Sherlock Holmes und die Spur des Yeti - Franziska Franke - E-Book

Sherlock Holmes und die Spur des Yeti E-Book

Franziska Franke

4,7

Beschreibung

Der Meisterdetektiv auf dem Dach der Welt Seine Indien-Reise führt Sherlock Holmes nach Simla im Himalaya-Vorgebirge, wo sein Freund David Tristram ein kleines Anwesen geerbt hat. Dass dessen Verwandter Edward Tristram ausgerechnet in der Hauptstadt von Britisch Indien, die für ihr kühles Wetters berühmt ist, an einer Tropenkrankheit gestorben sein soll, stößt bei Holmes auf Skepsis. Kurz darauf wird der Bergsteiger Elliott Roundtree ermordet, der mit Edward Tristram Ausflüge ins Gebirge unternommen hat, um den Yeti zu fotografieren. Holmes' berufliches Interesse ist nun endgültig geweckt. Es stellt sich heraus, dass das Mordopfer Tibetisch lernte, weil es beabsichtigte, das geheimnisvolle Reich auf dem Dach der Welt zu bereisen. Etwas, das Europäern strengstens untersagt ist! Um Licht in die dunkle Angelegenheit zu bringen, müssen sich die beiden Ermittler auf die gefährliche Reise nach Tibet begeben.

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

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Sherlock Holmes und die schwarze Kobra

Franziska Franke wurde in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. In ihrer Sherlock Holmes-Reihe löst der Meisterdetektiv zahlreiche Kriminalfälle im Anschluss an sein rätselhaftes Verschwinden in den Reichenbach-Fällen. Dabei begleitet ihn der englische Buchhändler David Tristram.

Franziska Franke

Sherlock Holmesund dieSpur des Yeti

Originalausgabe© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von © Daniel Prudek - Fotolia.deLektorat: Volker Maria Neumann, KölnDruck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, UlmPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-95441-387-4E-Book-ISBN 978-3-95441-398-0

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

1. Ankunft in Simla

2. Der Anwalt

3. Das Teegeschäft

4. Die Nachbarin

5. Das Lahme Yak

6. Der Kunstsammler

7. Der Ausflug

8. Der Tempel

9. Der Umzug

10. Das Begräbnis

11. Mister Grant

12. Der Besuch

13. Der Terminkalender

14. Der Gegenbesuch

15. Rampur

16. Der unfreundliche Nachbar

17. Tibet

18. Mister Ryder

19. Die Kunstausstellung

20. Das Kloster der Purpurmützen

21. Das Klosterfest

22. Die Höhle

23. Mister Norrington

24. Die Rückreise

25. Die Verabredung

26. Das Wappen von Wales

27. Violetta

Vorwort des Herausgebers

Das Ende des Bandes Sherlock Holmes und die schwarze Kobra ließ mich hoffen, dass David Tristram den Meisterdetektiv zumindest nach Simla, vielleicht sogar ins geheimnisumwitterte tibetische Hochland begleitet hat. Daher habe ich es diesmal nicht dem Zufall überlassen, welcher der Manuskriptbände, die sich im Nachlass des Florentiner Arztes Dottor Lorenzo Tristram-Boldoni fanden, als Nächstes übersetzt wird, sondern habe meine Frau gebeten, gezielt nach dem Folgeband zu suchen. Diese harmlos klingende Bitte kostete die Arme mehrere Stunden, in denen sie auf dem Dachboden des Hauses an der Piazza Santa Croce staubige Kisten durchstöberte, in denen sich jedoch überwiegend wurmstichige Bücher über Bienenzucht, obskure Abhandlungen über die Eigenheiten der Asche von Zigaretten aus verschiedenen Ländern, veraltete Kataloge der Steinmetz-Werkstatt Andrea Boldoni und Hunderte von zerfledderten Kriminalromanen befanden. Man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, dass Holmes’ mangelnder Ordnungssinn mit der Zeit auf seinen zeitweiligen Assistenten abgefärbt hat. Erst in der vierten Kiste wurde meine Frau schließlich fündig.

Doch die Mühe hat sich gelohnt, denn nun können wir ohne weitere Unterbrechung Sherlock Holmes auf der Reise folgen, die ihn in den Jahren 1891 bis 1894 in die entlegendsten Regionen Asiens und Afrikas geführt hat. Damals glaubte alle Welt, dass er bei einem Kampf mit seinem Erzrivalen Professor Moriarty einen tödlichen Unfall erlitten und die Reichenbachfälle hinuntergestürzt sei. Holmes konnte sich jedoch glücklicherweise retten und wirkte während seines Exils unter dem Namen des norwegischen Forschungsreisenden Sven Sigerson.

Wie auch beim Vorgängerband wurden einige Kapitel von David Tristrams Ehefrau Violetta auf Italienisch und in einer schnörkellosen, schönen Schrift verfasst, die sich wohltuend von der schwer lesbaren, nachlässigen Handschrift ihres Gatten unterscheidet. Sie sind im Folgenden durch kursive Schrift gekennzeichnet. Zu meinem Bedauern stand unsere bewährte Übersetzerin Signorina Casagrande nicht mehr zur Verfügung, da sie inzwischen selbst Kriminalromane schreibt. Aber wir haben mit der Anglistikstudentin Signora Rosa Bruni einen würdigen Ersatz gefunden. Ihr gilt mein aufrichtiger Dank.

Florenz, den 30.4.2017

Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Ankunft in Simla

Simla sah aus wie eine englische Kleinstadt, die man in die Voralpen versetzt hat. Ich hatte mir die Sommerresidenz des Vizekönigs von Britisch Indien wesentlich exotischer vorgestellt. Doch das mangelnde Lokalkolorit wurde mehr als wettgemacht durch die atemberaubende Lage der Stadt, die sich über einen bewaldeten Bergrücken in einem Ausläufer des Himalaja ausbreitete. Edward Tristram, ein entfernter Verwandter, hatte mir hier – am Ende der bewohnbaren Welt – ein kleines Anwesen vererbt. Er hatte sich nach Ableistung seines Militärdienstes in Simla niedergelassen und hier ein kleines Teegeschäft eröffnet. Man munkelte allerdings in der Familie, dass es nicht den erhofften Gewinn abwarf. Anfang des Jahres war mein Verwandter gestorben und hatte mich zu meinem nicht geringen Erstaunen als Alleinerbe eingesetzt. Dieser unverhoffte Glücksfall bot mir einen willkommenen Vorwand, mich Holmes anzuschließen, der den Himalaya zu erkunden gedachte.

