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Pistole, Pfeife, Pharaonen Das berufliche Interesse an Mumifizierungstechniken der Pharaonenzeit führt den Meisterdetektiv in Begleitung seines zeitweiligen Assistenten David Tristram nach Ägypten. In Alexandria angekommen erwartet ihn unverhofft der Auftrag des Ausgräbers Doktor Jones, die verloren gegangene historische Landkarte aus dem Besitz des Veteranen Major Wallace wiederzubeschaffen. Holmes trifft auf den zwielichtigen koptischen Priester Menas, der nebenbei einen Kunsthandel betreibt und auf einen ebenso undurchsichtigen Kaufmann, der sich Saladin nennt. Doch noch bevor Holmes die vermisste Landkarte wiederfinden kann, wird auf dem Weg zu seiner Ausgrabungsstätte der Assistent des Majors ermordet - ein Verbrechen, das natürlich Holmes' ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zieht.
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Seitenzahl: 356
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Franziska FrankeSherlock Holmes unddas Geheimnis der Pyramide
Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Sherlock Holmes und die Büste der PrimaveraSherlock Holmes und der Club des HöllenfeuersSherlock Holmes und die Katakomben von ParisSherlock Holmes und der Fluch des grünen DiamantenSherlock Holmes und das Ungeheuer von UlmenSherlock Holmes und der Ritter von Malta
Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.
Franziska Franke
Originalausgabe
© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von:
Foto: Félix Bonfils (1880)
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-261-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-273-0
Engländer
Doktor Trevor Jones
Archäologe, gräbt in Alexandria
Major Wallace
Archäologe, gräbt in Abusir
Helen Wallace
Seine nicht an Archäologie interessierte Frau
Mister Wilkins
Neuer Assistent von Major Wallace
Christopher Butterfield
Archäologe
Mrs Wilcox
Bewohnerin der Garden City in Kairo
Mrs Gillespie
Bewohnerin der Garden City in Kairo, Mitglied des Kirchenvorstands
Ägypter
Mustafa Ylmaz
Türkischer Archäologe, Assistent von Major Wallace
Ali Ylmaz
Türkischer Kaufmann in Alexandria,Bruder von Mustafa Ylmaz
Saladin
Gut informierter Kaufmann in Alexandria
Priester Menas
Koptischer Geistlicher und Antikenfreund in Alexandria
Als ich den ersten Band der Manuskripte herausgab, die auf dem Dachboden der Florentiner Casa Tristram-Boldoni gefunden worden waren, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich heute das Vergnügen haben würde, den nunmehr siebten Band der Aufzeichnungen David Tristrams zu veröffentlichen, wie immer von Signorina Casagrande aus dem Englischen übersetzt. Bei der Suche nach weiteren verschollenen Abenteuern von Sherlock Holmes war ich zunächst nur auf die gebundene Korrespondenz der Steinmetzwerkstatt Boldoni gestoßen, in die David Tristram eingeheiratet hatte. Erst meine Frau, die die treibende Kraft der Veröffentlichungen war, förderte aus der vorletzten Kiste einen Band mit der Schilderung eines bisher noch unveröffentlichten Kriminalfalls zutage.
Der Verfasser des Textes war der Großvater des Vorbesitzers dieses Hauses, ein englischer Buchhändler, der den größten Teil seines Lebens in Italien verbracht hatte. 1891 machte er in Florenz die Bekanntschaft von Sherlock Holmes, der nach dem Kampf mit Professor Moriarty an den Schweizer Reichenbachfällen seinen Tod vorgetäuscht hatte. In seinen Aufzeichnungen berichtet David Tristram von seiner Zusammenarbeit mit dem Meisterdetektiv, der während seines mehrjährigen Exils den Decknamen Sven Sigerson angenommen hatte.
Der vorliegende Band schließt sich zeitlich direkt an den vorangegangenen Band Sherlock Holmes und der Ritter von Malta an und ist somit vor den Geschehnissen von Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris angesiedelt.
