Sherlock Holmes an der Saar - Franziska Franke - E-Book

Sherlock Holmes an der Saar E-Book

Franziska Franke

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Beschreibung

Mörderjagd im Saarland Als Sherlock Holmes einen alten Freund in St. Johann besucht, dem heutigen Saarbrücken, lernt er zufällig einen Arzt aus Mettlach kennen, der am Vortag ein geheimnisvolles Päckchen ohne Absender erhalten hat, in dem sich ein wertvoller, uralter Goldkelch befand. Dieses Rätsel schlägt Sherlock Holmes augenblicklich in den Bann, zumal er sofort ahnt, dass hinter der Sache weit mehr steckt, als es den Anschein hat. Kaum sind der Meisterdetektiv und sein zeitweiliger Assistent, der Buchhändler David Tristram, in dem idyllischen Ort Mettlach angelangt, wird der Leichnam eines Unbekannten gefunden. Es dauert lange, bis dessen Identität endlich geklärt werden kann. Auch bleibt er nicht der einzige Tote. Der ganze Ort ist in heller Panik, während Holmes in aller Ruhe angeln geht, da er hofft, einen der legendären Riesenwelse aus der Saar zu ziehen.

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Franziska Franke

Sherlock Holmes an der Saar

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris

Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten

Sherlock Holmes und das Ungeheuer von Ulmen

Sherlock Holmes und der Ritter von Malta

Sherlock Holmes und das Geheimnis der Pyramide

Sherlock Holmes und die schwarze Kobra

Sherlock Holmes und die Spur des Yeti

Sherlock Holmes und der Mönch von Mainz

Sherlock Holmes und das Orakel der Runen

Franziska Franke wurde in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. In ihrer Sherlock-Holmes-Reihe löst der Meisterdetektiv zahlreiche Kriminalfälle im Anschluss an sein rätselhaftes Verschwinden in den Reichenbachfällen. Dabei begleitet ihn der englische Buchhändler David Tristram.

Franziska Franke

Sherlock Holmes an der Saar

Originalausgabe

© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-676-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-687-5

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

1. Das Paket

2. Mettlach

3. Der Käferexperte

4. Die beiden Arbeiter

5. Die Blumen

6. Der nächtliche Spaziergang

7. Der Schüler

8. Der Einbruch

9. Die Schwester

10. Die Werksbesichtigung

11. Das Gasthaus zur Alten Post

12. Die Baustelle

13. Die Liebesromane

14. Die Eltern

15. Der Umzug

16. Die Nachricht

17. Die nächtliche Verabredung

18. Die Angelpartie

19. Die Haushälterin

20. Das Archiv

21. Der Pfarrer

22. Die Porzellanfiguren

23. Der Bankräuber

24. Die Schachpartie

25. Das Tagebuch

26. Abschied von der Saar

Vorwort des Herausgebers

Als ich vor mehr als zehn Jahren unter dem Titel »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« den ersten Band der Manuskripte herausgab, die auf dem Dachboden der Florentiner Casa Tristram-Boldoni gefunden worden waren, hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass ich in diesem Jahr das Vergnügen haben würde, den nunmehr zwölften Band der Reihe vorzulegen. Der Verfasser ist auch dieses Mal der ehemalige englische Buchhändler David Tristram, der in Florenz in die damals berühmte Bildhauerwerkstatt Boldoni eingeheiratet hatte. Er begegnete dem Meisterdetektiv zu der Zeit, als alle Welt glaubte, dass Sherlock Holmes im Kampf gegen Professor Moriarty, den »Napoleon des Verbrechens«, den Reichenbachfall hinabgestürzt sei. In Wahrheit konnte Holmes sich aber retten und hat in den folgenden Jahren als angeblich norwegischer Forscher Sven Sigerson die Welt bereist. Schon zu Beginn dieser Odyssee assistierte ihm David Tristram bei einer Reihe von Kriminalfällen und wurde sein zeitweiliger Biograph.

Leider wird jedoch seine ohnehin schon schwer lesbare Handschrift von Band zu Band immer nachlässiger. Es war daher wieder eine mühsame und zeitraubende Arbeit, den Text zu erfassen, was aber der damit betrauten Anglistikstudentin vortrefflich gelungen ist. Nur vor den durch Stockflecken im Papier völlig unleserlichen Jahreszahlen musste sie kapitulieren.

Erst drei Jahre nach der ersten Begegnung mit David Tristram kehrte Sherlock Holmes ins heimatliche London zurück. Ohne Mister Tristrams Berichte wüssten wir nicht, welche Abenteuer der englische Meisterdetektiv in den davorliegenden dunklen Jahren seines Exils erlebt hat.

Florenz, den 24. Januar 2024

Giovanni Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Das Paket

Nach Lösung unseres Falls1 beschloss Holmes, einen Abstecher nach Sankt Johann2 in den Preußischen Rheinlanden zu machen, um einen dort lebenden Gelehrten zu besuchen, mit dem er seit einiger Zeit korrespondierte. Dieser hieß Theodor Leidinger, war Lehrer für Geschichte und alte Sprachen an einem Gymnasium und hatte sich durch zahlreiche Publikationen zur Altertumskunde und zur Kunst des Mittelalters einen guten Namen in Wissenschaftskreisen gemacht. Nebenher handelte er mit Kunst und Antiquitäten. Wahrscheinlich fragte mich Holmes nur höflichkeitshalber, ob ich ihn begleiten wolle, und ich wiederum schloss mich nur an, weil mein Schwager Andrea Boldoni mich darum gebeten hatte. Er hielt den Kontakt für nützlich für die von ihm geleitete Bildhauerwerkstatt. Ich fragte lieber nicht nach, was genau er sich davon versprach, da er doch angeblich unschuldig daran war, dass die Marmorskulpturen seines verstorbenen Vaters immer wieder als echte Renaissance-Skulpturen ihren Besitzer wechselten. Aber immerhin waren meine Deutschkenntnisse mittlerweile ganz manierlich, zumindest wenn ich mit keinem allzu ausgeprägten Dialekt konfrontiert wurde.

