Seltene Erkrankungen - Paul Just - E-Book

Seltene Erkrankungen E-Book

Paul Just

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Beschreibung

Das vorliegende Handbuch bietet Menschen, die direkt oder indirekt von seltenen Erkrankungen betroffen sind, konkretes und praktisches Wissen. In Folge soll damit auch das Bewusstsein für seltene Krankheiten in unserer Gesellschaft erhöht werden, von denen erstmals in den 1980er Jahren als solche die Rede war. Es informiert nicht nur über Themen und Entwicklungen, sondern soll auch für weiterführende Debatten sensibilisieren. Gerade die vielfältigen ethischen Fragen, die sich hier ergeben, werden diskutiert.

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Paul Just, Christiane Druml

Seltene Erkrankungen

Aspekte aus Ethik und Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2020

facultas Universitätsverlag,

Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlagbild: © AF-studio – istockphoto.com

Umschlaggestaltung: Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Marcus Balogh

Lektorat: Stefan Preihs, Wien

Typografie und Satz: Florian Spielauer, Wien

Druck: Finidr, Tschechien

ISBN 978-3-7089-1940-9

Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-99030-944-5 (epub)

Vorwort

Seltene Erkrankungen sind Krankheiten, die nur wenige Menschen betreffen. Sie werden auch „orphan diseases“ genannt. Da es sehr viele verschiedene seltene Erkrankungen gibt, ist die Gesamtzahl der betroffenen Menschen dennoch sehr groß. In Österreich leiden etwa 400.000 Menschen an einer seltenen Erkrankung. Diese Menschen können sehr unterschiedliche Erkrankungen haben wie zystische Fibrose, die eines von 4.000 geborenen Kindern betrifft, oder die Schmetterlingskrankheit mit 2 bis 3 von 100.000 geborenen Kindern. Eines aber ist ihnen allen gemeinsam: Es gibt – wie der Name schon sagt – nur wenige einzelne Menschen mit ihrer speziellen Erkrankung. Dies hat natürlich verschiedene Folgen: Nur wenige oder womöglich keine Fachinstitutionen lassen sich zur Behandlung finden. Es kann auch vorkommen, dass es keine spezifische Behandlung gibt, dass keine Medikamente zur Verfügung stehen oder wenn dies doch der Fall sein sollte, diese sehr teuer sind und vom öffentlichen Gesundheitswesen nicht finanziert werden.

Seltene Erkrankungen sind oftmals schwerwiegende und chronische Erkrankungen, sie sind auch zu einem großen Teil genetisch bedingt. Einzelne der seltenen Erkrankungen sind noch nicht beschrieben, eine Diagnose kann häufig erst nach umfassenden und genetischen Untersuchungen und einem weltweiten Vergleich mit ähnlichen Patienten1 gestellt werden.

Unser Buch will über seltene Erkrankungen informieren, es soll dem Leser einen ersten Zugang zu den wissenschaftlichen Grundlagen und der Geschichte geben.

Das Ziel von Wissenschaft und Forschung auf diesem Gebiet ist es, bei genetisch bedingten Erkrankungen vor allem mit modernen genetischen und genomischen Methoden, den sogenannten Next Generation Sequencing Technologies, bei einzelnen Patienten jene Mutationen ausfindig zu machen, die für eine Erkrankung verantwortlich sind. Unter Mutation wird eine genetische Veränderung des Erbgutes in einem Gen verstanden. So konnte in der Vergangenheit schon gezeigt werden, dass neue Erkrankungen „entdeckt“ und in der Folge gezielte Therapien für Patienten entwickelt wurden. Darüber hinaus kommen die Therapien nicht nur einzelnen Patienten zugute, sondern bilden auch die Grundlage für das zelluläre und molekulare Verständnis einer Erkrankung. So wird oft argumentiert, dass dieses Wissen in Zukunft sehr wichtig sein könnte, da es weit über den Bereich einer konkreten (seltenen) Erkrankung hinausreicht.

Gleichzeitig ist uns bewusst, dass die Erforschung seltener Erkrankungen viele ethische und gesellschaftliche Fragen aufwirft, die nicht isoliert diskutiert werden können. Wir widmen uns diesen Themen im vorliegenden Buch. So kann sich für Betroffene die Frage stellen, wie der Wunsch nach einem gesunden Kind erfüllt werden kann, das nicht an der Erbkrankheit leiden wird. Eine große Rolle spielen auch die verschiedenen Patienteninitiativen, die sich seit etlichen Jahren gebildet haben. Sie sind vor allem an einer Stärkung der Gesundheitskompetenz, der „Health Literacy“, sowie an Förderung der Unterstützung von Betroffenen interessiert und wollen die Forschung auf diesem Gebiet voranbringen.

Ziel ist es, ein Buch für Menschen, die Leidtragende seltener Erkrankungen sind, für den deutschsprachigen Raum, also nicht nur für Österreich, sondern auch für Deutschland und die Schweiz zu entwickeln.

Das vorliegende Werk will vor allem konkrete und praktische Informationen für Menschen anbieten, die direkt oder indirekt von seltenen oder nicht diagnostizierten Krankheiten betroffen sind. Darüber hinaus soll, so unsere Hoffnung, Verständnis für die Situation derjenigen in unserer Gesellschaft geschaffen werden, die an seltenen Erkrankungen leiden. Gleichzeitig ist damit auch ein Lesebuch für alle Interessierten entstanden, das nicht nur über wichtige Themen und Entwicklungen informiert, sondern auch die Leser für weiterführende Debatten sensibilisieren und zur Reflexion einladen möchte.

