Sergej Djagilew und die Maler der „Welt der Kunst“ - Wsewolod Petrow - E-Book

Sergej Djagilew und die Maler der „Welt der Kunst“ E-Book

Wsewolod Petrow

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Beschreibung

Als wir vor fast zwanzig Jahren die Welt der Kunst gründeten, hatten wir den ehrgeizigen Wunsch, die russische künstlerische Tätigkeit von der Vormundschaft der Literatur zu befreien und der Gesellschaft um uns herum, die Liebe zum Wesen der Kunst einzuflößen, und das war das Ziel, das wir verfolgten, als wir das Experiment wagten. Wir betrachteten all jene als Feinde, “die die Kunst als solche nicht respektieren”, die entweder einem alten Gaul Flügel verleihen oder Pegasus vor den Karren der “sozialen Ideale” spannen oder die Idee des Pegasus ganz ablehnen. Demzufolge haben wir uns mit dem Slogan “Talente aller Richtungen, vereinigt Euch!” an die künstlerische Welt gewandt. Und so erschien in unseren Reihen sofort Wrubel neben Lewitan, Bakst neben Serow, Somov neben Maliawin. – Alexander Benois

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Wsewolod Petrow

Sergej Djagilew

und die Maler der

© 2022 Parkstone Press International, New York, USA

© 2022 Confidential Concepts, worldwide, USA

© Image-Barwww.image-bar.com

Alle Rechte vorbehalten.

Das vorliegende Werk darf nicht, auch nicht in Auszügen, ohne die Genehmigung des Inhabers der weltweiten Rechte reproduziert werden. Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen, den betreffenden Künstlern selbst oder ihren Rechtsnachfolgern. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

ISBN: 978-1-63919-961-7

Inhaltsverzeichnis

Wsewolod Petrow Sergej Djagilew Und Die Maler Der „Welt Der Kunst“

Alexander Benois (1870-1960)

Iwan Bilibin (1876-1942)

Léon Bakst (1866-1924)

Konstantin Somow (1869-1939)

Walentin Serow (1865-1911)

Alexander Golowin (1863-1930)

Nikolai Roerich (1874-1947)

Jewgeni Lanceray (1875-1946)

Mstislaw Dobuschinski (1875-1957)

Anna Ostroumowa-Lebedewa (1871-1955)

Boris Kustodijew (1878-1927)

Sinaida Serebrjakowa (1884-1967)

Igor Grabar (1871-1960)

Nikolai Sapunow (1880-1912)

Sergej Sudejkin (1882-1946)

Dimitry Mitrohin (1883-1973)

Georgi Narbut (1886-1920)

Sergej Tschechonin (1878-1936)

Abbildungsverzeichnis

Michail Wrubel, Sechsflügeliger Serafim, 1905. Aquarell, Blei und schwarze Kreide auf Papier, 33,6 x 48,5 cm. Puschkin-Museum, St. Petersburg.

WSEWOLOD PETROW SERGEJ DJAGILEW UND DIE MALER DER „WELT DER KUNST“

An der Schwelle des 20. Jahrhunderts erlebte die russische Kunst eine Phase, in der sie neue Aufgaben bekam und die Formen und Bedingungen des Kunstlebens eine grundlegende Veränderung erfuhren.

Die Jahre zwischen 1890 und 1900 waren die Scheidelinie, von der ab ein neuer Abschnitt in der Geschichte der bildenden Kunst Russlands begann. Eine neue Künstlergeneration betrat damals die Bühne der Geschichte und stellte fast alle fest gefügten Traditionen in Malerei, Grafik, Bildhauerei und angewandter Kunst grundsätzlich infrage. Autoritäten, die bislang als unerschütterlich galten, wurden ins Wanken gebracht. Der Bereich des schöpferischen Suchens erweiterte sich, eine neue Ästhetik bildete sich heraus, und es entstanden künstlerische Strömungen, die allem, was sich in der Kunst des auslaufenden 19. Jahrhunderts durchsetzte und entwickelte, resolut entgegentraten. Die Umbewertung aller Werte führte zu grundlegenden Veränderungen in der Auffassung von den Zielen und Methoden des künstlerischen Schaffens.

