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Über 70 Prozent der weiblichen Pflegekräfte bzw. über 40 Prozent der männlichen Pflegekräfte wurden schon einmal sexuell belästigt. Wer Opfer wird, leidet. Nicht nur im Moment des Übergriffs, sondern v. a. hinterher: Pflegekräfte berichten von emotionaler Erschöpfung, depressiven Verstimmungen oder psychosomatischen Beschwerden. In diesem Buch wird anhand von grundlegenden Informationen und zahlreichen Interviews geschildert, wie Pflegekräfte sexuelle Gewalt erleben, wie sie diese Erlebnisse verhindern und sich zukünftig mit einer klaren Haltung davor schützen können und: wie sie mit Erfahrungen von sexueller Gewalt umgehen können (als Einzelperson, als Team, unterstützt von der Leitung). Zwei Aspekte sind wichtig: 1. Mit diesem Handlungsleitfaden können Pflegende ein deutliches Zeichen setzen: „Mit mir nicht mehr!“ 2. Führungskräfte erhalten mit diesem Buch eine wichtige Arbeitsgrundlage, um sexuelle Gewalt/Übergriffe aus der Tabuzone herauszuholen, transparent darzustellen, zu besprechen und ihre Teams so zu unterstützen.
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Seitenzahl: 172
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Gabriela Koslowski studierte praktische Psychologie und psychologische Beratung. Sie arbeitet als selbstständige psychologische Beraterin und Psycho-Coach in ihrem eigenen Unternehmen »Lebensspur.org«. Als Lehrerin für Pflege war sie mit den Fächerbereichen Pflege, Geragogik und Psychologie 18 Jahre lang an verschiedenen Schulen tätig. Als Mentalcoach hält sie heute Vorträge und gibt Seminare in der Gesundheitsbranche und Unternehmen und arbeitet als zertifizierte Mediatorin. In ihrer 12-jährigen Tätigkeit als examinierte Krankenschwester arbeitete sie auf einer internistischen Station.
»Sie selbst sind der einzige Mensch, der genau weiß, wo seine eigene individuelle Grenze ist.«
GABRIELA KOSLOWSKI
pflegebrief
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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8426-0864-1 (Print)ISBN 978-3-8426-9114-8 (PDF)ISBN 978-3-8426-9115-5 (EPUB)
© 2021 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7,30173 Hannover, www.schluetersche.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autoren und des Verlages. Autorin und Verlag haben dieses Buch sorgfältig erstellt und geprüft. Für eventuelle Fehler kann dennoch keine Gewähr übernommen werden. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus in diesem Buch vorgestellten Erfahrungen, Meinungen, Studien, Therapien, Medikamenten, Methoden und praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen. Insgesamt bieten alle vorgestellten Inhalte und Anregungen keinen Ersatz für eine medizinische Beratung, Betreuung und Behandlung.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Buch die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich Personenbezeichnungen gleichermaßen auf Angehörige des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie auf Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.
Etwaige geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass es sich um freie Warennamen handelt.
Lektorat: Claudia Flöer, Text & Konzept FlöerCovermotiv: Farknot Architect – stock.adobe.comCovergestaltung und Reihenlayout: Lichten, Hamburg
Vorwort
Einleitung
1Sexuelle Belästigung
1.1… und die Reaktionen darauf
1.2… und das Gesetz
1.3Sexuelle Belästigung vs. sexueller Übergriff
1.4Nonverbale, verbale und körperliche sexuelle Belästigung
1.4.1Verbale Übergriffe
1.5Zahlen und Fakten
1.6Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
1.6.1Alina S.: »Ich war sprachlos«
2Notwehr oder rechtfertigender Notstand?
3Berufsrisiko »Sexueller Übergriff«?