Wien, im September 2019

Paul Just und Christiane Druml

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Methoden und Kapitelvorschau

2 Zentrale Begriffe und Akteure: eine Geschichte seltener Erkrankungen

2.1 Was sind seltene Erkrankungen und wie werden sie definiert?

„Krankheit“ – ein umkämpfter Begriff

2.2 Als das erste Mal von „Orphan Drugs“ die Rede war

Gemeinsam mit der Pharmaindustrie: Patientenorganisationen werden aktiv

Das erste staatliche Gesetz: „The American Orphan Drug Act“ 1983

2.3 Die „Europäisierung“ seltener Erkrankungen

„Politik der Zahlen“

Neue Formen von Wissen werden produziert

2.4 Geschichte und Politik seltener Erkrankungen in Österreich

Orphanet-Austria und Patientenaktivismus in Österreich

Erste empirische Erhebung: „Problemlagen“ in Österreich

Der Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen (NAP.se)

2.5 Geschichte und Politik seltener Erkrankungen in Deutschland

2.6 Geschichte und Politik seltener Erkrankungen in der Schweiz

2.7 Die Vernetzung von Forschung auf europäischer Ebene

Europäische Referenznetzwerke (ERNs): zentrale Akteure und Debatten

Designationsprozess für ERNs: Österreich im Vergleich

3 Seltene Erkrankungen: zu selten diagnostiziert

3.1 (Langer) Weg vom ersten Verdacht bis zur Diagnose

Fall 1: Die Geschichte der Schmetterlingskinder in Österreich

Fall 2: „Jeffrey Asked Us to ,Do Something!‘“ – primäre Immundefekte

Fall 3: Verwandtenehen und moderne Sequenzierungstechnologien

Fall 4: www.dbaexperiment.org – eine aktuelle Initiative

Fall 5: Cochlea Implantate für Taubheit und schwersten Hörverlust

Fall 6: Die schwedische Patientenorganisation Wilhelm Foundation

Fall 7: Die erfolgreichste Crowdfunding-Initiative auf www.experiment.com

3.2 Was tun bei einer seltenen Erkrankung?

3.3 Eine erste Orientierungshilfe: Das Gesundheitsportal Österreich

3.4 Initiativen, Plattformen und Patientenorganisationen

3.5 Die Wichtigkeit von Initiativen auf EU-Ebene

Das Europäische Patientenforum (European Patients’ Forum, EPF)

Die Europäische Patientenakademie (European Patients’ Academy, EUPATI)

RareConnect

Seltene Erkrankungen AKTION (RD ACTION – Data and Policies for Rare Diseases)

ERA-Net for Research Programmes on Rare Diseases (E-Rare)

3.6 Weitere Nichtregierungsorganisationen: global – international – national

Global Genes®

National Organization for Rare Diseases (NORD), Vereinigte Staaten von Amerika

Patientenorganisationen für seltene Erkrankungen in Österreich

Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE), Deutschland

Stiftung für Menschen mit seltenen Erkrankungen, Schweiz

Nationale Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen (NKSE), Österreich

3.7 Seltene Erkrankung, weil zu selten diagnostiziert

Zentrum für seltene und undiagnostizierte Erkrankungen (CeRUD)

Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD)

Zentrum Seltene Erkrankungen Salzburg (ZSK Salzburg)

Forum Seltene Erkrankungen Innsbruck

Internationales Beispiel: Das „Undiagnosed Diseases Program“ (UDP) der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde

3.8 Hilft der Computer bei der Diagnose seltener Erkrankungen?

FindZebra

Symptoma

Phenomizer

Matchmaker Exchange

4 Zwischen Screening und Testen: ethische, gesellschaftliche und biopolitische Debatten

4.1 Einleitung

4.2 Ältere und neuere Verfahren

4.2.1 Das Neugeborenen-Screening

Zystische Fibrose

Fallbeispiel für angeborene Stoffwechselkrankheiten: Phenylketonurie (PKU)

Fallbeispiel für Hormonerkrankungen: Adrenogenitales Syndrom (AGS)

4.2.2 Die Pränataldiagnostik in Österreich

Nichtinvasive, minimalinvasive und invasive Methoden

Der nichtinvasive pränatale Test (NIPT): eine aktuelle Debatte

Ethische Debatten und die Novelle zum österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR): Costa und Pavan gegen Italien

4.2.3 Weitere genetische und genomische Verfahren

Das „100 000 Genomes Project“

Direct-to-Consumer-Tests

Diagnose genetischer Erkrankungen mithilfe künstlicher Intelligenz

4.3 Ausgewählte Fallbeispiele und gegenwärtige Debatten

Fall 1: Die konsanguine Ehe (Verwandtenehe)

Fall 2: Mitochondrien-Ersatztherapie

Fall 3: Die Debatte über „Genome Editing“ (die CRISPR/Cas9-Methode)

4.4 Zusammenfassung

5 Seltene Erkrankungen und klinische Forschung

5.1 Warum brauchen wir klinische Forschung?

5.2 Entwicklung neuer Diagnostika oder Therapien

5.3 Warum benötigen wir Forschungsethik?

5.4 Forschungsethikkommissionen

Was müssen diese Kommissionen alles beurteilen?