Eine große und in vielerlei Hinsicht entscheidende Rolle spielte in diesen Prozessen eine Gruppe von Künstlern und Kritikern, die sich um die Zeitschrift »Mir iskusstwa« (Welt der Kunst) scharten. Um die historische Bedeutung der von den Vertretern dieser Vereinigung geleisteten künstlerischen, aufklärerischen und organisatorischen Arbeit zu verstehen, macht sich zumindest eine gedrängte Übersicht über die russische Kunst der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erforderlich. In dieser Zeit hatte die akademische Malerei längst ihre führende Rolle in Russlands künstlerischer Kultur eingebüßt, bestand jedoch weiterhin, mit Unterstützung der Regierung als Richtung, die den Aufgaben der offiziellen Kunst entsprach.

Der wichtigste Platz in der russischen Kunst gehörte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts der »Genossenschaft der Wanderkunstausstellungen«. Während der Siebzigerjahre kam es zu einem gewaltigen Aufschwung im Schaffen der Künstler dieser Genossenschaft, genannt Peredwischniki (»Wanderer«), das in den Achtzigerjahren seinen Höhepunkt erreichte. ln dieser Zeit wurden auf fast jeder Wanderausstellung Meisterwerke gezeigt. Surikow schuf damals Am Morgen der Strelitzenhinrichtung, Menschikow in Berjosow und Bojarin Morosowa; Repin malte die Kreuzprozession im Gouvernement Kursk, Unerwartet und die besten seiner Porträtwerke. Neben diesen großen Künstlern machte ein ganzes Gestirn bedeutender Meister von sich reden.

Jedoch die ungewöhnliche Anspannung der Schaffenskräfte bei den »Wanderern« ließ damals schon allmählich nach und neigte sich einem Verfall zu, den die Zeitgenossen zunächst fast überhaupt nicht bemerkten. Die »Wanderer« hatten die russische Kunst auf Themen und Gestalten aus der sie umgebenden Wirklichkeit gerichtet, und eine konsequent realistische künstlerische Methode geschaffen. Gegen 1890 hörte diese Bewegung auf, eine Strömung von Neuerern zu sein, und näherte sich dem Endstadium ihrer Entwicklung.

Jedoch die in der künstlerischen Methode der »Wanderer« angelegten Möglichkeiten waren bei Weitem noch nicht erschöpft. Unter den jungen Teilnehmern der Wanderausstellungen sind noch in den Neunzigerjahren Meister zu nennen, die hervorragende Begabungen besaßen und bei der Entwicklung der realistischen Kunst eine bedeutende Rolle spielten. Auf der 22. Wanderausstellung sah man Sergej Korowins Bild Auf der Dorfversammlung (1893), auf der 23. Nikolai Kassatkins Bild Arme Leute sammeln Kohle in einer stillgelegten Grube (1894) sowie dessen Studie Bergarbeiterin (1894) und auf der 28. eine Studie von Sergej Iwanow aus dem Häftlingsleben. Jedes dieser Werke leitete umfängliche Themenzyklen der genannten Maler ein.

Sergej Korowin widmete sein Schaffen dem Bauernthema, das bei den Wanderausstellern bereits Tradition hatte, und stellte in einigen seiner Bilder eindringlich und wahrheitsgetreu das Leben des russischen Dorfes nach der Bauernreform dar.

Sergej Iwanow begann auch mit diesem Thema und schuf bereits in den Achtzigerjahren einen Bilderzyklus aus dem Leben der Bauern, die ihre angestammten Dörfer verließen und in der Hoffnung nach Sibirien gingen, dort ein besseres Leben zu finden. Jedoch nahm er in den Neunzigerjahren einen neuen Zyklus über das Leben von Häftlingen und Zuchthäuslern in Angriff, dessen Thematik besonders aktuell war, da in der Regierungszeit Alexanders III. die Reaktion wütete und der revolutionäre Kampf des Volkes in Gang kam. Wie Sergej Iwanows Biografen durchaus richtig bemerkten, wurde der Häftlingszyklus für ihn gewissermaßen zur Quelle für das Thema Revolution, das sich im Schaffen dieses Malers während der ersten RussischenRevolution herausbildete und festigte.

Nikolai Kassatkin ging noch weiter als die anderen »Wanderer«. Als erster in der russischen Malerei behandelte er Themen und Gestalten aus dem Leben des Industrieproletariats. Die Bergarbeiterin und Arme Leute sammeln Kohle in einer stillgelegten Grube leiteten gleichsam« seinen umfangreichen Bergarbeiterzyklus ein, dessen wichtigstes Werk das auf der 24. Wanderausstellung gezeigte Bild Bergarbeiter beim Schichtwechsel (1895) wurde. Der Bergarbeiterzyklus war schon völlig frei von der volkstümlerischen Sentimentalität, die für die Genrebilder der späten »Wanderer« so kennzeichnend war.