3.1Luise R.: »Ich habe immer noch eine tierische Wut!«
3.1.1Die Handlungsstrategien
3.2Schluss mit der defensiven Gegenwehr
3.3Sexuelle Belästigung durch ältere Menschen
3.4Sexuelle Belästigungen durch Patient*innen
3.4.1Elvira K.: »Ich habe mich sehr geschämt«
3.4.2Marina R.: »Hinterher habe ich geheult«
4Selbstbewusstsein – So trainieren Sie das richtige Standing
5Nähe und Distanz
5.1Julia P.: »Mich überkommt der Ekel!«
5.2Die Distanzzonen
5.2.1Greta K.: »Ich möchte nicht berührt werden!«
5.2.2Die eigenen Grenzen achten
6Körperliche und seelische Folgen von Grenzüberschreitungen
6.1Psychische Störungen
6.2Psychosomatische Beschwerden
6.3Dissoziation
6.4Strukturelle Dissoziation
6.5Selbstverletzungen
6.6Zwangserkrankungen
7Ihr Notfallsystem
7.1Nutzen Sie eine klare Sprache
7.2Ignorieren Sie eine sexuelle Belästigung nicht
7.3Entwickeln Sie Ihr eigenes Notfallsystem
7.4Besuchen Sie jährlich Seminare zum Thema
7.5Nutzen Sie Coaching und Supervision
7.6Setzen Sie Entspannungs-Übungen ein
7.7Stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl
8Übergriffe auf männliche Pflegekräfte und Ärzte
8.1Ein Tabu wird gebrochen
8.2Martin S.: »Sie zog meine Hand in ihren Schritt«
8.3Übergriffe auf Ärzte
8.4Dr. Hartmut G.: »Hätte nie gedacht, dass mir so etwas passiert!«
9Sexualität im Alter
9.1Der Wunsch älterer Menschen nach Nähe
9.2Die Sehnsucht nach Berührung bei älteren Menschen in Heimen
9.3Sexuelle Bedürfnisse älterer Menschen – Hilfen und Unterstützungsmöglichkeiten
9.3.1Lena S.: »Mein Vater ist ein Sexmonster«
9.3.2»Oft geht es nur um Berührung«
9.3.3Berührerinnen
9.3.4Sexualbegleiter*innen
9.3.5Die Entwicklung der Sexualassistenz
10Besondere Settings, besondere »Täter«
10.1Sexuelle Übergriffe im Pflegedienst
10.1.1Gudrun H.: »Von wegen hilfloser Angehöriger!«
10.2Übergriffe von demenziell veränderten Menschen
10.2.1Melanie D.: »Mir wurde richtig schlecht!«
10.2.2Interventionen bei Demenzbetroffenen
10.3Nachts allein auf Station
10.3.1Anja B.: »Ich habe mich so geschämt!«
10.4Sexuelle Übergriffe von Vorgesetzten
11Interventionen im Unternehmen
11.1Susanne S.: »Meine Leitung hat mich sehr unterstützt«
11.2Tipps für Leitungskräfte
11.2.1Interventionskatalog für Führungskräfte
11.3Belästigung von Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund
11.4Handlungsleitfaden für ein strukturiertes Beratungsgespräch
12Rechte und Schutzmaßnahmen
12.110 Tipps, wie Sie sich im Vorfeld schützen können
12.2Denken Sie jetzt an sich!
12.3Setzen Sie auf Experten
12.4Erstellen Sie ein Kraftbuch
12.5Das Notfall-Konzept
12.6Die 3-Stufen-Regel
13Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
13.1Denise K.: »Ich habe mich so gedemütigt gefühlt«
13.2Arbeitgeber ziehen zu selten Konsequenzen
13.2.1Gloria N.: »Am meisten verletzte mich die Reaktion meiner Kollegin«
13.3Unternehmen müssen handeln, weil immer mehr Personal fehlt
13.3.1Mara S.: »Ich war noch Tage später wütend«
14Hilfe nach einem Übergriff
14.1Kontakte zu professionellen Ansprechpartnern
14.2Hilfreiche Adressen
15»Sexuelle Übergriffe« als Thema im Pflegeunterricht
15.1Lernen am Fallbeispiel
15.2Handlungsleitfaden für Berufsanfänger
16Rückendeckung vom Team und Vorgesetzten
16.1Prävention ist wichtig
16.2Sie sind nicht allein!