Welche Mitglieder hat eine Ethikkommission?

5.5 Information und Einwilligung

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten

Besonders schützenswerte Gruppen – nicht einwilligungsfähige Patienten

Kinder

Erwachsene

5.6 Genanalysen im Rahmen klinischer Prüfungen

5.7 Compassionate Use

5.8 Incidental Findings (Zufallsbefunde)

5.9 „Data Sharing“: das Teilen von Daten

5.10 Datenschutz – ein wichtiges Anliegen

5.11 Registerforschung

6 Ökonomische Dimensionen seltener Erkrankungen

6.1 Einleitung

6.2 Hintergrundwissen klinische Forschung: Wie werden Medikamente entwickelt?

6.3 Staatliche Anreizsysteme: Die Orphan-Drug-Verordnung auf EU-Ebene

Der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden

Der Orphan-Drug-Status

Bisher zugelassene Orphan Drugs und Forschungsschwerpunkte

6.4 Ethische, gesellschaftliche und politische Aspekte

Die Orphan-Drugs-Verordnung: eine Erfolgsgeschichte?

Kritik am Erfolg: Wie viel darf ein Medikament kosten?

Wie entscheiden unter Bedingungen der Knappheit?

6.5 Zusammenfassung und Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Sachregister

Zu den Autoren

1 Einleitung: Methoden und Kapitelvorschau

Die Erforschung und die Behandlung seltener Erkrankungen werfen viele ethische und gesellschaftliche Fragen auf, die nicht von wissenschaftlichen und medizinischen Themen und Herausforderungen losgelöst diskutiert werden können, sondern sich gegenseitig bedingen. Wir widmen uns diesen Themen im vorliegenden Buch: Basis dafür war eine umfassende Recherche internationaler Fachliteratur aus den Bereichen der Ethik, der Rechtswissenschaften, der Medizin und der Sozialwissenschaften. Ebenso flossen Dokumente nationaler Bioethikkommissionen, Zeitungs- und Medienberichte, Online-Materialien von Behörden, wissenschaftlicher Institutionen und Patientenorganisationen und schließlich Experteninterviews in unsere Analyse ein. Ein besonderes Anliegen war uns, die Rare Diseases Community einzubeziehen: Darunter fallen neben den Erkrankten selbst vor allem auch die Familien, die Betreuer, die Ärzte und Wissenschaftler sowie die immer stärker auftretenden Patientenorganisationen. Am Ende jeden Kapitels sind Literaturangaben aufgeführt, die dazu einladen sollen, sich intensiver mit den vorgestellten Themen auseinanderzusetzen.

Das Buch besteht aus insgesamt fünf thematischen Kapiteln

Im folgenden Kapitel 2 werden zunächst zentrale Begriffe und wichtige Akteure im Feld der seltenen Erkrankungen identifiziert. Von der in der Europäischen Union (EU) rechtlich geltenden Definition einer seltenen Erkrankung (weniger als 5 pro 10.000 Menschen sind betroffen) begeben wir uns auf einen geschichtlichen Exkurs, indem wir fragen, wann das erste Mal von seltenen Erkrankungen als „Waisen der Medizin" eigentlich die Rede war. Waisen der Medizin wurden sie deshalb genannt, weil es kaum wirksame Medikamente für seltene Erkrankungen gibt, da vor allem die Pharmaindustrie kein Geld in Gebiete, die wenig Profit versprechen, investieren will. Dies wurde in den 1980er-Jahren zunächst von Pharmafirmen und vor allem von Eltern betroffener Kinder in den Vereinigten Staaten von Amerika als „Orphan Drug Problem" thematisiert, um auf die fehlenden Anreize für die pharmazeutische Industrie hinzuweisen und aufmerksam zu machen. Diese Problematik führte zum ersten staatlichen Anreizsystem und einer ersten rechtlichen Definition seltener Erkrankungen. Davon ausgehend behandeln wir die Rolle seltener Erkrankungen im Kontext der EU und kommen auf die „Europäisierung“ seltener Erkrankungen zu sprechen. In diesem Zusammenhang beleuchten wir auch die wichtige und einflussreiche Rolle, die European Organisation for Rare Diseases (EURORDIS) als Dachorganisation und Sprachrohr von Patientenorganisationen im Bereich seltener Erkrankungen gespielt hat. Schließlich leiten wir zu wichtigen Themen und Entwicklungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz über.

Kapitel 3 „Seltene Erkrankungen: zu selten diagnostiziert“ stellt ein praktisches Kapitel dar, das einerseits die Stimmen und Initiativen einzelner Patienten bzw. deren Eltern (von mit seltenen Erkrankungen betroffenen Kindern) vorstellt, um auf diese Weise die vielfältigen sowie auch sich gleichenden Problemlagen und soziale Wirklichkeiten aus Sicht der Betroffenen abzubilden. Darüber hinaus soll das Kapitel eine erste Orientierungshilfe für Menschen mit seltenen Erkrankungen sein und beschreibt, an welche Institutionen, Einrichtungen und Organisationen sich Betroffene bei Verdacht auf eine seltene Erkrankung oder einer Erkrankung mit unklaren und medizinisch nicht zuordenbaren Symptomen wenden können. Hier werden auch wichtige Patientenorganisationen auf nationaler, internationaler und globaler Ebene vorgestellt. Schließlich werden Themen und Probleme aus medizinischer Sicht behandelt und diverse Hilfestellungen bei der Diagnose von Krankheiten angeführt. Wir verweisen hier ferner auf die Wichtigkeit von Datenbanken und des Internets.

