14,99 €
Die Welt horchte auf, als nach der Befreiung von der Talibanherrschaft eine Gruppe afghanischer Schauspielerinnen und Schauspieler Shakespeares Verlorene Liebesmüh in Kabul aufführte. Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren standen Männer und Frauen – unverschleiert – gemeinsam auf einer Bühne und spielten eine Liebeskomödie! Nichts hätte die Welle der Hoffnung, die in der Zeit nach den Taliban durch das Land zog, mitreißender verdeutlichen können. Aber während der intensiven Proben tauchen ungeahnte Konflikte und neue Bedrohungen auf. Für jeden einzelnen Teilnehmer wird das Projekt zu einer existenziellen Herausforderung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler bringen sich und ihre Familien in Gefahr. Die europäische Regisseurin findet sich bei der Arbeit nicht zurecht in den afghanischen Traditionen. Alte Wunden und traumatische Erfahrungen aus der Kriegs- und Terrorzeit brechen wieder auf. Shakespeares Text, der dramatische Alltag in Kabul und die globalen Konflikte der Kulturen überkreuzen sich mit dem Schicksal der Beteiligten. Bis zuletzt ist unsicher, ob die Premiere zum Triumph oder zur Katastrophe wird.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2017
Die Welt horchte auf, als nach der Befreiung von der Talibanherrschaft eine afghanische Schauspielgruppe Shakespeares Verlorene Liebesmüh in Kabul aufführte. Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren standen Männer und Frauen – unverschleiert – gemeinsam auf einer Bühne und spielten eine Liebeskomödie! Ein außergewöhnlicher Augenblick der Hoffnung.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Stephen Landrigan war als Journalist für The Washington Post und BBC Radio tätig und verbrachte fünf Jahre als Entwicklungshelfer in Afghanistan. Für die Produktion von Verlorene Liebesmüh versammelte er ein Übersetzerteam um sich, um Shakespeares Dichtung in die Landessprache Dari zu übertragen.
Zur Webseite von Stephen Landrigan.
Qais Akbar Omar studierte Journalismus in Kabul und war Co-Regisseur und Dolmetscher Produktion der afghanischen Fassung von Shakespeares Verlorene Liebesmüh.
Zur Webseite von Qais Akbar Omar.
Inge Uffelmann (*1948) studierte Englische Literatur- und Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Schwarzafrikanische Literatur. Seit 1981 ist sie freiberufliche Übersetzerin.
Zur Webseite von Inge Uffelmann.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Stephen Landrigan und Qais Akbar Omar
Shakespeare in Kabul
Ein Aufbruch in drei Akten
Aus dem Englischen von Inge Uffelmann
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Die Shakespeare-Zitate in der deutschen Übersetzung von Frank Günther entstammen der Ausgabe von Verlorene Liebesmüh, erschienen im Deutschen Taschenbuch Verlag, München 2000.
© Hartmann & Stauffacher GmbH
© Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Shakespeare in Kabul bei Haus Publishing Ltd., London.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Originaltitel: Shakespeare in Kabul
© by Stephen Landrigan and Qais Akbar Omar 2012
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Keystone / AP Photo / Tomas Munita
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30841-1
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 27.05.2024, 14:50h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
SHAKESPEARE IN KABUL
Exposition — Stephen LandriganPrologEine MimenscharSuche nach einem StückGelder auftreibenDas Textbuch entstehtSteigerung und Höhepunkt — Qais Akbar OmarRollenbesetzung: Die MännerRollenbesetzung: Die FrauenRollenbesetzung: Suche nach MarinaProben, Erster AktProben, Zweiter AktTee mit Shakespeare»… was aber die Liebe ist …«Hinter den Kulissen»Dieses Theater des Himmels«Proben, Dritter AktAuftritte und AbgängeRauswurf der RussenLösung — Qais Akbar Omar und Stephen LandriganUraufführungDer Palast der KöniginDer leuchtende Garten des engelsgleichen KönigsApplausZugabenMazar-i-ScharifHeratVorhangLondon, Dezember 2010DankWorterklärungenBilderAbbildungsverzeichnis
Mehr über dieses Buch
Über Stephen Landrigan
Über Qais Akbar Omar
Über Inge Uffelmann
Andere Bücher, die Sie interessieren könnten
Zum Thema Theater
Zum Thema Frau
Zum Thema Asien
Zum Thema Krieg
Für Elspeth Cochrane
Stephen Landrigan
Für Kabul war die Luft des späten Nachmittags ungewöhnlich mild, besonders im Garten, in dem wir standen. Es war ein paar Tage nach Nouruz, dem zoroastrischen Neujahrsfest, das auf den Tag des Frühlingsanfangs fällt. Die Mandelbäume standen in Blüte, und das schräg über einen kleinen Hügel in der Nähe einfallende Licht mengte sich mit ihrem zarten Duft.
Flügel und Hauptgebäude eines anmutigen Herrenhauses, das vor anderthalb Jahrhunderten ein Adliger hatte bauen lassen, umschlossen den Garten auf drei Seiten. Eine hohe Mauer begrenzte ihn auf der vierten. Eine Landschaft aus Terrassen, Balkonen, Nischen und großzügigen Treppenaufgängen vermittelte den Eindruck eines Ortes, an dem etwas Besonderes stattfinden sollte.
Alles an dem Garten stand in heftigem Gegensatz zur Straße draußen. Wir waren über eine steile Gasse heraufgekommen, die schlammig aufgeschwemmt war vom Abwasser aus den Häusern der Anwohner. Sorgfältig hatten wir darauf geachtet, wo wir unsere Füße hinsetzten, um die Schmutzwasserbäche zu meiden und den Taxis auszuweichen, die die schmale Straße als Abkürzung nutzten. Während wir uns nach oben kämpften, kamen uns bergab rasende Fahrräder und Kinder an den Händen von Frauen in weißen oder blauen Burkas entgegen. Die Frauen klammerten sich an die Hände der kleinen Jungen oder Mädchen an ihrer Seite, waren sie doch auf deren Augen angewiesen, da sie selbst nicht sehen konnten, wo sie hintraten.
Von weit unter uns drang wütendes Hupen von der Salang Watt herauf, einer der belebtesten Straßen Kabuls. Busse, Autos und mit Gemüse und Früchten beladene Handkarren wetteiferten um jeden Zentimeter Vorankommens. Ein Polizeiwagen mit plärrender Sirene steckte in dem Wirrwarr fest wie alle anderen. Jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause. An den Geschäften ließ man die Metallgitter herunter, Jugendliche rannten in die Bäckereien, um noch schnell frisches Brot für das Familienabendessen zu besorgen. Die Muezzins riefen von den Türmen der Moscheen zum Abendgebet. Die Luft war angefüllt mit Qualm und Staub und dem Gestank von Schweiß und offenen Rinnsteinen.
