von Kungahälla - Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen - Die Silbergrube und andere Erzählungen - Die Wunder des Antichrist - Ein Stück Lebensgeschichte und andere Erzählungen - Eine Herrenhofsage - Gösta Berling - Herrn Arnes Schatz - Jans Heimweh - Jerusalem – I. In Dalarne - Jerusalem – II. Im Heiligen Land - Legenden und Erzählungen: Die alte Agneta / Der Fischerring / Santa Caterina di Siena / Die sieben Todsünden / Unser Herr und der heil. Petrus / Die Flucht nach Ägypten / Das Schatzkästlein der Kaiserin / Die Grabinschrift / Römerblut / Die Rache bleibt nicht aus / Die Geisterhand / Tale Thott / Eine Geschichte aus Halltanäs / Vineta - Liljecronas Heimat - Schwester Olives Geschichte und andere Erzählungen - Unsichtbare Bande - Zacharias Topelius
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 7157
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen
I. Der Junge
Der Kobold.
Die wilden Gänse
Das gewürfelte Tuch.
II. Akka von Kebnekajse
Der Abend.
Die Nacht.
Das Gänsespiel.
III. Wildvogelleben
Im Bauernhofe.
Vittskövle.
Im Park von Övedkloster.
IV. Glimminghaus
Schwarze Ratten und graue Ratten.
Der Storch.
Der Rattenfänger.
V. Der große Kranichtanz auf dem Kullaberge
VI. Im Regenwetter
VII. Die Treppe mit den drei Stufen
VIII. Am Rönneberger Bach
IX. Karlskrona
X. Die Reise nach Öland
XI. Die Südspitze von Öland
XII. Die kleine Karlsinsel
Der Sturm.
Die Schafe.
Das Höllenloch.
XIII. Zwei Städte
Auf Meeresgrund.
Die lebende Stadt.
XIV. Die Sage von Samlaand
XV. Die Krähen
Die tönerne Brücke.
Der Krähenraub.
Die Hütte.
XVI. Die alte Bauerfrau
XVII. Vom Taberg bis Husquarna
XVIII. Der große Vogelsee
Die Stockente Jarro.
Der Lockvogel.
Die Trockenlegung des Sees.
XIX. Die Wahrsagung
XX. Die Bahn aus Fries
XXI. Die Geschichte von Karr und Graufell
Kolmården.
Karr.
Graufells Flucht.
Hilflos.
Die Nonnen.
Der große Nonnenkrieg
Die Rache
XXII. Der wunderschöne Garten
XXIII. In Närke
Ysätters-Kajsa.
Der Jahrmarktabend.
XXIV. Der Eisbruch
XXV. Die Erbteilung
XXVI. Im Bergwerkdistrikt
XXVII. Das Eisenwerk
XXVIII. Der Dalelf
XXIX. Das Bruderteil
Die alte Grubenstadt.
Die Geschichte von der Faluner Grube.
XXX. Der Walpurgisabend
Moor-Kirstens Geschichte.
XXXI. Bei den Kirchen
XXXII. Die Überschwemmung
Die Schwäne in Hjälstaviken
Der neue Kettenhund
XXXIII. Die Sage von Uppland
XXXIV. In Upsala
Der Student.
Das Frühlingsfest
Die Probe.
XXXV. Daunenfein
Die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.
Die Schwestern.
XXXVI. Stockholm
XXXVII. Der Adler Gorgo
Im Felsental.
In Gefangenschaft.
XXXVIII. Über Gästrikland dahin
Der kostbare Gürtel.
Der große Tag des Waldes
XXXIX. Ein Tag in Hälsingeland
Ein großes, grünes Blatt.
Die Neujahrsnacht der Tiere.
XL. In Medelpad
XLI. Ein Morgen in Ångermanland.
Das Brot.
Waldbrand
XLII. Västerbotten und Lappland
Die fünf Kundschafter.
Das wandernde Land.
Der Traum.
Am Ziel.
XLIII. Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads
Die Krankheit.
Das Begräbnis des kleinen Mads.
XLIV. Bei den Lappen
XLV. Gen Süden! Gen Süden!
Der erste Reisetag.
Auf dem Ostberge.
Die Sage von Jämtland.
XLVI. Die Sage vom Härjetal
XLVII. Värmland und Dalsland
XLVIII. Ein kleiner Herrenhof
XLIX. Das Gold auf der Schäre
Auf dem Wege nach dem Meer.
Das Geschenk der Wildgänse.
L. Silber im Meer
LI. Ein großer Herrenhof
Der alte Herr und der junge Herr.
Die Sage von Westgötland.
Der Gesang.
LII. Die Reise nach Bemmenhög
LIII. Bei Holger Nielsens
LIV. Der Abschied von den Wildgänsen
Christus Legenden
Die heilige Nacht
Des Kaisers Vision
Der Brunnen der weisen Männer
Das Kindlein von Bethlehem
Die Flucht nach Aegypten
Zu Nazareth
Im Tempel
Das Schweißtuch der heiligen Veronika
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Das Rotkehlchen
Unser Heiland und Sankt Peter
Die Lichtflamme
1
2
3
4
5
Das heilige Leben
Erster Teil
Die Grimö
In der Kirche
Sohn und Eltern
Die Motorjacht Najade
Das Schulhaus
Die Hügel
Das Meer
Die Segelfahrt
Der Schlechteste der Schlechten
Zweiter Teil
Lotta Hedman
Die schöne Musik
Die Mitkonfirmandin
Hånger
Die Begegnung
Der Pfarrhof
Vorbereitungen
Die Flucht
Der lange Tag
Der Morgen
Dritter Teil
In Trauer
Ein Brief von Hånger
Die Riesen von Hånger
Der Torpfosten
Jung-Joel
Der Fischfang mit dem Treibnetz
Die Predigt von der Heiligkeit des Lebens
Das fünfte Gebot
Schluß
Das Mädchen vom Moorhof
1
2
3
4
5
6
Der Fuhrmann des Todes
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
Der Ring des Generals
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Die Königinnen von Kungahälla
Wo einst das große Kungahälla stand ...
Die Waldkönigin
Sigrid Storråda
Astrid
I
II
III
IV
Margareta Fredkulla
Die Königin auf der Ragnhildsinsel
Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen
Die Prinzessin von Babylonien
Magister Frykstedt
Das Heinzelmännchen von Töreby
Der Totenschädel
Wie der Adjunkt die Pfarrerstochter bekam
Zur Auswanderungsfrage
Der Sonnenfinsternistag
Die Legende des Luziatags
Der Artillerist
Stimmungen aus den Kriegsjahren – Rahels Weinen
Die verschollene Kirche
Der Nebel
Der kleine Matrose
Der Scheiterhaufen (Brief eines dänischen Kriegsgefangenen)
In memoriam – Albert Theodor Gellerstedt (Antrittsrede in der schwedischen Akademie den 20. Dez. 1914)
Die Himmelstreppe (Rede in der schwedischen Akademie am 20. Dezember 1920.)