Kapitel 4, das eines der anspruchsvollsten und ergiebigsten Kapitel darstellt, behandelt die ethischen, gesellschaftlichen und biopolitischen Aspekte des Testens und Screenens: Welche medizinischen/wissenschaftlichen Technologien gibt es, wie werden diese reguliert und welche ethischen, sozialen und politischen Dimensionen bringen diese mit sich? Mit einem Fokus auf Österreich reflektieren wir ethische Fragen, die uns auch zu einer biopolitischen und somit sozialwissenschaftlichen Diskussion bringen werden, wenn wir über die Rolle von Wissen oder (Nicht-)Wissen im Kontext diagnostischer Verfahren nachdenken.

Dies wird in Kapitel 5 weitergeführt, das seltene Erkrankungen im Zusammenhang mit Ethik und Regulierung klinischer Forschung diskutiert. Hier werden schließlich ethische Prinzipien der Forschungsethik, wichtige Eckpfeiler, wie klinische Forschung heutzutage praktiziert wird, und zudem aktuelle datenschutzrechtliche Überlegungen und Debatten thematisiert.

Im letzten thematischen Kapitel 6 behandeln wir die ökonomischen Dimensionen seltener Erkrankungen und stellen die Orphan-Drug-Verordnung auf EU-Ebene vor. Daran anschließend werden ethische, gesellschaftliche und politische Aspekte beleuchtet und relevante Debatten und Spannungsfelder zwischen den Ansprüchen Einzelner und einer Gemeinschaft im Sinne eines solidarisch organisierten öffentlichen Gesundheitssystems europäischer Ordnung nachgezeichnet.

2 Zentrale Begriffe und Akteure: eine Geschichte seltener Erkrankungen

Es gibt Erkrankungen, die nicht identifiziert werden können und für die es keine Heilung gibt. Eines der Hauptprobleme der seltenen Erkrankungen ist, dass es zu wenig Forschung für bessere Diagnoseerstellung oder wirksame Therapien gibt. Seit wann wird dies als Problem wahrgenommen und welche gesellschaftlichen Gruppen haben hier eine wichtige Rolle gespielt? Dies soll in diesem Kapitel erläutert werden, das zentrale Begriffe erklärt und wichtige Akteure im Feld seltener Erkrankungen identifiziert. Der historische Exkurs führt uns in die Vereinigten Staaten von Amerika Anfang der 1980er-Jahre, als das erste Mal von sogenannten Orphan Drugs die Rede war. Hier kam es vor allem dank einer Koalition bestehend aus der Pharmaindustrie, Patienten und deren Angehörigen, nämlich insbesondere erkrankten Kindern und deren aktiv gewordenen Eltern, dazu, dass „seltene Erkrankungen“ als „Waisen der Medizin“ zu einem gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Thema gemacht wurden.

In diesen Debatten wurde das erste Mal auf die Problematik der Forschung hinsichtlich Orphan Drugs sowie deren Entwicklung hingewiesen. In diesem Zusammenhang wurden nicht nur die fehlenden ökonomischen Anreize für die Pharmaindustrie kritisiert, derartige Arzneimittel für seltene Erkrankungen zu erforschen und zu entwickeln: die tendenziell hohen Entwicklungs- und Forschungskosten, bis ein Medikament auf den Markt gebracht werden kann, bzw. auch insbesondere bei seltenen Erkrankungen die viel geringeren Absatzmöglichkeiten ebensolcher Medikamente oder Therapien. Darüber hinaus wurden in den 1980er-Jahren auch die Regulierung und die bürokratischen Hürden für klinische Forschung unter der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde (National Institutes of Health, NIH) allgemein von Patientenorganisationen zum Thema gemacht. Es ist das Ziel dieses einführenden Kapitels, einen historischen sowie praktischen Überblick über Begriffe, Akteure und Debatten im Feld seltener Erkrankungen zu geben.

2.1 Was sind seltene Erkrankungen und wie werden sie definiert?

Seltene Erkrankungen werden über ihre Prävalenz definiert, d. h. über die Häufigkeit ihres Auftretens in der Gesamtbevölkerung. Eine Erkrankung gilt dann als selten, wenn sie bei nicht mehr als fünf Personen pro 10.000 Einwohner auftritt. Diese Definition seltener Erkrankungen gilt in der EU und wurde das erste Mal in der „Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden" festgesetzt (Verordnung (EG) Nr. 141 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999). Ein Arzneimittel für seltene Leiden (im Englischen sogenannte Orphan Drugs) wird hier als Arzneimittel definiert, „wenn es für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines Leidens bestimmt ist, das lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht und von dem zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinschaft nicht mehr als fünf von zehntausend Personen betroffen sind" (ibid.). Daran anschließend wurde diese Definition seltener Erkrankungen durch eine weitere Empfehlung des Rats der EU am 9. Juni 2009 bekräftigt. Dies führte schließlich zu einem „Aktionsprogramm für seltene Erkrankungen einschließlich genetischer Erkrankungen", das von der Europäischen Kommission verabschiedet wurde. Dieses Aktionsprogramm sah vor, dass die einzelnen Mitgliedsländer Maßnahmen für seltene Erkrankungen in ihren nationalen Gesundheitswesen bis 2013 definieren und einführen sollten.