Mauern aus Lehmziegeln erhoben sich zu beiden Seiten der Gasse, ohne dass sich erahnen ließ, was sich hinter ihnen verbarg. Vor uns, wo das Sträßchen nach links bog, lag ein kleiner Friedhof mit einem Dutzend Gräbern, die durch aufgeschichtete Steine gekennzeichnet waren und durch grüne Fahnen, die in der Abendbrise flatterten. Einst hatte der Friedhof weit außerhalb der Stadt gelegen: Die Toten hatten erwartet, hier in Frieden zu ruhen. Doch die ausufernde Stadt hatte sie vereinnahmt, und jetzt standen direkt neben ihren Gräbern fahrbare Verkaufsstände, an denen man Telefonkarten, Kaugummi, kalte Getränke und Zigaretten erstehen konnte.
Vor dem Friedhof befand sich zu unserer Rechten ein großes Tor in der Mauer. Die dicke Holztür, die sich von all den anderen in der Gasse unterschied, stand weit offen. Darüber prangte ein Schild mit der Aufschrift: Foundation for Culture and Civil Society.
Jetzt standen wir im Innern. Die reiche afghanische Familie, der das Haus gehörte, lebte anderswo und vermietete das Anwesen für gutes Geld an die Kharidschi, die Ausländer. In dieser Zeit nach dem 11. September hatten sich Fremde aus Dutzenden von Ländern in Kabul eingefunden. Sie waren nach Afghanistan gekommen, um sich am Aufbau zu beteiligen. Ich war einer von ihnen. Vor einem Jahr war ich eingetroffen, ohne irgendetwas von Afghanistan zu wissen, doch in der Hoffnung, helfen zu können.
Ich war in Begleitung von Corinne Jaber, die in Kabul einen Freund besuchte. Es war ihr erster Aufenthalt in Afghanistan. Vor ein paar Wochen waren wir uns begegnet und hatten festgestellt, dass uns unsere Theaterleidenschaft verband. Sie war eine in Paris lebende Schauspielerin, ich ein Dramatiker, der mit dem Stück, das er vor zwei Jahren geschrieben und inszeniert hatte, große Verluste einfuhr. Um meine Geldgeber, denen die ausgezeichneten Kritiken nicht genügten, befriedigen zu können, hatte ich einen Job angenommen und arbeitete nun hier für ein von den USA finanziertes Bildungsprogramm.
Corinne und ich waren gerade aus der im Norden gelegenen Stadt Mazar-i-Scharif nach Kabul zurückgekehrt. Dorthin gereist waren wir mit getrennten Freundesgruppen, um Nouruz zu feiern, das traditionelle afghanisch-persische Neujahrsfest.
Zufällig hatten wir beide Zimmer in einem Gästehaus gebucht, das unter der Leitung der Vereinten Nationen steht. Wir gehörten zu dem Schwarm von Ausländern, die sich in den hohen Räumen dieses aus der Zeit König Edwards stammenden alten Herrenhauses sowie in den kleinen Ferienhäuschen rund um die Gärten drängten. An den großen Tischen, an denen wir zusammen aßen, hörte man ein Dutzend verschiedener Sprachen.
Jeder hatte Geschichten über seine Arbeit und seine Erlebnisse in Afghanistan zu erzählen. Alle blickten positiv in die Zukunft an dieser Wende zum Jahr 1384 des muslimischen Kalenders. Das traditionelle Nouruz reicht freilich mindestens ein Jahrtausend weiter zurück in den vorislamischen Zoroastrismus.
Nach der zwischenfallsfrei verlaufenen Präsidentschaftswahl vor sechs Monaten war Afghanistan von blindem Optimismus erfasst. Nach drei Dekaden voller Krieg und Aufruhr war das Land auf dem Weg in eine bessere Zukunft; alle waren davon überzeugt.
Keiner war zuversichtlicher als der Direktor der Foundation for Culture and Civil Society, der Niederländer Robert Kluijver. Er war nach Mazar gekommen, um am Mulla-i-Gul-i-Surkh teilzunehmen, dem Fest der Roten Blume, benannt nach den wilden Tulpen, die überall in Afghanistan um die Zeit des Nouruz aufsprießen, und das mit Musik und Dichterlesungen begangen wird. Überall in den trockenen, steinigen Feldern entlang der Straße zwischen Kabul und Mazar blühen diese wilden Tulpen. Sie wachsen kaum höher als eine Handspanne und sind die Urahnen all jener Tulpen, die den Holländern ein Vermögen einbrachten.
Robert zieht diese Tulpen denen seines Heimatlandes vor. Er ist ein Abenteurer, ein Polyglott und ein Kenner der islamischen Kultur. Er spricht fließend Dari, eine der Hauptsprachen Afghanistans, hatte schon früher viele Jahre in Afghanistan zugebracht und war kurz nach der Vertreibung der Taliban gegen Ende des Jahres 2001 zurückgekehrt. Er war der festen Überzeugung, die Kunst müsse bei der Erneuerung Afghanistans nach diesen Jahrzehnten voller Brutalität und Krieg eine entscheidende Rolle spielen.
Ganz oben auf seiner Liste stand die Wiederbelebung des Erbes jenes als Rumi bekannten afghanischen Dichters, der 1207 wenige Meilen westlich von Mazar in der alten Stadt Balch geboren wurde. Rumis mystische Verse erlangten Weltruhm. Im Mittelpunkt des Festivals stand die Feier der Dichtung Rumis, die Robert organisiert hatte. Sie fand im Gouverneurspalast statt, wo Afghanen Rumi-Gedichte im persischen Original rezitierten und der amerikanische Lyriker Coleman Barks die englischen Übersetzungen vortrug.
Am nächsten Tag veranstaltete Robert ein Konzert zu Ehren der Ustads, der Meister der traditionellen Musik. Die hypnotischen Darbietungen wurzelten in den traditionellen Rhythmen, die vom Herzen Zentralasiens bis zum Indus verbreitet sind.
Ich war erstaunt über die hier gebotene kulturelle Vielfalt. Wie die meisten Ausländer, die nach Afghanistan kommen, hatte auch ich keine Ahnung von der lokalen Kultur.
Zwischen den einzelnen Darbietungen spazierten Corinne und ich durch die Sehenswürdigkeiten von Mazar, handelten in den Teppichläden, besuchten den Burka-Markt und fanden an jeder Ecke unerwartet Neues. Der Westen begegnete dem unverfälschten Osten, und wir waren völlig davon eingenommen.
Tausende von Afghanen aus dem ganzen Land kommen jedes Jahr zur Feier des Nouruz nach Mazar. Die Stadt brummte. Die Menschen in den Straßen waren freundlich, jeder wollte uns die Hand schütteln. Kaum gaben wir einem die Hand, kamen zwanzig andere, die uns auch die Hände entgegenstreckten. Rockstars wird diese Art von Vergötterung zuteil. Es war berauschend. Und die Beglückung war beiderseits, nach dem beseligten Lächeln auf den afghanischen Gesichtern zu urteilen: ein weiteres Zeugnis für die Euphorie, die Afghanistan in jenen glücklichen Monaten ergriffen hatte.