Die Silbergrube und andere Erzählungen
Die Silbergrube
Schwester Olives Geschichte
Warum der Papst so alt geworden ist
Eine Geschichte aus Jerusalem
Der Hochzeitsmarsch
In der Gemeindestube
Man soll nie denken – Ein Märchen
Die Mausefalle
1
2
3
Die Holzbibel
Sophie Adlersparre
In den Fußstapfen des Riesen
Die geöffnete Türe – Eine Brandes-Erinnerung
Liljecronas letztes Konzert
Ein Emigrant
Traum vom Tagelöhner
Was es kostet
Das Rote Kreuz
Zur Erinnerung an die heilige Brigitta Rede, gehalten bei der Gedenkfeier in Vadstena
Rede, gehalten bei dem Ökumenischen Konzil in Stockholm 1925
Die Wunder des Antichrist
Einleitung
I. Das Gesicht des Kaisers
II. Roms heiliges Kind
III. Auf der Barrikade
Erstes Buch
I. Mongibello
II. Fra Gaetano
III. Die Patenschwester
IV. Diamante
V. Don Ferrante
VI. Don Matteos Aufgabe
VII. Die Glocken von San Pasquale
VIII. Zwei Kanzonen
IX. Die Flucht
X. Schirokko
XI. Das Fest des heiligen Sebastian
Zweites Buch
I. Die Frau eines großen Mannes
II. Panem et circenses
III. Der Verstoßene
IV. Das alte Martyrium
V. Das Mädchen mit dem eisernen Ring
VI. Fra Felices Testament
VII. Nach dem Wunder
VIII. Ein Jettatore
IX. Der Palazzo Geraci und der Palazzo Corvaja
X. Falco Falcone
XI. Sieg
Drittes Buch
I. Die Oase und die Wüste
II. In Palermo
III. Die Heimkehr
IV. Nur von dieser Welt
V. Eine Freske von Signorelli
Ein Stück Lebensgeschichte und andere Erzählungen
Ein Stück Lebensgeschichte
Das Mädchen vom Moorhof
1
2
3
4
5
6
Gottesfriede
Der Luftballon
Der erste im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts
Die Legende von der Christrose
Der Wechselbalg
Der Spielmann
Noch ein Stück Lebensgeschichte (Geschrieben zu meinem fünfzigsten Geburtstag)
Die erste Prophezeiung
Oceola
Meine Rose im Walde
Wie dunkel ist es doch unter der Linde
Die Aufnahmeprüfung
Die zweite Prophezeiung
Eine Herrenhofsage
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Gösta Berling
Erster Teil
Einleitung – Der Pfarrer
Der Bettler
Die Christnacht
Das Weihnachtsfestmahl
Gösta Berling, der Poet
La cachucha
Der Ball auf Ekeby
Die Auktion auf Björne
Die junge Gräfin
Gespenstergeschichten
Ebba Dohnas Geschichte
Mamsell Marie
Vetter Kristoffer
Lebenswege
Zweiter Teil
Buße
Das Ekebyer Eisen
Liliencronas Heim
Die Hexe vom Hochgebirge
Frau Musika
Der Pfarrer von Broby
Die tönernen Heiligen
Gottes Gesandter
Alte Lieder
Der Tod, der Befreier
Die Dürre
Des Kindes Mutter
Das Mädchen aus Nygord
Der Markt zu Broby
Der Schatz des Pfarrers von Broby
Margarete Celsing
Herrn Arnes Schatz
Im Pfarrhof von Solberga
1
2
3
4
Auf den Brücken
Die Ausgesandte
Im Mondenschein
Verfolgung
1
2
3
Im Rathauskeller
1
2
3
4
Die Friedlose
Sir Archies Flucht
Über das Eis
Wellenrauschen
Jans Heimweh
Erster Teil
Das klopfende Herz
Klara Fina Gulleborg
Die Taufe
Das Impfen
Der Geburtstag
Der Weihnachtsmorgen
Das Scharlachfieber
Der Besuch in dem Bauernhof
Das Schulexamen
Die Wettprüfung
Der Fischfang
Agrippa
Verbotene Frucht
Zweiter Teil
Lars Gunnarsson
Das rote Kleid
Der neue Herr
Der Storsnipa
Der letzte Abend
Auf dem Landungssteg
Der Brief
August Där Nol
Der erste Oktober
Der Beginn des Traumes
Erbkleinode
In Seide
Sterne
In Erwartung
Die Kaiserin
Der Kaiser
Dritter Teil
Das Kaiserlied
Der siebzehnte August
Jan und Katrine
Das Begräbnis
Das sterbende Herz
Absetzung
Die Hauschristenlehre
Ein alter Troll
Der Sonntag nach Johanni
Sommernacht
Die Frau des Kaisers
Vierter Teil
Der Willkommgruß
Die Flucht
Zurückgehalten
Die Abschiedsworte
Katrines Tod
Des Kaisers Begräbnis
Jerusalem – I. In Dalarne
Geleit
Einleitung
Die Ingmarssöhne
I.
II.
III.
IV.
1. Buch
Beim Schulmeister
»Sie sahen den Himmel offen«.
Karin, Ingmars Tochter
In Zion
Die wilde Jagd
Hellgum.
Der neue Weg.
2. Buch
Der Untergang »L'Univers«.
Hellgums Brief
Der große Baumstamm
Auf dem Ingmarshofe
Hök Matts Eriksson
Die Auktion.
Gertrud.
Die alte Pröpstin.
Die Abreise.
Jerusalem – II. Im Heiligen Land
1. Buch.
Der heilige Fels und das heilige Grab.
Bo Ingmar Maansson.
Der Kreuzträger
»Mauern aus lautrem Gold und Tore von reinem Kristall.«
Gottes heilige Stadt Jerusalem.
Auf den Flügeln der Morgenröte
Baram Pascha
Blumen aus Palästina
In Gehenna.
Der Paradiesesbrunnen.
Ingmar Ingmarsson
2. Buch
Barbro Svenstochter
Der Derwisch
In Tagen der Armut
Ingmars Kämpfe
Auf dem Ölberge
»Wir werden uns wiedersehen!«
Heimkehr von der Wallfahrt
Legenden und Erzählungen
I. Legenden
Die alte Agneta
Der Fischerring
Santa Caterina di Siena
Die sieben Todsünden
Unser Herr und der heil. Petrus
Die Flucht nach Ägypten
Das Schatzkästlein der Kaiserin
II. Erzählungen
Die Grabinschrift
Römerblut
Die Rache bleibt nicht aus
Die Geisterhand
Tale Thott
Eine Geschichte aus Halltanäs
Vineta
Liljecronas Heimat
Der Sturm
Die Spinnrocken
Der Svartsjö
Schneewittchen
I
II
Der Pfarrer von Svartsjö
Der Traumpfannenkuchen
Der Brauttanz
Die Fuchsgrube
Der Speziestaler
Der Finnenpfarrer
Der Schmied von Henriksberg
Der Fähnrich
Am Werktage
Ein Frühlingsabend
Die Anklage
Der Ruhestein
Die Erdgeister auf Lövdala
Die Heimat
Schwester Olives Geschichte und andere Erzählungen
Schwester Olives Geschichte
Die Silbergrube
Warum der Papst so alt geworden ist
Im Gerichtssaal
Eine Geschichte aus Jerusalem
Der Hochzeitsmarsch
Unsichtbare Bande
Frau Fasta und Peter Nord
1.
2.
3.
4.
Die Legende vom Vogelnest
Das Steinmal
Die Vogelfreien
Reors Sage
Waldemar Atterdag brandschatzt Wisby
Mamsell Friederike
Der Roman einer Fischerfrau
Das Bild der Mutter
Ein entthronter König
Ein Weihnachtsgast
Onkel Ruben
Dunenkind
1.
2.
3.
4.
In den Kletterrosen
Zacharias Topelius
Vorwort
Zacharias Toppelius
Michael Toppelius
Zacharias Topelius, der Ältere
Kuddnäs
Uleåborg
Der Tod des Vaters
Bei Runeberg
Romantik
I.
II.
III.
IV.
Wirklichkeit
I.
II.
III.
Lyrik
l.
II.
III.
Das Jubelfest
Mystik
I.
II.
III.
Die Helsingforser Zeitung
Verlobung
Gegner
I. Der Despotismus.
II. Der Pietismus.
III. Der Nationalismus.
Die Domkirche zu Åbo
I.
II.
III.
Das Jahr 1848
I.
II.
Lieder an das Licht
Der Ring
Der Mann von der Straße
Der Verräter
I.
II.
III.
IV.
Der Eisgang
Der Rosengarten
Fußnoten
Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen
I. Der Junge
Der Kobold.
Sonntag, den 20. März.
Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen. Am liebsten mochte er schlafen und essen, sein größtes Vergnügen aber war, dumme Streiche zu machen.
Es war an einem Sonntagmorgen. Die Eltern des Jungen waren im Begriff, sich zum Kirchgang anzukleiden. Der Junge selbst saß in Hemdärmeln auf dem Tisch und dachte, wie schön es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen, so daß er ein paar Stunden lang sein eigener Herr sein konnte. »Jetzt kann ich doch Vaters Flinte herunternehmen und ein wenig damit schießen, ohne daß sich gleich jemand dahineinmischt,« sagte er zu sich selbst.
Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken des Knaben erraten, denn gerade als er in der Tür stand und gehen wollte, blieb er stehen und wandte sich nach ihm um.
»Wenn du nicht mit Mutter und mir in die Kirche willst,« sagte er, »so finde ich, du solltest auf alle Fälle eine Predigt hier zu Hause lesen. Willst du mir das versprechen?«
»Ja,« sagte der Junge, »das kann ich gerne tun.« Und er dachte natürlich, daß er nicht mehr lesen würde, als er Lust hatte.
Der Junge meinte, er habe seine Mutter sich noch nie so schnell bewegen sehen. In einem Nu war sie bei dem Wandgesims, nahm Luthers Postille herunter und legte sie auf den Tisch am Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch im Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich zog sie den großen Lehnstuhl an den Tisch heran, der im vorigen Jahr auf der Auktion im Vemmenhöger Pfarrhaus gekauft war, und in dem sonst niemand als der Vater sitzen durfte.