Die zunehmende Beachtung seltener Erkrankungen auf politischer Ebene der EU geht unter anderem auch auf die erfolgreiche Lobbyarbeit einzelner Patientenorganisationen und insbesondere der europäischen Allianz von Patientenorganisationen EURORDIS im Bereich seltener Erkrankungen zurück, auf die wir später im historischen Exkurs detaillierter zu sprechen kommen (siehe Kapitel 2.3, S. 32 ff.).

European Organisation for Rare Diseases (EURORDIS)

EURORDIS ist die Europäische Organisation für seltene Erkrankungen, eine nicht staatliche Allianz von Patientenorganisationen, und vertritt aktuell 862 Patientenorganisationen aus 70 Ländern (Stand Juni 2019). EURORDIS beansprucht für sich, 30 Millionen Patienten mit seltenen Krankheiten in ganz Europa eine Stimme zu geben. So beinhaltet ihr Logo auch den Schriftzug: „Die Stimme der Menschen mit seltenen Krankheiten in Europa“ bzw. „The Voice of Rare Disease Patients in Europe“. Die Patientenorganisation EURORDIS feierte kürzlich ihr 20-jähriges Bestehen und ist die Stimme für seltene Erkrankungen auf EU-Ebene.

Für weitere Informationen siehe www.eurordis.org/de.

Jedenfalls wurde die geltende Definition seltener Erkrankungen in der EU auch in Österreich mit dem Inkrafttreten eines Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen von 2014 bis 2018 offiziell übernommen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit [BMG] 2015).

Es gibt schätzungsweise zwischen 6.000 und 8.000 verschiedene seltene Erkrankungen, wovon die meisten genetisch bedingt sind (80 %). Ungefähr die Hälfte aller seltenen Erkrankungen tritt schon im Kindheitsalter auf.

Orphanet

Orphanet kann als die zentrale Onlineplattform für seltene Erkrankungen bezeichnet werden. Mit dem Aufkommen des Internets wurde Orphanet in Frankreich im Jahr 1997 gegründet. Es war das Ziel, die damals noch spärlich verfügbaren Informationen über seltene Krankheiten zu sammeln und somit die Diagnose, Versorgung und Behandlung der betroffenen Patienten zu verbessern. Anschließend wurde diese Initiative zu einem europaweiten Anliegen und ab dem Jahr 2000 förderte die Europäische Kommission Orphanet: Seither wuchs Orphanet beständig weiter und besteht heute aus einem Konsortium von 40 Partnerländern, vornehmlich aus Europa, aber auch anderen Mitgliedern weltweit. Orphanet wird vom Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (INSERM) koordiniert, einer staatlich unterstützen Forschungs- und Entwicklungseinrichtung in Frankreich, und mit der Unterstützung des französischen Gesundheitsministeriums und der Europäischen Kommission betrieben.

Orphanet bietet eine gute Übersicht über Experten und spezialisierte klinische Einrichtungen für seltene Erkrankungen sowie Informationen zu aktiven Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen.

Wie in ihrem Mission-Statement angeführt, verpflichtet sich Orphanet, sich den Herausforderungen zu stellen, die mit der rasanten Entwicklung der politischen, wissenschaftlichen und informellen Datenlandschaft verbunden sind. Im Besonderen sieht Orphanet seine Verantwortung darin, allen Zielgruppen gleichermaßen den Zugang zu hochwertigen Informationen aus der Vielzahl der online verfügbaren Daten zu ermöglichen, das Werkzeug zur Identifikation von Patienten mit seltenen Krankheiten zur Verfügung zu stellen und sich daran zu beteiligen, neues Wissen zu schaffen, indem es eine große Menge wiederverwendbarer berechenbarer wissenschaftlicher Daten bereitstellt. In diesem Sinn sind der Online-Auftritt und die Website sehr informativ und benutzerfreundlich aufgebaut. Die Serviceangebote umfassen ein Verzeichnis seltener Erkrankungen bzw. Medikamente für seltene Erkrankungen („Orphan Drugs“); ein Verzeichnis von Spezialambulanzen, Laboratorien, Forschungsprojekten, Registern und klinische Studien; eine Auflistung von Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen; ein Assistenz-Diagnose-Tool, das die Suche über Symptome erlaubt und schließlich Empfehlungen und Leitlinien für die Notfallmedizin etc.

Darüber hinaus bietet Orphanet eine alphabetische Liste aller anerkannten seltenen Erkrankungen, einschließlich einer Krankheitsbeschreibung wie betroffenes Gen, Ort der Genmutation etc. und, sofern vorhanden, Behandlungs- und Notfallleitlinien. Hierbei wird jeder Krankheit eine spezifische ORPHA-Nummer zugeteilt, die eine eindeutige und dauerhafte Identifikation sicherstellt. Ausgehend von der geltenden EU-Definition seltener Erkrankungen wird auf diese Weise eine Orphanet-Nomenklatur der seltenen Erkrankungen erstellt. Die Krankheiten können mit der ORPHA-Nummer, dem betroffenen Gen-Symbol oder Gen-Namen und mithilfe der internationalen Krankheitsklassifikation der Weltgesundheitsbehörde (WHO) abgerufen werden.