Maler wie Sergej Korowin, Iwanow und Kassatkin bestimmten jedoch nicht das Gesamtbild der Wanderausstellungen während der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.

Die meisten Künstler, die in der späten Wandererbewegung die wichtigste Rolle spielten, waren entweder Landschaftsmaler, Epigonen Isaak Lewitans und Archip Kuindschis, oder Genremaler, die die »farblose Alltagswirklichkeit ohne große Ereignisse, ohne starke und zutiefst ergreifende Gefühle« zum Hauptinhalt ihrer Bilder machten.

Die Wanderausstellungen der Neunzigerjahre wiesen fast nichts mehr auf, was den großen Werken des zurückliegenden Jahrzehnts gleichgekommen wäre. Das von bedeutenden Künstlern begonnene Werk ging allmählich in die Hände von Epigonen über.

Boris Kustodijew, Modell, 1919. Öl auf Leinwand, 51,3 x 40,4 cm. Private Sammlung.

Walentin Serow, Porträt von Ida Lwowna Rubinstein, 1910. Tempera und Kohle auf Leinwand, 147 x 233 cm. Russisches Museum, St. Petersburg.

Dabei gab es aber bereits in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, zu einer Zeit also, da die »Wanderer« noch uneingeschränkt zu herrschen schienen, die ersten, von den Zeitgenossen damals fast noch nicht bemerkten Anzeichen für eine Erneuerung der russischen künstlerischen Kultur. Der geniale Michail Wrubel begann mit seiner schöpferischen Tätigkeit, die bemerkenswerte Malerbegabung Konstantin Korowins festigte und entwickelte sich, neue lyrische Töne erklangen in Lewitans Landschaften und den Bildern des jungen Michail Nesterow, und der zweiundzwanzigjährige Walentin Serow malte sein Mädchen mit Pfirsichen, das erste Meisterwerk der Kunst jener Generation, die die »Wanderer« ablösen sollte.

Außer Wrubel beteiligten sich alle genannten Künstler an den Wanderausstellungen zwischen 1880 und 1900, auch wenn sie die ideelle Position und die Ästhetikansichten der Genossenschaft bei Weitem nicht gänzlich teilten. Im Grunde waren sie unter den »Wanderern« Fremde. Nicht umsonst nannte Nesterow sie in seinem Erinnerungsbuch »Stiefsöhne der Wanderer«. ln ihrem Bewusstsein entstand und festigte sich die Überzeugung, dass die Wandereretappe beendet war und die junge Generation neue Wege suchen müsse.

Noch eindeutiger und kategorischer lehnten die Vertreter der fortschrittlichen künstlerischen Jugend, die zwischen 1890 und 1900 auf den Plan trat, die Wandererbewegung ab. Igor Grabar, damals noch Anfänger, später aber großer Künstler und bemerkenswerter Kunstwissenschaftler, stellte in seiner »Automonografie« fest: »Zuerst begriffen Korowin, Serow, Maljutin, Wrubel, Archipow, Ostrouchow, Lewitan und danach auch wir als jüngere Generation..., dass wir nicht nur andere Ziele als Mjassojedow, Wolkow, Kisseljow, Bodarewski und Lemoch (Epigonen der Wandererbewegung — Anm. d. Verf.) hatten, sondern dass uns auch die besten ›Wanderer‹ ausgesprochen fremd waren... Wir akzeptierten nur Repin und Surikow, die uns als einzige verständlich und nahe waren... Wir wollten mehr Wahrheit, feinfühligeres Naturverständnis, weniger Konvention und »Eigenmächtigkeit«, weniger Grobheit, Handwerkelei und Schablone...«’

Das Aufbegehren der Jugend gegen die Autorität der älteren Generation, dieser typische Konflikt zwischen »Vätern und Söhnen«, findet seine Erklärung und Begründung in den Entwicklungsbedingungen des russischen Gesellschaftslebens Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die von den nichtadligen Intellektuellen (Rasnotschinzen) geprägte demokratische Entwicklungsetappe der nationalen Kultur hatte aufgehört. Jedoch für die meisten russischen Künstler jener Zeit war das Erfassen der Wirklichkeit zuweilen qualvoll, schwierig und kompliziert.

Die Bedingungen des künstlerischen Lebens wurden vielfältiger, und die aktiven Kräfte der russischen Kunst mussten umgruppiert werden.