Im Zentrum von Mazar steht der blau gekachelte Schrein, dem die Stadt ihren Namen verdankt. Angeblich handelt es sich um das Grab von Hazrat Ali, dem Neffen und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm. Der Schrein wird vor allem von Schiiten verehrt, den Anhängern des Ali. Doch zum Nouruz verwischen sich in der Begeisterung, mit der die Gläubigen zu einem Ort pilgern, der allen Muslimen als heilig gilt, alle sektiererischen Grenzen.
Das erste Mal besuchten wir den Schrein bei Nacht. Er war mit blinkenden, tönenden Lichtergirlanden geschmückt; zu unserer Verwunderung erklangen blechern scheppernde Versionen von Jingle Bells und Santa Claus is Coming to Town. Derjenige, der die Lichterketten aufgehängt hatte, wusste gewiss nicht, um welche Melodien es sich da handelte.
Während des Tages kamen wir zurück und beobachteten die Straßenverkäufer, die billige Schals mit grün-weiß-roten Paisleymustern an die Pilger verhökerten. Mit diesen Tüchern wischten sie über den Schrein, um so den Segen des heiligen Ortes mit nach Hause nehmen zu können. Andere Pilger berührten den Schrein mit den kleinen Nougatstangen, für die Mazar berühmt ist. Diese mit Sesam durchsetzte Süßigkeit wurde dann für besondere Gäste aufbewahrt.
Eisengitter umgeben die Gärten rund um den Schrein. Vor einem der Gitter hatten sich Frauen vom Volk der Jogee (andernorts als Roma bekannt) eingefunden und erbettelten Almosen von den Pilgern. Einige gaben großzügig, denn wer göttliche Gunst sucht, mag wohl meinen, dass sich die Chancen darauf verbessern, wenn man sich selbst freigebig zeigt.
An den Pfaden außerhalb des Gitters hockten runzlige Männer in abgewetzter Kleidung und boten Artefakte feil, die aus der an Kunstschätzen der letzten zehntausend Jahre so reichen Erde gebuddelt waren. Mit ihren von Turbanen und Bärten gerahmten Gesichtern warteten sie auf die Fremden und den großen Verkauf. Der Handel mit Antiquitäten ist illegal, aber niemand scherte sich um die Männer.
Am eigentlichen Nouruz standen wir am Tor des von Rosen überquellenden Gartens des Schreins, um uns eine riesige Menge von Gläubigen. Alle wollten unbedingt das Janda berühren, das heilige Banner, das gerade an einer Stange neben dem Schrein aufgezogen wurde. Durch die Berührung, so der Glaube, überträgt sich eine besondere Gnade. Während Hunderte rücksichtslos durch das Tor drängten, andere über das Gitter zu klettern versuchten, prügelten Polizisten mit dicken Lederriemen auf die Leute ein. Die drängelnde Masse nahm die Schläge hin und zeigte keine andere Reaktion als die feste Entschlossenheit hineinzukommen.
Ein Polizist entdeckte uns in der Menge und versuchte, uns einen Weg zu bahnen. Für ihn waren wir Gäste seines Landes. Instinktiv wollte er, dass wir uns willkommen fühlten, allem Gedränge um uns zum Trotz. Corinne, die einzige Frau in dem Gewühl, lächelte ihm zu, als wir uns aus der Masse herauskämpften.
Wir verschoben die Berührung des Janda auf später und machten uns auf den Weg nach Balch, um zu sehen, was übrig war von der Welt, in der Rumi aufgewachsen war. Er und seine Familie hatten vor achthundert Jahren vor den Mongolen unter Dschingis Khan aus der Stadt flüchten müssen.
Ein junger Afghane namens Qais Akbar Omar begleitete uns. Ich hatte ihn vor einigen Wochen im alten Lehmziegel-Fort von Kabul bei einem Sufi-Treffen kennengelernt. Er lebte dort mit seiner Familie und war nach Mazar gekommen, um zum Nouruz Verwandte zu besuchen.
Balch gehört zu den ältesten Städten des Landes. Einst konnte es der Ort an Bedeutung mit Damaskus oder Delhi aufnehmen. Dicke Mauern mit hohen Türmen flankieren noch heute seine Südseite. In seiner Mitte erheben sich die Überreste der Moscheen mit ihren Liwanen, die Timur Leng im 14. Jahrhundert errichten ließ. Frauen in weißen Burkas strömten zum Grabmal der Rabia Balkhi, einer jungen Dichterin des 15. Jahrhunderts, die aus Liebeskummer gestorben war. Die Burkas bauschten sich hinter ihnen, während sie ausschritten, und rätselhafterweise stieß eine weiße Eule von der Spitze des Schreins herab, obwohl es Mittag war.
Nicht weit von dem Schrein entfernt hatte eine große Gruppe von Männern im Kreis Aufstellung genommen. Zum tiefen Klang einer Trommel begannen sie einen Atan zu tanzen, einen Kriegstanz der Paschtunen. Eine in der Nähe stehende Ziege fiel mit ausschlagenden Hufen in den Tanz ein. Alle feierten, alle waren glücklich. Das Grauen so vieler Jahre schien endlich überwunden.
Bei einem Buskatschi in Mazar hatte ich einige Tage zuvor den gleichen Jubel erlebt. Das Reiterspiel hatte auf einem großen freien Platz südlich des Schreins stattgefunden. Mehr als hundert Chapandaz in langen Mänteln, breiten Hüten und hohen Stiefeln saßen auf feurigen Pferden, die so begierig waren wie ihre Reiter, alle anderen herauszufordern und auszustechen. Ziel des Spiels ist es, den kopf- und huflosen Kadaver einer Ziege vom Boden aufzunehmen, damit vom einen Ende des Spielfelds zum anderen und wieder zurückzureiten und ihn dann in die Kuhle in der Mitte des Feldes zu werfen, wo das Spiel begonnen hatte.
Bei dem Versuch, an der Seite des Pferdes hängend den Kadaver vom Boden zu klauben oder ihn einem Mitspieler abzujagen, würde so mancher Reiter gnadenlose Peitschenhiebe von den Mitspielern einstecken müssen. Buskatschi ist Krieg unter anderem Namen. Viele, die an diesem Wettkampf teilnahmen, gehörten zur Führungsriege der Nordallianz, die sich an der Vertreibung der Taliban beteiligt hatte. Im neuen Afghanistan kämpften sie bei diesem Reiterspiel mit dem Stolz von Männern, die der Bedrohung durch den echten Krieg enthoben waren.
Die Zuschauer, fast ausschließlich Männer, hatten sich am äußersten Rand des Spielfelds versammelt. Sie schrien und fuchtelten. Viele waren Besitzer der Pferde im Kampfgetümmel, und mit Feldstechern beobachteten sie das Geschehen von den Dächern ihrer teuren, importierten Geländewagen aus. Es herrscht große Armut in Afghanistan, aber auch großer Reichtum.