Unser Gastgeber entpuppte sich als reizender Herr mittleren Alters mit einer äußerst charmanten, wohl etwas jüngeren Gattin. Ich hätte es nicht über das Herz gebracht, ihm die in historischem Stil gehaltenen Werke meines Schwiegervaters unterzujubeln. Außerdem war er viel zu versiert, um auf sie hereinzufallen.

Trotz herrlichen Wetters saßen wir den ganzen Tag im Salon, wo unser Gastgeber und Holmes über mittelalterliche Handschriften fachsimpelten. Ein Thema, zu dem ich rein gar nichts beitragen konnte. Zum Glück hatte ich darauf bestanden, in einem Hotel abzusteigen, weshalb ich mich nicht verpflichtet fühlte, einen weiteren Tag zu bleiben. Aber es kam ganz anders.

Gegen zwei Uhr nachmittags geleitete das Hausmädchen einen weiteren, offenbar unerwarteten Besucher in den Salon. Er war etwa im gleichen Alter wie unser Gastgeber und hatte eine Figur, die ein höflicher Mensch als stattlich bezeichnete. Man musste kein Meisterdetektiv sein, um ihn an seiner Tasche als Arzt zu identifizieren.

»Schön, dass du Zeit für mich hast, Theodor …«, begann er, stockte aber, als er erkannte, dass der Hausherr nicht allein war.

»Mister Sven Sigerson und Mister David Tristram, mein alter Klassenkamerad Doktor Richard Schmitt«, machte dieser uns bekannt. Falls er über den Besuch seines Freundes erstaunt war, so ließ er es sich nicht anmerken.

»Mir ist etwas Seltsames passiert«, platzte es aus dem Neuankömmling heraus, bevor er genauso abrupt wieder verstummte.

»Mister Sigerson und sein Assistent sind Experten für seltsame Dinge«, munterte der Hausherr seinen neuen Gast auf.

Dieser seufzte übertrieben und blickte uns dann skeptisch an. Aber schließlich siegte sein Mitteilungsdrang über seine offenbar ausgeprägte Reserviertheit gegenüber Fremden. »Gestern erhielt ich überraschend ein Paket. Leider stand kein Absender darauf. Darin war das da!« Er öffnete seine Arzttasche, griff vorsichtig hinein und zog den letzten Gegenstand heraus, den ich erwartet hatte, nämlich einen uralt aussehenden, goldenen Becher, und stellte ihn auf den Tisch.

»Solche Post lässt man sich doch gefallen«, bemerkte ich belustigt.

»Das Ding ist ein Vermögen wert, allein schon der Materialwert«, entfuhr es dem Hausherrn, und er nahm das Gefäß so vorsichtig in die Hand, als wäre es zerbrechlich. Dann hob er den Kelch hoch, als wollte er die Eucharistie damit feiern, und betrachtete die Unterseite. »Ein spätantiker Trinkbecher und zweifelsohne aus reinem Gold«, murmelte er bewundernd. »Wer verschickt denn so etwas an einen Arzt und dann noch ohne Begleitschreiben?«

Auf Englisch heißen Taschendiebe pickpockets. Vielleicht gibt es ja auch givepockets dachte ich amüsiert, sprach es aber nicht laut aus.

»Das frage ich mich auch«, mischte Holmes sich vehement ein. Er saß hochaufgerichtet in seinem Sessel und war ganz in seinem Element. »Ich hoffe, Sie haben den Karton und das Packpapier mitgebracht.«

Der Arzt zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Das habe ich leider alles weggeworfen. Es hatte stark geregnet, und das Papier war völlig durchgeweicht.«

Holmes blickte den Arzt an, als ob eine derartige Vernichtung von Beweismitteln ein Kapitalverbrechen wäre.

»Erstaunlich, dass der Briefträger die Adresse überhaupt …« Doktor Schmitt stockte, Holmes’ graue Augen leuchteten auf und der Arzt leckte sich nervös über die Unterlippe. »Sie meinen, dass das Paket mir fälschlich ausgehändigt wurde?«, fragte unser Gesprächspartner verblüfft.

»Ihr Nachname entspricht ja dem englischen Smith und ist wahrscheinlich in Deutschland sehr verbreitet. Gibt es in Ihrem Heimatort noch andere Schmitts?«, erkundigte sich Holmes.

»Ja, leider. Ich habe schon überlegt, meinen Geburtsort anzuhängen und mich Schmitt-Orscholz zu nennen. Aber zum Glück gibt es im Ort nur einen Richard Schmitt.«

»Wirklich schade, dass ich mir kein Bild von der Handschrift machen kann, mit der die Adresse geschrieben wurde«, bedauerte Holmes mit finsterer Miene. »Aber wir sollten nichts von vornherein ausschließen, auch wenn es auf den ersten Blick unwahrscheinlich wirkt. Vielleicht sind Sie ja doch der richtige Adressat dieser bemerkenswerten Sendung. Sind Sie wirklich ganz sicher, niemand zu kennen, der Ihnen diese Antiquität gesandt haben könnte?«

»Vielleicht ein Patient, den Sie aus Mitleid unentgeltlich behandelt haben und der in Amerika als Goldgräber zu Reichtum gekommen ist«, schlug ich vor, bevor mir bewusst wurde, dass man in Amerika keine römischen Trinkgefäße finden konnte.

»Ich habe nie jemanden gratis behandelt«, entfuhr es unserem Gesprächspartner in einem Tonfall, als ob das eine ehrenrührige Unterstellung wäre. »Ich betreibe auch keine Pfandleihe und bin nicht besonders an Altertümern interessiert. Theodor und ich sind Schulfreunde, was nicht heißt, dass ich seine Liebhabereien teile. Wenn sich kein rechtmäßiger Besitzer bei mir meldet, habe ich vor, das Ding zu verkaufen.«

»Haben Sie das Gefäß bereits jemandem zum Verkauf angeboten?«, erkundigte sich Holmes alarmiert.

»Nein, ich bin gleich hierhergefahren.«

»Du hast es aber doch sicher deiner Gemahlin gezeigt?«, fragte der Hausherr erstaunt.