Auf der Website sind momentan insgesamt 5.856 verschiedene seltene Krankheitsbilder (und 3.573 Gene) dokumentiert (Stand 1. Juni 2019).

Für weitere Informationen siehe http://www.orpha.net bzw. das Orphanet Entry Point Österreich, verfügbar unter http://www.orpha.net/national/AT-DE/.

Oft handelt es sich um chronische Erkrankungen, die meist lebensbedrohend und häufig auch unheilbar sind. In Zahlen übersetzt, sind auf diese Weise 6 bis 8 % der Bevölkerung in der EU betroffen, hochgerechnet zwischen 27 und 36 Millionen Menschen, die im Lauf ihres Lebens an einer chronischen und lebensbedrohlichen Krankheit erkranken. So kann eine seltene Erkrankung nur eine Handvoll von Menschen betreffen oder aber auch bis zu 245.000 Menschen in der EU (vgl. EURORDIS-Website, Stand Juni 2019).

Für Österreich bedeutet dies, dass bis zu 400.000 Menschen von seltenen Erkrankungen betroffen sein können, was auch Patientenorganisationen immer wieder betonen, um auf die gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Anliegen von Menschen mit seltenen Erkrankungen aufmerksam zu machen. Werden die Definition seltener Erkrankungen auf die aktuelle österreichische Bevölkerungszahl von ca. 8,8 Millionen Einwohnern hochgerechnet, heißt dies, dass bis zu 4.400 Menschen per definitionem von einer einzigen seltenen Erkrankung betroffen sein können. Jedoch leiden meistens sehr viel weniger Menschen unter seltenen Erkrankungen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von sehr seltenen Erkrankungen oder „ultra rare diseases", wenn nur ein Patient von 50.000 Einwohnern betroffen ist oder weniger als 20 Patienten pro 1 Million Einwohnern (Richter et al. 2015). Schließlich gibt es bis jetzt vollkommen unbekannte Erkrankungen, die noch nicht diagnostiziert worden sind, sogenannte „undiagnosed diseases". Dieser Bereich der biomedizinischen Forschung hat aus unterschiedlichen Gründen gerade in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Einerseits hat dies mit den wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen in der Bioinformatik sowie der genetischen und genomischen Forschung zu tun (Stichwort „Personalisierte Medizin"), andererseits mit dem zunehmenden Interesse seitens der Pharmaindustrie, seltene Erkrankungen zu erforschen; eine komplexe Thematik, auf die wir in Kapitel 6 noch detaillierter eingehen werden, wenn wir über Orphan Drugs und die (bio-)ökonomische Dimensionen seltener Erkrankungen zu sprechen kommen.

Wenn von den rechtlichen und medizinischen Definitionen seltener Erkrankungen die Rede ist, werden meist zwei Maße aus der Epidemiologie verwendet. Die Epidemiologie als Fachdisziplin in der Medizin, die sich mit der Verbreitung sowie den Ursachen und Folgen von Krankheiten in Bevölkerungen beschäftigt, spricht von Prävalenzen bzw. Inzidenzen, um den Grad der Morbidität einer Gesellschaft, also den Erkrankungsgrad, zu beschreiben: Die Prävalenz (lateinisch: „praevalere“, deutsch: „sehr stark sein“) definiert die Häufigkeit einer Erkrankung in der Gesamtbevölkerung bzw. die Anzahl der zu einem Untersuchungszeitpunkt Kranken. Die Inzidenz (lateinisch: „incidere“, deutsch: „vorfallen“) oder auch die Inzidenzrate andererseits ist ein weiteres Maß für die Morbidität in der Epidemiologie, das die Anzahl der neu Erkrankten in einem gegebenen Zeitraum bestimmt.

Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht verschiedener seltener Erkrankungen, deren Prävalenz und Anzahl von Betroffenen in Österreich.

Übersicht ausgewählter seltener Erkrankungen

Erkrankung

Geschätzte Prävalenz (Orphanet 2011)

Anzahl der Patienten in Österreich (geschätzt auf 8,4 Mio. EW)

Downsyndrom (Trisomie 21)

50/100.000

4.200

Zystische Fibrose (Mukoviszidose)

12/100.000

1.000

Hodgkin Lymphom

10/100.000

840

Hämophilie (Bluterkrankheit)

7,7/100.000

650

Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit)

6,5/100.000

550

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

5,2/100.000

440

Phenylketonurie

4/100.000

340

Epidermolysis bullosa (Schmetterlingskinder)

1-9/100.000

5001

Idiopathische pulmonal-arterielle Hypertonie (Lungenhochdruck)

