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Für alle Fans von ›House of Night‹: Im Shadow Falls Sommercamp lernen Werwölfe, Vampire, Hexen, Feen und Gestaltwandler mit ihren übernatürlichen Kräften umzugehen. In Kylies Leben geht alles schief: Ihre Eltern lassen sich scheiden, ihr Freund hat Schluss gemacht, und ihre Mutter schickt sie auch noch in ein Sommercamp. Doch Shadow Falls ist anders: Hierher kommt nur, wer übernatürliche Kräfte hat – Feen, Hexen, Vampire, Gestaltwandler und Werwölfe. Auch Kylie soll besondere Fähigkeiten haben – wenn sie nur wüsste, welche … Doch plötzlich wird das Camp bedroht. Nur, wenn sie alle ihre besonderen Kräfte gemeinsam einsetzen, werden sie die übermächtigen Feinde besiegen können.
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Seitenzahl: 512
C.C. Hunter
Shadow Falls Camp - Geboren um Mitternacht
Band 1
Aus dem Amerikanischen von Tanja Hamer
FISCHER E-Books
Für Lilly Dale Makepeace
Immer wenn ich dein Lächeln sehe weiß ich, dass es in dieser großen, grauen Welt noch funkelnde und lebendige Magie gibt.
»Das ist nicht lustig!«, hörte sie ihren Vater brüllen.
Nein, wirklich nicht, dachte Kylie Galen, während sie sich in den geöffneten Kühlschrank beugte, um nach einer Cola zu suchen. Eigentlich war es so wenig lustig, dass sie sich am liebsten dort zwischen dem Senfglas und alten Hotdogs verkrochen und die Tür zugemacht hätte, um dem wütenden Gekeife im Wohnzimmer zu entkommen.
Ihre Eltern gingen mal wieder aufeinander los.
Doch das würde bald ein Ende haben. Kühle Luft schlug ihr aus dem Kühlschrank entgegen.
Heute war es so weit.
Kylies Kehle verengte sich. Sie schluckte den Kloß aus Tränen in ihrem Hals hinunter, um nicht einfach loszuheulen. Heute war bestimmt der ätzendste Tag ihres Lebens. Dabei hatte sie in letzter Zeit schon einige echt beschissene Tage gehabt. Sie hatte einen Stalker an der Backe, Trey hatte mit ihr Schluss gemacht, und ihre Eltern hatten ihre Scheidung verkündet – ja, ›echt ätzend‹ traf es wohl ganz gut. Kein Wunder, dass ihre nächtlichen Albtraum- und Panikattacken mit voller Wucht zurückgekehrt waren.
»Was hast du mit meiner Unterwäsche gemacht?« Die grollende Stimme ihres Vaters schallte aus dem Wohnzimmer bis in den geöffneten Kühlschrank.
Seine Unterwäsche? Kylie hielt sich eine kalte Cola-Dose an die Stirn. »Warum sollte ich irgendetwas mit deiner Unterwäsche gemacht haben?«, fragte ihre Mutter mit ihrer ach so gleichgültigen Stimme. Das war typisch für ihre Mutter – gleichgültig. Eiskalt.
Kylie warf einen schnellen Blick aus dem Küchenfenster auf die Terrasse, wo sie ihre Mutter eben noch gesehen hatte. Dort lagen jetzt ein paar von Dads weißen Feinripp-Unterhosen auf dem qualmenden Grill.
Na toll. Ihre Mutter grillte die Unterhosen ihres Vaters. Kylie würde nie wieder etwas von diesem Grill essen, so viel war klar.
Sie kämpfte weiter gegen die Tränen an, stellte die Cola zurück in den Kühlschrank und ging in den Flur. Vielleicht würden die beiden beim Anblick ihrer Tochter zur Besinnung kommen und aufhören, sich wie Teenager zu benehmen – so dass sie wieder das Kind sein konnte.
Ihr Vater stand in der Zimmermitte, ein paar seiner Unterhosen fest umklammert. Ihre Mutter saß auf dem Sofa und nippte gelassen an ihrem Tee.
»Du brauchst dringend einen Psychologen«, schrie ihr Vater ihre Mutter an.
Punkt für Dad, dachte Kylie. Ihre Mutter brauchte wirklich psychologische Hilfe. Warum war eigentlich Kylie diejenige, die zweimal pro Woche bei der Therapeutin auf der Couch saß?
Warum sonst sollte ihr Dad, von dem jeder sagte, er würde alles für Kylie tun, heute ausziehen und sie zurücklassen wollen?
Sie konnte es ihm nicht verübeln, dass er ihre Mutter – alias ›die Eiskönigin‹ – verlassen wollte. Aber wieso nahm er Kylie nicht mit? Wieder bildete sich ein Kloß in ihrem Hals.
Dad drehte sich um, und sein Blick fiel auf Kylie. Er stürmte zurück ins Schlafzimmer, wohl um seine restlichen Sachen zu packen – natürlich abzüglich der Unterhosen, die gerade auf dem Gartengrill Rauchzeichen produzierten.
Kylie stand da und starrte ihre Mutter an, die seelenruhig in Arbeitsunterlagen las, als sei es ein Tag wie jeder andere.
Kylies Blick fiel auf das gerahmte Foto von ihr und ihrem Vater, das über dem Sofa hing, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das Foto war bei einem ihrer jährlichen Vater-Tochter-Ausflüge entstanden.
»Du musst doch irgendwas tun«, flehte Kylie ihre Mutter an.
»Was denn?«, fragte die gereizt.
»Mach, dass er es sich anders überlegt. Sag ihm, dass es dir leidtut, dass du seine Shorts grillst.« Dass es dir leidtut, dass Eiswasser durch deine Adern fließt. »Egal, was du machst, lass ihn nur nicht gehen.«
»Du verstehst das nicht.« Und damit wandte sie sich wieder ihren Papieren zu – völlig emotionslos.
In diesem Moment rannte ihr Vater samt Koffer durchs Wohnzimmer. Kylie lief ihm hinterher und folgte ihm zur Tür hinaus in die drückende Mittagshitze von Houston.
»Nimm mich mit«, flehte sie ihn an. Es war ihr egal, dass er ihre Tränen sah. Vielleicht halfen die Tränen sogar. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie durch Weinen alles bei ihm erreicht hatte. »Ich brauche auch nicht viel zum Essen«, schniefte sie, in der Hoffnung, mit Humor zu ihm durchzudringen.
Er schüttelte den Kopf, aber anders als ihre Mutter ließ es ihn nicht kalt – das verrieten seine Augen. »Du verstehst das nicht.«
Du verstehst das nicht. »Warum sagt ihr das immer zu mir? Ich bin sechzehn. Wenn ich es nicht verstehe, dann erklärt’s mir eben. Verratet mir doch endlich das große Geheimnis.«
Er starrte auf seine Füße, als ob er bei einem Test wäre und sich die Antworten auf die Schuhspitzen geschrieben hätte. Mit einem Seufzer blickte er schließlich auf. »Deine Mutter … sie braucht dich.«
»Sie braucht mich? Machst du Witze? Sie will mich nicht mal bei sich haben.« Genauso wenig wie du. Die Erkenntnis ließ ihren Atem stocken. Er wollte sie wirklich nicht haben.
Sie wischte sich eine Träne von der Wange, und plötzlich sah sie ihn wieder. Nicht ihren Vater, sondern den Soldaten-Typ – ihren ganz persönlichen Stalker. Er stand auf der anderen Straßenseite und trug dieselben Armeeklamotten wie sonst auch. Er sah aus, als sei er gerade einem dieser Kriegsfilme entstiegen, die ihre Mutter sich so gerne ansah. Aber anstatt auf irgendwas zu schießen oder etwas in die Luft zu jagen, stand er einfach nur wie versteinert da und starrte Kylie mit traurigen und doch irgendwie unheimlichen Augen an.
Vor ein paar Wochen hatte sie bemerkt, dass er sie verfolgte. Er hatte sie nie angesprochen und sie ihn auch nicht. Aber als sie ihn eines Tages ihrer Mutter zeigte und diese ihn nicht sah … naja, in dem Moment geriet Kylies Welt aus den Fugen. Ihre Mutter hatte gedacht, sie hätte das Ganze erfunden, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder, was noch schlimmer war, dass Kylie ihren Sinn für die Realität verloren hatte. Sicher, die nächtlichen Panikattacken, die sie als Kind gequält hatten, waren zurückgekehrt – schlimmer als je zuvor. Ihre Mutter war der Meinung, die Therapeutin könne ihr dabei helfen, die Attacken zu verarbeiten. Aber wie sollte das gehen, wenn Kylie selbst sich nicht einmal an etwas erinnern konnte? Sie wusste nur, dass die Angstanfälle schlimm waren. So schlimm, dass sie nachts schreiend aufwachte.
Auch jetzt war es Kylie nach Schreien zumute. Sie wollte schreien, damit sich ihr Dad umdrehte und den Stalker sah, um zu beweisen, dass sie nicht den Verstand verloren hatte. Vielleicht würden sie ihre Eltern dann wenigstens nicht mehr zu der Therapeutin schicken. Denn das war wirklich unfair.
Aber das Leben war eben nicht fair, wie ihre Mutter oft genug sagte.