16.3Lena B.: »Es ist wichtig, über sexuelle Übergriffe zu sprechen«
Nachwort
Literatur
Register
Warum schreibe ich dieses Buch? Weil es noch keines gibt! Es gibt Bücher darüber, dass Pflegekräfte Gewalt und sexualisierte Gewalt ausüben: gegenüber Patient*innen, Bewohner*innen und Angehörigen. Doch es wird nie darüber geschrieben, was Pflegende, Ärzte/-innen, Physiotherapeut*innen, Auszubildende in Krankenhäusern, Altenheimen oder in ambulanten Pflegediensten erleben. Sexuelle Übergriffe sind seit vielen Jahrzehnten ein Tabu.
Pflegende haben unglaublich hohe fachliche und soziale Kompetenzen. Doch daneben benötigen sie auch eine klare Haltung gegenüber sexuellen Übergriffen. Sie brauchen die Möglichkeit, sich erfolgreich zu wehren – verbal und nonverbal.
In meiner jahrelangen Arbeit bin ich in Einzelsitzungen und in über 1.000 Seminaren mit Gruppen, Teams, Leitungskräften, Ärzt*innen, Auszubildenden und Geschäftsführer*innen immer wieder auf das Thema »Sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt« gestoßen. Ich spürte immer wieder die Hilflosigkeit, hörte immer wieder dieselben Fragen: »Wo bekomme ich Hilfe?« – »Gibt es einen Handlungsleitfaden?« – »Gibt es Strategien, damit umzugehen?« Das sind Fragen, die mich sehr beschäftigt haben, und so habe ich lange recherchiert.
Ich fand einige Facharbeiten und Artikel zu der Thematik, jedoch kein Buch, in dem es darum geht, Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, zu interviewen und dann mit ihnen einen individuellen Handlungsleitfaden zu erarbeiten, der ihnen hilft, aus der Opferrolle herauszutreten, Sicherheit und Selbstbewusstsein zu erlangen. Erschreckend empfand ich, dass es selbst bei einem Leitfaden der Bundesregierung zum Thema sexualisierte Gewalt nur einen kleinen Absatz gab, dass Pflegekräfte von Bewohner*innen belästigt werden und Übergriffe erfahren. Der Fokus wurde auf die andere Seite gelegt: Pflegekräfte üben Gewalt und Vernachlässigung auf Pflegebedürftige aus. Das hat mich noch einmal darin bestärkt, wie wichtig es ist, dieses Thema aufzugreifen und sich mit einem Tabu auseinanderzusetzen, das schon seit Jahrzehnten im Pflegealltag besteht.1
In diesem Buch behandle ich Übergriffe, die Menschen aus den verschiedensten medizinischen Berufsgruppen betreffen:
• Sexuelle Übergriffe auf weibliches Pflegepersonal,
• sexuelle Übergriffe auf Auszubildende
• sexuelle Übergriffe von männlichen Angehörigen
• sexuelle und verbale Übergriffe auf Ärzt*innen,
• Übergriffe auf Physiotherapeuten,
• sexuelle Übergriffe von älteren Damen auf Männer und männliche Auszubildende,
• sexuelle Übergriffe von Patientinnen auf männliche Ärzte,
• Übergriffe von Vorgesetzen auf Mitarbeiterinnen,
• sexuelle und verbale Übergriffe von Patient*innen und Bewohner*innen auf weibliche Migranten,
• sexuelle Übergriffe von Demenzkranken auf das Pflegepersonal,
• sexuelle Übergriffe in Krankenhäusern, Seniorenheimen, ambulanten Pflegediensten.
Ein zweiter Grund, warum ich dieses Buch schreibe, ist, dass ich vor vielen Jahren als Auszubildende selbst einen sexuellen Übergriff erlebt habe. Ich hatte sehr viel Glück, da mir die Reaktion der Stationsleitung und ihre Haltung geholfen haben, Selbstsicherheit zu erlangen und Unterstützung erfahren zu dürfen.
Ein relativ neues Schlagwort ist der Begriff »sexueller Übergriff« – und zwar nicht nur in den Medien, sondern auch in vielen Ausprägungen und Facetten im Pflegealltag. Doch wann liegt eine sexuelle Belästigung vor? Wann sprechen wir überhaupt von einem Übergriff? Ist es schon ein Blick oder muss eine Berührung erfolgen? Und wie kann ich mich klar abgrenzen? Wie kann ich als Leitungskraft Mitarbeiter*innen und Auszubildende schützen?