6/100.000

5002

Creuzfeldt-Jakob-Krankheit

2/1.000.000

Unbekannt3

1 Zahlenangabe laut DEBRA Austria

2 Prävalenz der idiopathischen pulmonal-arteriellen Hypertonie gemäß Hubert et al. (2006)

3 Zahlenwert stellt Inzidenz dar; keine Angabe der Prävalenz möglich, da Betroffene sehr rasch versterben.

„Krankheit“ – ein umkämpfter Begriff

Diese Übersicht von insgesamt zehn Erkrankungen ist an eine Darstellung im Nationalen Aktionsplan 2014-2018 (vgl. BMG 2015) angelehnt. Interessanterweise wird in dieser Auflistung als erste Erkrankung das Downsyndrom angeführt, da es unter die Klassifikation einer seltenen Erkrankung fällt, was seine Häufigkeit in Österreich betrifft. Menschen mit Downsyndrom mögen nach der rechtlichen und medizinischen Klassifikation Betroffene einer seltenen Erkrankung sein. Diese Klassifikation blendet jedoch die soziale Realität aus, denn Betroffene würden sich nicht vornehmlich als Menschen mit einer seltenen Erkrankung sehen, sondern in erster Linie ihre Erkrankung unter dem Gesichtspunkt einer „Behinderung" problematisieren. Sie würden vielmehr danach fragen, wer als „krank" bzw. wer als „normal" in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird. Und wer aufgrund seiner Erkrankung mit „gesellschaftlichen Behinderungen" zu kämpfen habe.

Ein weiteres Indiz dafür ist in diesem Zusammenhang, dass die sich engagierenden und aktiven Patienten, die sich im Bereich seltener Erkrankungen untereinander vernetzen und Dachorganisationen gründen (z. B. EURORDIS auf EU-Ebene oder Pro Rare Austria in Österreich), für gewöhnlich keine Selbsthilfe- oder Patientengruppen von Menschen mit Downsyndrom und deren Angehörigen als Mitglieder haben.

Weiters kann Downsyndrom oder Trisomie 21 auch als Beispiel angeführt werden, dass „Krankheit" ein umkämpfter Begriff ist. Die Frage, inwieweit sich Menschen mit Downsyndrom und deren Angehörige als krank bezeichnen würden, hat eine politische Dimension. Im Englischen unterscheidet man zwischen „illness“ und „disease“, die beide mit „Krankheit“ ins Deutsche übersetzt werden können. In sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie in der Wissenschaftsforschung oder der Medizinsoziologie machen sich Forscher die beiden englischen Begriffe zunutze, um einerseits mit „disease“ die medizinische Beschreibung einer Krankheit zu erfassen und andererseits mit „illness“ das subjektive Erleben einzufangen. „Illness“ schließt in diesem Sinn körperliche, psychologische und soziale Dimensionen einer Krankheit mit ein und könnte im Deutschen mit „Kranksein“ übersetzt werden (vgl. Borck 2016, S. 10 ff.). Aus diesen Gründen kann gemutmaßt werden, dass Menschen mit Downsyndrom und deren Angehörige eher die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte ihrer genetischen Disposition betonen würden, um aufzuzeigen, dass sie in unserer Gesellschaft „krank gemacht“ oder „behindert“ werden als die „disease“-Dimension zu betonen.

Schließlich werden alle angeführten Erkrankungen mit ihrer geschätzten Prävalenz, also ihrem Vorkommen in der Bevölkerung, nach der Referenzdatenbank Orphanet beschrieben. Hier handelt es sich auch immer nur um Schätzungen, was zum Beispiel die genaue Anzahl von Erkrankten oder wie in der Tabelle mit „Patienten“ bezeichnet in Österreich betrifft. Generell können seltene Erkrankungen ganz unterschiedliche Prävalenzen je nach Ort und Zeit aufweisen. So basieren die Zahlen in der dritten Spalte auf hochgerechneten Daten bzw. Informationen, die unter anderem von der jeweiligen Patientenorganisation stammen.

Jedenfalls wollen wir an dieser Stelle festhalten, dass diese Zahlen und Summen immer auch eine soziale und politische Bedeutung annehmen können. So wird als zweite Erkrankung die zystische Fibrose genannt, auch unter ihrer lateinischen Bezeichnung „Mukoviszidose“ bekannt, die aufgrund ihres hohen Vorkommens in der Bevölkerung oft auch als „die häufigste seltene Erkrankung“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um eine genetische Erkrankung, die durch Produktion von Schweiß mit hohem Salzgehalt und durch Sekretion von Schleim mit abnormer Viskosität oder Zähflüssigkeit charakterisiert ist (siehe auch Orphanet). Es ist eine Stoffwechselerkrankung, die im Laufe der Erkrankung zunehmend negative Auswirkungen (Verklebung der Lunge, Verstopfung der Bauchspeicheldrüse) auf Atmung und Verdauung hat und mit Fortschreiten der Krankheit und den Auswirkungen auf den gesamten Organismus die Lebensqualität und -erwartung massiv einschränken kann (vgl. Website der Patientenorganisation Cystische Fibrose. Hilfe Österreich)2. Nachdem alle medizinischen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, kann heutzutage insbesondere eine Lungentransplantation eine lebensrettende Operation darstellen. Diese ist zwar nach wie vor medizinisch aufwendig und wie alle Organtransplantationen mit einigen Bürden verbunden (z. B. die lebenslange Einnahme von Medikamenten, die das körpereigene Immunsystem unterdrücken), wird jedoch von den betroffenen Menschen als „eine realistische Chance auf ein zweites Leben“ begrüßt. Die zystische Fibrose ist bei Kindern mit europäischer Herkunft die häufigste genetische Erkrankung, während ihre Prävalenz bei Menschen mit asiatischer Abstammung um ein Vielfaches geringer ist, ein Umstand, der noch nicht gänzlich erklärt werden konnte.