Aber jetzt war es auch egal, denn als Kylie wieder hinsah, war er verschwunden. Nicht der Soldaten-Typ, sondern ihr Dad. Sie wandte sich zur Einfahrt, wo er gerade dabei war, seinen Koffer auf den Rücksitz des roten Cabrios zu verstauen. Mom hatte das Auto nie gemocht, aber Dad liebte es.
Kylie rannte zum Auto. »Ich sag Oma, sie soll mit Mom reden. Sie wird das schon …« Erst in dem Moment, als die Worte heraus waren, fiel es ihr wieder ein. In ihrem Leben war noch etwas Furchtbares passiert.
Sie konnte mit ihren Problemen nicht mehr zu ihrer Großmutter gehen. Ihre Großmutter war tot. Nicht mehr da. Das Bild ihrer Oma, wie sie kalt im Sarg gelegen hatte, hatte sich in Kylies Kopf festgesetzt, und wieder war sie kurz davor, zu weinen.
Der Gesichtsausdruck ihres Vaters verwandelte sich in echte elterliche Besorgnis. Das letzte Mal, als sie diesen Blick bei ihm gesehen hatte, war sie in der Praxis der Therapeutin gelandet. Das war vor drei Wochen gewesen.
»Ist schon okay. Ich hab’s nur kurz vergessen.« Denn sich daran zu erinnern, tat zu sehr weh. Sie fühlte, wie eine einsame Träne ihre Wange hinabkullerte.
Dad kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. Die Umarmung dauerte zwar noch länger als gewöhnlich, war aber trotzdem zu schnell vorbei. Wie konnte sie ihn nur gehen lassen? Wie konnte er sie ver- lassen?
Er löste die Umarmung und schob sie etwas von sich weg. »Ich bin doch nur einen Anruf entfernt, Mäuschen.«
Sie wischte sich übers Gesicht und hasste ihre Weinerlichkeit, während das rote Cabrio ihres Vaters davonfuhr und immer kleiner wurde. Sie wollte sich nur noch in ihrem Zimmer verkriechen und lief ins Haus. Dann fiel es ihr wieder ein, und sie fuhr herum. War der Soldat, so wie sonst immer, plötzlich verschwunden?
Nein. Er war immer noch da und starrte sie an. Er jagte ihr eine Heidenangst ein und machte sie zugleich furchtbar wütend. Er war der Grund dafür, dass sie zur Therapeutin musste.
Auf einmal erschien die alte Mrs Baker, ihre Nachbarin, und tappte zu ihrem Briefkasten. Die alte Bibliothekarin lächelte Kylie an, sah aber nicht einmal in die Richtung des Soldaten, der in ihrem Vorgarten stand – nur einen Meter von ihr entfernt.
Seltsam.
So seltsam, dass ihr ein unnatürlich kalter Schauer den Rücken hinablief – genau wie bei der Beerdigung ihrer Großmutter.
Was zum Teufel war hier los?
Eine Stunde später kam Kylie mit Rucksack und Handtasche über der Schulter die Treppe herunter.
Ihre Mutter fing sie am Eingang ab. »Alles okay bei dir?«
Wie konnte alles okay sein? »Ich lebe noch«, gab Kylie zurück. Das konnte sie von ihrer Großmutter nicht behaupten. Plötzlich hatte Kylie wieder den lila Lippenstift vor Augen, den der Bestatter ihrer Großmutter aufgetragen hatte. Warum habt ihr das nur zugelassen?, hörte Kylie ihre Oma fragen.
Der Gedanke ließ Kylie schaudern. Schnell sah sie zu ihrer Mutter.
Die starrte auf Kylies Rucksack, und die steile Sorgenfalte erschien wie üblich zwischen ihren Augen. »Wo gehst du hin?«, wollte sie wissen.
»Du hast doch gesagt, ich kann bei Sara übernachten. Oder hast du das vergessen, weil du zu sehr damit beschäftigt warst, Dads Unterhosen zu grillen?«
Ihre Mutter ignorierte den Kommentar. »Was macht ihr denn heute Abend?«
»Bei Mark Jameson ist heut ’ne Party, weil endlich Ferien sind.« Nicht, dass Kylie deswegen nach Feiern zumute gewesen wäre. Nachdem Trey mit ihr Schluss gemacht hatte und ihre Eltern sich scheiden ließen, war Kylies Sommer sowieso im Arsch. Und wie es aussah, würde bestimmt noch jemand vorbeikommen und noch eins draufsetzen.
»Sind seine Eltern zu Hause?« Ihre Mutter zog eine dunkle Augenbraue hoch.
Kylie zuckte innerlich zusammen, aber äußerlich blinzelte sie nicht einmal. »Sind sie das nicht immer?«
Gut, hatte sie eben gelogen. Normalerweise ging sie genau aus diesem Grund nicht zu Mark Jamesons Partys. Aber egal, brav zu sein hatte sie offensichtlich auch nicht weitergebracht. Sie hatte auch mal etwas Spaß verdient, oder?
Mal davon abgesehen: hatte ihre Mutter nicht auch gelogen, als ihr Vater sie nach seinen Unterhosen gefragt hatte?
»Was, wenn du wieder einen deiner Träume hast?« Ihre Mutter berührte Kylies Arm. Eine kurze Berührung. Das war alles, was Kylie derzeit von ihrer Mutter bekam. Keine langen Umarmungen wie die ihres Vaters. Keine Mutter-Tochter-Ausflüge. Nur Unnahbarkeit und kurze Berührungen. Sogar als Oma, die Mutter ihrer Mutter, gestorben war, hatte sie Kylie nicht umarmt. Und Kylie hatte damals wirklich eine Umarmung gebraucht. Aber es war ihr Dad gewesen, der sie in den Arm genommen und es zugelassen hatte, dass sie Wimperntusche auf sein Jackett geschmiert hatte. Und jetzt war Dad fort – er und all seine Jacketts.
Kylie holte tief Luft und umklammerte ihre Handtasche. »Ich habe Sara schon gewarnt, dass ich laut schreiend aufwachen könnte. Sie meinte, sie würde mich dann einfach mit einem Holzkreuz pfählen und mich wieder ins Bett schicken.«
»Vielleicht solltest du alle Kreuze verstecken, bevor ihr schlafen geht.« Ihre Mutter bemühte sich um ein Lächeln.
»Das werd ich tun.« Für einen kurzen Moment zögerte Kylie, ihre Mutter allein zu lassen, wo Dad sie doch heute verlassen hatte. Aber wem machte sie eigentlich etwas vor? Ihrer Mutter würde es schon gutgehen. Nichts konnte der Eiskönigin etwas anhaben.
Vor dem Rausgehen warf Kylie noch einen Blick aus dem Fenster. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht gleich von einem Typ in Armeeklamotten angefallen werden würde.
Der Garten schien frei von Stalkern zu sein. Kylie lief aus dem Haus, in der Hoffnung, dass die Party sie vergessen lassen würde, wie beschissen ihr Leben gerade war.
»Hier, für dich. Musst es ja nicht trinken, halt dich einfach dran fest.« Sara Jetton drückte Kylie ein Bier in die Hand und verschwand sofort wieder.
Mit mindestens dreißig anderen Teenagern, die alle auf einmal redeten, stand Kylie in Mark Jamesons Wohnzimmer gequetscht und hielt sich tatsächlich an der eiskalten Flasche fest. Als sie sich umsah, erkannte sie fast alle aus der Schule. Und wieder ging die Türklingel. Offensichtlich war das die coolste Party des Abends. Dieser Meinung schienen jedenfalls all ihre Mitschüler von der Highschool zu sein. Jameson war dafür bekannt, dass er die wildesten Partys der Stadt schmiss. Er war im Abschlussjahrgang, und seinen Eltern war anscheinend alles egal.
Schon zehn Minuten später war die Party in vollem Gange – und von Sara immer noch keine Spur zu sehen. Zu blöd, dass Kylie nicht danach war, mitzufeiern. Sie betrachtete missmutig die Flasche in ihrer Hand.
Jemand rempelte sie an, so dass ihr das Bier auf das weiße Shirt spritzte und ihr in den Ausschnitt lief. »Ach, verdammt!«
»Oh, sorry«, sagte eine dunkle Stimme.
Kylie blickte auf und sah in Johns sanfte braune Augen. Sie versuchte zu lächeln. Hey, zu einem süßen Kerl nett zu sein, der sich in der Schule nach ihr erkundigt hatte – da fiel ihr das Lächeln gar nicht so schwer. Aber die Tatsache, dass John ein Freund von Trey war, schmälerte ihre Begeisterung enorm.
»Schon okay«, lenkte sie ein.
»Ich hol dir ein neues.« Offensichtlich nervös, eilte er davon.
»Nee, lass mal«, rief ihm Kylie hinterher. Aber bei der lauten Musik und dem Stimmengewirr hörte er sie nicht mehr.
Wieder klingelte es an der Tür. Ein paar Leute vor ihr bewegten sich und gaben den Blick auf den Eingang frei. Genauer gesagt, den Blick auf Trey, der gerade hereinkam. Neben ihm – oder sollte man besser sagen: an ihn geklebt? – stolzierte seine Neue.
»Na toll.« Sie schnellte herum und hätte sich am liebsten nach Tahiti gebeamt – oder noch besser nach Hause, besonders dann, wenn ihr Dad dort gewesen wäre.
Durch ein Fenster entdeckte sie endlich Sara auf der Terrasse, und Kylie machte sich auf den Weg zu ihr.