Corinne war in einem Konvoi von Sufis nach Mazar gereist. In Mazar luden mich die Sufis zu ihrem Zikkur ein, einer Andachtsübung mit geisterhaften Gesängen und ungezügelten Gefühlsausbrüchen. Corinne durfte nicht teilnehmen; Frauen sind beim Zikkur nie zugelassen. Buchstäblich am eigenen Leib erfuhr Corinne immer wieder, wie beengt das Leben der Frauen in Afghanistan trotz vieler Veränderungen noch immer sein kann.
Die Sufis waren von ebenso beharrlicher Gastfreundschaft wie alle anderen. Sie luden uns in ihre Häuser in Mazar zum Essen ein, und ein Sufi-Heiler befreite mich von einem migräneartigen Kopfschmerz, der mich seit Tagen plagte, indem er mir ein Hackmesser rasch über die geschlossenen Lider zog und dazu Verse aus dem heiligen Koran rezitierte. Der Schmerz war augenblicklich wie weggeblasen.
Als mich die Sufis einluden, mit ihnen nach Kabul zurückzufahren, nahm ich das Angebot gern an. Die Hinreise hatte ich in einem kleinen Flugzeug absolviert, das nur mit äußerster Mühe die hohen Gipfel des Hindukusch überwunden hatte. Es war reiner Nervenkitzel gewesen, und so war ich erleichtert, zurück nicht fliegen zu müssen. Ich genoss die Gesellschaft der Sufis und die lebensfreudige Seite der afghanischen Kultur, die sie verkörperten. Es machte mir Freude, meine Zeit mit ihnen zu verbringen. Auch Corinne und Qais, mit denen ich mich inzwischen gut angefreundet hatte, reisten mit den Sufis.
Die aus Mazar hinausführende Straße erstreckt sich für etwa eine Stunde Fahrt über die Ausläufer der zentralasiatischen Steppe, ehe sie sich nach Süden wendet und durch eine enge Schlucht zu den ersten Bergzügen führt. Mit ihren weichen Stimmen rezitierten die Sufis Gedichte von Rumi, Hafis und Khaja Abdullah Ansari, und Qais erklärte uns, wovon die Verse handelten, und fiel gelegentlich auch in die Rezitationen ein.
Ein paar Stunden später streikte der Motor. Im Leerlauf rollten wir einen langen Hügel hinunter und landeten mit unglaublichem Glück direkt im Hof des einzigen Automechanikers im Umkreis von fünfzig Kilometern. Kraft der Sufis? Während sich der Mechaniker dem Motor widmete, hatten wir einige Stunden Zeit, um in einer heruntergekommenen, aus Lehmziegeln errichteten modernen Karawanserei Tee zu trinken und Kebab zu essen. Von der Terrasse, auf der wir saßen, konnten wir zum Fluss jenseits der Straße hinüberblicken. Wir sahen dort viele schwarze Zelte aus Ziegenhaar, wie sie für die nomadisierenden Kuchi typisch sind, und unverschleierte Kuchimädchen, die zwischen dem Fluss und den Zelten hin und her gingen und Wasser in Tontöpfen schöpften, die sie dann auf dem Kopf balancierten. Sie trugen bunte Kleider, wie ich ähnliche im Großen Basar von Istanbul gesehen hatte, wo sie als »Volkskunst« zu horrenden Preisen angeboten wurden.
Mitte des Nachmittags waren wir wieder auf Achse und kurvten aufwärts über die Serpentinen am Nordhang des Hindukusch. Eine Zeitlang nahmen die Sufis ihre Rezitationen wieder auf; als sie müde wurden, legte der Fahrer eine Kassette mit indischer Musik ein und drehte die Lautstärke voll auf.
Während wir uns noch auf mittlerer Höhe befanden, sahen wir blühende Obstbäume. Wilde Tulpen überzogen die steinigen Felder mit einem roten Teppich, die Weiden trieben erste graugrüne Blätter, und die Weinstöcke bildeten frische Ranken aus. Als wir an Höhe gewannen, wurde die Landschaft um uns kahl, und bei über dreitausend Metern Höhe befanden wir uns plötzlich wieder im Winter.
Hohe Schneewände türmten sich am Straßenrand. In den kommenden Monaten würde das Schmelzwasser sorgfältig nach unten geleitet werden, um damit die Obstbäume und Felder zu bewässern, wie man es in diesem trockenen Land seit Jahrhunderten machte. Wir aber, die wir uns nun dem Salang-Tunnel näherten, fanden es einfach nur lausekalt.
Wie wir bald feststellten, war der Tunnel unpassierbar. Die einspurige Straße war hoffnungslos verstopft von Fahrzeugen, deren Fahrer nur eins im Sinn hatten, zum nächsten Buskatschi zu kommen, und die deshalb mehrspurig in die enge Tunneleinfahrt drängten, was zu einem totalen Stau geführt hatte. Wir konnten nur anhalten und warten. Die Sufis erzählten Geschichten, Qais erzählte Witze, es begann zu dämmern. Polizisten stapften schreiend zwischen den Autos herum, aber nichts ging voran.
Ein Polizist riss ärgerlich die Tür eines kleinen roten Wagens vor uns auf, aus dem schon seit einer geraumen Weile dicke Marihuanawolken quollen. Unser Fahrer hatte mehrfach sein Fenster heruntergekurbelt, um wenigstens aus zweiter Hand etwas von dem Rauch genießen zu können, doch die Luft war einfach zu kalt, um das Fenster offen zu lassen. Der Polizist brüllte die Insassen des roten Wagens an, und wir erwarteten eine Festnahme. Aber der Ordnungshüter quetschte sich nur in den Wagen hinein und schloss die Tür hinter sich. Nach etwa einer halben Stunde stieg er selig lächelnd wieder aus.
Während sich die Nacht herabsenkte und die Sufis einduselten, unterhielten sich Corinne und ich über das, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt und worüber wir uns während der Tage in Mazar gewundert hatten. Obwohl wir beide weder Dari noch Paschtu, geschweige denn eine andere der rund zwanzig Landessprachen beherrschten, hatten uns die Kadenzen der vorgetragenen Lyrik doch verzaubert. Wir hatten eine solche Fülle davon geboten bekommen, selbst noch hier im Wagen. Die Afghanen, so hatten wir bemerkt, pflegten regungslos zu lauschen und jedes Wort zu genießen, wenn jemand Gedichte rezitierte.
Nach etwa vier Stunden zwängte sich ein Polizist in unseren Wagen und erbot sich, uns durch den Stau zu manövrieren. Halb aus dem Fenster auf der Beifahrerseite hängend und seine Kalaschnikow schwingend, brüllte er den Fahrern der Wagen vor uns zu, sie sollten Platz machen. Irgendwie gelang es ihnen, und hast du nicht gesehen befanden wir uns vor der Einfahrt und dann in dem abgasgefüllten Tunnel. Der Polizist blieb im Wagen, fuhr mit uns durch den Tunnel und auf der anderen Seite den halben Berg hinunter. Seine Schicht sei zu Ende gewesen, erklärte er uns, und er habe eine Mitfahrgelegenheit gesucht, um zu seinem Camp zu kommen.