Als psychologische, systemische Beraterin arbeite ich jeden Tag mit Pflegekräften, Ärzt*innen und Auszubildenden zusammen, die verschiedene Belästigungen erlebt haben. Es sind nicht immer nur Frauen, die Übergriffe erleben, auch Männer sind davon betroffen.
Menschen, die pflegen, unterstützen, begleiten und jeden Tag Gespräche führen, benötigen dazu eine besondere Fähigkeit: einen gesunden Umgang mit Nähe und Distanz. Das bedeutet, sie müssen Nähe zulassen können, sich emotional einfühlen können in die Lebenssituation von Bewohner*innen, Patient*innen und auch Angehörigen. Menschen in medizinisch-pflegerischen Berufen leisten jeden Tag Beziehungsarbeit, das heißt, sie müssen eine Balance zwischen der Nähe finden und gleichzeitig die nötige Distanz wahren.
Je mehr Sie als Pflegekraft wissen, wo Ihre eigene Distanzzone ist, desto mehr wissen Sie um Ihre persönliche Grenze und können sie artikulieren und auch demonstrieren: durch Worte, Gestik und Körpersprache. Sie haben das Recht dazu! Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich klarstellen. Kein Mensch hat das Recht, die persönliche Grenze eines anderen zu ignorieren oder zu überschreiten!
Bevor ich auf die Ursachen, Auslöser und die Präventionsmaßnahmen eingehe, möchte ich Ihnen von dem Übergriff berichten, den ich als 19-jährige Schwesternschülerin erlebt habe und der mich für mein weiteres Leben sehr geprägt hat.
1984 war ich als Krankenpflegeschülerin auf einer chirurgischen Station eingesetzt und sollte die Grundpflege eines jungen 23-jährigen Mannes übernehmen, der auf einem Vierbettzimmer lag und sich den rechten Arm und das linke Bein gebrochen hatte. Zu dieser Zeit trugen wir Schülerinnen grüne lange Kittel. Während der Grundpflege drehte ich dem jungen Mann den Rücken zu, um den Waschlappen aus der Waschschüssel zu nehmen und an den Patienten weiterzureichen. In diesem Moment spürte ich seine Hand unter meinem Kittel, die langsam nach oben glitt. Ich war schockiert, drehte mich mit einem Ruck herum und schlug mit meinem rechten Handrücken zu – direkt ins Gesicht des jungen Mannes. Ein Reflex! Ich war schockiert. Das Erstaunen im Zimmer war groß, weil die anderen Patienten nicht gesehen hatten, was der junge Mann getan hatte. Es wurde unruhig im Zimmer, ich war fassungslos. Was hatte ich getan? Mein erster Gedanke war nicht: »Ich bin belästigt worden!«, sondern: »Ich habe einen Patienten geschlagen!« (Übrigens ein Phänomen, das ich immer wieder von belästigten Schwestern, Ärztinnen und weiblichen Auszubildenden in meinen Seminaren höre: Sie suchen den Fehler bei sich).
Ich versuchte verließ fluchtartig das Zimmer. Zum Glück lief ich unserer Stationsschwester in die Arme, einer Nonne, der ich aufgelöst von dem Vorfall berichtete. Sie sagte: »Das kläre ich sofort!«, lief schnellen Schrittes zu dem Vierbettzimmer und ich hörte sie schimpfen.
Im Anschluss schrieb sie ein Protokoll und verständigte den Oberarzt, der auch noch einmal mit dem jungen Mann sprach. Die Schwestern wurden befragt, warum eine 19-jährige Schülerin zu einem jungen Mann geschickt wurde, um die Grundversorgung durchzuführen. Schließlich teilte mir die Stationsschwester mit, dass ich nicht mehr auf dieses Zimmer müsste. Ich war unendlich erleichtert und froh, dass die Stationsschwester mir geglaubt hatte. Das Gefühl, einen Patienten geschlagen zu haben, wurde überlagert von dem Gefühl, belästigt worden zu sein. Im Anschluss habe ich diesen Vorfall reflektiert, indem ich mir folgende Fragen stelle:
• Habe ich etwas falsch gemacht?
• Habe ich dem jungen Mann falsche Signale gesendet?