»Ihr am allerwenigsten. Ich traue ihr glatt zu, gleich zur Polizei zu gehen. Die würde mir dann wahrscheinlich das gute Stück wegnehmen. Wenn aber niemand Anspruch darauf erhebt, möchte ich es veräußern.«

Wahrscheinlich hatte er den Karton und das Packpapier weggeworfen, damit ihm seine Frau nicht auf die Schliche kam.

»Das ist gut«, sagte Holmes und ließ damit offen, ob er die Verschwiegenheit oder die Habgier des Arztes meinte. »Als Erstes sollten wir in den Museen der Umgebung nachfragen, ob sie ein derartiges Objekt vermissen. Wo haben Sie noch einmal gesagt, dass Sie wohnen?«, kam er dann zur Sache.

Der mörderische Blick, den Doktor Schmitt ihm zuwarf, ließ mich befürchten, dass er Holmes verbot, den rechtmäßigen Besitzer seines Schatzes zu suchen. Aber der Arzt beherrschte sich gerade noch.

»Das habe ich bisher noch nicht gesagt. Aber es ist auch kein Geheimnis. Ich wohne in Mettlach.«

»Wo ist denn das?«, fragte ich.

»Kennen Sie nicht die berühmten Mettlacher Platten?«, fragte der Arzt zurück, was ich verneinte.

»Aber wieso haben Sie gesagt, wir sollten nachfragen?«, wandte sich dann unser Gesprächsteilnehmer perplex an Holmes. »Und außerdem: Was kümmert Sie eigentlich mein Paket?«

»Der Fall entbehrt nicht eines gewissen Interesses. Daher nehme ich ihn an, auch deshalb, weil wahrscheinlich mehr dahintersteckt, als es zunächst den Eindruck erweckt. Womöglich schweben Sie sogar in großer Gefahr«, sagte Holmes und erklärte dann unserem unfreiwilligen neuen Klienten, was ein beratender Ermittler war und dass wir diesem Berufsstand angehörten. Holmes hätte mit vollem Fug und Recht sagen können, dass er dieses Metier aus der Taufe gehoben hatte.

»Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden. Sie haben übrigens völlig recht. Die Sache ist schon etwas beunruhigend, nicht dass ich in einen Raub hineingezogen werde. Als Arzt muss ich schon auf meinen guten Ruf achten«, entgegnete Doktor Schmitt, dem Holmes offenbar Angst eingejagt hatte. »Ich kann Sie aber nicht bezahlen«, fügte er dann hastig hinzu, bevor dieser ihm seinen üblichen Honorarsatz nennen konnte.

Ich bezweifelte jedoch, dass er uns wirklich nicht bezahlen konnte. Wahrscheinlich war er schlicht zu geizig dafür. Allein seine äußerst qualitätvolle Kleidung strafte seine Worte Lügen.

»Wir werden uns schon einigen. Außerdem betrachte ich es als Urlaub. Ich wollte schon immer in der Saar angeln. Sie soll ja sehr fischreich sein«, entgegnete Holmes gut gelaunt.

Ich fragte mich, woher er wusste, dass Mettlach an der Saar lag, obwohl seine Kenntnisse in Gebieten, die für seine Ermittlungen irrelevant waren, oft erschreckend lückenhaft waren. Bei jedem anderen hätte ich vermutet, dass es ein Schuss ins Blaue war. Aber Holmes vermutete nie etwas.

»Gibt es in Mettlach ein gutes Hotel?«, erkundigte ich mich.

»Mettlach ist ziemlich überschaubar«, entgegnete der Arzt belustigt. »Der Ort ist noch nicht einmal im großen Brockhaus aufgelistet. Er besteht fast nur aus Fabriken und den Unterkünften der Menschen, die durch die keramischen Werke ihren Lebensunterhalt finden.«

Der Hausherr lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.

Doktor Schmitt hingegen räusperte sich pompös. »Natürlich gibt es auch die eine oder andere Gastwirtschaft. Wahrscheinlich kann man dort auch übernachten, aber das ist natürlich nichts für zwei Gentlemen wie Sie. Sie können aber gern während Ihrer Ermittlungen bei mir wohnen. In meinem Haus gibt es mehrere Gästezimmer«, bot er uns an. »Aber ich möchte Sie schon im Vorhinein warnen: Erwarten Sie keinen Luxus. Ich bin ein Freund des einfachen Lebens. Als ich nach Mettlach zog, hätte ich am liebsten eine Wohnung gemietet, das erspart viel Arbeit. Aber als Arzt muss ich leider standesgemäß auftreten, und inzwischen habe ich ja auch Familie.«

»Sie sind wegen der vielen Mitarbeiter der Fabriken nach Mettlach gezogen, die ja sicher ab und zu einen Arzt benötigen?«, fragte ich, doch der Arzt kam nicht dazu, meine Frage zu beantworten, da unser Gastgeber sich vehement einschaltete.

»Bald wird es an der Saar nur noch Fabriken, Hochöfen, Zechen und Abraumhalden geben, von der Quelle bis zur Mündung, der Fluss selbst wird begradigt, kanalisiert und zum Antrieb von Mühlen degradiert. Wenn man so weitergräbt, kommt es über kurz oder lang zu Grubensenkungen, und ganze Straßenzüge werden im Abgrund versinken. Es ist bezeichnend, dass das aufwendigste Gebäude des Zentrums von Sankt Johann nicht eine Kirche ist, sondern die Hauptniederlassung der Bergbaudirektion«, polterte er unerwartet heftig los. Bisher hatte ich ihn für ausgeglichen und distinguiert gehalten.