Um nach Simla zu gelangen, waren wir zunächst mit dem Zug von Bombay über Ammadabad, Jaipur und Delhi nach Umballa gereist. Dort endete die Eisenbahnstrecke1, und wir mussten mit einer Kutsche vorliebnehmen. Es kostete uns mehr als acht Stunden, auf der Heerstraße die Hügellandschaft von Kalka zu durchqueren. Diese sogenannten Hügel waren jedoch teilweise veritable Berge, denn in der Region wurden alle Erhebungen von weniger als 1.800 Metern Höhe schlicht »Hügel« genannt. Die Fahrt ging bergauf und bergab, immer nach Norden, wobei wir kontinuierlich an Höhe gewannen. Das gleichmäßige Klappern der Hufe und das Ruckeln der schlecht gefederten Kutsche setzten mir zu. Um meine Übelkeit zu bekämpfen, versuchte ich mir den langen Konvoi von Wagen vorzustellen, der zahlreiche Beamte der Kolonialregierung im Frühjahr von Kalkutta in die Berge und im Herbst wieder zurück transportierte.

Als wir endlich unser Ziel vor uns sahen, verhüllte bereits der Abendnebel die Schneegipfel des Himalaya. Wir folgten nun einer steilen Straße, und je weiter wir in die Berge vordrangen, desto kühler wurde die Luft.

Ich blickte meine Frau Violetta von der Seite an und bemerkte, dass sie ihr Wolltuch fest um die Schultern geschlungen hatte. Als Italienerin vertrug sie keine Kälte und hatte daher vorsorglich Winterkleidung nach Indien mitgenommen, für alle Fälle …

»Du hast doch hoffentlich nicht vor, das Haus zu behalten?«, fragte sie und schaute sich so alarmiert um, als befürchtete sie, dass hinter dem nächsten Hügel ein Stamm von Menschenfressern hauste. Durch den Schleier ihres breitkrempigen Reisehuts sah ich den skeptischen Ausdruck in ihren braunen Augen, die von der gleichen Farbe waren wie das ungewöhnlich dichte Haar, das sie zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden hatte.

»Und ich dachte, Simla wird dir bestimmt gefallen. Die Luft ist angenehm kühl, und im Winter gibt es viel Schnee«, neckte ich meine Frau, obwohl der Ort auch mir auf Dauer zu abgelegen wäre.

»Gerade in abgeschiedenen Orten passieren oft die grässlichsten Verbrechen«, murmelte Holmes – ein Kommentar, der Violetta bestimmt nicht mit der Stadt am Berghang versöhnte.

Das waren die ersten Worte, die der Meisterdetektiv seit unserer kurzen Mittagspause auf halber Strecke von sich gegeben hatte. Während seiner immer wiederkehrenden Phasen der Wortkargheit war ich dankbar, dass mich auch meine Frau begleitete. Ihre Anwesenheit bot Holmes allerdings leider allzu oft einen Vorwand, mich an meine Pflichten als Ehemann zu erinnern, um so ohne meine Unterstützung zu ermitteln.

Bald passierten wir die unübersichtliche Unterstadt, in der dicht zusammengepfercht die Menschen lebten, die für die Bedürfnisse der Bewohner der Oberstadt sorgten. Als wir den weitverzweigten Basar hinter uns gelassen hatten, räusperte sich Holmes leise und sah mich dann mit gerunzelter Stirn an.

»Mister Tristram, sagten Sie nicht, Ihr Verwandter sei an einer Tropenkrankheit gestorben?«, vergewisserte er sich, was ich ihm bestätigte. »Das erscheint mir hier in den Bergen doch ziemlich ungewöhnlich. War er vor seinem Tod lange krank?«, wollte Holmes daraufhin wissen.

Zum wiederholten Mal bedauerte ich, Edward Tristram nicht irgendwann mal in Indien besucht zu haben, obwohl er mich eingeladen hatte. Angestrengt versuchte ich mich zu entsinnen, was man in der Familie über ihn gesagt hatte. Nüchtern betrachtet wurde nur von ihm gesprochen, wenn es absolut unvermeidbar war – und dann auch meist hinter vorgehaltener Hand. Und wenn doch jemand so unvorsichtig war, den armen Onkel Edward bei Tisch zu erwähnen, wurde sofort das Thema gewechselt. Einmal hatte ich sogar aufgeschnappt, dass man ihn für unwürdig hielt, unseren guten Namen zu tragen. Er hatte die für ihn vorgesehene bürgerliche Laufbahn als Bankangestellter verlassen, weshalb die Familie einen Bannfluch über ihn verhängt hatte.

»Vielleicht reiste er ja beruflich ab und zu in die schwülwarme Tiefebene«, mutmaßte ich. »Oder er hat sich die Krankheit während seiner Militärzeit zugezogen. Viele Veteranen leiden an der Malaria. Leider weiß ich nicht …«

»Wann werden Sie Ihr Erbe in Augenschein nehmen?«, unterbrach Holmes meine zugegebenermaßen spekulativen Überlegungen.

Ob er einen Kriminalfall witterte? Mir sollte es recht sein. Schweren Herzens war ich schon darauf gefasst gewesen, dass sich unsere Wege in Simla trennen würden. Schließlich konnte ich wohl kaum meiner Frau die mühsame und obendrein noch gefährlichere Reise in das für Europäer unzugängliche Tibet zumuten.

»Gleich morgen früh. Um neun Uhr wird mir der Rechtsanwalt, der mich über die Erbschaft informiert hat, die Schlüssel aushändigen«, antwortete ich erfreut.

Während dieses kurzen Wortwechsels hatten wir einen belebten Platz erreicht, der von Gebäuden im europäischen Stil gesäumt wurde, und die Kutsche kam mit einem Ruck zu stehen. Zwei etwa zehnjährige Jungen in Schuluniform lugten um die Ecke eines neugotischen Baus und schienen sich über unseren Anblick zu wundern. Wahrscheinlich kamen hier nicht viele Gäste in der zweiten Sommerhälfte an.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie zum Anwalt begleiten«, verkündete Holmes, und ich nickte hocherfreut, bevor ich aus der Kutsche ausstieg.

Nachdem auch Violetta wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schaute sie sich suchend nach einer Mietkutsche um.

»Nur der Vizekönig, der Oberbefehlshaber der Armee und der Gouverneur des Panjab dürfen im Stadtzentrum von Simla eine Kutsche benutzen. Alle anderen müssen sich mit Rikschas begnügen«, sagte ich, eine Erkenntnis, die ich aus meinem Reiseführer gewonnen hatte.