Inzwischen war ein fast voller Mond aufgegangen. Corinne und ich verglichen unsere Afghanistanerlebnisse mit dem, was wir in anderen Ländern gesehen oder über andere Orte gelesen hatten. Es half uns, dem Erlebten einen Sinn zu geben und unseren eigenen Standort in dem Geschehen zu finden. Wir erreichten Kabul mit mehr Fragen als Antworten, und der Prozess des Entdeckens setzte sich fort.
Ein paar Tage später standen Corinne und ich in der Foundation for Culture and Civil Society, der Kulturstiftung, um Robert Kluijver in seinem eigentlichen Revier zu besuchen. Er war erst am Abend zuvor aus Mazar zurückgekehrt, erschöpft von der Leitung eines Festivals an einem Ort, der über praktisch keine Ressourcen und eine minimale Infrastruktur verfügte. Dennoch war er noch ganz aufgekratzt von der Begeisterung, die den Musikern entgegengeschlagen war. Besonders die aus den südlichen und östlichen Regionen Afghanistans angereisten Paschtunen waren von den im Norden ansässigen usbekischen und turkmenischen Festivalbesuchern enthusiastisch gefeiert worden.
Die Kulturstiftung war ein Treffpunkt für Schauspieler, Dichter, Musiker und andere Künstler, die zu einer gewissen Normalität zurückfinden wollten. Sie verfügte über eine kleine Bibliothek, und oft wurden Filmklassiker aus Europa und den Staaten gezeigt. Nahezu alle, die sich hier einfanden, waren Männer. Sie hatten Jahre – manche Jahrzehnte – eines Lebens im Schwebezustand hinter sich, hatten entweder in Flüchtlingslagern im Iran oder in Pakistan vegetiert oder waren in Afghanistan geblieben und dort den Raketen bestmöglich ausgewichen. Jetzt suchten sie verzweifelt, die verlorene Zeit einzuholen.
Einige hatten angefangen, Videofilme zu machen, andere hatten Karrieren als Sänger gestartet. Keiner hatte die Mittel und die Unterstützung, deren er bedurft hätte. Einige kamen zur Kulturstiftung, weil sie eine Ausbildung wünschten oder Rat suchten, andere kamen, weil sie sonst nichts zu tun hatten.
Wie es für die Afghanen typisch ist, wollten sie alles lernen, was sie nur konnten, über alles, was es zu lernen gab. Vor allem Theater interessierte sie brennend. Einige hatten an der Universität Kabul Theatererfahrungen gesammelt, ehe in den frühen 1990er-Jahren der Bürgerkrieg ausbrach. Unter den Flüchtlingen waren manche, die das blühende kommerzielle Theater in Teheran kennengelernt hatten oder das noch im Entstehen begriffene in Karachi. Für die meisten war das Theater eine große Unbekannte, die nachdrückliche Neugier weckte.
Die afghanischen Schauspieler, so Roberts Idee, sollten bei einem von Corinne Jaber abgehaltenen Workshop erfahren, was Schauspieler in anderen Ländern machten. Corinne stand an vorderster Front der Pariser Theaterszene. Erst kürzlich war sie mit einem der wichtigsten Theaterpreise Frankreichs ausgezeichnet worden, für ihre darstellerische Leistung in einem Stück über den Völkermord an den Armeniern: Das Ungeheuer auf dem Mond von Richard Kalinoski. Das Stück erinnerte an so manches in Afghanistan. Auch hatte Corinne einige Jahre mit dem visionären britischen Regisseur Peter Brook zusammengearbeitet und war mit ihm und seiner monumentalen Inszenierung des Mahabharata durch verschiedene Länder getourt.
An jenem Nachmittag wollte sie mit Robert besprechen, was sie mit den Workshopteilnehmern unternehmen sollte. Ich setzte mich dazu, denn ich war neugierig zu erfahren, wer in Afghanistan welche Art von Theater machte. Der Garten der Kulturstiftung wirkte in diesem Licht wie mit Gold überzogen. Der Duft der Rosen, die weiten Arkaden und Aufgänge des Gebäudes, die Terrassen und Balkone, die breiten und schmalen Treppen, die vielen Türen und Möglichkeiten für Auftritte und Abgänge erzeugten einen Zauber, der uns verlockend umgarnte.
»Hier sollte man eine Theateraufführung machen«, sagte ich zu Corinne. Ich sprach leise, als fürchtete ich, die sich längenden Schatten zu stören.
»Ja«, antwortete sie fast flüsternd mit ihrer geschulten, dunklen Stimme. Und da die Dichtung des Nouruz in unserer Erinnerung noch so frisch war, fügte sie hinzu: »Shakespeare.«
Damit fing es an.
Ein paar Tage später traf sich Corinne mit den Schauspielern. Sie stützte sich auf ihre Erfahrungen mit Peter Brook, der mit einer Schauspieltruppe durch Afrika getourt war und dort seine »Carpet Shows« aufgeführt hatte. Wenn sie in einen Ort kamen, entrollten sie mitten auf dem Dorfplatz ihren großen Teppich und begannen zu spielen. Durch diese spontane Handlung, erläuterte Corinne, sollte die Barriere zwischen Schauspielern und Publikum eingerissen werden.
Robert hatte einen großen Hazaragi-Kelim besorgt, der nun auf dem Rasen im Garten der Kulturstiftung ausgebreitet lag. Er hatte Quadrate wie ein Kreuzworträtsel, doch in kräftigem Orange, tiefem Rot und leuchtendem Blau, angeordnet in Rhomben- und Sägezahnmustern. Das gewebte Farbmuster spiegelte die Pracht der Geranien und Tulpen im Garten. Der Kelim sah alt aus; wahrscheinlich hatte er seit mehr als einer Generation den Boden eines Raums im Haus jener Hazara-Familie bedeckt, deren Frauen ihn gewebt hatten.
Die Schauspieler saßen im Kreis auf dem Kelim – ihre Schuhe standen säuberlich aufgereiht an dessen Rand – und saugten jedes Wort Corinnes in sich auf »wie trockener Spinat das Wasser«, wie es einer von ihnen später beschrieb.
In der Folge wurde der Kelim bei jeder Probe und Aufführung benutzt; er entwickelte sich zum inoffiziellen Totem der gesamten Unternehmung. Frauen, deren Namen für immer vergessen sind, haben ihn hergestellt und dabei wahrscheinlich niemals daran gedacht, dass sie ein Kunstwerk schufen. So sahen auch die Schauspieler ihr Handwerk. Kunst war nicht ihr Hauptanliegen: Sie stellten einfach etwas dar, weil sie wussten, wie man es macht.
Qais übersetzte, als sich Corinne den Akteuren vorstellte und jedem von ihnen die Hand reichte – es waren ausschließlich Männer. Einige begleiteten den Handschlag mit formalen Begrüßungsformeln nach afghanischer Tradition. Alle brachten zum Ausdruck, wie begierig sie seien, alles zu lernen, was Corinne ihnen beibringen könne.