Der Junge saß da und dachte bei sich, die Mutter mache sich doch gar zu viele Mühe mit den Vorbereitungen, denn er hatte gar nicht die Absicht, mehr als eine Seite hier und da zu lesen. Aber nun war es zum zweitenmal gerade so, als wenn der Vater ganz durch ihn hindurchsehen könne, denn er sagte strenge: »Sieh nur zu, daß du ordentlich liest! Denn wenn wir nach Hause kommen, überhöre ich dir jede Seite, und hast du eine Seite übersprungen, so kannst du mir glauben, ich werd dich lehren!«
»Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang,« sagte die Mutter, wie um das Maß voll zu machen. »Du mußt dich wohl gleich hinsetzen und lesen, wenn du hindurchkommen willst,«
Und dann gingen sie endlich, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachsah, fand er, daß sie ihn in einer Falle gefangen hatten. »Die gehen nun dahin und sind stolz darauf, daß sie es so gut gemacht haben und ich hier nun, während der ganzen Zeit, daß sie fort sind, über der Predigt brüten muß,« dachte er bei sich.
Aber sein Vater und seine Mutter waren weit davon entfernt, stolz über irgend etwas zu sein; sie waren im Gegenteil ziemlich betrübt. Sie waren arme Häuslerleute und hatten nicht viel mehr Boden als einen Gartenfleck. In der ersten Zeit, als sie das Haus hatten, konnten sie nur ein Schwein und ein paar Hühner halten, aber sie waren selten strebsame und tüchtige Leute, und jetzt hatten sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war vorzüglich vorwärts gegangen mit ihnen, und hätten sie nicht an den Sohn denken müssen, so wären sie an diesem schönen Sonntagmorgen froh und vergnügt zur Kirche gegangen. Der Vater klagte darüber, daß er faul und nachlässig sei, in der Schule hatte er nichts getan, und er war so untüchtig, daß er ihn nur mit Not und Mühe die Gänse hüten lassen konnte. Und die Mutter bestritt keineswegs, daß das wahr sei, aber sie war am meisten betrübt darüber, daß er ein so wilder und arger Bube war, hart gegen Tiere und boshaft gegen Menschen, »Wenn doch Gott ihn beugen und ihm einen andern Sinn geben wollte,« sagte die Mutter. »Sonst wird er ein Unglück für sich selbst und für uns.«
Der Junge stand lange da und überlegte, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Aber dann wurde er mit sich selbst einig, daß es diesmal am besten sein würde, wenn er gehorchte. Er setzte sich in den Pfarrhauslehnstuhl und fing an zu lesen. Als er aber eine Weile die Wörter halblaut hergeplappert hatte, war er nahe daran, über sein eigenes Gemurmel einzuschlafen, und er merkte, daß er anfing einzunicken.
Draußen war das schönste Frühlingswetter. Man war zwar nicht weiter im Jahr als am zwanzigsten März, aber der Junge wohnte im West-Vemmenhöger Kirchspiel, weit unten im südlichen Schonen, und da war der Frühling schon im vollen Gange. Es war noch nicht grün, aber es war frisch und im Begriff, Knospen zu treiben. Da war Wasser in allen Gräben, und der Huflattich stand an den Grabenrändern in Blüte. All das kleine Krautwerk, das auf den Steinwällen wuchs, war braun und blank. Die Buchenwälder in der Ferne standen gleichsam da und schwollen und wurden mit jedem Augenblick dichter. Der Himmel war hoch und hellblau. Die Haustür stand angelehnt, so daß man in der Stube hören konnte, wie die Lerche sang. Die Hühner und Gänse gingen draußen im Hofe, und die Kühe, die die Frühlingsluft bis ganz in ihre Stände hinein spürten, gaben von Zeit zu Zeit ein Brüllen von sich.
Der Junge las und nickte und kämpfte mit dem Schlaf. »Nein, ich will nicht einschlafen,« dachte er, »denn dann komme ich heute vormittag nicht durch dies hier hindurch.«
Aber wie es nun kommen mochte, er schlief dennoch ein.
Er wußte nicht, ob er eine kurze oder eine lange Zeit geschlafen hatte, aber er erwachte davon, daß er ein schwaches Geräusch hinter sich hörte.
Auf der Fensterbank, gerade vor dem Jungen, stand ein kleiner Spiegel, und darin konnte man beinahe die ganze Stube sehen. In demselben Augenblick, als nun der Junge den Kopf erhob, fiel sein Blick in den Spiegel, und da sah er, daß der Deckel von der Mutter Truhe geöffnet war.
Die Mutter hatte nämlich eine große, schwere, eisenbeschlagene eichene Truhe, die niemand außer ihr selber öffnen durfte. Dort bewahrte sie all das auf, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und womit sie am allereigensten war. Da lagen ein paar alte Bauerntrachten aus rotem Tuch mit kurzem Leibchen und Faltenrock und perlengesticktem Brusttuch. Da waren gesteifte weiße Kopftücher und schwere silberne Spangen und silberne Ketten. Heutzutage wollten die Leute nicht mit dergleichen Sachen gehen, und die Mutter hatte oft daran gedacht, sich von dem alten Kram zu trennen, aber dann hatte sie es doch nicht übers Herz bringen können.
Nun sah der Junge ganz deutlich im Spiegel, daß der Deckel der Truhe offenstand. Er konnte nicht begreifen, wie das zugegangen war, denn die Mutter hatte die Truhe geschlossen, ehe sie fortging. Es sah der Mutter wahrlich nicht ähnlich, sie offenstehen zu lassen, wenn er allein zu Hause war.
Ihm wurde ganz unheimlich zumute. Er war bange, daß sich ein Dieb ins Haus geschlichen hatte. Er wagte nicht, sich zu rühren, sondern saß ganz still da und starrte in den Spiegel hinein.
Während er so dasaß und wartete, daß sich der Dieb zeigen würde, grübelte er darüber nach, was für ein schwarzer Schatten das wohl sein könne, der über den Rand der Truhe fiel. Er sah und sah und wollte seinen eigenen Augen nicht trauen. Aber das, was zu Anfang wie ein Schatten aussah, wurde immer deutlicher, und er entdeckte bald, daß es etwas Wirkliches war. Es war weder mehr noch weniger als ein Kobold, der rittlings auf dem Rande der Truhe saß.
Der Junge hatte freilich von Kobolden reden hören, aber er hatte sich nie gedacht, daß sie so klein seien. Der, der da auf der Truhe saß, war nicht höher als eine Handbreit. Sein Gesicht war alt und runzelig und bartlos, und er hatte einen langen schwarzen Rock und Kniehosen an und einen breitkrempigen schwarzen Hut auf dem Kopf. Er war sehr fein und zierlich, mit weißen Spitzen am Halse und am Handgelenk, Spangen an den Schuhen und Strumpfbändern mit Rosetten. Er hatte ein gesticktes Brusttuch aus der Truhe genommen und saß nun da und betrachtete die altmodische Arbeit mit so großer Andacht, daß er das Erwachen des Jungen nicht bemerkt hatte.
Der Junge war sehr erstaunt, den Kobold zu sehen, aber bange wurde er eigentlich nicht. Man konnte nicht bange vor einem werden, der so klein war. Und da nun der Kobold so von dem in Anspruch genommen war, was er vorhatte, daß er weder sah noch hörte, so dachte der Junge, es würde ein Spaß sein, ihm einen Streich zu spielen, ihn in die Kiste hinunterzustoßen und den Deckel zuzuschlagen oder etwas Ähnliches.
Aber der Junge war doch nicht so mutig, daß er den Kobold mit den Händen zu berühren wagte, und er sah sich deswegen in der Stube nach etwas um, womit er ihn hinunterstoßen könne. Seine Augen wanderten von der Bettbank nach dem Klapptisch und von dem Klapptisch nach dem Feuerherd. Er sah nach den Kochtöpfen und dem Kaffeekessel, die auf einem Gesims neben dem Feuerherd standen, nach dem Wassereimer an der Tür hinüber und nach den Kellen und Messern und Gabeln und Schüsseln und Tellern, die er durch die halbgeöffnete Schranktür sehen konnte. Er guckte zu des Vaters Flinte hinauf, die an der Wand neben den Bildern der dänischen Königsfamilie hing, und zu den Pelargonien und Fuchsien hinüber, die im Fenster blühten. Schließlich fiel sein Blick auf einen alten Fliegenfänger, der im Fensterrahmen hing.
Kaum hatte er den Fliegenfänger erblickt, als er ihn ergriff und hinlief und ihn am Rande der Truhe entlangschwenkte. Und er war selbst erstaunt über sein Glück. Er begriff kaum, wie es zugegangen war, aber er hatte den Kobold wirklich gefangen. Der Ärmste lag auf dem Grunde des tiefen Fliegenfängers, den Kopf nach unten und konnte nicht in die Höhe kommen.
Im ersten Augenblick wußte der Junge gar nicht, was er mit seinem Fang machen sollte. Er sorgte nur dafür, den Fliegenfänger hin und her zu schwingen, damit der Kobold keine Gelegenheit fand, hinaufzuklettern.
Der Kobold begann zu sprechen und bat so flehentlich, in Freiheit gesetzt zu werden. Er sagte, er habe ihnen seit vielen Jahren Gutes getan und verdiene eine bessere Behandlung. Wenn der Junge ihn nun freiließ, wollte er ihm einen alten Speziestaler, einen silbernen Löffel und ein Geldstück schenken, das so groß sei wie der Deckel von seines Vaters silberner Uhr.