Als eine Erscheinungsform dieses sich deutlich abzeichnenden Erfordernisses entstand in Abramzewo ein Kreis von Künstlern, die sich um Sawwa Mamontow, einen bekannten und in der Öffentlichkeit tätigen Moskauer Kunstmäzen, gruppierten. Dem Kreis gehörten einige große »Wanderer« an — Ilja Repin, Wassili Polenow und Viktor Wasnezow —, die mit der fortschrittlichen Jugend sympathisierten. Die wichtigste Rolle aber spielten hier die jungen Maler Konstantin Korowin, Walentin Serow und Michail Wrubel. Unter ihrem Einfluss entstand in Abramzewo ein Schaffensmilieu, das sich weitgehend freigemacht hatte von den Dogmen der späten Wandererbewegung. In der Arbeit dieses Kreises kamen neue wesentliche Tendenzen zum Ausdruck, die von der russischen Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.

1885 gründete Mamontow in Moskau seine russische Privatoper und zog viele große Maler zur Theaterarbeit heran. Diese schufen die Grundlagen für eine Bühnenmalerei, die frei von traditionellen Handwerkerschablonen war.

Auf Mamontows Initiative entstanden in Abramzewo Künstlerwerkstätten, in denen Arbeitsverfahren und Formen der bäuerlichen angewandten Kunst, die auf uralte Volkstraditionen zurückging, zu neuem Leben erweckt wurden; daneben aber wurden auch Neuerervorhaben von Wrubei, Golowin und anderen Meistern jener Zeit in die Tat umgesetzt. Jedoch schuf der Künstlerkreis von Abramzewo noch keine neuen organisatorischen Formen für eine künstlerische Bildungs- und Ausstellungstätigkeit, derer die russische bildende Kunst jener Zeit so sehr bedurfte.

Diese Aufgabe zu erfüllen, kam etwas später den Künstlern zu, die sich um die Zeitschrift »Mir iskusstwa« (Welt der Kunst) zusammengetan hatten. Sie trugen neue Schaffensprinzipien in die russische bildende Kunst hinein. Organisatorische Probleme hielten sie möglicherweise zwar nicht für die wichtigsten, aber unbestritten für unaufschiebbar und vorrangig.

Die Gruppe, in der diese starke und einflussreiche kulturästhetische Strömung aufkam, entstand Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts in Petersburg. Ihr Kern war ein Kreis junger Studenten, die sich zu dem bescheidenen Zweck der Weiterbildung zusammengetan hatten. Es waren ihrer nur sehr wenige. Die wichtigste Rolle spielten Alexander Benois, später Maler, Kunsthistoriker und Kritiker, Konstantin Somow, Student an der Akademie der Künste, künftiger Grafiker und Maler, Dmitri Filossofow, später Literat und Publizist, Sergej Djagilew, ein begabter Musiker, der dann ein prominenter Kunstschaffender, Kritiker und talentierter Organisator wurde, und Walter Nuwel, angehender Musikkritiker. Bald schlossen sich der Gruppe noch zwei Maler an — der junge Lew Rosenberg (der später den Namen Bakst annahm) sowie der blutjunge Jewgeni Lanceray. Vielseitige Begabtheit und eine außerordentlich hohe Bildung zeichneten die Mitglieder dieses Kreises aus. In kurzer Zeit bereiteten sie sich auf eine umfassende gesellschaftliche Tätigkeit vor und beeinflussten nun das Kunstleben ihrer Zeit.

Walentin Serow, Raub der Europa, 1910. Öl auf Leinwand, 71 x 98 cm. Tretjakow-Galerie, Moskau.

Boris Kustodijew, Liegendes Modell, 1915. Kohle, Rötel und Buntstifte auf Papier, 47 x 57 cm. Brodski-Museum, St. Petersburg.

Boris Kustodijew, Porträt der Schauspielerin Nadezha Komoroskaya. Öl auf Leinwand, 25,6 x 29,6 cm. Puschkin-Museum der Schönen Künste, Moskau.

Bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Tätigkeit dieses Kreises war die Rolle Sergej Djagilews (1872-1929) von besonderer Bedeutung. Ein feines Kunstverständnis verband sich bei ihm mit Willensstärke und unbändiger Energie. Mehr als jeder andere seiner Mitstreiter war er mit der Fähigkeit begabt, die Strömungen seiner Zeit zu erahnen und zu erfassen. Die wichtigste Idee, die ihn leitete, erwuchs aus seiner tiefen Überzeugung von der Weltgeltung der russischen Kunst. Djagilew setzte sich das Ziel, die besten russischen Künstler zusammenzubringen, ihnen zu helfen, im europäischen Kunstleben Fuß zu fassen, und — wie er selber sagte — »die russische Kunst im Westen zu rühmen«. Dieser Aufgabe widmete er all seine Tätigkeit. Gesteckte Ziele ging er beharrlich und ausdauernd an, wobei er es verstand, jegliche Hindernisse zu überwinden.