Sara schaute in ihre Richtung. Offenbar sah sie die Panik in Kylies Gesicht, denn sie rannte gleich auf sie zu. »Was ist passiert?«
»Trey und sein neues Sexspielzeug sind da.«
Sara zog die Augenbrauen hoch. »Na und? Du siehst heiß aus, geh und flirte mit ein paar Typen, dann bereut er seine Entscheidung.«
Kylie rollte mit den Augen. »Ich will aber nicht hierbleiben und zusehen, wie die zwei rummachen.«
»Sind sie etwa schon zugange?«, fragte Sara.
»Noch nicht, aber sobald Trey ein Bier intus hat, kann er nur noch an eines denken – wie er einem am schnellsten an die Wäsche gehen kann. Ich muss es ja wissen, ich war immerhin die mit der Wäsche.«
»Entspann dich mal.« Sara zeigte auf den Tisch hinter ihnen. »Gary hat Margaritas gemixt. Trink mal eine, und es wird dir bessergehen.«
Kylie biss sich auf die Zunge, um nicht laut herauszuschreien, dass es ihr nicht bessergehen werde. Ihr Leben war, wie man es auch drehte und wendete, einfach beschissen.
»Hey«, Sara stupste sie kurz an. »Wir wissen doch beide, dass du dir Trey nur angeln und mit ihm nach oben verschwinden müsstest, um ihn zurückzubekommen. Er ist immer noch verrückt nach dir. Er hat mich heute in der Schule abgepasst und nach dir gefragt.«
»Wusstest du etwa, dass er hierherkommt?« Misstrauen nagte am letzten Rest seelischer Gesundheit, der noch übrig war.
»Ich war mir nicht sicher. Aber entspann dich mal.«
Entspannen? Kylie starrte ihre beste Freundin an, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen, wie sehr sie sich in den letzten sechs Monaten voneinander entfernt hatten. Es war nicht nur Saras Vorliebe für Partys oder die Tatsache, dass sie ihre Jungfräulichkeit verschenkt hatte. Okay, vielleicht waren es doch hauptsächlich diese zwei Dinge, aber es kam ihr so vor, als sei da noch mehr.
Mehr in dem Sinne, dass Kylie den Verdacht hatte, Sara würde alles daransetzen, sie auch in die Party-machende-Entjungferten-Gruppe zu bekommen. Was konnte Kylie denn dafür, dass Bier für sie nur nach Hundepisse schmeckte? Oder dass sie keine Lust auf Sex hatte?
Okay, das war eine Lüge, sie hätte schon gern Sex gehabt. Als sie und Trey so richtig rumgeknutscht hatten, war sie schon in Versuchung gekommen – und wie. Aber dann hatte sie immer daran denken müssen, wie sie mit Sara darüber geredet hatte. Sie hatten beide gewollt, dass das erste Mal etwas ganz Besonderes sein sollte.
Außerdem erinnerte sie sich daran, wie Sara sich Brads »Bedürfnissen« gefügt hatte. Brad, Saras große Liebe, der nach zwei Wochen genug von ihr gehabt hatte und ihr den Laufpass gab. Was war daran nun besonders?
Seitdem war Sara mit vier anderen Typen zusammen gewesen und mit zweien davon auch im Bett gelandet. Jetzt hatte sie aufgehört, von Sex als etwas Besonderem zu reden.
»Okay, ich weiß, das mit deinen Eltern zieht dich runter«, lenkte Sara ein. »Aber genau deshalb musst du dich mal locker machen und Spaß haben.« Sara strich sich ihr langes braunes Haar hinters Ohr. »Ich hol dir jetzt eine Margarita, und ich sag dir, du wirst begeistert sein.«
Sara ging zu dem Tisch mit den Cocktails. Kylie wollte ihr gerade folgen, als ihr Blick auf den Soldaten fiel, der – unheimlich und seltsam wie immer – bei der Margarita trinkenden Clique stand.
Kylie wirbelte herum und wollte flüchten, stieß dabei aber mit einem Typ zusammen. Und, verdammt, natürlich schwappte wieder Bier aus ihrer Flasche genau in ihren Ausschnitt. »Na toll. Meine Brüste riechen bald wie ’ne ganze Brauerei.«
»Der Traum eines jeden Mannes«, sagte eine raue männliche Stimme. »Trotzdem, sorry.«
Sie erkannte Treys Stimme noch bevor sie seine breiten Schultern oder seinen unverkennbaren männlichen Geruch wahrnahm. Sie hatte Angst vor dem Schmerz, den sein Anblick ihr bereiten würde, und hob dann den Kopf. »Schon okay. John ist das vorhin auch passiert.«
Sie versuchte, ihn nicht anzustarren: seine hellbraunen Haare, die ihm über die Augenbrauen fielen, seine grünen Augen, die sie in ihren Bann ziehen wollten, oder seinen Mund, der sie dazu bringen wollte, ganz nah heranzukommen und ihre Lippen auf seine zu pressen.
»Also stimmt es.« Sein Blick verdunkelte sich.
»Was stimmt?«, fragte sie.
»Dass du und John etwas miteinander habt.«
Kylie dachte kurz daran, zu lügen. Der Gedanke, ihm wehzutun, war verlockend. So verlockend, dass sie an die blöden Spielchen ihrer Eltern erinnert wurde. O nein, sie würde sich nicht auf deren Ebene herablassen.
»Ich habe mit niemandem etwas.« Sie wandte sich zum Gehen.
Er hielt sie zurück. Seine Berührung, das Gefühl seiner warmen Hand auf ihrem Ellbogen, jagte ihr Wellen von Schmerz durch den Körper. Wenn sie ihm so nah war, erfüllte sein klarer, männlicher Duft ihre Atemwege. O Gott, sie liebte seinen Geruch.
»Ich hab das mit deiner Oma gehört«, sagte er. »Und Sara hat mir erzählt, dass sich deine Eltern scheiden lassen. Tut mir echt leid, Kylie.«
Sie spürte, wie die Tränen wieder hochkamen. Kylie war nur Sekunden davon entfernt, sich an seine warme Brust zu werfen und ihn anzuflehen, sie festzuhalten. Nichts fühlte sich besser an, als von Trey im Arm gehalten zu werden. Aber da sah sie das Mädchen, Treys neues Spielzeug, das von draußen mit zwei Flaschen Bier in den Händen hereinkam. In weniger als fünf Minuten würde Trey versuchen, bei ihr zu landen. Und der tiefausgeschnittenen Bluse und dem viel zu kurzen Rock nach zu urteilen, würde er es auch nicht allzu schwer haben.
»Danke«, murmelte Kylie und ging zu Sara hinüber. Zum Glück waren Margaritas offenbar doch nichts für den Soldaten gewesen, denn er war verschwunden.
»Hier.« Sara nahm Kylie die Bierflasche aus der Hand und reichte ihr dafür eine Margarita.
Das gefrostete Glas fühlte sich unnatürlich kalt an. Kylie beugte sich zu Sara und flüsterte: »Hast du hier eben den seltsamen Typ gesehen? In so verrückten Armeeklamotten?«
Sara hob die Augenbrauen. »Wie viel Bier hast du denn schon getrunken?« Sie lachte.
Kylie umfasste das kalte Glas noch fester. Langsam machte sie sich wirklich Sorgen um ihren Geisteszustand. In dieser Verfassung noch Alkohol zu trinken, schien ihr keine gute Idee zu sein.
Eine Stunde später, als drei Beamte der Polizei Houston im Garten auftauchten und sie sich alle am Tor aufstellen mussten, umklammerte Kylie immer noch dieselbe unberührte Margarita.
»Kommt schon, Kinder«, sagte einer der Polizisten. »Je schneller wir euch zum Revier bringen, desto schneller können euch eure Eltern wieder abholen.« In diesem Moment wusste Kylie, dass ihr Leben immer noch beschissener werden konnte.
»Wo ist Dad?«, wollte Kylie von ihrer Mutter wissen, sobald diese das Polizeirevier betreten hatte. »Ich habe doch Dad angerufen.«
Ich bin nur einen Anruf entfernt, Mäuschen. Hatte er ihr das nicht gesagt? Also warum war er jetzt nicht hier, um sie abzuholen?
Die braunen Augen ihrer Mutter wurden schmal. »Er hat mich angerufen.«
»Ich wollte, dass Dad kommt«, beharrte Kylie. Sie brauchte ihn jetzt, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wünschte sich eine Umarmung, jemanden, der sie verstand.
»Du bekommst nicht immer, was du willst!«, gab ihre Mutter wütend zurück. »Besonders dann nicht, wenn … Meine Güte, Kylie, wie konntest du das tun?«
Kylie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe gar nichts getan. Haben sie dir das nicht gesagt? Ich konnte eine gerade Linie laufen, meine Nase mit dem Finger berühren und sogar das ABC rückwärts aufsagen. Ich hab gar nichts getan.«
»Die Polizei hat dort Drogen gefunden«, fuhr ihre Mutter sie an.
»Ich habe keine Drogen genommen.«
»Aber weißt du, wen sie dort nicht gefunden haben, junge Dame?«, ihre Mutter war nun richtig sauer. »Marks Eltern. Du hast mich angelogen.«
»Vielleicht komme ich ja nach dir«, gab Kylie zurück. Sie versuchte immer noch, damit klarzukommen, dass ihr Dad nicht aufgetaucht war. Er hätte doch wissen müssen, wie fertig sie war. Warum war er nicht gekommen?