»Ich hätte mir eigentlich denken können, dass es hier nicht einmal Droschken gibt«, seufzte meine Frau, wohl in Gedanken an ihre wesentlich größere Heimatstadt Florenz, und beobachtete dabei den Kutscher, wie er unser Gepäck auslud und auf dem schmutzigen Boden abstellte.

Ich entlohnte den Fahrer, während Holmes zwei der auf dem Platz herumlungernden Gepäckträger herbeiwinkte und ihnen den Namen des Hotels nannte, in dem wir telegrafisch Zimmer reserviert hatten.

Ich reiste schon immer gern mit leichtem Gepäck, und auch Violettas zwei mit Hotelaufklebern verzierte Damenkoffer waren recht handlich. Aber Holmes’ voluminöser, schwarzer Lederkoffer ließ den Träger, der ihn anhob, fast in die Knie gehen. Der junge Inder ahnte bestimmt nicht, dass das Gepäckstück nicht nur Kleidungsstücke enthielt, sondern auch Perücken, falsche Bärte und Schminkutensilien, die es Holmes ermöglichten, in die unterschiedlichsten Rollen zu schlüpfen. Auch auf seine Geige, seine stetig anwachsende Sammlung von Zigarettenaschen aus verschiedenen Ländern und Apparaturen für chemische Experimente wollte der Londoner Detektiv selbst im Exil nicht verzichten.

»Hier scheint es ja gar keine historischen Gebäude zu geben«, bemerkte Violetta, die sich in der Zwischenzeit umgeschaut hatte.

»Nein, die gibt es nicht. Das erste Haus wurde 1819 errichtet, nachdem England die Region im Gurkha-Krieg erobert hat. Vorher gab es hier nur ein Dorf mit einem Dutzend strohgedeckter Hütten«, klärte ich sie auf. »Heute hingegen hat Simla über 13.000 Einwohner. Im Sommer sind es manchmal sogar doppelt so viele.«

Die beiden jungen Burschen marschierten mit unserem Gepäck voran, und wir folgten ihnen mit zwei Schritten Abstand, bis wir nach einem kurzen Fußweg zu einem schmucken Holzgebäude gelangten, das ein emailliertes Schild als Prince Albert Hotel auswies. Natürlich gab es zahlreiche bessere Hotels in Simla, doch Holmes reiste noch immer aus Sicherheitsgründen inkognito unter dem Namen Sven Sigerson. Daher wollte er möglichst wenig Aufsehen erregen.

Als wir die Empfangshalle betraten, schlug uns der intensive Duft von Lilien entgegen, der nur notdürftig einen allgegenwärtigen Modergeruch überdeckte, den ich immer mit diesem Hotel verbinden werde. Im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert, stellten die Gepäckträger unsere Koffer vor der Rezeption ab, wo sie ein ältlicher, livrierter Hoteldiener übernahm.

»Sie müssen Mister Tristram sein. Ich habe für Sie drei Zimmer im dritten Stockwerk reserviert«, flötete eine korpulente Matrone, die in diesem Augenblick den Eingangsbereich betrat.

Falls sie sich darüber wunderte, dass jeder von uns ein eigenes Zimmer hatte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Der Grund dafür war, dass Violetta notfalls als Mrs. Sigerson auftreten sollte, wie sie es bereits in Bombay getan hatte. Daher trug sie sich auch mit ihrem Mädchennamen ins Gästebuch ein. Das war eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass einer von Professor Moriartys Schergen in Simla auftauchen sollte.

»Ich bin neugierig, was der Anwalt uns morgen sagt. Das ist ein sehr tiefes Wasser«, verkündete Holmes, nachdem wir die Formalitäten an der Rezeption erledigt hatten. Nach diesem kryptischen Kommentar stieg er die Treppen hinauf, und wir schlossen uns an.

Die Gästeräume hätten von einer Großmutter aus der englischen Provinz eingerichtet sein können. Alle Textilien waren mit Rosen bestickt, und auch die Tapete zierten blassrosa Blüten. Holmes inspizierte alle drei Stuben, bevor er für sich die hinterste auswählte und einfach die Tür hinter sich abschloss. Wie bereits bei den letzten Stationen bekam Violetta den mittleren Raum, während ich mich mit der dunkelsten Kammer begnügen musste.

Nach der langen, ermüdenden Fahrt war ich völlig ausgehungert und schon neugierig auf die lokalen Speisen der Region. Daher überredete ich Violetta, noch vor dem Auspacken der Koffer schnell etwas im Hotelrestaurant zu uns zu nehmen, was sich jedoch als Fehler erwies. Statt der ersehnten indischen Spezialitäten setzte man uns zuerst eine kalte Gurkensuppe vor und danach verkochte Nierenpastete mit einer dickflüssigen Soße unbestimmbarer Geschmacksrichtung, zu der dünner, lauwarmer Tee gereicht wurde. Kein Wunder, dass ich meine Frau bisher nicht dazu überreden konnte, mit mir meine englische Heimat zu besuchen.

1 Erst 1903 sorgte die Kalka-Simla-Schmalspurbahn für eine bessere Zugänglichkeit des Ortes.

2. Der Anwalt

Der Anwalt, den ich aufsuchen wollte, hieß Michael Armbruster und hatte seine Kanzlei in einer Seitenstraße der Mall. So wurde die mehrere Meilen lange Hauptgeschäftsstraße der Oberstadt von Simla genannt, die sich auf einem Berggrat ausdehnte. Hier gab es Banken, Teesalons und Geschäfte mit Waren für die britische Kolonialgesellschaft. Die meisten Gebäude waren aus naturfarbenem Holz errichtet, ahmten mit ihren spitzen Dächern, den geschwungenen Fenster- und Türbögen und den Laubengängen den englischen Tudor-Stil nach. Inder durften die Mall nicht betreten, abgesehen natürlich von den allgegenwärtigen Dienstboten.2

Bevor wir in die Seitenstraße abbogen, blieb ich einige Sekunden lang stehen, um das Stadtpanorama zu bewundern, hinter dem sich die schneebedeckten Gipfel des Himalaya erhoben. Holmes bedeutete mir mit einer ungeduldigen Handbewegung, dass ich meinen Weg fortsetzen sollte. Erst in diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich Gefahr lief, von den vorbeieilenden Passanten angerempelt zu werden.