»Das ist der Fortschritt«, entgegnete Doktor Schmitt in einem leicht gereizten Tonfall, der vermuten ließ, dass die beiden ehemaligen Schulkameraden schon wiederholt derartige Auseinandersetzungen geführt hatten. »Die Menschen müssen schließlich irgendwo arbeiten, und weil es jetzt so viele neue Arbeitsplätze gibt, wirbt man Bauern aus dem Hunsrück, der Eifel und der Pfalz an – und die brauchen natürlich Wohnungen.«

»Wenn Sie sich hier wohlfühlten, dann würden sie nicht ständig streiken«, entgegnete der Hausherr erbost. »Das waren alles hübsche Dörfer und Städtchen, bevor der sogenannte Fortschritt in Gestalt der bergmännischen Industrie daherkam und sie verschandelt hat. Unvorstellbar, dass das benachbarte Völklingen seine Einwohnerzahl in dreißig Jahren vervierfacht hat!«

»Manche Leute werden einfach nie erwachsen!«, konterte der Arzt achselzuckend. »Du kannst noch so viel dagegen wettern, aber die Zeiten ändern sich und die Menschen mit ihnen!«

Außerdem konnte nicht jeder ein Gymnasiallehrer sein, ergänzte ich im Geiste und überlegte, ob Holmes mit seiner Leidenschaft für Chemie auf der Seite des Fortschritts oder der Tradition stand. Aber er hielt sich wohlweislich aus der Diskussion heraus.

Der Gastgeber hingegen schnaubte verächtlich.

»Und mit diesem Fortschritt kommen Alkoholismus, Sittenverfall, Gottlosigkeit und Verbrechen«, schwadronierte sein ehemaliger Klassenkamerad weiter.

»Verbrechen hat es schon immer gegeben«, wandte Holmes ein und beendete damit die Kontroverse. »Zurück zu unserem goldenen Becher. Herr Leidinger, Sie können mir doch bestimmt sagen, welchem Museum der Region ein derart wertvolles Stück abhandengekommen sein könnte?«

Zum Glück lenkte das den Altertumsfreund von seinem Lieblingsthema ab. »Da kommt eigentlich nur das neue Altertumsmuseum in Trier infrage, aber eine solche Kostbarkeit gehört eigentlich nach Berlin.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern so bald wie möglich nach Mettlach aufbrechen«, verkündete Holmes voller Elan.

»Ich wollte noch heute Abend zurückfahren«, entgegnete Doktor Schmitt und zog seine Uhr aus der Westentasche. »Wir müssten eigentlich den Zug um sieben Uhr noch bekommen.«

»Das passt mir gut, dann kann ich vorher noch schnell zum Telegrafen-Amt gehen«, entgegnete Holmes, erhob sich von seinem Sessel und verabschiedete sich.

Ich schloss mich an, um nicht zwischen die Fronten der gewiss wieder aufflammenden Grundsatzdebatte zu geraten.

Im Telegrafen-Amt schickte Holmes ein Kabel nach Trier, in dem er im dortigen Museum nachfragte, ob man einen römischen Goldbecher vermisse. Aber wie Herr Leidinger vermutet hatte, erhielt er bereits am nächsten Morgen den Bescheid, dass man bedauerlicherweise eine derartige Kostbarkeit nie besessen habe.

1 Natürlich wüssten wir zu gern, auf welchen Fall David Tristram anspielt. Möglicherweise auf einen der anderen beiden in Deutschland angesiedelten Fälle, die wir unter den Titeln »Sherlock Holmes und das Ungeheuer von Ulmen« und »Sherlock Holmes und der Mönch von Mainz« veröffentlicht haben?

2 Die Stadt Sankt Johann und zwei weitere Gemeinden schlossen sich 1909 zur Großstadt Saarbrücken zusammen.

2. Mettlach

Die Bahnfahrt von St. Johann nach Mettlach führte uns an den von Herrn Leidinger so vehement verdammten Fördertürmen, Hochöfen, Abraumhalden und Lagerhallen vorbei. Steinkohlerauch und Ruß verdunkelten mancherorts die Luft und legten sich als dünner Film auf Dächer, Straßen und Bäume. Wahrscheinlich erleuchtete nachts die Glut des Koks das Tal. Ab und zu ging es auch an der Saar entlang durch eine idyllische Landschaft. Den Fluss säumten zahlreiche Mühlen für Getreide und Papier. Je weiter wir uns von St. Johann und Völklingen entfernten, umso weniger Industrieanlagen gab es.

»Ich wollte Ihnen diese Frage nicht in Anwesenheit von Doktor Leidinger stellen, aber besitzen Sie andere gute Freunde?«, fragte Holmes den Arzt, kurz bevor wir unser Ziel erreichten. Bisher hatte der Meisterdetektiv neugierig aus dem Fenster geschaut, aber kein Wort gesagt.

»Nein, leider nicht, zu den anderen Klassenkameraden ist der Kontakt inzwischen abgebrochen, und die Kommilitonen aus Heidelberg sind in alle Himmelsrichtungen verstreut«, entgegnete Doktor Schmitt. »Aber warum interessiert Sie das eigentlich?«

»Ich überlege immer noch, wer Ihnen diesen Becher geschickt haben könnte«, entgegnete Holmes.

»Ich habe mir ja selbst schon das Hirn zermartert, aber mir ist niemand eingefallen«, antwortete Doktor Schmitt und betupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch, obwohl es im Abteil eher kühl war.

Es begann bereits zu dämmern, als wir Mettlach erreichten. Wir stiegen aus und verschwanden sogleich in einer dicken Dampfwolke. Als der Zug weitergefahren und der Dampf sich aufgelöst hatte, bemerkte ich, dass an diesem Abend offenbar nur zwei andere Männer den Zug verlassen hatten. Deshalb hätte ich nicht enttäuscht sein sollen, dass es keine Gepäckträger gab. Leider war ich aber mit der größten Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass sich jemand um mein nicht gerade leichtes Gepäck kümmern würde. Irritiert schaute ich mich um, leider vergeblich, was einen Gepäckträger betraf. Wie unser Klient richtig charakterisiert hatte, wurde das Ortsbild bestimmt durch riesige Fabrikanlagen, die, wie ich vermutete, zu den keramischen Werken von Villeroy & Boch gehörten.

Innerlich fluchend hob ich meinen schweren Koffer auf den Bahnsteig, wo mich Holmes vorwurfsvoll blickend erwartete.

»Es ist nicht weit zu meinem Haus«, sagte unser neuer Klient und riss mich damit aus meinen finsteren Gedanken.