»Was soll das denn heißen, Kylie?«
»Du hast zu Dad gesagt, du wüsstest nicht, was mit seiner Unterhose passiert. Dabei hattest du sie gerade auf dem Grill flambiert.«
Schuldbewusstsein spiegelte sich in den Augen ihrer Mutter, und sie schüttelte den Kopf. »Dr. Day hat recht.«
»Was hat das mit meiner Therapeutin zu tun?«, fragte Kylie fassungslos. »Sag jetzt nicht, dass du sie angerufen hast. O Mom, wehe sie kommt her! Alle meine Freunde sind hier!«
»Nein, sie kommt nicht. Aber es geht nicht nur um heute Nacht.« Sie atmete tief ein. »Ich schaffe das nicht alleine.«
»Was schaffst du nicht alleine?« Schon während sie das fragte, bekam Kylie ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
»Ich melde dich für ein Sommercamp an.«
»Was für ein Sommercamp?« Kylie presste ihre Handtasche fest an ihre Brust. »Ich will in kein Camp.«
»Es geht nicht darum, was du willst.« Ihre Mutter schob sie zum Ausgang. »Es geht darum, was du brauchst. Es ist ein Camp für Jugendliche mit Problemen.«
»Probleme? Bist du jetzt verrückt geworden? Ich hab keine Probleme«, schrie Kylie. Nun ja, zumindest keine, die irgendein Camp lösen konnte. Sie war ziemlich sicher, dass das Camp weder Dad zurück nach Hause holen konnte noch den Soldaten verschwinden lassen würde – und es würde ihr wohl kaum Trey zurückbringen.
»Keine Probleme? Soso, und warum muss ich dann mitten in der Nacht aufs Polizeirevier, um meine sechzehnjährige Tochter abzuholen? Du fährst ins Camp. Ich melde dich morgen an. Keine Diskussionen mehr.«
Ich werde nicht fahren, sagte Kylie sich immer wieder, als sie die Wache verließen.
Ihre Mutter mochte vielleicht den Verstand verloren haben, aber nicht ihr Dad. Er würde nicht zulassen, dass Mom sie in ein Camp für jugendliche Kleinkriminelle schickte. Das würde er nie tun …
Oder?
Drei Tage später stand Kylie mit dem Koffer in der Hand auf dem Parkplatz des YMCA-Jugendclubs. Dort parkten gleich mehrere Busse des Camps, die die jugendlichen Übeltäter abholten. Sie konnte es verdammt nochmal nicht fassen, dass sie wirklich hier war.
Ihre Mom zog das wirklich durch.
Und ihr Dad ließ wirklich zu, dass sie es tat.
Kylie, die noch nie mehr als zwei Schluck Bier getrunken, noch nie geraucht hatte – weder Zigaretten noch Joints –, und keine Drogen genommen hatte, sollte in irgend so ein Camp für schwererziehbare Jugendliche geschickt werden.
Ihre Mutter kam auf sie zu und berührte sie am Arm. »Ich glaube, du wirst aufgerufen.«
Ihre Mutter konnte sie offenbar gar nicht schnell genug loswerden. Kylie zog ihren Arm zurück. Sie war so wütend und verletzt, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte gebettelt, gefleht und geweint – nichts hatte geholfen. Sie würde fahren müssen. Sie hasste es, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Ohne ein Wort zu sagen und fest entschlossen, nicht vor den Dutzenden anderer Jugendlichen zu weinen, richtete sich Kylie auf und ging auf den Bus zu, vor dem eine Frau stand und ein Schild mit der Aufschrift Shadow Falls Camp in die Höhe hielt.
O Mann. Wo würde sie nur landen?
Als Kylie den Bus betrat, hoben die acht oder neun anderen, die schon auf ihren Plätzen saßen, die Köpfe und starrten sie an. Sie verspürte ein ungutes Gefühl, und es fröstelte sie. Noch nie hatte sie so einen starken Drang verspürt, einfach nur wegzulaufen. Sie zwang sich, nicht die Flucht zu ergreifen, dann begegnete sie den Blicken dieser … O Gott, ihr fiel kein anderes Wort ein als … Freaks?
Ein Mädchen hatte die Haare in drei verschiedenen Farben gefärbt – Pink, Grasgrün und Pechschwarz. Ein anderes Mädchen trug nur Schwarz – schwarzen Lippenstift, schwarzen Lidschatten, schwarze Hosen und ein schwarzes langärmeliges Oberteil. War der Gothic-Look nicht längst out? Wo hatte die denn ihre Mode-Tipps her? Hatte sie nicht gelesen, dass Farben wieder in waren? Dass Blau das neue Schwarz war?
Und dann dieser Junge weiter vorne im Bus. Er hatte beide Augenbrauen gepierct. Kylie beugte sich vor, um aus dem Fenster nach ihrer Mutter zu suchen. Wenn ihre Mutter diese Typen sah, würde sie bestimmt einsehen, dass Kylie hier nicht hingehörte.
»Setz dich«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Kylie drehte sich herum, und vor ihr stand die Busfahrerin. Vorher war es ihr gar nicht so aufgefallen, aber jetzt bemerkte sie, dass selbst die Busfahrerin etwas Seltsames an sich hatte. Das lila-graue Haar war auf ihrem Kopf hoch aufgesteckt wie ein Football-Helm. Kylie konnte ihr nicht mal verdenken, dass sie sich die Haare hochtoupierte, denn die Frau war klein. Elfenhaft klein. Kylie schielte zu den Füßen hinunter, wo sie schon fast damit rechnete, ein Paar spitze grüne Stiefel vorzufinden. Aber nein: keine grünen Schuhe.
Dann schoss ihr Blick nach vorn. Wie wollte diese Frau eigentlich den Bus fahren?
»Auf geht’s«, sagte die Frau bestimmt. »Ich muss euch Kids zum Mittagessen abliefern, also los.«
Da alle außer Kylie bereits Platz genommen hatten, ging sie davon aus, dass sie gemeint war. Sie ging weiter in den Bus hinein und hatte dabei das dumpfe Gefühl, dass ab jetzt ihr Leben nie wieder so sein würde wie zuvor.
»Du kannst neben mir sitzen«, sagte ein Junge. Er hatte lockige, blonde Haare, sogar noch blonder als Kylies, aber seine Augen, die sie fixierten, waren so dunkel, dass sie schwarz wirkten. Er klopfte auf den Sitz neben sich. Kylie bemühte sich, den Jungen nicht anzustarren, aber irgendetwas an dieser Kombination aus Dunkel und Hell fühlte sich falsch an.
Dann zog er eine Augenbraue hoch, als ob … als ob sich neben ihn zu setzen bedeuten würde, dass etwas zwischen ihnen laufen könnte oder so.
»Schon okay.« Kylie ging ein paar Schritte weiter und schleifte ihren Koffer hinter sich her. Er blieb an der Sitzreihe des blonden Jungen hängen, und Kylie drehte sich zurück, um ihn loszumachen.
Ihre Blicke trafen sich, und Kylie stockte der Atem. Der blonde Junge hatte jetzt … grüne Augen. Helle, sehr hellgrüne Augen. Wie war das möglich?
Sie schluckte und schaute auf seine Hände. Vielleicht hatte er dort ein Kontaktlinsendöschen und gerade die Linsen gewechselt. Kein Döschen.
Er hob wieder seine Augenbrauen, und als sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte, riss sie schnell ihren Koffer los.
Sie nahm sich zusammen und ging weiter zu der Sitzreihe, die sie für sich ausgeguckt hatte. Bevor sie sich hinsetzte, fiel ihr Blick auf einen anderen Jungen hinten im Bus. Er saß allein und hatte hellbraunes, gescheiteltes Haar, das ihm über die dunklen Brauen fiel und fast in den grünen Augen hing. Normale grüne Augen, aber durch das blassblaue T-Shirt, das er trug, fielen sie mehr auf.
Er nickte ihr zu. Nichts Seltsames, Gott sei Dank. Wenigstens war noch ein normaler Mensch außer ihr im Bus.
Sie setzte sich und schaute ein weiteres Mal zu dem blonden Typ. Aber er sah nicht mehr in ihre Richtung, so dass sie nicht erkennen konnte, ob sich seine Augenfarbe schon wieder verändert hatte. Was sie aber sah, war, dass das Mädchen mit den dreifarbigen Haaren etwas in der Hand hielt.
Kylie stockte erneut der Atem. Das Mädchen hatte eine Kröte. Keinen Frosch – mit einem Frosch wäre sie noch irgendwie klargekommen –, sondern eine Kröte. Eine riesige, eklige Kröte. Welches Mädchen hatte drei verschiedene Haarfarben und nahm eine Kröte mit ins Camp? Mann, vielleicht war das so eine Drogenkröte, an der man lecken konnte und davon high wurde. Sie hatte das mal im Fernsehen in einem dieser blöden Krimis gesehen, aber sie dachte immer, dass sei erfunden. Sie wusste nicht, was schlimmer war: an einer Kröte zu lecken, um high zu werden, oder eine Kröte mit sich herumzutragen, nur um seltsam zu sein.