Corinne erzählte von ihrer Arbeit. Dann fragte sie die Männer nach ihrer Theatererfahrung. Einige berichteten, dass sie bereits in den 1970er-Jahren, ehe die Kämpfe begannen, Theater gespielt hätten. Die meisten jedoch hatten für das Fernsehen gearbeitet oder bei billig produzierten Videodramas mitgewirkt, die als spannungsgeladene Thriller oder sentimentale Schmonzetten die einheimischen Zuschauer erfreuten.
Die Afghanen, so erläuterten sie, hätten eine sehr junge Theatertradition, lasse man das Theater außer Acht, das Alexander der Große gebaut habe, als er nach 330 v. Chr. mit seiner Armee in Afghanistan einfiel. Im äußersten Nordosten des Landes hatte Alexander am Ufer des Amudarja eine Stadt erbauen lassen, die die Grenze seines Imperiums markierte und zu der ein klassisches Amphitheater gehörte. In dem Ort, der heute Ai Khanum heißt, sind Überreste erhalten. Es ist das am weitesten im Osten gelegene griechische Theater, von dem man weiß.
Die ersten Theateraufführungen in der jüngsten Geschichte Afghanistans gab es in den 1920er-Jahren, während der zehn Jahre der nach dem Westen ausgerichteten Herrschaft von Amanullah Khan. Nach seiner erzwungenen Abdankung unterdrückten die konservativen Kräfte für die nächsten fünfundzwanzig Jahre jegliche Theatertätigkeit. Erst während der drei Dekaden der Blüte unter der Herrschaft von Schah Sahir, der in den 1950er-Jahren zur Alleinherrschaft kam, wurde die Theaterwissenschaft als Lehrfach an der Universität Kabul akzeptiert. Einige der älteren Schauspieler, die hier auf dem Kelim einen Kreis um Corinne bildeten, waren damals an der Uni ausgebildet worden. Ihre Lehrer stammten aus den USA, aus Europa und der Türkei.
In den 1970er-Jahren hatten die Deutschen ein modernes Stadttheater in Kabul erbaut, das noch immer steht, wenn auch als Teilruine, da das Dach mehrfach von Raketen getroffen wurde. In seiner Nähe liegt das Stadion, in dem die Taliban Ehebrecherinnen und Ehebrecher sowie Homosexuelle durch Steinigung hinrichten ließen – ein Volkstheater der besonderen Art.
In den 1980er-Jahren erbauten die Russen ein modernes Theaterzentrum. Ganz dem Sowjetstil entsprechend, brachten dort aus den Polizei- und Feuerwehrbrigaden Kabuls rekrutierte Schauspieltruppen propagandistische Stücke zur Aufführung. Auch dieses Gebäude wurde während der Kämpfe nach dem Abzug der Sowjets 1989 schwer beschädigt; die Ruine wurde zu einem gern genutzten Versteck von Drogensüchtigen und Dealern.
Corinne schlug den Mimen eine Reihe von Übungen vor, was sie gern akzeptierten. Ich saß auf einer der Terrassen, die den Garten so idyllisch machten, und schaute wie von einem Logenplatz auf den Kelim, der ihre Bühne darstellte. Noch kannte ich keinen der Schauspieler mit Namen. Doch einige von ihnen prägten sich mir rasch als herausragende Persönlichkeiten ein.
Einer hieß Nabi Tanha. Als Corinne die Schauspieler bat, ein Tier darzustellen, verwandelte er sich so mühelos in einen sich anschleichenden Löwen, als wäre er in einem Rudel aufgewachsen. Seine Wahl des Tieres war verräterisch: Nabi Tanha sollte sich als Leitfigur unter den Schauspielern entpuppen.
Ein anderer war ein distinguiert wirkender Mann mittleren Alters namens Qader Faroukh. Er besaß die würdevolle Haltung eines Premierministers und die dazu passende Stimme. Er musste nicht so tun, als wäre er jemand Großes. Er stellte rohe animalische Kraft hinter einer Fassade kalkulierter Ruhe dar. Ein paar Jahre später sah man ihn in dem Film Der Drachenläufer als afghanischen General a. D., eine Rolle, die ihm auf den Leib geschrieben war.
Einer der Akteure trug eine amerikanische Armeejacke und warf sich in seine Improvisationen, als wären sie ein Kampf Mann gegen Mann. Er rollte sich auf dem Boden, machte weit ausladende Gesten, riss im einen Moment die Augen weit auf vor Staunen und hatte im nächsten einen wahrhaft einschüchternden Blick. Ich sprach zu der Zeit noch kein einziges Wort Dari und musste aufmerksam zuhören, um mitzubekommen, dass sein Name Shah Mohammed lautete. Später, als ich ihn besser kannte, zeigte er mir ein Foto von sich, das während der Zeit der Taliban aufgenommen wurde. Wie alle afghanischen Männer trug auch er zu der Zeit Turban und Vollbart. Doch selbst bei dem obligatorisch freudlosen Talibanausdruck strahlten seine Augen noch immer natürliche Freundlichkeit und Güte aus.
Ein älterer Mann war klein und sehr ruhig. Er hatte ein gewinnendes Lächeln. Später erfuhr ich, dass sein Name Kabir Rahimi war. Als er ein Tier mit Flügeln darstellte – einen Vogel?, einen Schmetterling?, eine Fledermaus? – begleitete er seine Flatterbewegungen auf der Suche nach einem Landeplatz mit einem fragenden Blick, der in vollkommene Zufriedenheit überging, als er sich auf dem gefundenen Fleckchen niederließ. Eine präzise Darstellung mit sparsamsten Ausdrucksmitteln.
Schon während dieser Einführung schälte sich heraus, dass die Schauspieler zwei Gruppierungen angehörten. Anführer der einen war Nabi Tanha, der der anderen Qader Faroukh. Zeigte Nabi Tanhas Gesichtsausdruck Unzufriedenheit mit irgendetwas, so sah man den gleichen Ausdruck auch bei all seinen Gefolgsleuten, selbst wenn sie nicht hätten sagen können, weshalb. Und das Gleiche traf auf die andere Gruppe zu.
Nach nur einer Stunde mussten alle wieder gehen. Wolken verdüsterten den Himmel früher als gewöhnlich, und von dem steilen Berg hinter der Kulturstiftung wehte ein eisiger Wind herüber. Jemand schaltete die Lichter rund um den Garten ein. Die Vögel, die gerade erst aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt waren, flogen von Baum zu Baum und suchten ihre Nester. Alle verabschiedeten sich wortreich, und man verabredete sich für den nächsten Tag.
Bevor sie gingen, sagte Corinne zu den Männern: »Wenn ihr morgen kommt, bringt bitte ein paar Frauen mit.« Corinne war fest entschlossen, den Werten der Taliban keine Überlebenschance zu bieten. Es trat eine große Stille ein. Wir spürten, dass es ein Problem für sie sein würde, Frauen zu finden, aber sie wollten es versuchen.