1898 veranstaltete Djagilew in Petersburg eine Ausstellung russischer und finnischer Künstler, auf der erstmalig die vereinte Front der jungen russischen Malerei gegen die akademische Routine auftrat. Djagilews Petersburger Gruppe, der Somow, Bakst, Benois und Lanceray angehörten, schloss ein enges Bündnis mit Wrubel, Lewitan, Serow, Konstantin Korowin, Nesterow, Rjabuschkin und anderen großen Moskauer Malern. An der Ausstellung beteiligten sich auch einige finnische Maler, allen voran Gallön-Kallela und Edelfelt. Diese umfassende Vereinigung, weit über die Maßstäbe von Sergej Djagilews ursprünglicher Gruppe hinausgewachsen, diente als Grundlage, auf der Djagilew eine Kunstzeitschrift herausbringen konnte, die das Zentrum der russischen Kunst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde.

Die Zeitschrift bekam den Namen »Mir iskusstwa« und erschien sechs Jahre lang (1899 bis 1904) unter Djagilews Federführung und engster Beteiligung der gesamten Petersburger Gruppe. 1901 schloss sich ihr Grabar an, der bald darauf einer der aktivsten und einflussreichsten Kritiker wurde. Die führenden Männer der Zeitschrift veranstalteten alljährlich unter Djagilews Leitung Kunstausstellungen mit dem Namen »Welt der Kunst«, für die viele fortschrittliche Künstler Petersburgs und Moskaus gewonnen werden konnten.

Den Kern der Ausstellungen bildeten unverändert die Arbeiten der Maler und Grafiker Somow, Benois und deren engsten Mitstreiter, die Djagilews Petersburger Gruppe angehörten. Unter ihnen entstand eine eigenwillige künstlerische Strömung, für die sich in unserer Kunstwissenschaft schon seit Langem die Bezeichnung »Welt der Kunst« durchgesetzt hat. Nachstehend wird von den spezifischen Besonderheiten dieser Strömung, von ihrer künstlerischen Problematik und den von ihr entwickelten Darstellungsprinzipien die Rede sein. Es muss jedoch immer wieder hervorgehoben werden, dass sich weder die Bildungs- noch die Ausstellungsarbeit der führenden Männer dieser Zeitschrift auf bestimmte künstlerische Strömungen beschränkt haben und dass die »Welt der Kunst« ohne die vielen und mannigfaltigen Erscheinungen in der russischen künstlerischen Kultur Anfang des 20. Jahrhunderts nicht begriffen werden kann.

Mit anderen Worten gesagt, die Geschichte der »Welt der Kunst« hat zwei besondere, wenn auch miteinander verbundene Aspekte: Einerseits ist sie die Geschichte einer Schaffensrichtung, die sich in der Petersburger Künstlergruppe unter Benois und Somow herausgebildet hat, und andererseits ist sie die Geschichte einer komplizierten kulturästhetischen Bewegung, die eine Reihe großer russischer Meister, deren Schaffen sich unabhängig von der Petersburger Gruppe entwickelte und zuweilen in seinem Gehalt und seiner Darstellungsweise weit von ihr entfernt war, in ihren Bann zog. Die Bewegung erfasste nicht nur Malerei und Grafik, sondern auch einige angrenzende Bereiche der Kultur und beeinflusste die russische Architektur, Bildhauerei und Poesie, das Ballett- und Operntheater sowie auch die Kunstkritik und Kunstwissenschaft ganz erheblich.

Die Breite der Ästhetikauffassungen bei den führenden Vertretern der »Welt der Kunst« zeigte sich besonders deutlich in deren Ausstellungstätigkeit. Djagilew war bestrebt, hervorragende russische Künstler unterschiedlicher Schaffenspositionen zusammenzufassen. Die großen »Wanderer« vermochte er allerdings nicht für die »Welt der Kunst« zu gewinnen. Repin beteiligte sich nur an einer ihrer Ausstellungen (1899), brach dann aber jäh mit der »Welt der Kunst« und wurde ihr leidenschaftlicher Gegner (Anlass für den Bruch war ein Beitrag in Djagilews Zeitschrift, der eine äußerst abfällige Meinung über das Schaffen Aiwasowskis, Flawizkis, Konstantin Makowskis und einiger anderer Maler der akademischen Richtung enthielt und Repin empörte). Ohne Folgen blieb auch Djagilews kurze Begeisterung für die Bilder Viktor Wasnezows, dem eine spezielle Nummer der Zeitschrift gewidmet worden war. Jedoch unter den Meistern der jüngeren Generation warb Djagilew eifrig um Verbündete und zog die besten Kräfte der russischen Kunst auf seine Seite.