Die Kanzlei Armbruster befand sich im ersten Stock eines der wenigen aus Stein errichteten Häuser der Sommerhauptstadt von Britisch Indien. Im altmodisch möblierten Vorzimmer saß hinter einem imposanten Schreibtisch der Bürovorsteher, ein junger Inder, der auf europäische Art mit einem dunklen Gehrock und passender Hose gekleidet war und mich musterte, als ob er jemand anderen erwartet hätte.

»Guten Tag, mein Name ist David Tristram, und das ist Mister Sigerson«, stellte ich uns vor. »Ich habe um neun Uhr einen Termin bei Mister Armbruster.«

»Er erwartet Sie bereits«, entgegnete der Bürovorsteher mit einer einladenden Geste in Richtung einer frisch gestrichenen Tür. Doch machte er sich nicht die Mühe, sie für uns zu öffnen.

Der dahinterliegende Büroraum war düster und obendrein mit Möbeln aus dunklem Tropenholz ausgestattet. Unter dem Porträt der streng dreinblickenden Queen Victoria stand ein wuchtiger Schreibtisch, hinter dem ein bebrillter Mann in den Vierzigern saß. Mit seinem gezwirbelten Schnurrbart und seinem akkurat gescheitelten, dünnen Haar erweckte er einen ziemlich peniblen Eindruck.

»Guten Tag, Mister David Tristram«, sagte er in dem unnachahmlich snobistischen Tonfall, den man auf englischen Privatschulen lernt. Dabei wanderte sein Blick fragend zwischen mir und Holmes hin und her. Er schien Letzterem den Vorzug zu geben, was wohl bedeutete, dass ich seiner Meinung nach meinem abenteuerlustigen Verwandten überhaupt nicht ähnlich sah.

»Das bin ich, und das ist mein Kollege Mister Sven Sigerson«, klärte ich ihn auf, bevor wir auf zwei ledergepolsterten Bürostühlen Platz nahmen.

»Ich hoffe, Sie erwarten nicht zu viel. Ich bin gar nicht sicher, ob es der Mühe wert war, wegen dieser …«, der Anwalt verkniff sich mühsam ein Adjektiv, »Erbschaft extra aus England anzureisen«, bemerkte er dann und öffnete mit einem Ruck seine Schreibtischschublade, die offenbar etwas klemmte.

»Aber das ist doch das Mindeste, was ich meinem lieben, verstorbenen Verwandten schuldig bin«, erwiderte ich leicht gereizt. »Außerdem komme ich nicht aus England, sondern ich wohne in Florenz.«

»Ach ja, das habe ich ganz vergessen. Bei den vielen Mandanten«, murmelte Mister Armbruster zerstreut, bevor er sich seiner guten Erziehung besann. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?«, fragte er teilnahmslos, während er in der Schublade herumwühlte.

»Ich kann nicht klagen«, entgegnete ich diplomatisch, und damit waren genügend Höflichkeiten ausgetauscht und die Förmlichkeiten beendet.

»Das Häuschen …«, aus Mister Armbrusters Mund klang das Wort wie Bruchbude, »hat folgende Adresse«, verkündete er und deutete auf den Absender eines Briefes, den mein Verwandter ihm offenbar irgendwann geschrieben hatte. »Sie erkennen es an der gelb lackierten Haustür. Und wundern Sie sich nicht, dass sich keine Ware mehr im Laden befindet. Wir mussten den ganzen Tee verkaufen, um die Beerdigung zu finanzieren, genauso wie sein Gespann«, sagte er dann sachlich, überreichte mir einen einfachen Metallring, an dem zwei rostige Schlüssel baumelten, und schob mir dann mehrere Dokumente zur Unterschrift über den Tisch.

»Sie erwähnten eben ein Gespann. Ich dachte, Kutschen seien in Simla untersagt?«, wunderte ich mich, bevor ich die Urkunden genauer in Augenschein nahm.

»Das gilt selbstredend nur für den Stadtkern und nicht für die Außenbezirke«, wurde ich von ihm belehrt.

»War die Todesursache tatsächlich eine Tropenkrankheit?«, erkundigte sich Holmes unvermittelt, während ich die Formalitäten erledigte.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Mister Tristram war nur mein Mandant. Ich habe nicht gesellschaftlich mit ihm verkehrt«, betonte der Anwalt so verschnupft, als ob es eine Schande wäre, meinen Verwandten auch nur zu kennen. »Sie sollten sich an Doktor Kennedy wenden. Er hat den Totenschein ausgestellt. Sie finden seine Praxis mitten in der Stadt, direkt neben dem Rathaus.«

Ich wusste gar nicht, was mich mehr provozierte, seine affektierte Sprechweise oder sein arroganter Tonfall. Nachdem ich alles unterschrieben hatte, stand ich noch immer verschnupft von meinem Stuhl auf. Holmes hingegen blieb ungerührt sitzen.

»Aber Sie wissen doch sicher, mit wem Mister Edward Tristram verkehrte. Schließlich ist die englische Kolonie in Simla recht überschaubar«, fragte er in einem beiläufigen Tonfall.

»Er war ein Sonderling, um es freundlich auszudrücken, und er hat mit anderen Sonderlingen verkehrt – wie mit diesem Bergsteiger Elliott Roundtree. Man sagt, die beiden haben eine sperrige Kameraausrüstung auf einen Gebirgspass geschleppt, um dort einen Yeti zu fotografieren. Aber bitte fragen Sie mich nicht, wo er wohnt.«

»Der Yeti?«, fragte ich amüsiert nach und nahm wieder Platz.

»Nein, der Bergsteiger natürlich«, präzisierte Mister Armbruster steif. »Falls er sich nicht in der Wildnis herumtreiben sollte, treffen Sie ihn bestimmt im Lahmen Yak an. Diese Schankwirtschaft befindet sich in einer Seitenstraße hinter der anglikanischen Kirche.«

Das wunderte mich gar nicht. Auch zu Hause in England gingen manche Männer sonntags zum Frühschoppen ins Pub, während ihre Gattinnen den Gottesdienst besuchten.

»Nach dem, was man hört, ist das Lahme Yak eine Absteige für den Sold versaufende Soldaten, Abenteurer und alle Art von Gesindel«, fügte der Anwalt geflissentlich hinzu und stellte damit klar, dass er das Lokal nur vom Hörensagen kannte.

»Höchst aufschlussreich«, sagte Holmes, stand auf, strich sich den Gehrock glatt und rückte den Knoten seines Binders zurecht, bevor er sich verabschiedete.