Als wir uns am Abend über die Schauspieler unterhielten, war Corinne ganz aus dem Häuschen. Ihr Enthusiasmus, ihre Intelligenz, ihre Offenheit, ihr großer Humor und, vor allem, ihr starker Wunsch zu lernen hatten sie tief beeindruckt.
Mehrmals wiederholte sie, was Nabi Tanha zum Abschied gesagt hatte: »Wenn du nur sechs Monate mit uns arbeitest, dann können wir das ganze Land herausfordern.« Es waren Worte, die sie nicht ungehört lassen konnte.
Am nächsten Tag fanden sich alle wieder ein. Auch eine Frau war dabei, aber nur eine einzige. Sie hieß Parwin Mushtahel, war leicht untersetzt und matronenhaft, und die schweren Locken ihres kastanienbraunen Haars kämpften sich unablässig unter ihrem Kopftuch hervor. Doch sie bewahrte sowohl das Tuch auf dem Kopf wie auch ihre Würde, als sie sich mit ganzem Einsatz in die Übungen des Tages warf.
Corinne hatte von Anfang an alle Fäden in der Hand. Sie schritt zur Mitte des Kelims, der wieder auf dem Rasen ausgebreitet lag, und bat die Schauspieler, sich im Kreis niederzulassen. Sie habe eine Reihe von Übungen vorbereitet, erklärte sie, während alle ihren Platz einnahmen. Jahrelang hatte ihre Stimme Texte bis in die letzte Zuschauerreihe getragen und sich dadurch zu einem Organ entwickelt, das absolute Aufmerksamkeit erzwang.
Die afghanischen Männer zeigten keinerlei Unbehagen darüber, dass eine Frau sie kommandierte. Noch schien es ihnen etwas auszumachen, wenn Corinne innerhalb der Tore der Kulturstiftung ihr bunt gestreiftes Kopftuch auf die Schultern gleiten ließ. Sie alle hatten bereits Frauen ohne Kopftuch gesehen. Es waren gebildete Männer; viele hatten Ehefrauen, die in den eigenen vier Wänden kein Kopftuch trugen.
Qais formulierte es so: »Wir Afghanen akzeptieren fast alles, wenn wir überzeugt sind, dabei etwas zu lernen. Im Grunde ist es uns egal, ob es von einem Kharidschi, einem Mann oder einer Frau kommt. Wir dürsten danach, zu lernen. Unser Wissensdurst wird nie gestillt.«
Wieder war es ein sehr kühler Tag. Alle trugen dicke Jacken und Pullover. Corinne hatte eine Art knielangen Kaftan an, den sie in Mazar gekauft hatte und der so etwas wie ihre Uniform werden sollte. Wenn sie das Kopftuch ablegte, umrahmte die Fülle ihres schwarzen Lockenhaars ihr Gesicht und verstärkte jede ihrer Kopfbewegungen. Obwohl sie zu der Zeit bereits vierzig Jahre alt war, hatte sie die glatte und weiche Haut einer viel jüngeren Frau und die körperliche Fitness einer Athletin. Es ist ihr Beruf, Menschen dazu zu bringen, sie anzusehen. Und es war schwer, es nicht zu tun.
Mehr als eine Stunde lang arbeiteten Corinne und die Schauspieler gegen den eisigen Wind und den Lärm von den Lastwagen und Eselskarren jenseits der Mauer an. Sie zeigte ihnen Techniken zur Muskeldehnung und Stimmbildung.
Dann berichtete ihnen Corinne mehr über die Stücke, in denen sie gespielt hatte. Sie sprach über Shakespeare, Molière, Shaw und andere Dramatiker. Nabi Tanha und Qader Faroukh, die beide an der Universität Kabul Theaterwissenschaft studiert hatten, erzählten freudig, was sie über diese Autoren noch wussten, nach so vielen Jahren, in denen nicht einmal ihre Namen hatten erwähnt werden dürfen.
Während der nächsten Tage kam Corinne noch mehrmals mit den Schauspielern zusammen. Am vorletzten Workshoptag erschien die Gruppe um Qader Faroukh nicht. Nur Qader Faroukh selbst kam kurz vorbei, um mitzuteilen, dass er und seine Gruppe die Teilnahme aufgeben müssten. Er habe einen Vertrag ergattert für eine Serie von Kurzstücken zum Thema Demokratie, die im ganzen Land aufgeführt werden sollten, und sei nun unter Druck, alles in kürzester Zeit unter Dach und Fach zu kriegen. Es war die afghanische Art und Weise, um Entlassung aus ihrem Workshop zu bitten.
Als Nabi Tanha sah, dass Qader Faroukh ging, und dann den Grund dafür erfuhr, überzog ein breites Siegerlächeln sein Gesicht.
An diesem Tag schlug Corinne vor, dass die Schauspieler gemeinsam etwas improvisieren sollten. Nabi Tanha erbot sich, den Mond darzustellen, und bat die anderen Schauspieler, die Sterne zu spielen. Später gestand mir Qais: »Was die da machten, ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Aber als ich Corinne anschaute, da hatte sie dieses breite Lächeln. Mit ihren Augen fragte sie mich, was ich davon hielt. Ich zuckte ratlos die Achseln, denn was ich sah, war mir völlig unverständlich.« Aber die Schauspieler hatten Spaß an der Möglichkeit, ihre Fantasie spazieren zu führen.
Nach einer Weile wurde auf großen Tabletts Tee in den Garten gebracht. In Afghanistan läuft nichts ohne grünen Tee. Von einer Bühne verwandelte sich der Kelim in ein Teehaus, und die Schauspieler stürzten sich auf die bereitgestellten Kuchen und Kekse. Nach fünfzehn Minuten bat Corinne Qais, alle zur Arbeit zurückzurufen.
Er versuchte es, aber keiner der Schauspieler beachtete ihn. In der durch und durch hierarchischen Gesellschaft der Afghanen kann ein jüngerer Mensch einem älteren nicht vorschreiben, was er zu tun hat. Und Qais war deutlich jünger als die meisten der Mimen. Er erklärte Corinne sein Problem.
Corinne schnappte ihn am Arm und zerrte ihn zu den Schauspielern, »als hätte ich was verbrochen«, wie er später scherzend erzählte. Sie bat ihn zu übersetzen und sagte dann: »Jungs, wir wollen jetzt erst einmal an den Improvisationen arbeiten. Später trinken wir dann zusammen noch einen Tee.« Alle sagten »Okay«, setzten aber ihr Geplauder fort, während sie am Tee nippten. Diskussionen, die bei einer Tasse Tee beginnen, können sich über Tage hinziehen.