Der Junge fand ja gerade nicht, daß dies ein großes Anerbieten war, aber seit er den Kobold in seiner Macht hatte, war er bange vor ihm geworden. Er merkte, daß er sich auf etwas eingelassen hatte, was fremd und unheimlich war und daher nicht zu seiner Welt gehörte, und er freute sich nur, ihn loszuwerden.
Deswegen schlug er sofort ein und hielt den Fliegenfänger still, damit der Kobold herauskommen konnte. Aber als der Kobold beinahe oben war, fiel dem Jungen ein, daß er sich größere Reichtümer und alle möglichen Herrlichkeiten hätte ausbedingen sollen. Zum mindesten hätte er die Bedingung stellen sollen, daß ihm der Kobold die Predigt in den Kopf hineingehext hätte. »Wie dumm war ich, daß ich ihn losließ,« dachte er und fing an, den Fliegenfänger zu schütteln, damit der Kobold wieder hinunterfallen sollte.
Aber im selben Augenblick, als der Junge das tat, bekam er eine so gewaltige Ohrfeige, daß er glaubte, sein Kopf müßte zerspringen. Er flog erst nach der einen Wand hinüber und dann nach der andern, schließlich fiel er auf dem Fußboden um, und dort blieb er besinnungslos liegen.
Als er wieder erwachte, war er allein in der Stube. Von dem Kobold war keine Spur zu sehen. Der Deckel der Truhe war geschlossen, und der Fliegenfänger hing an seinem gewohnten Platz am Fenster. Hätte er nicht gefühlt, wie seine rechte Wange infolge der Ohrfeige brannte, so hätte er versucht sein können zu glauben, daß das Ganze ein Traum gewesen. »Aber Vater und Mutter werden doch behaupten, daß es nichts weiter gewesen ist,« dachte er. »Die ziehen aus Rücksicht auf den Kobold gewiß nichts ab. Es wird wohl am besten sein, wenn ich mich wieder hinsetze und lese.«
Aber als er an den Tisch herantrat, entdeckte er etwas Wunderliches. Es war doch unmöglich, daß die Stube größer geworden war. Woher konnte es denn aber nur kommen, daß er viel mehr Schritte machen mußte als sonst, um an den Tisch zu gelangen? Und was war denn in den Stuhl gefahren? Er sah nicht aus, als wenn er größer wäre als früher, aber er mußte erst auf die Sprosse zwischen den Stuhlbeinen steigen und dann klettern, um auf den Sitz zu gelangen. Und ebenso war es mit dem Tisch. Er konnte nicht über die Tischplatte sehen, ohne auf die Stuhllehne zu klettern.
»Was in aller Welt ist das nur?« sagte der Junge. »Der Kobold wird doch nicht den Lehnstuhl und den Tisch und auch das ganze Haus verhext haben!«
Die Postille lag auf dem Tisch, und sie sah so aus wie früher, aber auch damit mußte etwas nicht in der Ordnung sein, denn er konnte nicht dazu kommen, ein Wort zu lesen, ohne daß er geradezu mitten auf dem Buch stand.
Er las einige Zeilen, aber dann sah er zufällig auf. Dabei fiel sein Auge in den Spiegel, und da rief er plötzlich ganz laut: »Aber da ist ja noch einer!«
Denn im Spiegel sah er ganz deutlich einen winzig kleinen Burschen in Zipfelmütze und Lederhose.
»Der ist ja genau so gekleidet wie ich,« sagte der Junge und schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Aber da sah er, daß der kleine Bursche im Spiegel dasselbe tat.
Da zupfte er sich selber im Haar und kniff sich in den Arm und drehte sich rund herum, und augenblicklich machte der im Spiegel es ihm nach.
Der Junge lief ein paarmal rund um den Spiegel herum, um zu sehen, ob sich ein Männlein dahinter versteckt hielt. Aber da war keins, und da begann er vor Angst zu zittern. Denn nun begriff er, daß der Kobold ihn verhext hatte, und daß der kleine Bursche, dessen Bild er im Spiegel sah, er selber war.
Die wilden Gänse
Der Junge konnte sich nun gar nicht bequemen, zu glauben, daß er in einen Kobold verwandelt war. »Es ist wohl nichts weiter als Traum und Einbildung,« dachte er. »Wenn ich nur ein wenig warte, werde ich wohl wieder ein Mensch.«
Er stellte sich vor den Spiegel und schloß die Augen. Er öffnete sie erst wieder, nachdem ein paar Minuten vergangen waren, und erwartete dann, daß es vorübergegangen sei. Aber das war es nicht; er war und blieb gleich klein. Sonst glich er sich selbst, er war ganz so wie früher. Das flachsgelbe Haar und die Sommersprossen über der Nase und die Flicken an der Hose und die Stopfstelle an dem Strumpf, das war alles genau so, wie es zu sein pflegte, nur daß alles kleiner geworden war.
Nein, es konnte nichts nützen, stillzustehen und zu warten, das merkte er wohl. Er mußte etwas anderes versuchen. Und er fand, das klügste, was er tun konnte, war, daß er versuchte, den Kobold zu finden und Frieden mit ihm zu schließen.
Er sprang an die Erde herab und machte sich daran, zu suchen. Er guckte hinter Stühle und Schränke, und unter die Bettbank und hinter den Herd. Er kroch sogar in ein paar Mauselöcher hinein, aber es war ihm nicht möglich, den Kobold zu finden.
Die ganze Zeit, während er suchte, weinte er und betete und gelobte alle möglichen Dinge. Er wollte nie wieder jemand das Wort brechen, er wollte nie wieder boshaft sein, er wollte nie wieder bei der Predigt einschlafen. Wenn er nur wieder ein Mensch werden könne, dann wollte er auch tüchtig sein und ein guter und gehorsamer Junge. Aber was er auch versprach, es half nicht im geringsten.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er die Mutter hatte sagen hören, die Kobolde hielten sich mit Vorliebe im Kuhstall auf, und er beschloß, gleich da hinauszugehen und zu sehen, ob er den Kobold nicht finden könne. Zum Glück stand die Tür nur angelehnt, denn er hätte das Schloß nicht erreichen und sie öffnen können, aber nun gelangte er ohne Schwierigkeit hindurch.
Als er auf den Flur hinauskam, sah er sich nach seinen Holzschuhen um, denn drinnen in der Stube ging er natürlich auf Socken. Er überlegte gerade, was er mit den großen, klotzigen Holzschuhen anfangen sollte, aber im selben Augenblick sah er ein Paar kleine Schuhe auf der Türschwelle stehen. Als er sah, daß der Kobold auch die Holzschuhe verwandelt hatte, wurde ihm noch beklommener zumute. Es sah ja so aus, als wenn dies Elend lange währen sollte.
Auf der alten Eichenplanke, die vor der Haustür lag, hüpfte ein Spatz. Kaum hatte der den Jungen erblickt, als er »Tit, tit! Tit, tit!« rief. »Nein, seht doch nur den Gänsejungen Niels! Seht den Däumling! Seht den Däumling Niels Holgersen!«
Sogleich wandten sowohl die Gänse als auch die Hühner die Köpfe herum und es entstand ein schreckliches Gegacker. »Kickerikih!« krähte der Hahn, »das ist gut genug für ihn; Kickerikih, er hat mich an meinem Kamm gezupft.« – »Gut, gut, gut, gut, das ist gut genug für ihn!« riefen die Hühner, und so blieben sie dabei bis ins unendliche. Die Gänse flogen in einem dichten Haufen zusammen, steckten die Köpfe zusammen und fragten: »Wer kann das doch nur getan haben? Wer kann das doch nur getan haben?«
Aber das Sonderbarste bei dem Ganzen war, daß der Junge verstand, was sie sagten. Er war so erstaunt, daß er still auf der Treppenstufe stehen blieb und lauschte. »Das muß daher kommen, weil ich in einen Kobold verwandelt bin,« sagte er. »Darum kann ich die Sprache der Vögel verstehen.«
Er fand, es war unleidlich, daß die Vögel nicht aufhören wollten zu sagen, daß es gut genug für ihn sei. Er warf einen Stein nach ihnen und rief: »So schweigt doch still, ihr Lumpengesindel!«
Aber er hatte vergessen, daß er nicht so groß war, daß die Hühner bange vor ihm zu sein brauchten. Die ganze Hühnerschar fuhr auf ihn los und stellte sich rund um ihn herum auf und schrie: »Gut, gut, gut, das ist gut genug für dich!«
Der Junge versuchte zu entkommen, aber die Hühner liefen ihm nach und schrien, so daß die Ohren ihm beinahe abgefallen wären. Er wäre ihnen wohl nie entronnen, wenn nicht die Hauskatze des Weges gekommen wäre. Sobald die Hühner die Katze sahen, schwiegen sie still und taten so, als dächten sie an nichts weiter, als nach Würmern in der Erde zu scharren.