Wir überquerten die Gleise und passierten eine langgestreckte Fabrik. Schließlich gelangten wir zur Saar, die gemächlich durch ihr schmales Bett floss. Das rechte Flussufer war unbebaut. Ich erkannte dort nur ein einziges, allerdings villenartiges Gebäude inmitten des saftigen Grüns. Wir folgten der links entlang der Saar führenden Straße, wo hingegen ein mindestens 360 Fuß langes, schlossähnliches Gebäude aus rotem Sandstein in den Abendhimmel ragte. Hinter diesem Palast erhob sich seltsamerweise ein hoher Schornstein.

»Was ist denn das?«, fragte ich, blieb stehen, stellte meinen schweren Koffer ab und deutete auf den gewaltigen Bau.

Eine derart herrschaftliche Gebäudegruppe hatte ich in diesem kleinen Ort wirklich nicht erwartet.

»Das ist die Steingutmanufaktur der Firma Villeroy & Boch. Hier werden die Mettlacher Platten hergestellt«, erklärte unser neuer Klient.

»Das Gebäude sieht aber nicht wie eine Fabrik, sondern eher wie ein Schloss aus«, bemerkte ich noch immer irritiert.

»Die Manufaktur ist in einer ehemaligen Benediktiner-Abtei untergebracht, die aber während der Französischen Revolution aufgelöst und dann von Jean-François Boch gekauft wurde«, klärte mich unser Klient auf, der offenbar doch an Geschichte interessiert war, zumindest sofern sie seinen Wohnort betraf.

»Allein der Schornstein weist ja schon auf ihre heutige Funktion als Produktionsstätte hin«, erwiderte Holmes und deutete mir mit einem ungeduldigen Kopfnicken an, dass er weiterzugehen wünschte.

Jenseits der Industrieanlage befand sich der eigentliche Ort, der sich malerisch den Hang hochzog, nur überragt von einer Kirche. Ich sollte noch erfahren, dass man an der Saar sehr katholisch war.

Zum Glück war der Weg zu Doktor Schmitts Haus tatsächlich nicht weit, obwohl es etwas abseits des historischen Ortszentrums lag. Bald folgten wir einem steilen Pfad, an dessen Ende ich im spärlichen Restlicht des Abends ein Steinhaus mit Giebel und grauem Schieferdach bemerkte.

»Da vorne ist unser Haus! Meine Frau wird sich schon wundern, wo ich bleibe, denn ich habe meinen Freund spontan besucht. Ich werde Sie als Urlauber und Angler vorstellen, wie schon Mister Sigerson vorgeschlagen hat«, sagte Doktor Schmitt, als wir auf das zweistöckige Gebäude zuschritten.

»Ich zahle aber allenfalls für die Kost, nicht jedoch für die Unterbringung. Schließlich sind wir hierhergefahren, um für Sie zu ermitteln«, betonte ich erbost.

»Selbstverständlich«, sagte Doktor Schmitt automatisch und wandte sich dann an Holmes: »Aber noch eine ganz andere Frage. Es macht Ihnen doch bestimmt nichts aus, meinem Sohn ab und zu etwas Englischunterricht zu geben?«

Deshalb also das großzügige Angebot, uns zu beherbergen! Er brauchte einen Privatlehrer. Ich öffnete schon den Mund zum Protest, aber Holmes war schneller.

»Ich werde versuchen, das Rätsel Ihrer unverhofften Postsendung zu klären, wozu ich aber viel Muße brauche. Daher habe ich vor, in Ruhe in der Saar zu fischen. Außerdem möchte ich Sie nochmals daran erinnern, dass ich Norweger bin. Englisch ist nicht meine Muttersprache«, erklärte er kategorisch.

Inzwischen hatten wir das Haus erreicht, neben dessen Eingang ein Messingschild hing, auf dem mit riesigen Buchstaben der Name des Arztes und die Öffnungszeiten der Praxis standen.

»Aber Mister Tristram ist ein echter Brite«, fügte Holmes hinzu. »Außerdem hat er selbst einen kleinen Sohn, während ich überhaupt nicht mit Kindern umgehen kann. Mister Tristram ist bestimmt ein besserer Englischlehrer.«

Ich wurde offenbar wieder einmal nicht gefragt, bevor man mir einen Arbeitsauftrag gab. Fast kam ich mir vor wie zu Hause bei den Boldonis.

»Hauptsache, jemand redet ab und zu auf Englisch mit dem Jungen«, sagte Doktor Schmitt und holte einen Schlüssel aus der Hosentasche.

Inzwischen war es so dunkel, dass es ihm erst im dritten Anlauf gelang, den Schlüssel in das Schloss der grau lackierten Tür zu stecken. Er drehte ihn herum und zog die Tür auf, die sich mit einem leisen Quietschen öffnete.

Als wir eintraten, stand bereits die Hausherrin in der Diele und erwartete ihren Gatten mit – wahrscheinlich gewohnheitsmäßig – vorwurfsvoller Miene. Offenbar hielt sie nur unser Anblick davon ab, ihren Gemahl mit Vorhaltungen zu überschütten. Sie war kräftig, aber nicht dick und hatte das hellbraune Haar zu einer aufwendigen Frisur hochgesteckt. Alles an ihr, von dieser Haartracht über den feinen Stoff ihres geblümten Kleides mit weißen Spitzenbesatz bis zu den blank polierten, schwarzen Schuhen, zeugte von der Herkunft aus einer guten Familie. Ohne ihren grimmigen Gesichtsausdruck wäre sie durchaus hübsch gewesen.

»Guten Abend, Liebling!«, begrüßte Doktor Schmitt seine bessere Hälfte. »Das sind Herr Sven Sigerson aus Norwegen und Herr David Tristram, zwei Freunde meines alten Klassenkameraden Theodor Leidinger. Sie reisen gerade durch die preußische Rheinprovinz und werden für ein paar Tage in unseren Gästezimmern übernachten. »– Meine Gattin Klara«, machte er uns dann bekannt.

»Mister Tristram schreibt einen Bericht über unsere Reisen, den er später bei einem angesehenen englischen Verlag veröffentlichen möchte. Das wird Ihrem zukünftigen Beherbergungsbetrieb bestimmt zugutekommen«, verkündete Holmes mit einem Nicken in meine Richtung, nachdem uns die Hausherrin ohne große Begeisterung begrüßt hatte.

»Wir haben keinesfalls vor, kommerziell Zimmer zu vermieten«, betonte der Hausherr vehement.