Viele Teilnehmer von Djagilews Ausstellungen aber waren nur zeitweilig Mitläufer der »Welt der Kunst«. Keinerlei positives Programm verband sie mit der Petersburger Gruppe. Wie Grabar maßgeblich bezeugt, hatten sie sich nur »zum Zeichen des gemeinsamen Hasses auf die ungeheuerliche Abgeschmacktheit der Petersburger (akademischen — Anm. d. Verf.) Ausstellungsgruppierungen sowie der Verachtung gegenüber der dekadenten Kunst der einst starken ›Wanderer‹ zusammengetan«. Durchaus nicht edles befriedigte sie auch bei der »Welt der Kunst«, jedoch hofften sie, hier eine hohe künstlerische Kultur zu finden.

Das Gesagte gilt in erster Linie für Wrubel, den einzigen Künstler, der sein Leben lang einen anderen Weg als seine Zeitgenossen ging. Die moralische Unterstützung aber, die er durch die »Welt der Kunst« bekam, war für ihn wahrlich von hohem Wert. Nicht umsonst blieb er bis zu seinem Tode ständiger Teilnehmer aller Ausstellungen, die Djagilew veranstaltete. Genauso ein, wenn auch weniger beharrlicher, Mitläufer war Nesterow, der sich der »Welt der Kunst« erst begeistert anschloss, sich dann aber bald wieder von ihr abwandte. Es kann angenommen werden, dass er durch die allzu eindeutige Orientierung der Zeitschrift am Westen abgestoßen wurde. Eine große Gruppe zeitweiliger Mitläufer bildeten die Moskauer Meiler Konstantin Korowin, Abram Archipow, Apollinari Wasnezow, Sergej Maljutin, Swjatoslaw Schukowski und Sergej Winogradow, die in der Folgezeit — als Gegenstück zur Petersburger Vereinigung — den »Verband russischer Künstler« mit seinem Führungszentrum in Moskau gründeten.

Michail Wrubel, Die Schwanenprinzessin, 1900. Öl auf Leinwand, 142,5 x 93,5 cm. Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau.

Marc Chagall, Der Geburtstag, 1923. Öl auf Karton, 30,6 x 94,7 cm. Solomon R. Guggenheim-Museum, New York.

Zuverlässigere Bundesgenossen der »Welt der Kunst« waren Philipp Maljawin, der sich an Djagilews sämtlichen Ausstellungen beteiligte, sowie Igor Grabar, der als Maler in den Ausstellungen und als Kritiker und Theoretiker in der Zeitschrift auftrat.

Einen ganz besonderen Platz unter den Verbündeten der »Welt der Kunst« nahm Serow ein. Er wurde nicht nur ständiger Ausstellungsteilnehmer, sondern organisierte auch mit Djagilew und Benois die Ausstellungen und gehörte zu jenem inoffiziellen Redaktionsrat, der die Kunstpolitik der Zeitschrift bestimmte.

Dass Serow dafür gewonnen werden konnte, gehört eigentlich mit zu den größten Erfolgen der Gruppe um Djagilew, denn in seiner Person bekamen die Künstler der »Welt der Kunst« etwas mehr als einfach nur einen Bundesgenossen. Sie beeinflussten die Ästhetikauffassungen und in gewissem Maße sogar das Schaffen dieses bemerkenswerten realistischen Meisters, der sie an Kraft und Vielseitigkeit seines Talents weit übertraf. Serow wurde durchaus »einer der Ihrigen«. In seiner Malerei und Grafik setzte er wesentliche ideelle und künstlerische Grundsätze der »Welt der Kunst« um und beeinflusste seine Zunftgenossen in nicht geringem Maße.

Es wäre natürlich falsch und übertrieben, Serows Schaffen im letzten Jahrzehnt seines Lebens auf die »Welt der Kunst« reduzieren zu wollen. Im Gegenteil, ohne seine Neuerertendenzen wäre auch all das Gute, was Benois und andere Künstler der »Welt der Kunst« getan haben, kaum möglich gewesen.

Wenn Serow auch Neues schuf, so verlor er doch nie die Verbindung zu den Traditionen der realistischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Aber sein angespanntes Suchen in der späten Schaffensperiode hing doch in vielerlei Hinsicht mit künstlerischen Problemen zusammen, welche die Gruppe Djagilews beschäftigten.