Der Junge lief schnell zu der Katze hin. »Liebe kleine Miez,« sagte er »du kennst ja alle Winkel und Schlupflöcher hier auf dem Hofe? Willst du mir nicht erzählen, wo ich den Kobold finden kann?«
Die Katze antwortete nicht sogleich. Sie setzte sich hin, legte den Schwanz hübsch in einen Kranz vor ihre Pfoten und starrte den Jungen an. Es war eine große, schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust. Ihr Haar war glatt und glänzend im Sonnenschein. Die Krallen hatte sie eingezogen, und die Augen waren ganz grau bis auf einen kleinen schmalen Spalt in der Mitte. Die Katze sah aus wie die personifizierte Frömmigkeit.
»Ich weiß recht gut, wo der Kobold wohnt,« sagte sie mit sanfter Stimme, »aber darum ist es nicht gesagt, daß ich es dir erzählen will.«
»Liebe Miez, du mußt mir wirklich helfen,« sagte der Junge. »Siehst du denn nicht, daß er mich verhext hat?«
Die Katze öffnete die Augen ein wenig weiter, so daß die grüne Bosheit herauszulugen begann. Sie spann und schnurrte vor Wohlbehagen, ehe sie antwortete: »Soll ich dir vielleicht helfen, weil du mich so oft am Schwanz gezogen hast,« sagte sie schließlich.
Da wurde der Junge wütend und vergaß ganz, wie klein und machtlos er war. »Ich kann dich noch einmal am Schwanz ziehen!« sagte er und fuhr auf die Katze los.
Im selben Augenblick war die Katze so verändert, daß der Junge kaum glauben konnte, es sei dasselbe Tier. Jedes Haar auf ihrem Leibe sträubte sich. Der Rücken krümmte sich, die Beine streckten sich, die Krallen kratzten in der Erde, der Schwanz wurde kurz und dick, die Ohren legten sich zurück, der Mund fauchte, die Augen standen weit offen und funkelten wie glühende Kohlen.
Der Junge wollte sich nicht von einer Katze bange machen lassen, sondern ging noch einen Schritt vor. Aber da fuhr die Katze mit einem Sprung gerade auf den Jungen los, warf ihn um und stellte sich über ihn, die Vorderpfoten auf seiner Brust und den Rachen über seiner Kehle.
Der Junge fühlte, daß die Krallen ihm durch die Weste und das Hemd in die Haut drangen, während die scharfen Eckzähne seine Kehle kitzelten. Er schrie aus Leibeskräften um Hilfe.
Aber es kam niemand, und er glaubte bestimmt, daß seine letzte Stunde geschlagen habe. Da merkte er, daß die Katze die Krallen einzog und seine Kehle freigab.
»So,« sagte sie, »jetzt mag es genug sein. Diesmal will ich dich um meiner Hausmutter willen loslassen. Ich wollte nur, daß du wissen solltest, wer von uns beiden jetzt der Stärkere ist.«
Damit ging die Katze ihrer Wege und sah ebenso glatt und fromm aus wie vorher, als sie kam. Der Junge war so verlegen, daß er kein Wort sagte, sondern sich nur beeilte, in den Kuhstall hineinzukommen, um nach dem Kobold zu suchen.
Da waren nicht mehr als drei Kühe. Aber als der Knabe in den Stall hineinkam, entstand ein Brüllen und Lärmen, so daß man gern hätte glauben können, da wären wenigstens dreißig.
»Muh, muh, muh!« brüllte Mairose. »Es ist nur gut, daß es noch Gerechtigkeit in der Welt gibt!«
»Muh, muh, muh!« stimmten sie alle drei ein. Er konnte nicht hören, was sie sagten, so riefen sie durcheinander.
Der Junge wollte nach dem Kobold fragen, aber er konnte sich kein Gehör verschaffen, weil die Kühe so loslegten. Sie benahmen sich so, wie sie zu tun pflegten, wenn er einen fremden Hund zu ihnen einließ. Sie schlugen mit den Hinterbeinen aus, rissen und zerrten an ihren Halsketten, drehten die Köpfe nach außen und stießen mit den Hörnern nach ihm.
»Komm du bloß heran!« sagte Mairose, »dann will ich dir einen Stoß versetzen, den du so bald nicht wieder vergißt!«
»Komm hierher,« sagte Goldlilie, »dann sollst du Erlaubnis haben, auf meinen Hörnern zu tanzen!«
»Komm nur her, dann sollst du fühlen, wie es schmeckte, wenn du mit deinen Holzschuhen nach mir warfst, wie du es diesen Sommer so oft getan hast!« brüllte Stern.
»Komm nur her, dann will ich dir die Bremse heimzahlen, die du mir ins Ohr gesetzt hast,« schrie Goldlilie.
Mairose war die älteste und klügste von ihnen, und sie war die allerzornigste, »Komm nur her,« sagte sie, »dann will ich dir alle die Male heimzahlen, wo du deiner Mutter den Milchhuker weggezogen hast, und alle die Male, wo du ihr ein Bein gestellt hast, wenn sie mit dem Milcheimer geschleppt kam, und alle Tränen, die sie hier um dich vergossen hat.«
Der Junge wollte ihnen sagen, er bereue, daß er schlecht gegen sie gewesen war, und daß er so etwas nie wieder tun wolle, wenn sie ihm nur sagen wollten, wo der Kobold sei. Aber die Kühe hörten nicht nach ihm hin. Sie wurden so erregt, daß er bange wurde, eine von ihnen könne sich losreißen, und er hielt es für das beste, sich aus dem Kuhstall herauszuschleichen.
Als er wieder draußen war, befiel ihn eine große Verzagtheit. Er sah ein, daß niemand auf dem Hofe ihm helfen wollte, den Kobold zu finden. Und es würde wohl auch nicht viel helfen, wenn er ihn fand.
Er kroch auf den breiten Steinwall hinauf, der das Grundstück umgab und der mit Dornen und Brombeerranken bewachsen war. Da setzte er sich hin, um darüber nachzudenken, wie es werden sollte, wenn er nie wieder ein Mensch würde. Wenn nun der Vater und die Mutter aus der Kirche nach Hause kämen, würde große Verwunderung herrschen. Ja, im ganzen Lande würde man sich verwundern, und aus Ost-Vemmenhög und aus Torp und aus Skurup würden Leute kommen; aus der ganzen Vemmenhöger Heide würde man kommen, um ihn zu sehen. Und vielleicht würden der Vater und die Mutter ihn nach dem Kiriker Markt mitnehmen und ihn für Geld sehen lassen.
Nein, das war schrecklich zu denken. Er wollte nur wünschen, daß ihn nie ein Mensch mehr zu sehen bekam.
Es war schrecklich, wie unglücklich er war. Niemand in der ganzen Welt war so unglücklich wie er. Er war kein Mensch mehr, sondern ein Ungetüm.
Nach und nach ward es ihm klar, was es hieß, daß er kein Mensch mehr war. Jetzt war er von allem getrennt: er konnte nicht mit andern Knaben spielen, er konnte das Haus nicht nach den Eltern übernehmen, und er konnte nun gar kein Mädchen bekommen, um sich mit ihr zu verheiraten.
Er saß da und betrachtete sein Heim. Es war ein kleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus, das unter dem hohen, schrägen Strohdach wie in die Erde hineingedrückt dalag. Die Nebengebäude waren ebenfalls klein, und die Felder waren so schmal, daß ein Pferd nur mit genauer Not darauf umwenden konnte. Aber wie klein und ärmlich das Haus auch war, jetzt war es doch zu gut für ihn. Er konnte kein anderes Haus verlangen, als ein Loch unter dem Fußboden im Stall.
Das Wetter war so wunderbar schön. Es sickerte und es sproßte und es zwitscherte rings um ihn her. Er aber saß in tiefem Kummer da. Er konnte sich nie wieder über irgend etwas freuen.
Nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie heute. Und Zugvögel kamen dahergesaust. Sie kamen aus dem Ausland und waren über die Ostsee gereist, sie waren gerade auf Smygehuk zugesteuert, und jetzt waren sie auf dem Wege gen Norden. Da waren sicher viele verschiedene Arten, aber er konnte keine andere erkennen als die wilden Gänse; sie kamen in zwei langen Reihen geflogen, die sich in einem Winkel trafen.
Es waren schon mehrere Scharen von wilden Gänsen vorübergeflogen. Sie flogen hoch oben, aber er konnte sie doch rufen hören: »Jetzt geht's in die Berge! Jetzt geht's in die Berge!«
Als die wilden Gänse die zahmen Gänse sahen, die auf dem Hofe herumwatschelten, senkten sie sich zur Erde herab und riefen: Kommt mit! Kommt mit!