Corinne wiederholte: »Jungs, lasst uns jetzt arbeiten. Es wird bald dunkel, und dann müssen wir sowieso aufhören. Wir können später Tee trinken, wenn wir fertig sind.« Sie klang jetzt schon leicht ungehalten. Wieder sagten alle »Okay«, rührten sich aber nicht, bis Nabi Tanha zufällig aufblickte und die Frustration sah, die Corinne ins Gesicht geschrieben stand. Autoritär klatschte er in die Hände und sagte mit lauter Stimme: »Hört auf zu essen, zu trinken und zu quatschen! An die Arbeit!«
Sofort stellten alle ihre halb geleerten Gläser ab und legten die angeknabberten Kekse beiseite. In diesem Augenblick war klar, dass hier zwei Persönlichkeiten das Sagen hatten. Während der kommenden Monate sollte sich die Waagschale der Macht in einem schonungslosen und unvorhersehbaren Prozess mal zu Corinnes, mal zu Nabi Tanhas Gunsten senken – ein Prozess, der ein Drama für sich darstellte.
Am letzten Tag vor ihrer Rückkehr nach Paris entschied sich Corinne, die Improvisationen enger zu fassen, um zu sehen, ob sich die dabei freigesetzte Kreativität etwas zügeln ließ. Nach den Körper- und Stimmübungen, die inzwischen alle gut beherrschten, bat sie die Schauspieler, eine Szene aus Ein Sommernachtstraum zu improvisieren.
Sie wählte die Szene im letzten Akt, in der die Handwerker die Geschichte von Pyramus und Thisbe spielen. Da der Text des Stückes nicht in Dari vorlag, erzählte ihnen Corinne die unglückliche Liebesgeschichte. Dann bat sie die Schauspieler, die Szene darzustellen und dabei improvisierend auszuschmücken.
Das Ergebnis war erstaunlich: Erstens zögerten die Männer keinen Augenblick, weibliche Charaktere darzustellen. Bereitwillig bedeckte Kabir seinen Kopf mit einem Tuch, um sich in Thisbe zu verwandeln. Ein anderer übernahm die Rolle von Wand und bildete mit Daumen und Zeigefingern die Spalte, durch die die schmachtenden Liebenden miteinander sprechen. Alle zeigten sich ohne Zaudern bereit, aufzustehen und eine Geschichte zu erzählen.
Um den Geschlechtertausch ausgewogen zu halten, wurde Parwin gebeten, eine Männerrolle zu übernehmen. Umgehend tauschte sie ihr Kopftuch gegen die Kopfbedeckung eines Mannes und hüllte sich in einen Patu, den typischen Wollschal der Männer. Und dann sprach sie mit dunkler, barscher Stimme.
Es schien kein Problem für die Schauspieler, die Verschachtelung des Spiels im Spiel im Sommernachtstraum zu verstehen. Sie schlüpften mit großem Enthusiasmus in ihren Part. Dann wiederholten sie die Darstellung, und jeder Schauspieler übernahm nun eine andere Rolle. Einige von ihnen hatten noch nie im Leben den Namen Shakespeare gehört, aber alle waren sich einig, dass er eine tolle Geschichte geliefert hatte.
Corinne beendete den Workshop mit dem Versprechen, wieder nach Kabul zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, wann, wie oder zu welchem Zweck. Aber sie hatte eine tiefe innere Verbindung zu den Schauspielern geknüpft, und die hatten sie eindeutig akzeptiert. Mehrfach während des Kurses hatte der eine oder andere Qais flüsternd gebeten, Corinne zu fragen, ob sie nicht ein großes Projekt mit ihnen starten wolle. Qais übersetzte, doch Corinne war sich nicht sicher. Auch sie wusste noch nicht, was kommen würde.
Robert Kluijver wollte unbedingt, dass sie wiederkommen und etwas Großes auf die Beine stellen sollte. Aber was? Weitere Workshops? Eine Szenenfolge? Ein ganzes Stück?
Die Aufgabe lautete, das richtige Projekt zu finden, zu dem diese Schauspieler einen persönlichen wie auch beruflichen Bezug und Zugang finden konnten. Und es musste in irgendeiner Weise für das neue Afghanistan von Bedeutung sein.
Corinne reiste ab nach Paris, den Kopf voller wirbelnder Fantasien.
Wieder in Paris, den Staub von Kabul noch in den Schuhen, kam Corinne zu der Einschätzung, alles andere als ein ganzes Theaterstück sei sinnlos. Nur wenn es ihr möglich wäre, die Schauspieler von einer ersten Textlesung bis zur Uraufführung eines Stücks zu begleiten, könne sie ihnen eine Bandbreite an Erfahrungen bieten, die ihnen für die Zukunft wirklich nützlich wären. Ein ehrgeiziges Vorhaben.
Zunächst sprach sie mit der berühmten französischen Regisseurin Ariane Mnouchkine, die schon mit Theaterkünstlern in aller Welt gearbeitet hatte und für diesen Sommer von Robert Kluijver nach Kabul eingeladen war, um dort Workshops mit jungen afghanischen Schauspielern abzuhalten. Diese Workshops sollten Teil des Afghanischen Theaterfestivals sein, das Robert gerade organisierte.
In einer E-Mail informierte mich Corinne, dass sie und Ariane sich lang und breit darüber beraten hätten, welches Stück man wählen solle. Sie seien sich einig gewesen, schrieb sie, dass die Tradition der epischen Dichtung Afghanistans es nahelegte, sich einem der großen Dichter-Dramatiker zuzuwenden.
Ariane schlug Tartuffe von Molière vor. Durch seine Beschäftigung mit den Übeln, die aus der Gier erwachsen, wäre das Stück eine visionäre Vorwegnahme der Korruption gewesen, die Afghanistan in ihren Würgegriff zu nehmen drohte. Obwohl sie das Stück gut kannte, nahm sich Corinne den Text noch einmal vor. Sie suchte nach Anknüpfungspunkten zwischen dem Stück und ihren Eindrücken von Afghanistan und den Schauspielern, die sie dort getroffen hatte, fand aber nicht, was sie suchte. Dem Stück fehlte ihrer Meinung nach die Wucht Shakespeares. Sie hatte erlebt, welche physischen und emotionalen Energien die Darsteller freisetzen konnten, und wollte ein Stück, das genau diese Energien anzapfte.
Kurz vor ihrer Abreise aus Kabul hatten Corinne und ich uns bereits über ein paar Shakespeare-Stücke unterhalten. Auf der oberen Terrasse des alten Forts, in dem sie wohnte, hatten wir ein Brainstorming abgehalten. Es war naheliegend, dass wir zunächst an die Stücke dachten, die Krieg und Kampf zum Thema hatten. Corinne meinte, die Afghanen könnten sich dafür auf persönliche Erfahrungen berufen und so eine darstellerische Kraft entfalten, über die Schauspieler aus friedlicheren Regionen nicht mehr verfügten. Die Historiendramen erschienen ihr folglich verlockend, vor allem Heinrich der Fünfte. Die Darstellung der Schlacht von Agincourt, bei der die umzingelten, zahlenmäßig unterlegenen Engländer dennoch gewinnen, bot eine verblüffende Parallele zu den schlecht bewaffneten Mudschaheddin, die die Sowjets aus Afghanistan vertrieben, wenn auch, zugegebenermaßen, mit maßgeblicher Unterstützung der Amerikaner.
Richard der Zweite