Sie hievte ihren Koffer auf den Sitz neben sich, damit bloß niemand auf den Gedanken kam, sich zu ihr zu setzen.
Kylie seufzte und schaute aus dem Fenster.
Der Bus war inzwischen losgefahren, obwohl es Kylie immer noch ein Rätsel war, wie die Fahrerin überhaupt das Gaspedal erreichen konnte.
»Hast du schon gehört, wie die anderen uns nennen?« Die Stimme kam aus der Sitzreihe des Krötenmädchens.
Kylie ging nicht davon aus, dass sie mit ihr redete, schaute aber dennoch zu ihr rüber. Das Mädchen sah sie an, also war sie wohl doch gemeint.
»Wer sind denn ›die anderen‹?«, fragte Kylie und versuchte, weder zu freundlich noch zu patzig zu klingen. Das Letzte, was sie wollte, war, diese Freaks gegen sich aufzubringen.
»Die in den anderen Camps. Es gibt etwa sechs Camps im Umkreis von fünf Kilometern.« Mit beiden Händen strich sie sich die mehrfarbigen Haare zurück und hielt sie so für ein paar Sekunden.
Plötzlich merkte Kylie, dass das Mädchen ihre Kröte nicht mehr hatte. Und Kylie sah auch keinen Käfig oder irgendetwas anderes, wo sie sie hineingetan haben konnte.
Na toll. Wahrscheinlich würde ihr gleich eine riesige Drogen-Kröte in den Schoß hüpfen. Kröten an sich fand sie gar nicht so eklig, sie sollten sie bloß nicht anspringen.
»Sie nennen uns Knochenköpfe«, sagte das Mädchen.
»Warum denn?« Kylie zog die Beine auf den Sitz, für den Fall, dass eine Kröte vorbeihüpfen sollte.
»Das Camp hieß früher Bone Creek Camp«, erklärte das Mädchen. »Wegen der Dinosaurierknochen, die man dort gefunden hat.«
»Ha«, sagte der blonde Junge. »Sie haben uns auch einfach nur ›Knochen‹ genannt.«
Vereinzeltes Gelächter kam aus den anderen Sitzreihen. »Was ist denn daran lustig?«, fragte das Gothic- Girl mit einer so todernsten Stimme, dass Kylie schauderte.
»Du weißt nicht, was ein Knochen ist?«, fragte der Blonde. »Wenn du dich zu mir setzt, zeige ich es dir.« Er drehte sich um, und Kylie sah wieder in seine Augen. Verdammt nochmal. Sie waren jetzt golden. Kontaktlinsen, dachte Kylie. Er musste irgendwelche komischen Kontaktlinsen tragen, die seine Augenfarbe veränderten.
Das Gothic-Girl stand auf und machte Anstalten, zu dem Blonden rüberzugehen. »Mach das nicht«, sagte das Kröten-Mädchen ohne Kröte warnend und stand auf. Sie lehnte sich über den Gang und flüsterte dem Gothic-Girl etwas ins Ohr.
»Iiih.« Das Gothic-Girl ließ sich zurück in den Sitz fallen. Dann sah sie zum blonden Jungen hinüber und zeigte mit einem schwarzlackierten Fingernagel auf ihn. »Leg dich lieber nicht mit mir an. Ich esse Dinge, die größer sind als du, wenn es dunkel ist.«
»Hat jemand was von Dunkelheit gesagt?«, kam es aus dem hinteren Teil des Busses.
Kylie drehte den Kopf, um zu sehen, wer da gesprochen hatte.
Ein anderes Mädchen, das Kylie noch gar nicht bemerkt hatte, hatte sich auf seinem Sitz aufgerichtet. Sie hatte rabenschwarze Haare und trug eine fast genauso dunkle Sonnenbrille. Was sie jedoch wirklich unnormal aussehen ließ, war ihre Hautfarbe. Sie war weiß, kreideweiß.
»Wisst ihr, wieso sie das Camp in ›Shadow Falls‹ umbenannt haben?«, fragte das Krötenmädchen.
»Nein«, antwortete jemand aus dem vorderen Teil des Busses.
»Wegen der Indianersage. Die besagt nämlich, dass man die Schatten der Todesengel tanzen sehen kann, wenn man in der Dämmerung unten an den Wasserfällen steht.«
Tanzende Todesengel? Was war nur los mit diesen Leuten?
Kylie lehnte sich in ihrem Sitz zurück. War das nur ein blöder Albtraum? Sie schob sich noch tiefer ins Polster des Sitzes und versuchte, sich auf das Aufwachen zu konzentrieren, so wie es ihr Dr. Day gezeigt hatte.
Konzentrier dich. Sie atmete tief durch die Nase ein, dann durch den Mund aus. Dabei sagte sie sich immer wieder: Es ist nur ein Traum, es ist nicht echt, es ist nicht echt.
Entweder schlief sie gar nicht, oder ihre Konzentration war in den falschen Bus eingestiegen. Und in dem säße sie, verdammt nochmal, jetzt auch am liebsten. Sie konnte immer noch nicht fassen, wo sie gelandet war. Sie schaute sich um. Der Blonde sah sie an, und seine Augen waren wieder schwarz.
Gruselig. Kam das alles denn niemandem sonst hier komisch vor?
Sie drehte sich in ihrem Sitz herum zu dem Jungen, den sie als am normalsten eingeschätzt hatte. Seine hellgrünen Augen, die sie an Treys Augen erinnerten, erwiderten ihren Blick, und er zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht, was das Schulterzucken bedeutete, aber er schien nicht wirklich beeindruckt von all dem. Was ihn eigentlich auch schon wieder fast genauso seltsam erscheinen ließ wie die anderen.
Kylie drehte sich wieder herum und nahm ihr Handy aus der Tasche, um Sara eine SMS zu schreiben. Hilfe! Sitze in einem Bus voller Freaks. Mega-Freaks.
Auf die Antwort musste Kylie nicht lange warten: Nein, du musst MIR helfen. Ich glaube, ich bin schwanger.
»Oh, verdammt.« Kylie starrte die SMS an, als ob sie dadurch wieder verschwinden würde oder als ob plötzlich ein War nur Spaß darunter erscheinen könnte. Nichts. Sie verschwand nicht, und es erschien auch kein Zusatz. Das war kein Witz.
Aber jetzt mal im Ernst. Sara konnte nicht schwanger sein. Das passierte einem Mädchen wie ihr einfach nicht. Klugen Mädchen … Mädchen, die … O Mann. Wie konnte sie nur so denken? Das konnte absolut jedem passieren, der ungeschützten Sex hatte. Oder Sex mit einem schlechten Kondom.
Wie hatte sie diesen kurzen Film vergessen können, den sie in der Schule nur hatte sehen dürfen, nachdem ihre Mutter einen Zettel unterschrieben hatte. Oder die Broschüren, die ihre Mutter mitgebracht und ihr einfach aufs Kissen gelegt hatte …
Die Heftchen waren ein echter Stimmungskiller gewesen. Sie war an dem Abend von einem der heißesten Dates mit Trey heimgekommen, noch ganz high von seinen Küssen und seinen Zärtlichkeiten. Und was fand sie auf ihrem Kopfkissen? Statistiken über ungewollte Schwangerschaften und genauso ungewollte Geschlechtskrankheiten. Und ihre Mutter wusste genau, dass sie vor dem Schlafen immer noch etwas las, um besser einzuschlafen. In dieser Nacht hatte sie jedenfalls keine schönen Träume gehabt.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte eine Stimme.
Kylie blickte auf und sah, dass sich das Kröten-Mädchen neben sie auf die andere Seite des Ganges gesetzt hatte. Sie zog die Beine hoch und stützte das Kinn auf die Knie.
»Ähm. Ja … nein. Also …« Eigentlich lag es Kylie auf der Zunge zu sagen, dass es sie einen Scheißdreck anging, aber es war ihr schon immer schwergefallen, so direkt und dabei vielleicht unhöflich zu sein. Außer jemand wusste genau, wie er sie zur Weißglut bringen konnte, wie zum Beispiel ihre Mutter. Sara nannte diese Unfähigkeit, ihre Meinung zu sagen, Kylies ›Zu-nett-Krankheit‹. Ihre Mutter hätte das sicher gute Erziehung genannt, aber da sie sich so gut darauf verstand, Kylie zur Weißglut zu bringen, fand ihre Mutter Kylies Manieren eher mangelhaft.
Kylie klappte ihr Handy zu, nur für den Fall, dass das Krötenmädchen Supersehkräfte hatte. Andererseits sollte sie sich da doch eher bei jemand anderem Sorgen um Superaugen machen. Ihr Blick wanderte zum Platz des Blonden, der sie schon wieder anstarrte – mit blauen Augen. Okay, zumindest stand fest, dass es nicht noch seltsamer werden konnte.
»Ach, schon gut«, sagte sie und zwang sich, wieder das Krötenmädchen anzuschauen, ohne zu sehr auf deren mehrfarbige Haare zu starren. Der Bus bremste scharf, und Kylies Koffer rutschte vom Sitz. Weil der Blonde sie weiterhin anstarrte und vielleicht den freien Platz als Einladung sehen könnte, sich doch noch zu ihr zu setzen, wechselte Kylie auf den Gangplatz.
»Ich heiße Miranda«, sagte das Mädchen und lächelte sie nun vorsichtig an. Kylie musste feststellen, dass sie, abgesehen von den Haaren und ihrem seltsamen Haustier, ganz normal wirkte.