• Habe ich mich während der Grundpflege falsch verhalten?
Ich dachte lange darüber nach und beantwortete alle Fragen mit Nein. Mir hat die Vorgehensweise der Stationsschwester sehr geholfen und dafür bin ich unendlich dankbar. Die Art und Weise, wie mit diesem Erlebnis umgegangen wurde, hat mich auf meinem weiteren Lebensweg gestärkt und mir sehr viel Sicherheit gegeben. Ich wurde ernst genommen und erfuhr Unterstützung. Das ging vielen meiner Seminarteilnehmer*innen wesentlich anders. Darauf gehe ich in den weiteren Kapiteln noch näher ein.
Liebe Leserinnen und Leser,
ich möchte Ihnen mit Hilfe meines Buches eine Unterstützung geben, die Ihnen hilft, sich bei sexuellen Übergriffen zu wehren, Mut zu fassen, Grenzüberschreitungen nicht hinzunehmen und zügig zu reagieren! Sie sollen die Möglichkeit haben, zu sagen: »Jetzt reicht’s – Nicht mit mir! Ich will raus aus der Opferrolle!«
Danke
Mein Dank gilt meiner tollen Lektorin, Claudia Flöer von Text & Konzept Flöer, für unseren immer wertschätzenden, anregenden Austausch und die vielen wertvollen Tipps während des Schreibens, meinen Enkelkindern Gloria, Luis, Annika und dem mit Sehnsucht erwarteten vierten Enkelkind für die schönen Glücksmomente, die ich während des Schreibens immer wieder mit ihnen erleben durfte.
Mein besonderer Dank gilt meinen vielen wunderbaren Seminarteilnehmer*innen und Klient*innen, die mir in den Seminaren, Coachings und zahlreichen Interviews nicht nur ihr Vertrauen geschenkt haben, sondern mich auch ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben. Und bedanken möchte ich mich bei all den Menschen in meiner Ausbildung und den Kolleg*innen während meines Studiums, die mir gezeigt haben, wie wichtig es ist, eine Haltung zu haben und sich zu erheben, wenn es um sexuelle Übergriffe geht.
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1 Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2013). Gewalt und (sexueller) Missbrauch in Pflegebeziehungen. WD 9 – 3000-141/12
Bevor ich zertifizierte Mediatorin und psychologische, systemische Beraterin wurde, arbeitete ich viele Jahre als Lehrerin für Pflege. Diese Tätigkeit hat mir viel Freude bereitet. Junge Menschen zu unterrichten und anzuleiten, sie auf ihre Aufgabe in der Altenpflege oder im Krankenhaus vorzubereiten, war für mich immer sehr bereichernd.
Zuvor habe ich selbst 12 Jahre als examinierte Krankenschwester für Allgemeinmedizin auf einer internistischen Männerstation gearbeitet. (Ja, das gab es in den 1980er Jahren wirklich, die Geschlechter wurden voneinander getrennt!) Mir hat der Umgang mit kranken Menschen immer sehr viel Freude bereitet. Intensive Gespräche mit Patient*innen und Angehörigen zu führen, Menschen pflegerisch zu unterstützen, sah ich als meine Berufung an.
Mir war damals schon bewusst, dass von Pflegekräften eine hohe psychische und physische Belastbarkeit erwartet wird. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass es auch Grenzsituationen mit Patient*innen gibt, über die man 1983, als ich mit meiner Ausbildung begann, nicht sprach und die zu der Zeit auch nicht unterrichtsrelevant waren. Für mich waren Patient*innen Menschen, die Unterstützung benötigten, um wieder gesund zu werden. Dass Patient*innen sexuell übergriffig werden könnten, hatte mir niemand gesagt. Als ich selbst als Schülerin einen sexuellen Übergriff erlebte, haben mir die Unterstützung und das Vertrauen meiner Stationsschwester geholfen. Mit den Schwestern auf der Station habe ich über diesen Vorfall gesprochen, jedoch nicht mit meinen Lehrer*innen in der Schule. Mir war der Übergriff peinlich und ich wollte ihn schnell vergessen.