»Doch, das haben wir vor«, wurde er von seiner Gemahlin eines Besseren belehrt. »Es gibt ja im ganzen Ort kaum anständige Quartiere, wenn man nicht gerade von der Fabrikantenfamilie eingeladen wird. Außerdem kann ich eine Aufbesserung der Haushaltskasse gut gebrauchen.«

»Woher haben Sie das gewusst?«, fragte Doktor Schmitt, ohne auf die Pläne seiner Frau einzugehen. Wahrscheinlich würde sich das Ehepaar darüber streiten, sobald die beiden unter sich waren.

»Das habe ich daran gesehen, dass die Dachfenster erst vor Kurzem erneuert wurden – und zwar mit derart teuren Rahmen, wie man sie sich nicht für den Verwandtenbesuch anschafft, der nur alle paar Monate kommt«, erklärte Holmes in dem leicht herablassenden Tonfall, in dem man die törichte Frage eines Kindes beantwortet.

»Daher könnten wir tatsächlich etwas Werbung gut gebrauchen«, verkündete die Hausherrin, bevor sie dazu überging, ihren Gatten zu tadeln. »Du kommst zu spät! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du diesen Theodor besuchst? Die Kinder sind längst im Bett. Johanna ist heute Morgen vom Apfelbaum gefallen, hat sich aber wohl nichts gebrochen, Veronika hat einen Sandkuchen gegessen, und Alexander hat schon wieder behauptet, keine Hausaufgaben zu haben, was aber natürlich wieder gelogen war. Ich habe den Eindruck, er interessiert sich nur noch für seine Indianer-Romane. Du solltest mal ein ernstes Wort mit ihm reden!«

Ich war wirklich froh, dass Frau Leidinger uns Butterbrote und Lyoner Wurst mit auf den Weg gegeben hatte, die wir bereits im Zug vertilgt hatten. Klara Schmitt machte nämlich keine Anstalten, ihrem Gatten und uns ein Abendmahl anzubieten.

Doktor Schmitt schüttelte bedächtig den Kopf. »Das ist in seinem Alter normal. Johanna werde ich morgen gründlich untersuchen, nicht dass sie sich doch verletzt hat«, sagte er dann und schaute seine Frau kopfschüttelnd an. »Theodor wird immer seltsamer. Er lehnt inzwischen jeglichen Fortschritt ab und schimpft unentwegt auf die Moderne. Wenn es nach ihm ginge, würden wir noch im Mittelalter leben und den Boden mit dem Holzpflug bearbeiten«, sagte er zu seiner Gattin, was diese aber nur mäßig zu interessieren schien.

»Sei froh, dass ich schon für die zukünftigen Gäste zusätzliche Schlüssel habe anfertigen lassen«, sagte sie und deutete auf einen kleinen Schlüsselkasten neben dem Eingang.

Dann verschwand sie brummelnd in dem Raum zur Rechten und schloss so lautstark die Tür hinter sich, wie sie es gerade noch mit ihrer guten Erziehung vereinbaren konnte.

»Ich zeige Ihnen Ihre Zimmer. Sie wissen ja jetzt, wo Sie einen Hausschlüssel finden«, sagte der Arzt nach einer Schrecksekunde. »Im Parterre befinden sich Küche, Esszimmer und natürlich meine Praxisräume. Im ersten Geschoss sind der Salon, mein Büro, die Bibliothek und unsere Schlafzimmer«, erklärte er und ging voran.

Wir nahmen unser Gepäck und folgten ihm eine breite Holztreppe mit rotem Läufer hinauf.

Die Räume, die ich an diesem Abend zu sehen bekam, waren alle recht spartanisch eingerichtet – und das in einer Epoche, in der die meisten Domizile mit Möbeln in verschiedenen historischen Stilen, Topfpflanzen, Nippes und dunklen Samtvorhängen überreich dekoriert waren.

Am oberen Treppenabsatz riss der Hausherr eine frisch gestrichene Tür auf, hinter der sich das Badezimmer befand. »Das sind die Mettlacher Platten«, sagte er und deutete auf den Boden, der mit hübschen, farbigen Kacheln gestaltet war. Wie ich später erfuhr, waren sie das Geschenk eines dankbaren Firmenmitarbeiters, den der Arzt von der Gicht kuriert hatte.

Wir stiegen eine weitere Treppe hinauf. Sie führte zu einem langen Gang im Dachstuhl mit kleinen Kammern, die Holmes bereits von außen ausgiebig begutachtet hatte. Die Räume waren zwar winzig, aber auch nicht karger ausgestattet als der Wohnbereich der Familie, ein weiterer Hinweis darauf, dass sie vermietet werden sollten.

»Ich habe nicht die geringste Lust, einem frechen Jungen, der nur an Indianer-Romanen interessiert ist, unentgeltlich Unterricht zu geben! Wie konnten Sie mir das antun?«, machte ich meiner Empörung Luft, als wir wieder unter uns waren.

»Das ist eine gute Gelegenheit, um über den kleinen Alexander herauszufinden, was man im Ort so redet«, sagte Holmes, während er seine unvermeidliche Pfeife aus der Innentasche seines Sakkos kramte. »Sie sollten sich dabei möglichst auf Englisch unterhalten, damit seine Mutter und die Schwestern nicht merken, dass Sie den Jungen ausfragen. Als Sie vorhin etwas zu mir auf Englisch sagten, war der Hausherrin deutlich anzumerken, dass sie unserer Muttersprache nicht mächtig ist.«

Zu meiner Schande entsann ich mich nicht, etwas auf Englisch gesagt zu haben. Aber wenn Holmes es sagte, stimmte es wohl.

»Anderenfalls könnte die Dame auch selbst ihre offenbar schlecht erzogenen Kinder unterrichten«, fügte ich boshaft hinzu.