Einflüsse von Ideen der »Welt der Kunst« zeigten sich auch deutlich im Schaffen Nikolai Roerichs, der 1910 der Gruppe beitrat und in den Jahren vor dem Krieg und vor der Revolution dann eine wichtige Rolle in ihr spielte.

Die »Welt der Kunst« hatte jedoch nicht nur Verbündete und zeitweilige Mitläufer, sondern auch leidenschaftliche Anhänger, die ihr Schicksal als Künstler für immer mit ihr verbanden. 1899 schlossen sich ihr Anna Ostroumowa-Lebedewa, 1900 Iwan Bilibin sowie 1902 Mstislaw Dobuschinski und Alexander Golowin an. Diese jungen Künstler verbanden sich mit dem Kern der Gruppe Djagilews. Ausgesprochen selbstständig verarbeiteten sie die Schaffenskonzeption der »Welt der Kunst« und traten ihr als überzeugte Anhänger und Fortsetzer des von Djagilew begonnenen Werkes bei.

Beim Sammeln und Konsolidieren der aktiven Kräfte der russischen Kunst ihrer Zeit brachten Djagilew und seine Mitarbeiter eine ziemliche Wendigkeit, Ausdauer, Taktgefühl und sogar Weitblick auf.

Allerdings gelang es ihnen nicht, einige Fehleinschätzungen zu vermeiden. So ignorierten sie lange Zeit Viktor Borissow-Mussatow, obwohl gerade dieser Künstler der »Welt der Kunst« aufgrund seiner Arbeitsverfahren und Motive besonders nah hätte sein können. Grabar erzählt, kein anderer als Serow habe Djagilew empfohlen, Borissow-Mussatow nicht zum Ausstellen in der »Welt der Kunst« aufzufordern, und habe dessen Arbeiten verächtlich »billiges Zeug« genannt.’ In der Folge änderten die Leute von der »Welt der Kunst« zwar ihre Haltung gegenüber Borissow-Mussatow grundlegend, aber da war es bereits zu spät. Borissow-Mussatow starb, ohne die Anerkennung der Künstler und Kritiker erfahren zu haben, die ihn doch eigentlich früher als jeden anderen hätten akzeptieren und unterstützen müssen. Erst 1906, als die »Welt der Kunst« nicht mehr erschien und Borissow- Mussatow bereits tot war, zeigte Djagilew auf seiner letzten Ausstellung mehr als fünfzig Arbeiten dieses Künstlers und machte ihn so nach seinem Tode noch berühmt. Ebenso ein Fehler der »Welt der Kunst« war, dass sie Andrej Rjabuschkin unterschätzte, und sehr falsch war auch, dass sie den impressionistischen Versuchen junger Künstler keinerlei Beachtung schenkte.

Kusma Petrow-Wodkin, Schlummern, 1910. Öl auf Leinwand, 161 x 187 cm. Russisches Museum, St. Petersburg.

Léon Bakst, Platzregen, 1906. Gouache und Tusche auf Papier, 15,9 x 13,3 cm. Russisches Museum, St. Petersburg.

Und dennoch — trotz edler Irrtümer und ungeachtet aller Fehleinschätzungen — erreichte die »Welt der Kunst« ihre Ziele in ungewöhnlich kurzer Frist. Ihre Tätigkeit hatte weitreichende Folgen.

Ihre Ausstellungen bewirkten eine tiefgreifende Wende in den Ästhetikauffassungen eines bedeutenden Teils der russischen Intelligenz, trugen zu ihrer Weiterbildung bei und gaben ihr neue Geschmacksrichtungen sowie neue Vorstellungen von der Kunst. Diese Ergebnisse hätten ohne die Hilfe von Djagilews Zeitschrift wohl kaum erreicht werden können.

Die Kunstpolitik der Zeitschrift wurde allerdings nicht nur von Djagilew bestimmt. Zu nennen ist neben ihm auch Alexander Benois, Ideologe und Theoretiker der »Welt der Kunst«, ein hochbegabter Mann mit einem umfassenden und vielseitigen Wissen. Am vollständigsten und deutlichsten verkörperte er den in den Kreisen der »Welt der Kunst« entstandenen und für sie kennzeichnenden Typ des hochgebildeten Künstlers, der die Geschichte der Künste kannte, der vergessene Werte der Ästhetik wiederentdeckte und interpretierte.