So weist die zystische Fibrose und ihre spezifische Prävalenz eine bestimmte Örtlichkeit auf, wie auch die Prävalenzen von weiteren genetischen Erkrankungen durch eine bestimmte Zeit-Dimension gekennzeichnet sind. In diesem Zusammenhang spielen auch die wissenschaftlichen Entwicklungen in der Gendiagnostik eine wesentliche Rolle. So können zum Beispiel mithilfe verschiedener Methoden der Pränataldiagnostik schon vor der Geburt Erkrankungen festgestellt und durch geplante mögliche Behandlungen verhindert werden. Es können auch Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Dies kann wiederum auf die Anzahl der Erkrankungen in einer Gesellschaft Auswirkungen haben.

In diesem Kontext wird oft über die signifikant gesunkene Prävalenz von Downsyndrom bei Neugeborenen zum Beispiel in Frankreich hingewiesen, was als Folge einer breiten Anwendung pränataldiagnostischer Methoden interpretiert wird, wie dies in der Beschreibung auf Orphanet festgehalten wird. So zählt auch die gesetzlich streng geregelte Präimplantationsdiagnostik (PID) zu einer weiteren Methode. Sie ist eine Untersuchung, die einen bei einer In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugten Embryo zellbiologisch und molekulargenetisch auf Krankheiten untersucht, bevor dieser in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Dies ist ein Themenkomplex, der sehr viele ethische und biopolitische Fragestellungen aufwirft, insbesondere auch im Kontext seltener Erkrankungen. Wir werden dies in Kapitel 4 näher beleuchten, wenn wir ausführlich die rechtliche Situation in Österreich im internationalen Vergleich betrachten.

Und schließlich wird in dieser Tabelle auch Epidermolysis bullosa (EB) angeführt, eine Erkrankung, die auch unter dem Begriff der Schmetterlingskinder insbesondere in Österreich an Bekanntheit und Bedeutung gewonnen hat. Die medizinische Prävalenz ist nicht die höchste, jedoch haben die Eltern von Kindern, die von dieser Hauterkrankung betroffen sind, eine wichtige Rolle gespielt, indem sie eine Patientenorganisation ins Leben gerufen haben, die schließlich zur Gründung eines eigenen EB-Hauses (Ambulanz, Forschungseinrichtung und medizinische Akademie) in Salzburg geführt hat (siehe auch Kapitel 2.4, S. 36 ff.). Dies ist auch ein Beispiel dafür, dass Erkrankungen nicht nur durch medizinische Charakteristika wie Prävalenz oder Inzidenz, sondern auch durch ihre spezifischen rechtlichen, ethischen, sozialen, historischen und politischen Kontexte gekennzeichnet sind.

Interessant ist auch der Umstand, dass diese Tabelle keine Krebserkrankungen beinhaltet. Diese sind meistens auch sehr seltene Erkrankungen und treten im Zusammenhang anderer seltener Erkrankungen auf, wenn diese beispielsweise eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung bestimmter Krebserkrankungen enthalten. So gibt es bei den eingerichteten Referenznetzwerken der EU mit „ERN PaedCan“ ein eigenes europäisches Referenznetzwerk für Krebskrankheiten im Kindesalter (Hämato-Onkologie) sowie mit „ERN EURACAN“ ein eigenes Netzwerk für Krebserkrankungen bei Erwachsenen mit soliden Tumoren, was Krebserkrankungen des Blutes ausschließt (siehe auch Kapitel 2.7 über die Vernetzung von Forschung auf europäischer Ebene, S. 47 ff.).

2.2 Als das erste Mal von „Orphan Drugs“ die Rede war

Das erste Mal wurde über seltene Erkrankungen gesprochen, als es zu einer breiten gesellschaftlichen und politischen Debatte über die Bedeutung sogenannter Orphan Drugs, also „verwaisten Arzneimitteln" bzw. „Arzneimitteln für seltene Erkrankungen" Anfang der 1980er-Jahre in den USA gekommen ist. In diesen Debatten war von dem „orphan drug problem" die Rede: Es wurde argumentiert, dass der Staat eingreifen müsse, weil es für Medikamente für bestimmte Erkrankungen einen viel geringeren Absatzmarkt gebe und es durch die geringe Anzahl von Patienten deswegen für profitorientierte Unternehmen in der Pharmaindustrie ökonomisch keinen Sinn mache, Investitionen in Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu tätigen. Aus diesen Gründen würde ein Problem der Orphan Drugs, also der „verwaisten Medikamente" bzw. auch der verwaisten oder seltenen Erkrankungen („orphan diseases", „rare diseases") resultieren. So kam es auf Druck einer Koalition von Patientenorganisationen und der Pharmaindustrie zu einer ersten nationalen Gesetzgebung, nämlich zum „The American Orphan Drug Act". Dieses vom US-amerikanischen Kongress 1983 verabschiedete Gesetz sollte die ökonomischen Anreize für Pharmafirmen für die Entwicklung und Forschung an Arzneimitteln und Therapien für seltene Erkrankungen sicherstellen und in weiterer Folge als Vorbild für andere nationale Gesetzesinitiativen in Staaten wie Singapur, Japan, Australien oder auch auf EU-Ebene dienen.

Gemeinsam mit der Pharmaindustrie: Patientenorganisationen werden aktiv