»Dazu fehlt ihr die Geduld. Leider hält ihr Gatte eine Gouvernante für überflüssig, obwohl er sich das leisten könnte«, sagte Holmes. »Sonst würden die Kinder nicht vom Baum fallen und Sandkuchen essen.«

Nachdem wir unsere Koffer ausgepackt hatten, war es draußen so stockfinster, dass man kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Trotzdem machten wir einen kleinen Spaziergang in den Ortskern, wo es zum Glück Gaslaternen gab. Neben der langgestreckten Barockanlage, die ich zuvor bestaunt hatte, befand sich ein kleiner, aber äußerst gepflegter englischer Landschaftsgarten, in dem ein zierlicher, gusseiserner Brunnen meine Aufmerksamkeit erregte. Auf der Umfassung aus rotem Stein erhoben sich zwei runde Becken übereinander, bekrönt von der Figur eines Ritters. Dahinter befand sich ein von Efeu überranktes, hochaltertümliches Gebäude auf achteckigem Grundriss mit einem zierlichen Treppenturm, wohl ein Mausoleum oder eine alte Kapelle, die aber schon lange nicht mehr als Gotteshaus diente.

»Dieses alte Gemäuer könnte bestimmt viele interessante Geschichten erzählen«, sagte Holmes fasziniert.

Seit ich in Italien lebte, konnte ich mich nicht mehr für Ruinen unter grauem Himmel erwärmen. Ich fand sie nicht malerisch, wie manche Zeitgenossen, sondern schlicht trostlos. »Das ist ein unheilvoller Ort«, schauderte es mich. »Ich spüre das Verhängnis geradezu durch die Mauerschlitze und Fenster kriechen.«

»Sie lesen zu viele schlechte Romane. Dabei schreibt das Leben die seltsamsten Geschichten, wie sie kein Schriftsteller ersonnen hätte. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass man einem banausischen und geizigen Arzt im preußischen Rheinland einen römischen Goldbecher anonym zusendet, den dieser vor seiner Gattin versteckt?«, wurde ich von Holmes getadelt. »Auch zeigt es sich immer wieder: Nicht nur in den zu Unrecht so schlecht beleumundeten Großstädten, sondern gerade in einsamen Landstrichen werden die schrecklichsten Verbrechen begangen.«

Bis jetzt zum Glück noch nicht, dachte ich, hielt mich aber lieber zurück, denn Holmes pflegte mit seinen Vorhersagen immer recht zu behalten.

Nach unserer Rückkehr zog dieser sich auf sein Zimmer zurück, und bald durchschnitt der schluchzende Klang seiner Geige die abendliche Stille. Wahrscheinlich bereute Doktor Schmitt mittlerweile, uns bei sich aufgenommen zu haben. Aber das sollte sich bald ändern.

3. Der Käferexperte

Am nächsten Morgen stand ich erst auf, als ich sicher war, dass alle drei Kinder zur Schule gegangen waren. Aber zu meinem Erstaunen traf ich Doktor Schmitt in der geräumigen Küche unserer Wirtsfamilie an, wo er sein Frühstück gerade beendet hatte. Ich hatte nicht bedacht, dass seine Praxis erst um zehn Uhr öffnete. Kaum hatte ich ihm einen guten Morgen gewünscht und mich am Frühstückstisch niedergelassen, drang die etwas schrille Stimme der Hausherrin an mein Ohr, offenbar aus der Diele.

»Guten Morgen, Mister Sigerson! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen«, begrüßte sie Holmes, der offenbar gerade leise die Treppe herunterkam und wohl vorhatte, sich unauffällig zu verdrücken. »Ich muss Ihnen wirklich ein Kompliment machen! Ihr Geigenspiel gestern Abend war ganz wunderbar. Ich spiele selbst ein wenig Klavier, meine Älteste singt ganz allerliebst, der Kleinen erteile ich Flötenunterricht, und Alexander bekommt seit zwei Jahren Geigenunterricht. Er scheint aber leider nicht meine Musikalität geerbt zu haben, sondern ist eher nach meinem Gatten geraten.« Sie hatte sehr schnell gesprochen und musste jetzt Luft holen. »Wir geben ab und zu im Haus kleine Soiréen, und es wäre mir eine besondere Ehre, wenn Sie an der nächsten teilnehmen. Sie wird ganz Ludwig van Beethoven gewidmet sein.«

Bei der Vorstellung, wie Holmes bei dieser gewiss recht dilettantischen Veranstaltung mitwirkte, hätte ich fast laut aufgelacht. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, verschluckte mich aber dabei an meinem Marmeladenbrot.

»Das ist zu viel der Ehre! Dazu spiele ich bei Weitem nicht gut genug«, behauptete Holmes höflich, ließ sich in die geräumige Küche komplimentieren und nahm mir gegenüber Platz, während Doktor Schmitt den Raum verließ.

Wenn ich Glück hatte, blieb ich nach diesem haarsträubenden Vorschlag von weiteren nächtlichen Geigensoli verschont. Außerdem hoffte ich, dass wir von nun an etwas zuvorkommender von der Hausherrin behandelt werden würden, die sich bisher auf die allernotwendigsten Höflichkeitsformen beschränkt hatte.

Holmes nahm sich aus dem Brotkorb auf dem Tisch eine Scheibe Roggenbrot, bestrich sie aber nicht mit Butter, sondern biss lustlos ein Stück ab und trank dazu eine halbe Tasse ungesüßten Kaffee. Er schaute eine Weile geistesabwesend auf das weiße Tischtuch, erhob sich dann von der Tafel und stieg die Treppe hoch zum Büro des Arztes. Neugierig folgte ich ihm. In der hintersten Ecke des spärlich möblierten Raumes saß der Hausherr vor seinem mit Akten bedeckten Schreibtisch und las die Morgenzeitung.

»Ihre Gattin teilte mir gestern Abend freundlicherweise mit, dass Sie eine Angelrute besitzen«, sprach Holmes den Arzt an.

»Ja, das habe ich«, bestätigte dieser. »Ich kann sie Ihnen gerne ausleihen. Mir ist das Angeln sowieso zu langweilig. Überhaupt ist das Leben hier zu still und ruhig für einen Mann wie mich.«

Diese Einschätzung des Angelsports teilte ich voll und ganz, weshalb ich mich Holmes auch nicht anschloss. Die Klage über fehlende Abwechslung sollte sich jedoch allzu bald als hinfällig erweisen.