An Pflegekräfte werden heute immense Anforderungen gestellt, die sie jeden Tag mit Bravour meistern. Pflegende haben viele Qualitäten, sowohl fachliche als auch soziale Kompetenzen. Doch neben diesen Kompetenzen benötigen Pflegende, Auszubildende und Ärzt*innen auch eine klare Haltung: Sie brauchen Klarheit in Bezug auf Nähe und Distanz zu Patient*innen, Bewohner*innen und Angehörigen. Sie brauchen klare Abgrenzung in Grenzsituationen und innere Stärke. Genau darum geht es in meinem Buch.
Ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie eine klare Haltung gegenüber sexuellen Übergriffen erlangen können. Dafür benötigen Sie ein gesundes Selbstwertgefühl, einen Handlungsleitfaden, der Ihnen zeigt, wie Sie sich erfolgreich wehren können – verbal und/oder nonverbal. Denn Sie haben es ab heute in der Hand, ob Sie Opfer bleiben, oder Möglichkeiten erlernen, anders auf Grenzsituationen zu reagieren.
Ganz bewusst habe ich den Untertitel des Buches gewählt: »So setzen Sie sich erfolgreich zur Wehr – ein Handlungsleitfaden für Pflegekräfte.« Bei sexuellen Übergriffen im Pflegealltag sind wir erst einmal geschockt, vielleicht fassungslos. Dann hinterfragen wir die Situation, wägen ab, ob uns jemand glaubt, zweifeln an uns – Sind wir vielleicht selbst schuld? Uns geht es körperlich und seelisch schlecht, weil wir nicht darüber sprechen. Wir verspüren Scham, Trauer, Frustration und Wut, vielleicht sogar Aggressionen. Manchmal werden wir sogar krank, weil wir uns nicht trauen, uns jemandem anzuvertrauen.
Ich möchte Sie mit meinem Buch animieren, Ihrem Gefühl zu trauen, wenn Sie Grenzsituationen erlebt haben. Ich möchte Ihnen Mut machen und Ihnen Wege zeigen, damit Sie nicht Opfer bleiben, sondern lernen, sich zu wehren. Mit vielen Übungen, Beispielen und einem Test (Kap. 12.1) werden Sie viele Tools und Handlungsstrategien erlernen, um aus Grenzsituationen gestärkt herauszugehen!
»Eine sexuelle Belästigung liegt dann vor, wenn ein der sexuellen Sphäre zugehöriges Verhalten gesetzt wird, das die Würde einer Person beeinträchtigt, für die betroffene Person unerwünscht, unangebracht, entwürdigend, beleidigend oder anstößig ist und eine einschüchternde, feindselige oder demütigende Arbeitsumwelt für die betroffene Person schafft (aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz [AGG]: § 3 Abs. 3, 4, 2014).
Dazu gehören:
•nonverbal zum Beispiel das Zeigen und sichtbare Anbringen von durch Betroffene abgelehnte pornografischen Darstellungen, taxierende Blicke, sexistisches Anstarren, sexuell herabwürdigende Gesten, anzügliche Mimik, unerwünschte Geschenke,
•verbal zum Beispiel Aufforderungen zu sexuellen Handlungen, doppeldeutige Bemerkungen sexuellen Inhalts, unerwünschte Einladungen mit eindeutiger Absicht, anzügliches Reden über körperliche Merkmale, Aussehen oder Sexualleben,
•körperlich zum Beispiel sexuell konnotierte oder scheinbar zufällige körperliche Berührungen, Betatschen, Herstellen unerwünschter Nähe, sexuelle Bedrängung und Nötigung, Verfolgung, Erzwingen von sexuellen Handlungen sowie Vergewaltigung.
Die Folgen sexueller Belästigungen können für Betroffene schwerwiegend sein, besonders wenn es sich um wiederkehrende oder sehr intensiv erlebte Traumata handelt. Starke Emotionen wie Angst, Misstrauen, Aggressivität, Scham oderEkel können die Freude am Beruf reduzieren und in Depressionen, Stress, herabgesetzten Selbstwert oder sexuelle Unlust münden.«2
Jedes unerwünschte Verhalten mit einem sexuellen Bezug ist also eine sexuelle Belästigung.