Kylie stellte sich ebenfalls vor und checkte noch einmal den Fußboden auf vorbeihüpfende Kröten.
»Fährst du zum ersten Mal ins Shadow Falls Camp?«, wollte Miranda wissen.
Kylie nickte. »Und du?«, fragte sie aus reiner Höflichkeit. Sie schaute auf ihr Handy, das sie immer noch in der Hand hielt. Sie musste Sara unbedingt zurückschreiben und ihr sagen … Oh, Mist, was sollte sie ihr eigentlich schreiben? Was simst man denn seiner besten Freundin, die einem gerade gesagt hat, dass sie vielleicht …
»Schon zum zweiten Mal.« Miranda fuhr sich durch die Haare und drehte sie auf dem Kopf zu einem Knoten. »Obwohl ich nicht verstehe, warum die wollen, dass ich wiederkomme. Ist ja nicht so, als hätte es mir letztes Mal was gebracht …«
Kylie gab den Versuch auf, sich eine passende SMS für Sara zu überlegen, und schaute in die braunen Augen des Mädchens – die noch nicht ein einziges Mal die Farbe gewechselt hatten. Plötzlich war sie doch neugierig. »Wie … wie war es? Das Camp, meine ich. Bitte sag, dass es nicht so schlimm ist.«
»Es ist nicht schlimm.« Sie ließ ihr Haar los, so dass es in schwarzen, grünen und pinken Wellen um ihren Kopf fiel. Dann schielte sie in den hinteren Teil des Busses, wo das blasse Mädchen sich aufgesetzt hatte und so aussah, als würde es zuhören. »Außer, du kannst kein Blut sehen«, flüsterte Miranda.
Kylie kicherte und hoffte inständig, Miranda würde mitkichern. Aber nein. Sie lächelte nicht einmal.
»Du verarschst mich, oder?« Kylie wurde etwas flau im Magen.
»Nein«, sagte Miranda und sah absolut nicht danach aus, als fände sie das lustig. »Ich übertreibe höchstens etwas.«
Ein lautes Räuspern unterbrach ihr Gespräch. Kylie sah nach vorn, wo die Busfahrerin in den großen Rückspiegel schaute. Komisch, Kylie hatte den Eindruck, dass sie genau sie beide ansah.
»Hör auf damit«, zischte Miranda mit leiser Stimme und hielt sich die Ohren zu. »Ich hab dich nicht eingeladen.«
»Womit aufhören?«, fragte Kylie. Das seltsame Verhalten des Mädchens verwirrte sie. »Und wozu eingeladen?«
Miranda antwortete nicht. Sie warf einen finsteren Blick nach vorn und ließ sich dann zurück auf ihren Platz fallen.
Kylie musste feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Es konnte doch noch seltsamer werden.
Und es wurde noch seltsamer.
Nicht schlimm. Außer, du kannst kein Blut sehen. Mirandas Worte drehten sich wie eine CD mit Gruselmusik in Kylies Kopf. Okay, sie hatte zugegeben, dass sie übertrieben hatte, aber auch nur ein bisschen Blut zu verlieren, war schon zu viel für Kylie. In was für eine Hölle hat mich meine Mutter nur geschickt?, fragte sie sich wohl zum hundertsten Mal, seit sie in den Bus eingestiegen war.
In dem Moment vibrierte Kylies Handy. Wieder eine SMS von Sara. Bitte sag jetzt nicht, dass du es mir ja vorhergesagt hast …
Kylie schob ihre eigenen Probleme zur Seite und versuchte, sich auf ihre beste Freundin zu konzentrieren. In den letzten Monaten war es nicht so super gelaufen zwischen ihnen, aber sie waren immerhin seit der fünften Klasse beste Freundinnen. Sara brauchte sie jetzt.
Kylie fing an zu schreiben. Das würde ich nie tun. Weiß nicht, was ich sagen soll. Bist du okay?? Wissen es deine Eltern? Weißt du, wer der Vater ist? Kylie löschte die letzte Frage. Natürlich wusste Sara, wer der Vater war. Es musste einer der drei Typen sein, oder? Außer, Sara hatte gelogen, was die letzten beiden Dates anging.
O Gott, Kylie machte sich wirklich Sorgen um ihre Freundin. Auch wenn ihre Lebensumstände mit der Scheidung ihrer Eltern, Omas Tod und jetzt dem aufgezwungenen Camp mit den ganzen komischen Leuten nicht gerade super waren, war Sara echt schlimmer dran.
Egal wie schlimm es werden würde – Kylie konnte nach zwei Monaten wieder nach Hause. Bis dahin würde sie hoffentlich darüber hinweg sein, dass ihr Vater sie verlassen und Oma tot war. Und vielleicht würde auch der Stalker über den Sommer das Interesse an ihr verlieren und für immer verschwinden. Sara dagegen würde in wenigen Monaten einen Bauch so groß wie ein Basketball haben.
Kylie fragte sich, ob Sara dann überhaupt in die Schule gehen würde. Sie würde sich so schämen. Für Sara war es das Wichtigste, dazuzugehören. Wenn blauer Lidschatten gerade in war, trug auch Sara blauen Lidschatten. O Mann, sie hatte einmal sogar fast eine Woche die Schule geschwänzt, weil sie einen großen Pickel auf der Nasenspitze hatte. Kylie fand es auch alles andere als cool, mit so einem Ding im Gesicht in die Schule zu gehen, aber, mein Gott, es hatte doch echt jeder einmal einen Pickel.
Aber nicht jede wurde schwanger.
Kylie konnte sich nur schwer vorstellen, was Sara jetzt durchmachte.
Kylie las noch einmal ihren SMS-Text durch, fügte noch ein Herz hinzu und drückte »Senden«. Während sie auf eine Antwort wartete, wurde ihr klar, dass sie noch nie so froh darüber gewesen war, bei Trey standhaft geblieben zu sein, wie in diesem Moment.
»Zehn Minuten Toilettenpause«, rief die Busfahrerin.
Kylie blickte von ihrem Handy auf und sah, dass sie vor einer Raststätte angehalten hatten. Sie musste noch gar nicht, aber da sie nicht wusste, wie lange die Fahrt noch dauern würde, ließ sie ihr Handy in ihrer Handtasche verschwinden und stand auf, um mit den anderen den Bus zu verlassen.
Sie war gerade zwei Schritte gegangen, als sich eine Hand auf ihren Arm legte. Eine sehr kalte Hand. Kylie zuckte zusammen und fuhr herum.
Das blasse Mädchen starrte sie an. Oder zumindest nahm sie an, dass sie sie anstarrte. Durch die fast schwarzen Gläser ihrer Sonnenbrille konnte Kylie das nicht so genau erkennen.
»Du bist aber warm«, sagte das Mädchen, fast verwundert.
Kylie zog ihren Arm weg. »Und du bist kalt.«
»Neun Minuten«, bellte die Busfahrerin und trieb sie mit einer Handbewegung zur Eile an.
Kylie drehte sich wieder nach vorn und verließ den Bus. Dabei spürte sie die ganze Zeit den Blick des blassen Mädchens, der sich in ihren Rücken bohrte. Freaks. Sie saß den ganzen Sommer mit Freaks fest. Kalte Freaks. Sie berührte ihren Arm an der Stelle, wo das Mädchen seine Hand hingelegt hatte, und sie hätte schwören können, dass sie immer noch die Kälte spürte.
Als sie fünf Minuten später zum Bus zurückgehen wollte, sah sie ein paar der anderen, die sich Getränke kauften. Das Gothic-Girl stand vorn in der Warteschlange und sah zu ihr rüber. Der Typ mit den vielen Piercings, der vorn im Bus saß, lief an Kylie vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Sie beschloss, sich Kaugummi zu kaufen, fand auch ihre Lieblingssorte und stellte sich in die Schlange. Jemand stellte sich hinter sie, und sie schaute schnell, ob es wieder das blasse Mädchen war. Nein, es war der Typ mit den sanften, grünen Augen und den braunen Haaren – der, der sie an Trey erinnerte.
Ihre Blicke trafen sich.
Und verhakten sich ineinander.
Sie war sich nicht sicher, warum er sie an Trey erinnerte. Okay, die Augen waren ähnlich, aber es war mehr als das. Vielleicht war es auch die Art und Weise, wie sich das T-Shirt über seine Schultern spannte, und dieser Eindruck, den er vermittelte … irgendwie distanziert. Es war nicht einfach gewesen, Trey näherzukommen. Wenn sie nicht in Physik als seine Laborpartnerin eingeteilt worden wäre – wer weiß, vielleicht wären sie dann nie miteinander ausgegangen.
Das war es wohl. Irgendetwas an diesem Typ strahlte aus, dass es schwer war, an ihn heranzukommen. Vor allem, weil er ja nicht einmal etwas sagte. Sie wollte sich schon wieder umdrehen, da hob er die Augenbrauen wie zu einem leichten Gruß. Sie tat es ihm gleich, hob die Augenbrauen und drehte sich dann weg.
Als sie nach vorn schaute, sah sie Miranda und die Blasse an der Tür stehen und reden. Dabei sahen sie Kylie direkt an.
Toll, jetzt lästerten sie schon über sie, oder was?
»Großartig«, murmelte sie vor sich hin.