Die zahmen Gänse konnten sich nicht enthalten, einen langen Hals zu machen und zu horchen. Aber sie antworteten ganz vernünftig: »Wir haben es gut, so wie wir es haben. Wir haben es gut, so wie wir es haben.«
Es war, wie gesagt, ein wunderbar schöner Tag mit einer Luft, in der zu fliegen eine wahre Freude sein mußte, so frisch und so leicht. Und mit jeder neuen Schar von wilden Gänsen, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse mehr und mehr unruhig. Ein paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie Lust, mitzufliegen. Aber dann sagte immer eine alte Gänsemutter: »Seid doch nicht verrückt! Die da oben werden noch frieren und hungern.«
Einen jungen Gänserich erfaßte eine heftige Reiselust bei all dem Rufen. »Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit,« sagte er.
Und dann kam eine neue Schar, die ebenso rief wie die andere. Da schrie der junge Gänserich: »Wartet! Wartet! ich komme.«
Er breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft hinauf, aber das Fliegen war ihm etwas so ungewohntes, daß er wieder auf die Erde zurücksank.
Die wilden Gänse mußten seinen Ruf aber doch gehört haben. Sie kehrten um und flogen langsam zurück, um zu sehen, ob er kam.
»Wartet! Wartet!« rief er und machte einen neuen Versuch.
Dies alles hörte der Junge, während er da auf dem Steinwall lag. »Es würde wirklich schlimm sein,« dachte er, »wenn der große Gänserich davonfliegt. Vater und Mutter würden sehr ärgerlich darüber sein, falls er weg wäre, wenn sie aus der Kirche kommen.«
Während er so dachte, vergaß er abermals ganz, daß er klein und ohnmächtig war. Er sprang von dem Steinwall mitten in die Gänseschar hinein und schlang den Arm um den Gänserich. »Du sollst es schon lassen, fortzufliegen!« sagte er.
Aber gerade im selben Augenblick hatte der Gänserich entdeckt, wie er es anfangen mußte, um sich von der Erde emporzuheben. Er hatte keine Zeit, den Jungen abzuschütteln, der mußte mit ihm in die Luft hinauf.
Es ging so schnell aufwärts, daß dem Jungen die Luft wegblieb. Ehe es ihm klar wurde, daß er den Hals des Gänserichs freigeben mußte, war er so hoch oben, daß er sich totgefallen hätte, wenn er heruntergestürzt wäre.
Das einzige, was er tun konnte, um seine Lage ein wenig zu verbessern, war ein Versuch, auf den Rücken des Gänserichs hinaufzukommen. Er arbeitete sich wirklich da hinauf, wenn auch nicht ohne Mühe. Und es war auch keine leichte Sache, auf dem platten Rücken zwischen den beiden schwingenden Flügeln festzusitzen. Er mußte mit beiden Händen einen tiefen Griff in Federn und Flaumen hineinmachen, um nicht abzufallen.
Das gewürfelte Tuch.
Dem Jungen ward es so schwindelig, daß er lange nicht wußte, wie ihm war. Die Luft sauste und pfiff ihm entgegen, die Flügel bewegten sich, und es brauste in den Federn wie ein wahrer Sturm. Dreizehn Gänse flogen um ihn herum, und alle schlugen sie mit den Flügeln und schnatterten. Es flimmerte ihm vor den Augen, und es sauste ihm in den Ohren. Er wußte nicht, ob sie hoch oder niedrig flogen, oder wohin es mit ihnen ging.
Endlich kam er so weit zu sich, daß er begriff, er müsse sich klar darüber werden, wohin die Gänse mit ihm flogen. Aber das war nicht so leicht, denn er wußte nicht, woher er den Mut nehmen sollte, hinabzusehen. Er war fest überzeugt, daß ihn schwindeln würde, wenn er es versuchte.
Die wilden Gänse flogen nicht so sehr hoch, da der neue Reisekamerad nicht in der allerdünnsten Luft atmen konnte. Um seinetwillen flogen sie auch ein wenig langsamer als sonst.
Schließlich zwang der Junge sich doch, einen Blick auf die Erde hinabzuwerfen. Und es schien ihm, als liege unter ihm ein großes Tuch ausgebreitet, das in eine unglaubliche Menge kleiner und großer Würfel eingeteilt war.
»Wo in aller Welt bin ich nur hingekommen,« dachte er.
Er sah nichts anderes als Würfel an Würfel. Einige waren schief und einige waren länglich, aber überall waren da Ecken und gerade Seiten. Nichts war rund und nichts war gekrümmt.
»Was ist das doch für ein großes, gewürfeltes Tuch, das ich da unten sehe?« sagte der Knabe zu sich selbst, ohne eine Antwort von irgend jemand zu erwarten. Aber die wilden Gänse, die rings um ihn herumflogen, riefen sogleich: »Äcker und Wiesen. Äcker und Wiesen.«
Da begriff er, daß das große, gewürfelte Tuch das flache schonensche Land war, über das er hinflog. Und es ward ihm nach und nach klar, woher es so vielfarbig und gewürfelt aussah. Die hellgrünen Würfel erkannte er zuerst, das waren die Roggenfelder, die im Herbst besät waren und sich grün unterm Schnee gehalten hatten. Die gelblichgrauen Würfel waren Stoppelfelder, auf denen im letzten Sommer Korn gewachsen war, die bräunlichen waren Kleewiesen, und die schwarzen waren leere Rübenäcker oder umgepflügte Brachfelder. Die braunen Würfel mit den gelben Rändern waren wohl Buchenwälder, denn in denen sind die großen Bäume, die mitten im Walde stehen, im Winter kahl, die kleinen Buchen aber, die am Waldrande wachsen, behalten die trockenen, gelben Blätter bis ganz in den Frühling hinein. Da waren auch dunkle Würfel mit Grau in der Mitte: das waren die großen, zusammengebauten Gehöfte mit den dunklen Strohdächern und den gepflasterten Höfen. Und dann waren da Würfel, die in der Mitte grün schimmerten und eine Kante von Braun hatten; das waren die Gärten, in denen die Rasenplätze schon zu grünen anfingen, obwohl die Büsche und die Bäume rings um sie herum noch mit der kahlen, braunen Rinde dastanden.
Der Junge konnte sich eines Lachens nicht enthalten, als er sah, wie gewürfelt alles war.
Aber als die wilden Gänse hörten, daß er lachte, riefen sie gleichsam tadelnd: »Fruchtbares, gutes Land. Fruchtbares, gutes Land.«
Der Junge war schon wieder ernsthaft geworden. »Daß du lachen kannst!« dachte er, »du, dem das Allerschrecklichste widerfahren ist, was einem Menschen widerfahren kann!«
Er hielt sich eine Weile ernsthaft, bald mußte er aber wieder lachen.
Allmählich, als er sich an den Sitz und die Fahrt gewöhnt hatte, so daß er an etwas anderes denken konnte, als nur daran, wie er sich auf dem Rücken des Gänserichs festhalten sollte, fiel es ihm auf, wie voll die Luft von Vogelscharen war, die nordwärts flogen. Und da war ein Schreien und Rufen von einem Schwarm zum andern. »Also ihr seid heute auch übers Wasser gekommen,« riefen einige. – »Ja, das sind wir,« antworteten die Gänse. »Wie denkt ihr, daß es mit dem Frühling steht?« – Nicht ein Blatt an den Bäumen und kaltes Wasser in den Seen,« lautete die Antwort.
Wenn die Gänse über einen Ort dahinflogen, wo zahmes Federvieh draußen war, riefen sie: »Wie heißt der Hof? Wie heißt der Hof?« Und der Hahn machte einen langen Hals und antwortete: der Hof heißt Kleinhof, heut wie vorm Jahr, heut wie vorm Jahr.«
Die meisten Häuser hatten ja ihren Namen nach dem Besitzer, wie das in Schonen Sitte und Gebrauch ist, aber statt zu antworten, daß es Per Matssons oder Ola Bossons Haus sei, gaben ihnen die Hühner andere Namen, die sie passend fanden. Hähne, die auf ärmliche Anwesen der Häuslereien gehörten, riefen: »Dieser Hof heißt Grützlos.« Und andere, die zu den allerärmsten Hütten gehörten, riefen: »Dies Haus heißt: Kauewenig, Kauewenig, Kauewenig.«
Die großen, wohlhabenden Bauernhöfe bekamen seine Namen von den Hühnern, wie Glücksfeld, Eierberg und Geldheim.
Aber die Hähne auf den Rittergütern waren viel zu hochmütig, um sich etwas Amüsantes auszudenken. Einer von ihnen krähte und schrie mit einer Kraft, als wolle er, daß man ihn ganz bis zur Sonne hinauf hören sollte: »Dies ist das Rittergut Dybeck. Heut wie vorm Jahr. Heut wie vorm Jahr.«
Und ein wenig weiter hin stand einer und rief: »Dies ist Svaneholm. Das muß doch Gott und alle Welt wissen.«
Der Junge beobachtete, daß die Gänse nicht geradeaus flogen. Sie schwebten hierhin und dorthin über die ganze schonensche Ebene, als freuten sie sich, wieder da zu sein und hätten die größte Lust, jedes einzelne Gehöft zu besuchen.