Das bedeutet, sexistische Bemerkungen, die eine einzelne oder mehrere Personen treffen, fallen genauso darunter wie z. B. Witze über Frauen, Blondinen, Schwule, oder Menschen, die anders sind. Und selbstverständlich aktive körperliche sexuelle Übergriffe.
Verbale Anzüglichkeiten befinden sich oft in einer Grauzone. So kann ein Spruch von einem Patienten/einer Patientin mal als Verletzung aufgefasst werden, ignoriert oder gar mit Humor genommen werden. Es kommt auf den einzelnen Menschen an, seine Sozialisation, seine Werte, seinen kulturellen Hintergrund, seine Prägungen. Jeder Mensch empfindet eine verbale Anzüglichkeit oder eine sexistische Bemerkung anders.
Ein weiterer Aspekt sind Unsicherheiten in der Pflegebeziehung. Bei einigen Pflegehandlungen kommen Pflegende Patient*innen und Bewohner*innen sehr nahe, es entsteht Intimität, manchmal verwischen sich die Grenzen, wie z. B. bei der Grundpflege, beim Anreichen von Nahrungsmitteln, oder einer Hilfestellung beim Aufstehen. Bei manchen Patient*innen oder Bewohner* innen empfinden wir eine Berührung als normal, bei anderen stört sie uns vielleicht.
Menschen nehmen Kommunikation, Berührung, Blicke usw. unterschiedlich wahr und gehen auf ihre individuelle Art und Weise damit um. Das ist vollkommen in Ordnung.
In Kapitel 7 gehe ich auf die Folgen von sexuellen Belästigungen ausführlicher ein. Seminarteilnehmer*innen, Pflegende und Klient*innen berichteten nach sexuellen Übergriffen manchmal von Reaktionen, die sie bei sich selbst erschreckt oder verunsichert haben. Mit verwirrenden Reaktionen, die Sie nach sexuellen Übergriffen bei sich feststellen, stehen Sie keineswegs allein da!
Wir alle haben ein Alarmsystem, das uns sagt, ob eine Berührung, eine Bemerkung oder die Kommunikation so für uns in Ordnung ist. Stört uns etwas, empfinden wir etwas als unpassend, dann reagiert unser Bauch alarmiert. Sehr häufig fragen wir uns dann zunächst:
• »War das ein Übergriff?«
• »Habe ich mir das eingebildet?«
• »Habe ich mich falsch verhalten?«
Wir stellen unsere Wahrnehmung in Frage!
Bauch und Seele schreien, sie sind verletzt. Das Gefühl sagt uns:
• »Ich fühle mich ohnmächtig.«
• »Ich schäme mich.«
• »Ich bin sauer.«
• »Ich bin wütend.«
• »Ich fühle mich hilflos.«
Vertrauen Sie sich und Ihrem Gefühl.
Ihr Gefühl ist natürlich subjektiv. Es ist Ihr ureigenes Gefühl, das Ihnen keiner wegnehmen kann. Es ist – in diesem Fall – Ihre Verletzung. Eine andere Person hat Ihre persönliche Grenze überschritten und Sie möchten das nicht. Es ist an dieser Stelle völlig egal, was andere Menschen dazu meinen oder wie sie den Vorfall bewerten. Es ist Ihr Gefühl und Sie haben das Recht, sich abzugrenzen!
Werfen wir einen Blick ins Strafgesetzbuch, das sich mit dem Tatbestand der sexuellen Belästigung befasst.
Info
Sexuelle Belästigung, § 184 StGB
»1. Wer eine andre Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften dieses Abschnittes mit schwererer Strafe bedroht ist.
2. In besonders schweren Fällen ist die Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wurde.
3. Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverteidigung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.«
Es gibt ein Gesetz, das Sie schützt. Sie haben Rechte und es gibt eine Rechtsprechung, die hilft und unterstützt, wenn Menschen sexuelle Übergriffe erlebt haben. Nehmen Sie das ruhig als Ermutigung!
Im Verlauf des Buches werden Sie viele Beispiele und Interviews von Menschen lesen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben. Sie werden Handlungsstrategien kennenlernen, die Ihnen helfen, selbstsicher und souverän aus Grenzsituationen herauszukommen. Sie werden verstehen lernen, dass Sie immer die Wahl haben, etwas zu verändern!