Ich bedankte mich übertrieben höflich für die freundliche Auskunft, doch der blasierte Anwalt schien meinen ironischen Tonfall nicht zu bemerken. Dann verließen wir den Büroraum, durchschritten unter den neugierigen Blicken des Assistenten das Vorzimmer, stiegen die frisch gefegten Treppenstufen hinunter und traten ins Freie.

»Am besten spreche ich jetzt mit dem Arzt, während Sie nach dem Gang zum Katasteramt bereits einmal ungestört ihr Erbe in Augenschein nehmen«, sagte Holmes auf der Straße, und schon war er, offenbar überhaupt nicht neugierig auf mein Anwesen, verschwunden.

Das war einfacher gesagt als getan. Ich brachte die lästigen Formalitäten im Katasteramt hinter mich, holte Violetta im Hotel ab, dann irrten wir eine halbe Stunde lang bergauf und bergab auf der Suche nach dem richtigen Haus. Leider breiteten sich die Gebäude von Simla unregelmäßig über den gesamten Hügel aus. Es gab kaum Straßenschilder, und auch mehrmaliges Nach-dem-Weg-Fragen half uns nicht weiter. Anscheinend kannten die meisten Einheimischen die Namen der Straßen gar nicht, oder aber sie vertrieben sich die Langeweile, indem sie Fremde in die Irre schickten. Unterwegs ärgerte ich mich, dass ich nicht Violetta zuliebe eine Rikscha gerufen hatte.

Wenigstens machte ich mir allmählich ein Bild vom Grundriss der Stadt und erkannte, dass sich in der Mitte eine große, ebene Freifläche befand, die Ridge hieß und von der man den Ort überblicken konnte. Als wir schließlich das Haus meines Verwandten Edward Tristram fanden, hatten wir bestimmt jedes andere Gebäude der Stadt mehrfach passiert.

2 Erst nach dem 2. Weltkrieg war es auch Indern erlaubt, die Mall zu betreten, vorausgesetzt sie trugen keine indische Kleidung.

3. Das Teegeschäft

Das Domizil meines Verwandten war ein schmaler Holzbau, der zusammen mit der dazugehörenden, ebenfalls winzigen Stallung die gesamte Straßenfront des Grundstücks ausfüllte. Man sah schon von Weitem, dass seit einigen Monaten niemand mehr dort wohnte. Trotz des trüben Morgens waren die Vorhänge vorgezogen, und ein vom Regen abgewaschener, halb verwitterter Rollladen verdeckte das Schaufenster des Ladengeschäfts im Erdgeschoss. Neben dem Fenster befand sich die von dem Anwalt erwähnte Tür, deren gelber Lack jedoch inzwischen größtenteils abgeblättert war. Kein Wunder, dass dieses Geschäft am Rande der Stadt keine Goldgrube gewesen war. Niemand kam zufällig hier vorbei.

Voller Vorfreude und einer Prise Abenteuerlust steckte ich den größeren der beiden Schlüssel ins Schlüsselloch, drehte ihn herum und drückte die Klinke nach unten. Doch zu meiner Enttäuschung ließ sich die Tür nicht öffnen. Ich trat zurück, nahm Anlauf und stieß dann mit der Schulter gegen den Türflügel, der daraufhin sofort mit einem leisen Ächzen nachgab. Ich verlor das Gleichgewicht, stolperte nach vorn und wäre fast durch die Türöffnung in das ehemalige Ladengeschäft hineingefallen. Nur im letzten Augenblick gelang es mir, die Balance zurückzuerlangen und mich am Türrahmen festzuhalten.

Hinter der Eingangstür türmte sich auf dem Boden ein Stoß ungelesener Abendzeitungen, die durch den Briefschlitz geworfen worden waren, weshalb sich die Tür zunächst nicht nach innen öffnen ließ. Offenbar war nach dem Tod meines Verwandten dessen Abonnement nicht gleich gekündigt worden. Die Zeitungen waren zum Teil mehrere Monate alt, doch die Schlagzeilen hätten vom heutigen Tag stammen können: Regierungskrisen, Cholera-Fälle in Bengalen und ein Todesopfer bei einem Zugunglück.

Es kostete mich einige Mühe, den ineinander verkeilten Rollladen hochzuziehen. Als es mir endlich gelungen war, fiel das Morgenlicht durch die staubige Fensterscheibe und beleuchtete altmodische Regale aus billigem Holz, auf denen wohl früher die Teedosen gestapelt gewesen waren. So hatte ich mir immer einen Kolonialwaren-Laden auf den äußeren Hebriden vorgestellt.

Ohne ein Wort zu sagen, durchquerten Violetta und ich den Laden, öffneten eine Tür in der rückwärtigen Wand und gelangten zu einer Treppe, die in die obere Etage führte. Sie war aus massivem Holz, das Geländer einfach, aber mit exotischem Schnitzwerk verziert. In den Wohnräumen waren Eichendielen verlegt, deren Bohlen hohl unter unseren Schritten klangen. Im Obergeschoss gab es eine Art Salon mit offenem Kamin, neben dem sich Holzscheite stapelten. Obwohl die bis auf einen Spalt geschlossenen Vorhänge den Raum in ein diffuses Licht tauchten, war ihm nicht anzumerken, dass er mehrere Monate lang unbewohnt war, so gut war die Luft. Er war mit Rattan-Möbeln eingerichtet, und an den Wänden hingen gerahmte Landkarten. In einer Ecke stand ein blutrot lackiertes chinesisches Schränkchen, das überhaupt nicht zur restlichen, eher schlichten Möblierung passte.

Als ich den Raum durchquerte, ließ jeder Schritt auf dem Teppich eine kleine Staubwolke aufwirbeln. Ich zog die Vorhänge auf, während Violetta sich mit einem wohligen Seufzer auf ein durchgesessenes Sofa sinken ließ und sich umsah. Ihr Blick blieb an einer Kommode mit vier Schubladen haften, die einen reichlich ramponierten Eindruck machte. Ich tat ihr den Gefallen und inspizierte dieses Möbelstück zuerst. Die drei obersten Laden ließen sich ohne Weiteres öffnen. Sie enthielten allerlei Krimskrams, darunter ein seidenes Taschentuch ohne Monogramm und ein paar Postkarten von Simla. Die vierte Lade hatte ihren Griff eingebüßt, und ich brauchte einen Schraubenzieher, um sie herauszuziehen. Zu meiner Enttäuschung war sie leer. Ich schalt mich einen Toren, das ich tief in meinem Inneren auf Juwelen, Fotografien von Schneemenschen oder wenigstens Urkunden gehofft hatte.