Sie kamen an eine Stelle, wo einige mächtige Gebäude mit hohen Schornsteinen und rings um sie herum eine Menge kleinerer Häuser lagen. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik,« riefen die Hähne. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik.«
Der Junge schrak zusammen. Den Ort sollte er doch wohl kennen. Der lag nicht weit von seinem Heim, und im letzten Jahr hatte er dort als Hirtenbube gedient. Aber es schien, als wenn nichts sich so recht gleich sah, wenn man es so von oben betrachtete.
Aber nein, aber nein! Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads, die im vorigen Jahr seine Kameraden waren. Der Junge hätte gern gewußt, ob sie noch dort waren. Was würden sie wohl sagen, wenn sie ahnten, daß er hoch oben über ihrem Kopf dahinflog?
Dann verloren sie Jordberga aus den Augen und flogen auf Svedala und Skabersjö zu und zurück über das Börringer Kloster und Häkkeberga. Der Junge bekam an dem einen Tage mehr von Schonen zusehen, als während aller der Jahre, die er gelebt hatte.
Wenn die wilden Gänse zahme Gänse antrafen, amüsierten sie sich am allerbesten. Dann flogen sie ganz langsam und riefen hinab: »Jetzt geht es in die Berge. Wollt ihr mit? Wollt ihr mit?«
Aber die zahmen Gänse antworteten: »Es ist noch Winter. Ihr seid zu früh draußen. Kehrt um! Kehrt um!«
Die wilden Gänse flogen tiefer hinab, so daß man sie besser hören konnte, und riefen: »Kommt mit, dann wollen wir euch fliegen und schwimmen lehren.«
Dann wurden die zahmen Gänse böse und antworteten nicht mehr mit einem einzigen »Gack«.
Aber die wilden Gänse flogen noch tiefer hinab, so daß sie fast den Boden streiften, und dann stiegen sie wieder langsam, als seien sie sehr bange geworden. »Uha, uha!« riefen sie. »Das waren gar keine Gänse. Das waren nur Schafe. Das waren nur Schafe.«
Die Gänse auf dem Felde gerieten ganz außer sich und schrien: »Möchtet ihr erschossen werden, alle miteinander, alle miteinander!«
Wenn der Junge alle diese Scherze hörte, lachte er. Aber dann mußte er daran denken, welch ein Unglück er über sich selbst gebracht hatte, und dann weinte er. Aber nach einer Weile lachte er wieder.
Nie zuvor hatte er sich mit einer solchen Geschwindigkeit vorwärts bewegt, und er hatte doch immer so gern schnell und wild reiten mögen. Und er hatte natürlich nie geahnt, daß es da oben in der Luft so frisch sein konnte, wie es war, und daß ein so herrlicher Geruch von fetter Erde und Harz vom Erdboden aufstieg. Und er hatte auch gar nicht darüber nachgedacht, wie es wohl sein müßte, wenn man sich so hoch oben in der Luft bewegte. Aber es war, als flöge man fort von allem Leid und allen Sorgen und Verdrießlichkeiten, die man sich nur denken konnte.
II. Akka von Kebnekajse
Der Abend.
Der große, zahme Gänserich, der mit in die Luft aufgestiegen war, fühlte sich sehr stolz, so mit den wilden Gänsen über Schonen hin und her zu fliegen und mit den zahmen Vögeln Scherz zu treiben. Aber wie glücklich er auch war, konnte er nicht umhin, am Nachmittag müde zu werden. Er versuchte, tiefer zu atmen und stärker mit den Flügeln zu schlagen, aber trotzdem blieb er mehrere Gänselängen hinter den andern zurück.
Als die wilden Gänse, die zu hinterst flogen, merkten, daß die zahme nicht mitkommen konnte, riefen sie der Gans, die an der Spitze des Keiles flog und den Zug anführte, zu: »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« – »Was wollt ihr von mir?« fragte die Führergans. – »Der Weiße bleibt zurück. Der Weiße bleibt zurück.« – »Sagt ihm, daß es leichter ist, schnell zu fliegen als langsam!« rief die Führergans und streckte die Flügel wie bisher.
Der Gänserich versuchte, dem Rat zu folgen und die Schnelligkeit zu erhöhen, davon wurde er aber so ermattet, daß er ganz bis zu den gestutzten Weiden hinabsank, die Äcker und Wiesen einfriedigten.
»Akka! Akka! Akka von Kebnekajse!« riefen von neuem die, die zu hinterst flogen und sahen, wie schwer es für den Gänserich war. – »Was wollt ihr denn schon wieder?« fragte die Führergans und schien sehr verstimmt.
»Der Weiße sinkt auf die Erde nieder. Der Weiße sinkt auf die Erde nieder.« – »Sagt ihm, daß es leichter ist, hoch zu fliegen als niedrig!« rief die Führergans. Und sie mäßigte ihre Geschwindigkeit nicht im geringsten, sondern streckte die Flügel wie bisher.
Der Gänserich versuchte auch diesen Rat, als er aber in die Höhe aufsteigen wollte, wurde er so atemlos, daß es war, als müsse ihm die Brust zerspringen.
»Akka! Akka!« riefen dann die, die zu hinterst flogen. – »Könnt ihr mich denn nicht in Frieden fliegen lassen?« fragte die Führergans und tat noch ungeduldiger als vorhin. – »Der Weiße ist nahe daran, herunterzustürzen. Der Weiße ist nahe daran, herunterzustürzen.« – »Sagt ihm, daß, wer nicht mit der Schar folgen kann, am besten wieder heimkehrt!« rief die Führergans. Und es kam ihr nicht im geringsten in den Sinn, die Geschwindigkeit zu mäßigen, sondern sie streckte die Flügel wie bisher.
»Steht es so!« sagte der Gänserich. Es ward ihm plötzlich klar, daß die wilden Gänse nie daran gedacht hatten, ihn mit nach Lappland hinaufzunehmen. Sie hatten ihn nur des Scherzes halber mitgelockt.
Nein, wie er sich ärgerte, daß ihn die Kräfte jetzt im Stich ließen, so daß er den Landstreichern nicht zeigen konnte, daß eine zahme Gans auch zu etwas zu gebrauchen ist. Und das allerärgerlichste war, daß er in Akka von Kebnekajses Schar hineingeraten war. Denn wenn er auch nur eine zahme Gans war, hatte er doch von einer Führergans gehört, die Akka hieß und fast hundert Jahre alt war. Sie war so angesehen, daß sich die besten wilden Gänse, die es nur gab, ihr anzuschließen pflegten. Niemand aber verachtete zahme Gänse so sehr wie Akka und ihre Schar, und er hätte ihr gern gezeigt, daß er ihnen ebenbürtig sei.
Er flog langsam hinter den andern drein, während er sich mit sich selbst beriet, ob er umkehren oder weiterfliegen sollte. Da sagte plötzlich der kleine Knirps, den er auf dem Rücken hatte: »Lieber Gänserich Martin, du kannst doch wohl begreifen, daß es für dich, der du nie geflogen hast, unmöglich ist, mit den wilden Gänsen ganz bis nach Lappland hinaufzukommen. Willst du nicht lieber umkehren, ehe du dich ganz zuschanden machst?«
Aber der Gänserich kannte nichts Schlimmeres als diesen Häuslerjungen, und kaum ward es ihm klar, daß der armselige Bursche ihm nicht zutraute, die Reise zurücklegen zu können, als er sich auch schon entschloß, auszuhalten. »Sagst du noch ein Wort davon, so schmeiße ich dich in die erste Mergelgrube, über die wir hinfliegen,« sagte er, und im selben Augenblick verlieh ihm der Zorn solche Kräfte, daß er fast ebenso gut fliegen konnte wie irgendeine von den andern.
Er hätte jedoch kaum so weiter fliegen können, aber das tat auch nicht nötig, denn jetzt sank die Sonne schnell, und gerade bei Sonnenuntergang nahmen die Gänse den Kurs abwärts. Und ehe der Junge und der Gänserich sich's versahen, waren sie an das Ufer des Bombsees niedergeschwebt.
»Es scheint die Absicht zu sein, daß wir hier übernachten,« dachte der Junge und hüpfte von dem Rücken des Gänserichs herunter.
Er stand an einem schmalen Sandufer und vor ihm lag ein ziemlich großer See. Der war häßlich anzusehen, denn er war fast ganz mit einer Eiskruste bedeckt, die schmutzig und uneben und voller Risse und Löcher war, so, wie das Eis im Frühling ist. Das Eis hatte scheinbar seine längste Zeit gesehen, drinnen am Lande hatte es sich schon gelöst und ringsherum hatte es einen breiten Gürtel von schwarzem, blankem Wasser. Aber noch lag es da und verbreitete Kälte und winterliche Unheimlichkeit um sich.