Zu diesem Typ gehörten auch andere Kritiker, die in der Zeitschrift mitwirkten, in erster Linie Igor Grabar und Sergej Jaremitsch. Beide hinterließen eine tiefe Spur nicht nur in der russischen Kunst, sondern auch in der Kunstwissenschaft. Ein Mensch ganz anderen Schlages, fern von der Kunst, war der Publizist Dmitri Filossofow, der die Literaturabteilung der Zeitschrift leitete. Übrigens hatte diese Abteilung ihre eigene, vorwiegend religiös-philosophische Problematik, die in keinerlei Zusammenhang mit der Problematik der Kunstabteilung stand. Diese unüberwindbare »Zweigleisigkeit« der »Welt der Kunst«, die schon von ihren Zeitgenossen festgestellt wurde, war dann später auch einer der Gründe für ihren Verfall und ihre Auflösung.

Die Tätigkeit der Zeitschrift erschöpfte sich durchaus nicht in vielsagenden Deklarationen, im Kampf gegen Akademismus und Wandererbewegung, sondern ihr Programm war umfassender und wurde mit ungewöhnlicher Energie und Beharrlichkeit in die Tat umgesetzt.

Die aufklärerische Tätigkeit der »Welt der Kunst« verlief während der sechs Jahre ihres Bestehens in folgenden zwei Hauptrichtungen: einerseits behandelte sie den Stand der bildenden Kunst in Russland und einigen Ländern Westeuropas zur damaligen Zeit, und andererseits entdeckte sie ihren Lesern planmäßig und systematisch vergessene oder unverstanden gebliebene Werte nationaler künstlerischer Kultur der Vergangenheit.

In den ersten Jahren ihrer Tätigkeit wandte sich die Redaktion der Zeitschrift hauptsächlich Problemen der zeitgenössischen Malerei zu. Sie spiegelte das russische Kunstleben ihrer Zeit objektiv wider, indem sie Reproduktionen von Bildern veröffentlichte, die in den unterschiedlichsten Ausstellungen (darunter auch denen der »Wanderer« und der »Akademiker«) gezeigt wurden, und räumte daneben auch der neuen westeuropäischen Kunst sehr viel Platz ein. Noch nie hatte die russische Gesellschaft die Möglichkeit gehabt, sich so umfassend mit den zeitgenössischen Kunstströmungen in Deutschland, England und den skandinavischen Ländern sowie auch mit der fortschrittlichen französischen Kunst des 19. Jahrhunderts, von Ingres, Corot und Daumier bis hin zu den Impressionisten und weiter dann zu Cézanne, van Gogh und dem jungen Matisse vertraut zu machen. Doch ihre größte Aufmerksamkeit galt nicht diesen großen Neuerern, deren Schaffen die Entwicklung der Weltkunst des 20. Jahrhunderts vorbestimmte, und auch nicht einmal den Impressionisten, die die Theoretiker der »Welt der Kunst« lange Zeit zu unterschätzen geneigt waren. Im Vordergrund standen Deutschlands Künstler, teilweise die Engländer und die Skandinavier, die am meisten von den Strömungen der Moderne berührt worden waren. In ihrer Anfangszeit brachte die »Welt der Kunst« dem Schaffen solcher Symbolisten und Stilisierer wie Arnold Böcklin, Max Klinger, Aubrey Beardsley und Edvard Munch große Wertschätzung entgegen.

Aber in dieser Begeisterung für die Moderne lag nicht wenig Zufälliges und Übernommenes, lag möglicherweise sogar etwas von einem jünglingshaften Bestreben, das Publikum »schocken« zu wollen. Das legte sich aber später, und an seine Stelle traten andere Interessen, die seriöser waren und organischer mit den Erfordernissen der nationalen Kultur zusammenhingen. Fortschreitend gewannen Themen aus dem russischen Altertum an Bedeutung in der Zeitschrift. Sie entwickelte sich von der Moderne zum Retrospektivismus. Im Verlaufe dieser Evolution machten die Mitarbeiter der Zeitschrift eine Reihe essenzieller kunstgeschichtlicher Entdeckungen.

Boris Kustodijew, Design für die Oper „Die Zarenbraut“ von Nikołaj Rimski-Korsakow, 1920. Aquarell, Papier, 33 x 58,5 cm. Das Staatliche Kunstmuseum, Samara, Russland.

Alexander Golowin, Porträt von Dmitry Smirnov als Grieux in Jules Massenets „Manon“, 1909. Tempera auf Leinwand, 210 x 116 cm, Theatermuseum Bakhruschin, Moskau.