»Die sind nur neugierig«, flüsterte eine tiefe Stimme so nah an ihrem Ohr, dass sie die Wärme seines Atems an ihrem Hals spürte.
Sie schaute ihn über die Schulter an. Jetzt konnte sie seine Augen erst richtig sehen und stellte fest, dass sie sich geirrt hatte. Das waren nicht Treys Augen. Diese hier hatten goldene Sprenkel um die Pupille herum.
»Worauf denn?«, fragte sie und versuchte, ihn nicht anzustarren.
»Auf dich. Sie sind neugierig auf dich. Vielleicht, wenn du etwas offener wärst …«
»Offener?« Okay, das reichte ihr jetzt. Sie hatte zu seinen Gunsten angenommen, dass er der Normale war, aber jetzt tat er plötzlich so, als sei sie die Unfreundliche. »Die Einzigen, die mit mir geredet haben, sind der Blonde und Miranda und die andere da.«
Er zog wieder eine Augenbraue hoch. Und aus irgendeinem Grund legte er damit bei ihr den Schalter um. »Hast du nervöse Zuckungen, oder was?«, fuhr sie ihn an, biss sich aber gleich auf die Zunge. Vielleicht besserte sich gerade ihre ›Zu-nett-Krankheit‹. Sara wäre sehr stolz auf sie gewesen. Ihre Mutter dagegen … wohl eher nicht.
Ihre Mutter.
Auf einmal hatte Kylie das Bild ihrer Mutter vor Augen, wie sie auf dem Parkplatz stand.
»Du weißt es nicht … oder?«, fragte der Typ, und seine Augen wurden größer, die Goldsprenkel funkelten.
»Was weiß ich nicht?«, gab sie zurück, war aber in Gedanken bei ihrer Mutter und der Tatsache, dass sie sie nicht einmal zum Abschied umarmt hatte. Warum hatte ihre Mutter ihr das angetan? Warum hatten ihre Eltern entschieden, sich zu trennen? Warum musste das alles passieren? Der vertraute Kloß, der ›Muss-gleich-weinen-Kloß‹, bildete sich in ihrem Hals.
Er schaute zur Tür, und Kylie folgte seinem Blick. Miranda und die Blasse standen immer noch da. Waren alle drei schon öfter zusammen im Camp gewesen und waren jetzt eine Clique und sie die Neue? Die Neue, auf der sie jetzt rumhacken konnten?
Die Stimme der Frau hinter der Kasse wurde lauter: »Hey, willst du die Kaugummis jetzt kaufen, oder nicht?«
Kylie drehte sich wieder um und legte ein paar Münzen auf die Theke. Dann ging sie – ohne ihr Wechselgeld. Sie rauschte mit erhobenem Kopf an Miranda und dem anderen Mädchen vorbei. Sie traute sich nicht zu blinzeln, aus Angst, die Bewegung ihrer Lider könnte die Tränen schneller kommen lassen.
Dabei war es gar nicht deren herablassende Art, die sie zum Weinen bringen könnte. Es waren ihre Mutter, ihr Vater, Oma, Trey, der Stalker und jetzt auch noch ihre Sorge um Sara. Kylie war es so was von egal, ob diese Psychos sie mochten oder nicht.
Eine Stunde später bog der Bus in einen Parkplatz ein. Kylie hatte schon vorher das Schild mit der Aufschrift Shadow Falls Camp gesehen. Sie spürte einen Anflug von Furcht in ihrem Bauch. Sie schaute sich um und stellte fast überrascht fest, dass es keine hohen Zäune und kein abgeschlossenes Tor gab. Sie wurden also doch nur für Jugendliche gehalten, die ein paar Probleme hatten, und nicht für Kriminelle.
Der Motor des Busses erstarb nach einem lauten Knattern. Die Busfahrerin sprang von ihrem Sitz und streckte ihre kurzen dicklichen Ärmchen über den Kopf. Kylie verstand immer noch nicht, wie sie an das Gaspedal herankam.
»Wir sind der letzte Bus, Leute«, rief sie. »Die anderen warten im Speisesaal. Lasst eure Sachen im Bus, sie werden später zu euren Zimmern gebracht.«
Kylie schaute ihren Koffer an. Sie hatte gar kein Namensschild drangemacht. Wie sollte jemand wissen, dass es ihr Koffer war? Na klar – es konnte keiner wissen. Also musste sie entweder ihr Gepäck mitnehmen und dafür Ärger bekommen, weil sie sich nicht an die Regeln hielt, oder es zurücklassen und damit riskieren, dass sie ihre ganzen Klamotten verlor.
Sie würde auf keinen Fall ihre Klamotten verlieren. Sie griff nach ihrem Koffer. »Sie bringen ihn dir«, sagte Miranda.
»Mein Name ist aber gar nicht dran«, antwortete Kylie und versuchte, nicht schnippisch zu klingen.
»Das finden die schon raus, glaub mir.« Offenbar versuchte sie nett zu sein.
Aber sie brauchte nicht zu glauben, dass Kylie ihr das abnahm.
Plötzlich tauchte der grünäugige Trey-Doppelgänger im Gang auf. »Du kannst ihr ruhig glauben«, meinte er.
Kylie sah ihn an. Miranda vertraute sie nicht, aber irgendetwas an ihm wirkte vertrauensvoll. Er griff in seine Hosentasche und zog Geld heraus, das er ihr in die Hand drückte.
»’tschuldigung«, das Gothic-Girl schob sich an Miranda vorbei.
Kylie starrte die Münzen in ihrer Hand an.
»Das ist dein Wechselgeld aus dem Laden.« Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, auszusteigen.
Sie steckte das Geld in ihr Portemonnaie und trat vor ihn in den Gang. Sie konnte ihn hinter sich spüren. Fühlte, wie er sich ein bisschen näher zu ihr lehnte und seine Schulter ihren Rücken berührte.
»Ich heiße übrigens Derek.«
Sie war vom Klang seiner dunklen Stimme und seiner Nähe so eingenommen, dass sie erst in letzter Sekunde den Blonden sah, der genau vor ihr in den Gang sprang. Mitten in der Bewegung hatte sie zwei Möglichkeiten. Entweder in Blondie zu knallen oder zurück auf Derek zu fallen. Eine einfache Entscheidung. Dereks Hände fassten sie am Oberarm. Seine Finger berührten ihre nackte Haut, genau dort, wo die Ärmel aufhörten.
Sie schaute über die Schulter zurück, und ihre Blicke trafen sich.
Er lächelte. »Alles klar?«
Ein unglaubliches Lächeln. Wie das von Trey. Ihr Herz machte einen Sprung. O Mann, wie sie Trey vermisste.
»Ja.« Sie wich zurück, aber nicht ohne vorher noch Dereks warme Hände zu bemerken. Warum ihr das wichtig erschien, wusste sie nicht, aber die kalte Hand des blassen Mädchens hatte bei ihr einen ähnlich seltsamen Eindruck hinterlassen.
Sie verließen den Bus und machten sich auf den Weg durch die Anlage. Kleine Hütten säumten den Weg. Kurz bevor Kylie durch die Tür zum Speisesaal ging, hörte sie ein seltsames Brüllen, wie von einem Löwen. Sie hielt inne, um zu sehen, ob es sich wiederholen würde, und Derek lief in sie hinein. »Wir sollten lieber reingehen«, flüsterte er.
Kylie wurde es flau im Magen vor Angst. Als sie den ersten Schritt über die Türschwelle machte, schien sie zu spüren, dass sich ihr Leben für immer verändern würde.
Etwa fünfzig oder sechzig Leute füllten den Saal. Lange schmale Tische waren in Reihen aufgestellt, und es roch nach Schweinefleisch mit Bohnen und nach Hamburgern. Ein Teil der Jugendlichen saß an den Tischen, ein Teil stand.
Irgendetwas fühlte sich merkwürdig an. Es dauerte eine Minute, bis sie merkte, was es war. Stille. Niemand sprach ein Wort. Im Speisesaal ihrer Schule konnte man sich nicht einmal selbst denken hören. Aber das war genau das, was hier jeder zu tun schien. Denken.
Sie ließ ihren Blick über die anderen Teenager schweifen und war sich nun ganz sicher, nicht hierherzugehören. Es gab jede Menge ›Rebellionsbeweise‹, wie es ihre Mutter genannt hätte. Klar rebellierte Kylie auch. Aber sie nahm an, dass sie es weniger auffällig tat, weniger mit ihren Klamotten und ihrem Aussehen, sondern eher mit dem, was sie umgab. Zum Beispiel hatte sie einmal mit Sara zusammen ihr Zimmer komplett lila gestrichen – ohne Erlaubnis. Ihre Mutter war ausgeflippt.
Die hier strichen allerdings nicht nur ihre Zimmer, sie trugen ihre Rebellion selbst zur Schau. Wie Mirandas Haare oder der Typ mit dem Nasenring und den anderen Piercings. Als sich Kylie umschaute, sah sie einige Jugendliche mit Tattoos oder mit kurzrasierten Haaren. Und jede Menge Gothic-Anhänger. Bei Problem-Kids war Schwarz wohl alles andere als out.
Ein ungutes Gefühl machte sich in Kylie breit. Vielleicht hatte sie zu viel Zeit mit Sara verbracht, aber es war doch deutlich zu erkennen, dass sie nicht hierher passte. Und im Gegensatz zu Sara wollte Kylie nicht immer und mit allen Mitteln zu einer Gruppe gehören.