An der andern Seite des Sees schien es hell und frei und bebaut zu sein, aber da, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, war eine große Tannenschonung. Und es sah so aus, als wenn der Tannenwald imstande wäre, den Winter festzuhalten. An allen andern Stellen war der Boden frei von Schnee, aber unter den dichten Tannenzweigen lag Schnee, der geschmolzen war und wieder gefroren, geschmolzen und gefroren, bis er hart war wie Eis.
Dem Jungen war es, als sei er in eine Wildnis, in ein Winterland gekommen, und ihm ward so unheimlich zumute, daß er gern laut geschrien hätte.
Er war hungrig. Er hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Aber woher sollte er Essen bekommen? Im Monat März wächst nichts Eßbares weder an der Erde noch an den Bäumen.
Ja, wo sollte er Essen herbekommen, und wer würde ihm ein Dach über dem Haupte geben, und wer würde ihm sein Bett machen, und wer würde ihn an seinem Feuer erwärmen, und wer würde ihn gegen wilde Tiere beschützen?
Denn jetzt war die Sonne fort, und die Kälte stieg vom See herauf, und die Finsternis senkte sich vom Himmel herab, und die Angst kam in den Spuren der Dämmerung geschlichen, und im Walde fing es an zu pusseln und zu rascheln.
Jetzt war es vorbei mit dem frischen Mut, den der Junge gehabt hatte, während er oben in der Luft war, und in seiner Angst sah er sich nach seinen Reisegefährten um. Er hatte ja sonst niemand, an den er sich halten konnte.
Da entdeckte er, daß es mit dem Gänserich noch schlimmer stand als mit ihm. Er war an demselben Fleck liegen geblieben, wo er hinabgeschwebt war, und es sah so aus, als wenn er im Begriff war zu sterben. Der Hals lag schlaff an der Erde, die Augen waren geschlossen, und sein Atmen war nur noch ein schwaches Röcheln.
»Lieber Gänserich Martin,« sagte der Junge, »du mußt versuchen, einen Trunk Wasser zu nehmen! Es sind kaum zwei Schritt bis an den See hinab.«
Aber der Gänserich rührte sich nicht.
Der Junge war ja früher hart gegen alle Tiere gewesen, auch gegen den Gänserich, aber jetzt fand er, daß Martin die einzige Stütze war, die er hatte, und er war schrecklich bange, ihn zu verlieren. Er machte sich sofort daran, ihn zu schieben und zu stoßen, um ihn ans Wasser hinabzubefördern. Der Gänserich war groß und schwer, daher war es ein hartes Stück Arbeit für den Jungen, aber schließlich gelang es ihm.
Der Gänserich kam kopfüber in den See hinein. Einen Augenblick lag er regungslos im Schlamm, aber bald steckte er den Kopf heraus, schüttelte das Wasser aus den Augen und prustete. Dann schwamm er stolz zwischen dem Röhricht und den Rohrkolben dahin.
Die wilden Gänse lagen schon vor ihm draußen im See. Sie hatten sich weder nach dem Gänserich noch nach dem Gänsereiter umgesehen, sondern sich sofort ins Wasser gestürzt. Sie hatten gebadet und sich geputzt, und nun lagen sie da und schlabberten halbverfaultes Entengrün in sich hinein.
Der weiße Gänserich war so glücklich, einen kleinen Barsch zu erblicken. Er schnappte ihn schnell auf, schwamm damit ans Ufer und legte ihn vor den Jungen hin. »Den sollst du zum Dank dafür haben, daß du mir ins Wasser hineinhalfst,« sagte er.
Das war das erstemal im Laufe des ganzen Tages, daß der Junge ein freundliches Wort hörte. Er war so erfreut, daß er Lust hatte, dem Gänserich um den Hals zu fallen, aber er konnte sich doch nicht dazu entschließen. Und auch über das Geschenk freute er sich. Zuerst meinte er, es sei unmöglich, rohen Fisch zu essen, aber dann bekam er doch Lust, den Versuch zu machen.
Er fühlte nach, ob er sein Dolchmesser mitbekommen hatte, und glücklicherweise hing es noch an dem Hosenknopf, aber es war freilich so klein geworden, daß es nicht größer war als ein Streichholz. Nun, er konnte es auf alle Fälle gebrauchen, um den Fisch auszunehmen und die Schuppen zu entfernen, und der Barsch war schnell verzehrt.
Als der Junge gut gesättigt war, überkam ihn ein Gefühl der Scham, daß er etwas hatte essen können, was roh war. »Es scheint wirklich, als ob ich kein Mensch mehr bin, sondern ein richtiger Kobold,« dachte er bei sich.
Die ganze Zeit, während der Junge aß, blieb der Gänserich neben ihm stehen, und als er den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, sagte er mit schwacher Stimme: »Wir haben uns ja mit einem wilden Gänsevolk eingelassen, das alle zahmen Vögel verachtet.« – »Das habe ich freilich auch schon bemerkt,« sagte der Junge. – »Es würde sehr ehrenvoll für mich sein, wenn ich ganz bis nach Lappland hinauf mit ihnen fliegen und ihnen zeigen könnte, daß eine zahme Gans doch auch zu etwas taugt.« – »Hm, ja,« sagte der Junge ein wenig zögernd, denn er glaubte nicht, daß der Gänserich das würde durchführen können, aber er wollte ihm nicht widersprechen. – »Aber ich glaube nicht, daß ich mich allein auf einer solchen Reise zurechtfinden kann,« sagte der Gänserich, »deshalb möchte ich gern wissen, ob du nicht mit mir kommen und mir helfen willst.«
Der Junge hatte natürlich gar nichts anderes gedacht, als daß er so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückkehren wollte, und er war so überrascht, daß er gar nicht wußte, was er antworten sollte. »Ich glaubte, wir wären gar keine guten Freunde,« sagte er. Aber das schien der Gänserich ganz vergessen zu haben. Das einzige, was er noch wußte, war, daß der Junge ihm vor einem Augenblick das Leben gerettet hatte.
»Ich muß wohl zu Vater und Mutter zurück,« sagte der Junge. – »Ja, zum Herbst will ich dich zu ihnen zurückbringen,« entgegnete der Gänserich. »Ich will dich nicht verlassen, ehe ich dich daheim auf die Türschwelle niedergesetzt habe.«
Der Junge dachte, daß es am Ende ganz gut sei, wenn er sich den Eltern eine Weile noch nicht zu zeigen brauchte. Der Vorschlag schien ihm gar nicht so übel, und er wollte gerade sagen, daß er darauf einginge, als er hinter sich einen großen Lärm hörte. Es waren die wilden Gänse, die alle auf einmal aus dem See heraufgekommen waren und das Wasser abschüttelten. Dann stellten sie sich in einer langen Reihe auf, die Führergans an der Spitze, und kamen auf die beiden zu.
Als der weiße Gänserich jetzt die wilden Gänse näher betrachtete, war ihm gar nicht so recht geheuer. Er hatte geglaubt, daß sie mehr Ähnlichkeit mit den zahmen Gänsen hätten und daß er sich ihnen verwandter fühlen würde. Sie waren viel kleiner als er, und keine von ihnen war weiß, sie waren alle grau, mit einer braunen Schattierung. – Und vor ihren Augen wurde er beinahe bange. Die waren gelb und schienen, als wenn ein Feuer dahinter brenne. Der Gänserich hatte immer gelernt, daß es am hübschesten sei, langsam und watschelnd zu gehen, aber diese Gänse gingen nicht, sie liefen fast. Am unruhigsten aber wurde er, als er ihre Füße ansah. Sie waren groß, abgetreten und zerrissen. Man konnte sehen, daß sich die wilden Gänse niemals daran kehrten, wohin sie traten. Sie machten keine Umwege. Sonst waren sie sehr zierlich und wohlgepflegt, aber an ihren Füßen konnte man sehen, daß sie arme Leute aus der Wildnis waren.
Der Gänserich hatte gerade noch Zeit, dem Jungen zuzuflüstern: »Antworte nun ordentlich, aber erzähle nicht, wer du bist!« Und dann waren sie da.
Als die wilden Gänse vor ihnen standen, verbeugten sie sich viele Male mit dem Hals, und der Gänserich tat dasselbe, noch mehrmals als sie. Sobald man sich hinreichend begrüßt hatte, sagte die Führergans: »Jetzt können wir wohl erfahren, was für Leute ihr seid?«
»Von mir ist nicht viel zu sagen,« erwiderte der Gänserich. »Ich bin im letzten Frühling in Skanör geboren. Im Herbst wurde ich an Holger Nielsen in Westvemmenhög verkauft, und da bin ich seither gewesen.«