Kurz darauf fand ich tatsächlich die Dokumente des Verstorbenen, und zwar in einer kleinen Metallkassette, die hinter einer neu aussehenden Bibel und einem Gesangbuch versteckt war, das ebenfalls keinerlei Gebrauchsspuren aufwies. Die Kassette enthielt Edward Tristrams Geburtsurkunde, seine Entlassungsurkunde aus der Armee und die notarielle Bescheinigung des Grunderwerbs, aber keinen Pass. Den Dokumenten entnahm ich, dass Edward Tristam zum Zeitpunkt seines Todes achtundfünfzig Jahre alt war, eine Information, die ihn mir menschlich wenigstens ein klein wenig näherbrachte. Noch lieber hätte ich seine Stimme gehört.

Unter den Dokumenten lagen auch einige vergilbte Zeitungsartikel über angebliche Sichtungen des Yeti. Teilweise klebten sie zusammen, und manchmal war die Schrift verwischt. Mein Verwandter hatte sogar eine Skizze angefertigt, die den Fußabdruck eines Yeti zeigte, und ich fragte mich, wo er die vermeintliche Fährte wohl gefunden haben mochte. Ich wollte die Lade schon wieder schließen, als ich zwei Fotografien bemerkte.

Die eine war jüngeren Datums und zeigte vier etwa gleichaltrige Männer, von denen ich aber nur meinen entfernten Verwandten Edward kannte. Bei dem anderen Lichtbild handelte es sich um ein Gruppenbild unserer ganzen Familie, das mindestens zwanzig Jahre alt sein musste. Meine Eltern waren noch jung und meine Großeltern mittleren Alters. Sie waren von zahlreichen Tanten und Großtanten und etwas weniger Onkeln und Großonkeln umringt, von denen ich jedoch die wenigsten einem der beiden Familienzweige zuordnen konnte. Zweifelsohne war einer der Onkel Edward Tristram, aber ich fand ihn nicht. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich mich selbst als Neunjährigen unter den Kindern, die in den ersten beiden Reihen saßen. Zu meinem kindlichen Alter passte auch die Datumsangabe auf der Rückseite der Fotografie: Zur Erinnerung an Weihnachten 1869.

Damals war ich noch ein Schulkind gewesen, das staunend auf dem Globus Länder mit fremd klingenden Namen betrachtet hatte. Die unverhoffte Reise in die eigene Vergangenheit versetzte mich in eine ganz eigentümliche, nostalgische Stimmung. Wie viele der Personen auf dem Lichtbild mochten nach all diesen Jahren überhaupt noch am Leben sein?

»Du bist doch nur privater Ermittler geworden, weil du so gern in Schubladen, Dachböden und Kellern herumstöberst«, neckte mich Violetta und holte mich damit unsanft in die Gegenwart zurück.

Mit einem leisen Seufzer verstaute ich die beiden Fotografien in meiner Brieftasche, bevor ich den Salon verließ und ins benachbarte Schlafzimmer schaute. Das Mobiliar des winzigen Raums bestand nur aus einem eisernen Bettgestell, einem schmalen Nachttisch, einem Stuhl und einem fast leeren Kleiderschrank. Das Zimmer war so eng, dass sich die linke Schranktür nur zur Hälfte öffnen ließ.

Dann warf ich einen kurzen Blick in das etwas geräumigere Bibliothekszimmer nebenan und stieg schließlich – wie meine Frau vorhergesagt hatte – die Stufen zum Speicher hinauf. Oben angelangt, blieb ich verblüfft stehen, denn ich hatte eine Rumpelkammer mit Staubmäusen und Spinnweben erwartet, aber keinesfalls einen ordentlichen, fast leeren Innenraum, in dem Wäscheleinen aufgespannt waren, an denen mittlerweile völlig verstaubte Bettwäsche hing. Die Tür zur Linken führte wohl in die Dienstbotenkammer, denn daneben stand ein leerer Wäschekorb auf dem Boden. Bisher war ich davon ausgegangen, dass mein Verwandter allein hier gehaust hatte. Doch anscheinend hatte er sich dank des preiswerten Personals in den Kolonien eine Hausangestellte leisten können.

Ich zog die Tür zur Dienstbotenkammer auf und schaute in ein Gemach, das nicht mehr als vier mal vier Schritte maß. Außer einem Feldbett mit leuchtend gelbrot-orange gemusterter Tagesdecke gab es nur einen ungepolsterten Stuhl und einen kleinen, wackligen Tisch, auf dem eine Schüssel und ein Waschkrug aus billiger Terrakotta standen. An der Tür hing ein scheckiger, fast blinder Spiegel, doch für einen Schrank fehlte der Platz. Die Bewohnerin hatte mit einem rostigen Nagel als Kleiderhaken vorliebnehmen müssen. Leider sah ich keinen einzigen privaten Gegenstand, weshalb ich unschlüssig die Kammer durchquerte und durch die Dachluke auf die Straße hinabschaute.

Im Haus auf der anderen Straßenseite wurde ein Schiebefenster hochgezogen und ein Mann mittleren Alters schaute heraus. Sein Haar war so kurz geschoren, dass es kaum unter seinem Hut hervorlugte. Auf die Sauberkeit seiner Kleidung schien er offensichtlich großen Wert zu legen. Als der Nachbar mich sah, verzog sich sein Gesicht zu einer missmutigen Grimasse, bevor er sich der rudimentärsten Umgangsformen entsann, mir zum Gruß knapp zunickte und das Fenster abrupt und geräuschvoll schloss.

Einen Augenblick lang blieb ich verärgert stehen und starrte auf das Haus gegenüber, das zugegebenermaßen größer und vornehmer als das meines Verwandten aussah. Trotzdem war das keine Entschuldigung für die Unfreundlichkeit seines Bewohners. Dann bemerkte ich unten auf der Straße Holmes, der auf die Eingangstür unseres Hauses zuschritt. Ich winkte ihm zu und polterte sogleich die Treppenfluchten hinunter, durchquerte das ehemalige Teegeschäft und schloss die Ladentür auf, um Holmes einzulassen.

»Sie hatten Schwierigkeiten, das Haus zu finden«, stellte er sachlich fest, und ich tat ihm nicht den Gefallen, ihn zu fragen, woher er das wusste.

»Man sieht es am Zustand Ihrer Schuhe und Ihrer Hosenbeine«, erläuterte er dennoch. »Der unfreiwillige Fußmarsch erklärt allerdings nicht den Staub auf Ihrer restlichen Kleidung.«

»Ich komme gerade vom Dachboden«, entgegnete ich überflüssigerweise, da Holmes mich sicher hinter der Dachluke gesehen hatte.