Zwei Monate. Nur zwei Monate. Sie betete die Worte still vor sich hin. In zwei Monaten war sie wieder weg.
Kylie folgte dem Blonden zu einem leeren Tisch weiter hinten. Und als sie dort ankam, merkte sie, dass die Leute aus ihrem Bus alle zusammengeblieben waren. Sie fühlte sich ihnen zwar nicht wirklich zugehörig – mit einigen hatte sie bisher nicht einmal Blickkontakt gehabt –, aber wenn sie es sich recht überlegte, waren Freaks, die sie kannte, besser als Freaks, die sie nicht kannte.
Plötzlich fühlte Kylie, wie sich immer mehr Leute umdrehten und sie anschauten. Oder sahen sie die ganze Gruppe an? Die Blicke der Menge wurden zu einer Collage aus kaltem Starren – mit verschiedenfarbigen Augen, aber mit ähnlichem Ausdruck und einigen hochgezogenen Augenbrauen.
Total irritiert schaute sie zu Derek, dann zu Miranda und sogar zu der Blassen und dem Blonden und, verdammt nochmal, sie machten das alle. Das mit den Augenbrauen. Es war nicht wie in einem Cartoon oder so, nicht so auffällig wie Saras übertriebene Grimasse mit Augenrollen und Stirnrunzeln, sondern nur ein kleines Hochziehen.
Wie Derek es an der Raststätte gemacht hatte.
Was sollte das nur?
Sie schaute wieder in die Menge. Sie unterdrückte den Wunsch, den Blick zu senken, und hielt dem Starren stand. Sie wollte nun wirklich nicht als der Angsthase der Gruppe gelten. Der, auf dem jeder herumhackte. Und wenn sie das wie Sara werden ließ, dann sollte es eben so sein.
»Sieht so aus, als wären wir jetzt komplett«, sagte eine weibliche Stimme weiter vorn.
Kylie versuchte, das Gesicht zu der Stimme zu finden, blieb aber an einem anderen starrenden Blick hängen – kalte, hellblaue Augen, die sich irgendwie von den anderen abhoben. Kylie musste sich zwingen, von dem Blick loszukommen, und bemerkte die rabenschwarzen Haare des Jungen. Und genau in dem Moment fiel es ihr ein.
Sie erinnerte sich an ihn.
Sie erinnerte sich an … ihre Katze.
»Das kann nicht sein«, murmelte sie leise.
»Was kann nicht sein?«, fragte Derek.
»Nichts.« Kylie zwang sich nach vorn zu schauen, wo die Frau mit schon fast singender Stimme sprach.
»Willkommen im Shadow Falls Camp. Wir sind …«
Die Frau war so Mitte zwanzig und hatte lange rote Haare, die ihr fast bis zur Hüfte reichten. Sie trug Jeans und ein leuchtend gelbes T-Shirt. Neben ihr stand eine Frau im gleichen Alter, aber, was für ein Wunder, sie trug Gothic-Klamotten. Alles in Schwarz, sogar ihre Augen schienen schwarz zu sein. Irgendjemand sollte hier mal dringend ein Modemagazin abonnieren.
Kylie drehte sich zu dem Gothic-Girl aus ihrem Bus um. Es starrte die Frau bewundernd an.
»Mein Name ist Holiday Brandon, und das hier ist Sky Peacemaker.«
In dem Moment öffnete sich die Hüttentür, und zwei Männer kamen herein. Sie sahen aus wie Rechtsanwälte oder so etwas in der Art, mit ihren identischen schwarzen Anzügen.
Kylie beobachtete die beiden Frauen und sah, wie sich beim Anblick der Besucher ihr Blick verfinsterte. Sie hatte den Eindruck, dass sie nicht mit den Männern gerechnet hatten. Mehr noch, dass sie sogar unwillkommen waren.
Sky, die Leiterin im Gothic-Look, ging hinüber und führte die Männer wieder hinaus, während Holiday fortfuhr. »Okay«, sagte sie mit Singsang-Stimme, »zuerst teilen wir uns in zwei Gruppen auf. Alle, die schon einmal hier waren, gehen nach draußen. Dort werden euch eure Stundenpläne und Hüttenzuteilungen ausgehändigt. Wie immer sind unsere Camp-Regeln in den Hütten aufgehängt. Wir erwarten von euch, dass ihr sie lest – und einhaltet. Und dass eins schon mal klar ist: Wir werden die Hüttenbelegung nicht ändern. Ihr seid hier, um miteinander klarzukommen, und das werdet ihr auch. Wenn es ernsthafte Probleme gibt, kommt zu uns, und wir reden darüber. Aber erst nachdem vierundzwanzig Stunden vorbei sind. Und weil wir es hier nicht so genau nehmen, sagt ruhig ›du‹ zu uns. Irgendwelche Fragen?«
Jemand in der ersten Reihe hob die Hand. »Ja«, sagte eine Mädchenstimme in den Raum hinein. »Ich habe eine Frage.«
Kylie lehnte sich nach rechts, um die Sprecherin zu sehen. Sie war auch in Schwarz gekleidet und drehte sich jetzt herum. »Es hat nichts mit den Regeln zu tun oder so, aber … ich würd’s trotzdem gern wissen. Wer, zum Teufel, ist die da?«
Das Mädchen zeigte genau zu dem Tisch, an dem Kylie stand. Oder zeigte sie etwa auf Kylie? Nein, das konnte nicht sein.
Oh, verdammt. Es war so. Sie zeigte auf Kylie. »Mist«, murmelte sie. Etwa sechzig Augenpaare richteten sich auf sie und fixierten sie.
»Entspann dich«, sagte Derek so leise, dass es niemand anders hören konnte. Allerdings konnte auch sie ihn kaum verstehen, so laut klopfte ihr Herz.
»Die Vorstellungsrunde ist am Mittag«, sagte eine weibliche Stimme. Kylie nahm an, dass es die von Holiday war, war sich aber nicht sicher. Die anderen starrten sie weiter an. Ihre Gedanken rasten, und ihr Herz schlug laut. Ein Rauschen füllte ihre Ohren.
Sie riss ihren Blick los und schielte zur Tür. Sie verspürte einen starken Drang, wegzurennen. Schnell und weit. Aber ehrlich gesagt, war sie noch nie ein guter Läufer gewesen, und es standen auch viel zu viele Freaks zwischen ihr und der Tür. Dann fiel ihr komischerweise etwas über wilde Tiere ein, das sie mal gelernt hatte. Wenn du wegrennst, halten sie dich für ihr Abendessen und jagen dich.
Okay, tief durchatmen. Und noch einmal. Ihre Lungen weiteten sich. Das waren keine wilden Tiere, sondern nur uncoole Teenager.
In dem Moment piepste auch noch Kylies Handy. Wahrscheinlich wieder eine SMS von Sara. Kylie ignorierte es. Doch zum ersten Mal fragte sie sich, ob Saras Situation wirklich schwieriger war als ihre eigene. Sie war sich nicht hundertprozentig sicher, aber ein Gefühl sagte ihr, dass es hier nicht nur um die Sache mit Mark Jamesons Party ging.
Aber was könnte es sonst sein?
Und warum? Warum musste ausgerechnet sie die Außenseiterin sein unter all diesen Freaks? Lag es daran, dass sie nicht mit den Augenbrauen zuckte? Oh, sie konnte auch die Augenbrauen hochziehen, so gut wie jeder andere auch. Und verdammt, sie würde es auf jeden Fall üben, sobald sie allein war. Das Problem war, dass sie das ganze Augenbrauengezucke nicht verstand. War es eine Art Händeschütteln in Shadow Falls?
»Kommt schon, auf geht’s«, sagte die Singsang-Stimme wieder. »Diejenigen, die schon mal hier waren: nach draußen, die Neuen bleiben, wo sie sind.«
Kylie fiel ein Stein vom Herzen, als die Gruppe endlich aufhörte zu starren und sich in Bewegung setzte. Oder zumindest hörten die meisten auf zu starren. Kylie schaute nach rechts und sah dort den Typ mit den schwarzen Haaren stehen, sein Blick war fest auf sie gerichtet. Lucas Parker. Plötzlich war ihr der Name wieder eingefallen, auch wenn es sehr lange her war.
Ich bin froh, dass sie endlich fort sind, hörte sie noch die Stimme ihres Vaters. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass der Junge einmal ein Serienkiller wird. Kylie spürte, wie sich eine Faust um ihr Herz legte und zudrückte. War sie wirklich in einem Camp mit einem potentiellen Serienkiller?
War er es wirklich? Sie konnte sich auch täuschen. Es war immerhin, na ja, bestimmt zehn Jahre her. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Er drehte sich um und begab sich in den Strom der anderen, die schon einmal dagewesen waren und die jetzt nach draußen drängten.
Kylie sah, wie Miranda auf sie zukam, neben ihr stehen blieb und sagte: »Viel Glück.« Kylie war sich nicht sicher, ob sie sie verarschte oder ob sie es ernst meinte, deshalb nickte sie nur.
Der Blonde trat hinter Miranda und grinste Kylie an. »Ich möchte jetzt nicht in deiner Haut stecken«, frotzelte er, als fände er es witzig, und folgte Miranda nach draußen.