Ohne Hast faltete Doktor Schmitt seine Zeitung zusammen, erhob sich so schwerfällig wie die meisten korpulenten Männer und geleitete uns die Treppe hinunter bis in die Diele, wo er einen hohen, aber schmalen Wandschrank aus dunklem Holz öffnete. Vorsichtig holte er eine leicht verstaubte Angelrute heraus und überreichte sie Holmes so feierlich, als ob es die Fackel mit dem Olympischen Feuer wäre.

»Passen Sie auf, dass Sie nicht von einem Fisch ins Wasser gezogen werden«, sagte der Arzt und musterte mit skeptischer Miene die hagere Figur des Meisterdetektivs. »In der Saar schwimmen riesige Welse herum, so groß wie ein ausgewachsener Mann und fast einen Zentner schwer. Auch Hechte von weit über einem Meter wurden bereits gesichtet.«

»Das halte ich für Anglerlatein oder zumindest für stark übertrieben«, entgegnete Holmes kopfschüttelnd und bedankte sich für die Angelrute.

»Um eins gibt es Mittagessen«, rief die Hausherrin dem Meisterdetektiv nach, der bereits die Haustür erreicht hatte und nun mit so schnellen Schritten davoneilte, dass er den Hinweis wohl nicht mitbekam.

Ich hingegen machte einen gemütlichen Spaziergang, um die Zeit zum Mittagessen zu überbrücken. Bald gelangte ich zu einer neuen, aus einem geraden Steg mit Stahlaufbauten bestehenden Brücke über die Saar, wo mir zu meinem Erstaunen ein Mann in den Weg trat und eine Mautgebühr verlangte. Fast wäre ich wieder umgekehrt, zahlte aber dann doch. Der Abstecher auf das andere Flussufer lohnte sich, denn die ehemalige Abtei spiegelte sich imposant im Wasser. Das war mit Abstand die schönste Fabrik, die ich jemals gesehen hatte, und da ich aus Birmingham stamme, hatte ich schon sehr viele Fabriken gesehen.

Endlich war es halb eins, aber Holmes war noch nicht zurückgekehrt, und er fehlte auch an der Mittagstafel. Wenn er einen Fall bearbeitete, verzichtete er oft auf Nahrungsaufnahme, da er sich keine Zeit für derart banale Dinge nehmen wollte.

Wer hingegen in diesem Augenblick eintraf, war Alexander Schmitt, mein zukünftiger Sprachschüler, denn in Deutschland wurden die Schüler nur vormittags unterrichtet. Er war etwa zwölf Jahre alt, aber wie in vornehmen Familien üblich schon wie ein Erwachsener gekleidet. Sein aschblondes Haar wurde von dem akkuratesten Scheitel geteilt, den ich je gesehen hatte, und auch sonst machte er einen sehr braven Eindruck. Aber das waren bekanntlich die Schlimmsten. Die finstere Miene des Knaben verriet, dass er über den zusätzlichen Unterricht genauso wenig erbaut war wie ich.

Nach dem Mahl stellte ich fest, dass der Junge bereits Grundlagen des Englischen besaß, wen auch immer sein Vater genötigt haben mochte, sie ihm zu vermitteln. Doch der Junge machte viele Fehler und verfiel immer wieder in ein deutsch-englisches Kauderwelsch. Wenn ich ihn richtig verstand, wusste er von keiner weiteren anonymen Sendung eines antiken Gegenstandes. Zumindest hatte keiner seiner Kameraden in der Schule einen derartigen Vorfall erwähnt.

So verging der erste Tag in Mettlach, ohne dass irgendetwas Nennenswertes geschah. Holmes hingegen hatte bis Sonnenuntergang mit seiner Angel an der Saar gesessen, brachte aber zum Bedauern der Hausherrin keinen Fisch mit, noch nicht einmal einen ganz kleinen, geschweige denn einen Riesenwels.

Ich begann schon heimlich meinen Rückzug zu planen. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr bezweifelte ich, dass ein falsch zugestelltes Paket unweigerlich ein Kapitalverbrechen nach sich ziehen musste. Schließlich hatte es keine Bombe enthalten, sondern nur einen archäologischen Fund, wenn auch einen sehr wertvollen.

Am folgenden Tag beehrte uns Holmes mit seiner Anwesenheit am Mittagstisch, was die Hausherrin sichtlich erfreute.

»Werden wir morgen endlich Forelle Müllerin Art essen? Das ist mein absolutes Lieblingsessen«, fragte sie, als der aus einem Vanillepudding bestehende Nachtisch serviert wurde.

»Forellen fängt man in klaren Bächen. In der Saar ist eher mit Welsen und Zandern zu rechnen«, belehrte der Arzt seine bessere Hälfte.

Holmes wollte ebenfalls etwas sagen, kam aber nicht dazu, denn im gleichen Augenblick zog jemand so vehement am Klingelzug, dass alle Anwesenden zusammenfuhren.

»Liebling, erwartest du Besuch?«, flötete die Hausherrin eine Oktave höher als sonst.

Doktor Schmitt schüttelte den Kopf und wandte sich dann an das unscheinbare Hausmädchen, das uns bediente. »Erna, mache bitte die Tür auf und führe den Besucher herein. Es könnte sich um einen medizinischen Notfall handeln«, trug er ihr auf.

Kurze Zeit später kehrte Erna mit einem sommersprossigen Jungen von etwa zehn Jahren zurück. Er trug eine mehrfach geflickte, aber saubere Hose und hielt eine Stoffmütze in der Hand, die so alt war, dass er sie bestimmt von einem älteren Bruder geerbt hatte. »Herr Backes hat im Wald einen Toten gefunden«, stammelte er, seine Mütze verlegen in der Hand drehend.

Einen Augenblick lang fragte ich mich, wie es sich im Ort herumgesprochen hatte, dass wir private Ermittler waren und bei Doktor Schmitt wohnten. Dann begriff ich, dass der Junge den Arzt zu dem Toten rief.

»Das musste ja so kommen«, sagte Holmes so leise, dass nur ich es hören konnte.

Doktor Schmitt spülte hastig den letzten Bissen mit einem Schluck Wasser herunter und erhob sich dann von der Tafel.