Während wir gemeinsam die knarrenden Stufen in die Wohnung hinaufstiegen, berichtete ich, was ich bisher beobachtet hatte. Als wir den Salon betraten, sah ich, dass Violetta sich einen Stuhl vor eine Wäschekommode gestellt hatte, um so bequemer den Inhalt der Schubladen zu sichten.

»Mrs. Tristram, Sie haben doch bestimmt inzwischen die Kleidung des Verstorbenen inspiziert«, sprach Holmes sie ohne Gruß an. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung

»Mister Edward Tristram besaß weder Abendgarderobe noch einen korrekten Anzug für die Nachmittagsvisiten. Aber im Schlafzimmer steht ein Paar durchaus für den Abend geeigneter schwarzer Lederschuhe. Doch wozu brauchte er sie ohne Frack?«, sprudelte meine Frau los. »Es würde mich nicht wundern, wenn das Dienstmädchen nach dem Tod ihres Herrn das eine oder andere wertvolle Stück hat mitgehen lassen, schon als Ausgleich für den entgangenen Lohn, wie zum Beispiel eine Taschenuhr, Krawattennadeln oder Siegelringe. Aber vielleicht hatte sie auch einen Bruder oder einen Verlobten, der korrekte Kleidungsstücke gebrauchen kann.«

Holmes verriet nicht, was er von dieser These hielt. Ich hingegen behielt lieber für mich, dass ich es für unwahrscheinlich hielt, dass mein Verwandter Empfänge und Abendgesellschaften besucht hatte.

»Was haben Sie bei seinem Hausarzt in Erfahrung gebracht?«, fragte ich, da Holmes keine Anstalten machte, mir freiwillig Bericht zu erstatten.

»Sie hatten recht, Ihr Verwandter litt tatsächlich seit seiner Militärzeit an der Malaria. Der Arzt hatte ihm dagegen Chinin verschrieben«, begann er. »Aber er ist nicht einfach an einem Krankheitsschub gestorben, sondern er hat einen Ausflug ins Gebirge gemacht, obwohl ihn wieder einmal das Fieber plagte. An einer einsamen Stelle ist er auf einem feuchten Stein ausgerutscht und hingefallen. Dabei hat er sich den Kopf aufgeschlagen. Bevor er starb, schaffte er es noch, sich ein paar Hundert Yards in Richtung Stadt zu schleppen. Dort hat ihn der indische Dienstbote eines Beamten gefunden.«

»Wie konnte der Arzt dann behaupten, dass er an einer Tropenkrankheit gestorben sei?«, wunderte ich mich, und auch Violetta schüttelte missbilligend den Kopf.

»Die Polizei hat angeblich den Fall untersucht und festgestellt, dass Edward Tristram eines natürlichen Todes gestorben ist. Je weiter man sich von London entfernt, desto größer der Schlendrian«, brummte Holmes.

»Selbst wenn er an seiner Krankheit gestorben sein sollte, so geschah es doch wohl durch Einwirkung Dritter. Jemand hat ihn in die Berge gelockt, vielleicht mit der Behauptung, dort den Yeti gesehen zu haben. Vielleicht hat er sogar weit ab von der Stadt dem Armen einen Schlag auf den Kopf versetzt«, vermutete ich.

»Das wäre hinterhältig und gemein«, entfuhr es Violetta, sichtlich abgeneigt, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, während Holmes ausnahmsweise darauf verzichtete, mir zu widersprechen.

»Er hatte einen kleinen Koffer bei sich, in dem sich ein paar Kleidungsstücke befanden«, ergänzte er.

»Wenn er mit dem Handkoffer unterwegs war, wollte er wohl jemanden besuchen«, schlug meine Frau mit ihrem typisch italienischen Familiensinn vor.

»In sein kleines Gepäckstück hat er angeblich einen doppelten Satz von Kleidungsstücken zweier unterschiedlicher Größen gequetscht. Doch leider erinnert sich der Arzt nicht daran, wer ihm das erzählt hat«, erläuterte Holmes und verließ dann unvermittelt den Salon.

Violetta erhob sich und schloss sich an, weshalb auch ich in die Diele trat.

Als Holmes die Küchentür aufstieß, wehte uns eine kühle Windböe entgegen, was daran lag, dass die Fensterscheibe zerbrochen war. Glasscherben lagen überall auf dem gekachelten Fußboden, und die Gardine flatterte bei jedem Windstoß. Jetzt wusste ich, warum die Luft im Salon nicht so muffig wie in den übrigen Räumen war. Nur gut, dass wir in den Bergen waren. In Bombay hätte der Durchzug feuchtwarmer Luft alles vermodern lassen. Doch auch hier hatte sich an der Decke bereits etwas Moder gebildet, und auf dem Herd stand ein Topf mit einem von einer dicken Schimmelschicht überzogenen Nudelgericht.

»Sollten wir nicht die Polizei einschalten?«, entfuhr es mir, während ich die Entfernung zum Nachbarhaus maß. Sie war zu groß, um von dort in die Küche zu gelangen. Aber es war sicher ein Kinderspiel, von dem großen Nadelbaum an der Grundstücksgrenze hierherzuklettern.

»Wir bekämen nur einen Rüffel, weil wir die ohnehin schon völlig überlasteten Ordnungshüter mit derartigen Lappalien behelligen. Man wird behaupten, dass einheimische Gassenjungen die Scheibe eingeworfen haben. Ich befürchte jedoch, dass jemand hier eingestiegen ist und das Haus durchsucht hat. Es ist höchst bedauerlich, dass niemand uns darüber Auskunft geben kann, ob etwas gestohlen wurde«, brummte Holmes und warf einen prüfenden Blick auf das Brett mit den Töpfen, das emaillierte Spülbecken, den rustikalen Tisch und die alte Anrichte.

»Ich sehe nirgendwo Chinin-Pulver«, wunderte ich mich. »Auch im Badezimmer stehen keine Medikamente.«

»Er wäre nicht der erste Malaria-Patient, der das Pulver nur während eines akuten Fieberschubs einnimmt, denn China-Rinde schmeckt ausgesprochen bitter«, entgegnete Holmes.

Dann begann er jeden einzelnen Raum unter die Lupe zu nehmen, während Violetta auf dem Sofa vor sichhin döste. Nachdem ich das Küchenfenster mit Brettern vernagelt hatte, strich ich ruhelos durch das Haus. Obwohl ich es zum ersten Mal besuchte, schien es mir, als wanderte ich in meine Kindheit zurück. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Voyeur oder ein Einbrecher. Ich rief mir ins Bewusstsein, dass ich jetzt der rechtmäßige Besitzer war, und beschloss, in Zukunft von »meinem« Haus zu sprechen. Auf der Suche nach einer interessanten Lektüre ließ ich meinen Blick über die langen Reihen der Buchrücken auf einem bis zur Decke reichenden Regal im Bibliothekszimmer wandern, doch ich fand nur Klassiker und wissenschaftliche Abhandlungen über Indien, Nepal und Tibet. Sie waren alphabetisch nach dem Namen des Verfassers geordnet, aber ab und zu war die Logik durchbrochen. Waren diese Fehler meinem Verwandten unterlaufen oder hatte der Einbrecher im Regal herumgestöbert?

»Ich finde es etwas unheimlich hier. So als würde ein Geist umhergehen«, sagte Violetta, die auf dem Sofa eine alte Tageszeitung las.

Um sie aufzumuntern, holte ich mir ebenfalls eine alte Zeitung und leistete meiner Frau Gesellschaft.

Es wurde Mittag, bis Holmes die Untersuchung sämtlicher Räume abgeschlossen hatte. Wie es seine manchmal doch recht geheimniskrämerische Art war, gab er das Ende der Spurensuche sachlich bekannt, ohne jedoch zu erwähnen, ob er irgendwelche neuen Erkenntnisse gewonnen habe. Mit undefinierbarer Miene setzte er sich an einen niedrigen, runden Metalltisch mit orientalischem Dekor, auf dem Rauchutensilien lagen, und stopfte seine Pfeife.

»Haben Sie herausgefunden, was der Einbrecher hier gesucht hat?«, erkundigte ich mich, als er damit fertig war.

»Im Schlafzimmer wurde die Matratze nicht bewegt. Das spricht für einen nächtlichen Eindringling, der nicht wusste, dass das Haus unbewohnt ist«, erwiderte Holmes und zündete seinen Tabak an. »Ich habe vor, heute Abend um acht Uhr dem Lokal, das der Anwalt erwähnt hat, einen Besuch abzustatten. Vielleicht könnten Sie in der Zwischenzeit versuchen, in der Nachbarschaft etwas über Edward Tristrams Dienstmädchen in Erfahrung zu bringen«, regte er an, während er die ersten Züge aus seiner Pfeife tat, und meine Frau nickte, da sie sich offenbar angesprochen fühlte.

Seit wir gemeinsam durch Indien reisten, betrachtete Holmes sie anscheinend als Mitglied seines Netzes von Helfern, das er sich überall aufzubauen versuchte.

4. Die Nachbarin

Nach einem ausgiebigen Mittagsmahl, das wir vorsorglich nicht in unserem Hotel, sondern in einem ausgezeichneten indischen Restaurant zu uns nahmen, kehrten Violetta und ich in unser neues Haus zurück. Diesmal benötigten wir für den Weg nur wenige Minuten.

»Da klingele ich besser nicht. Ich habe nämlich keine Lust, mit dem unfreundlichen Patron, der dort wohnt, zu sprechen«, verkündete ich missgestimmt und deutete mit dem Kopf auf das Gebäude gegenüber.

Doch im gleichen Augenblick öffnete sich die Haustür, der von mir eben noch Geschmähte trat auf die Straße, hielt in der Bewegung inne und betrachtete mich mit gerunzelter Stirn, als bemerkte er eine Invasionsarmee. Dann zog er die Tür so vehement hinter sich zu, dass sie mit einem lauten Schlag ins Schloss fiel, und stolzierte grußlos an uns vorbei.

»Du solltest das nicht persönlich nehmen. Ich hatte immer den Eindruck, dass alle Engländer mit ihren Nachbarn verfeindet sind«, tröstete mich Violetta.

Höflichkeitshalber verkniff ich mir den Kommentar, dass Italiener hingegen die unangenehme Angewohnheit hatten, sich mit sämtlichen Anwohnern zu verbrüdern, weshalb man keine Minute mehr allein war. Stattdessen steuerte ich das schmucke Haus neben meinem neuen Domizil an, das von einem gepflegten Garten umgeben war. Erwartungsvoll zog ich an dem glänzend polierten Klingelzug neben der zweiflügligen Eingangstür aus Tropenholz. Es wurde so schnell von einem pausbäckigen Mädchen mit dunkler Haut und pechschwarzem Haar geöffnet, dass sie uns durch das Fenster beobachtet haben musste.

»Wir sind die neuen Nachbarn und würden gern kurz mit dem Hausherrn sprechen«, sagte ich vage, da ich nicht wusste, wie er hieß, und händigte meine Visitenkarte aus.

»Mit Mister Ryder?«, fragte das Dienstmädchen. Wie die meisten Inder verwandelte sie die eher spröde englische Sprache in einen schwer verständlichen, abgehackten Singsang.

Am liebsten hätte ich zurückgefragt, ob es mehrere Hausherren gebe, beschränkte mich aber darauf, zustimmend zu nicken.

»Bedaure, der Sahib ist leider außer Haus«, entgegnete das Mädchen knapp und leckte sich dann nervös über die Oberlippe.

Offenbar war sie es nicht gewohnt, dass unangemeldete Besucher einfach vor der Tür standen.

»Könnten wir dann vielleicht mit Mrs. Ryder sprechen?«, erkundigte ich mich mit mühsam aufrechterhaltener Freundlichkeit.

»Wenn Sie bitte einen Augenblick warten möchten. Ich frage die Memsahib«, murmelte das Dienstmädchen, knickste ungeschickt und eilte davon. Nur Sekunden später kehrte sie wieder an die Tür zurück.

»Wenn Sie mir bitten folgen möchten. Die Memsahib empfängt Sie auf der Terrasse«, verkündete sie in einem pompösen Tonfall und nahm meinen Hut in Empfang.

Wenigstens wurden wir trotz unseres Verstoßes gegen die Etikette wie Gäste aus besseren Kreisen und nicht wie Hausierer behandelt.

Der Flur war mit glasierten Kacheln ausgelegt, die in der Mitte eine Arabeske bildeten. Es folgte ein Vestibül, durch das wir in das Speisezimmer gelangten, hinter dem sich wiederum der Salon befand, der von großen Fenstern und der Tür zur Veranda mit Tageslicht versorgt wurde. Beim Durchqueren des Hauses musste ich neidlos zugeben, dass die Räumlichkeiten nicht nur großzügiger, sondern auch wohnlicher eingerichtet waren als die meines Verwandten.