Florenz, den 5. März 2015Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar
Eigentlich war ich in meinen jungen Jahren recht reiselustig. Aber ich hätte gut auf den Besuch einer Stadt verzichten können, die so gar nicht meiner Vorstellung vom Orient entsprach. Von den zahlreichen Bauten, die Alexandria zu einer der berühmtesten Städte der Antike gemacht hatte, waren nur sehr wenige übrig geblieben. Auf dem Gelände des Leuchtturms – immerhin eines der sieben Weltwunder – befand sich eine verfallene, islamische Zitadelle. Nur ein römisches Theater und eine ebenfalls römische Ehrensäule waren erhalten. Es war der dritte Tag unseres Aufenthaltes in Alexandria und noch immer fragte ich mich, was wir eigentlich hier verloren hatten. Schlecht gelaunt dachte ich an die Seereise, die ich hinter mich gebracht hatte. Zwar verfügte das Dampfschiff über eine – wenn auch mäßig ausgestattete – Bibliothek und einen Salon erster Klasse, aber Holmes hatte seine Kabine kaum verlassen, während meine Frau sich mit Mrs Wallace, der Gemahlin eines redseligen Majors im Ruhestand, angefreundet hatte. Die anderen Passagiere waren größtenteils Touristen sowie englische Beamte und Offiziere auf dem Weg zu ihrem Einsatzort, die abends auf Königin Victoria anstießen, um sich dann über Pferde und Hunde zu unterhalten.
Alles hatte damit begonnen, dass mich eine Woche zuvor eine Depesche meiner Frau Violetta erreicht hatte, in der sie ihr Eintreffen in der maltesischen Hauptstadt La Valetta1 ankündigte. Ich war auf Klagen und Vorwürfe wegen meiner langen Abwesenheit von zu Hause gefasst gewesen, aber es war ganz anders gekommen.
»Ich wollte schon immer nach Ägypten fahren. Da es dich nun einmal nach Malta verschlagen hat, sollten wir doch die Gelegenheit beim Schopf packen und weiterfahren«, hatte sie mir freudestrahlend erklärt, kaum dass der Gepäckträger ihren Koffer in die Mietkutsche geladen hatte. »So trifft es sich gut, dass Mortimer Hopper2 ägyptische Artefakte in sein Sortiment aufnehmen möchte. Er hat mir sogar einige Empfehlungsschreiben an Ausgräber und einheimische Händler mitgegeben …«
»Du meinst wohl an Grabräuber und ihre Komplizen! Mister Hopper kennt bestimmt keine seriösen Archäologen«, hatte ich erbost ihren Redeschwall unterbrochen. »Hat er dir wenigstens einen Vorschuss gezahlt?«
»Nein, aber wir erhalten eine Provision für die Kunstwerke, die wir für ihn erwerben.«
Ich hatte schon den Mund zum Widerspruch geöffnet, als Holmes unverhofft sagte, dass er uns gerne begleiten würde. Angeblich interessierte er sich für altägyptische Mumifizierungstechniken. Doch ich vermutete eher, dass er sich langweilte.
Und so waren Holmes und nun ich auf dem Weg zu Doktor Trevor Jones, einem englischen Archäologen, der sich dauerhaft in Alexandria niedergelassen hatte. Während der Überfahrt hatte ich mich auf reich verzierte, orientalische Bauten gefreut, aber in Alexandria herrschte offenbar ein völlig europäischer Lebensstil. Irritiert beäugte ich durch das Droschkenfenster moderne Straßenzüge mit Gasbeleuchtung, vornehmen Läden, Kaffeehäusern, Hotels und Theatern. Wie ich meinem Reiseführer entnahm, war das Stadtzentrum durch den Aufstand des Ahmad Urabi Pascha arg heimgesucht worden, was die vielen modernen Bauten erklärte3. Die Stadt, etwa so groß wie Florenz4, war aber viel hektischer. Kein Wunder, dass die anderen Touristen auf unserer Fähre gleich nach Kairo weitergereist waren.
Wir überquerten den langgestreckten Mehmed Ali-Platz5, der von prächtigen Gebäuden wie dem Justizpalast und der anglikanischen Markus-Kirche gesäumt wurde. Die Grünanlage in seiner Mitte wurde von dem ehernen Reiterdenkmal Mehmed Ali Paschas dominiert, des ersten Khediven von Ägypten. Dann fuhren wir durch weitere breite Prachtstraßen, bis unsere Droschke endlich vor einem schmucken Haus anhielt, das genauso gut in Genua hätte stehen können. Später erfuhr ich, dass viele Gebäude von italienischen Architekten mit so klangvollen Namen wie Francesco Mancini, Pietro Avoscani und Alfonso Maniscalco entworfen worden waren.
Holmes begutachtete ein paar Sekunden lang schweigend das zweistöckige Gebäude, bevor er zum Eingang schritt. Ich zog am Klingelzug, und die Tür öffnete sich so schnell, als hätte man uns sehnsüchtig erwartet. Dieser Eindruck wurde jedoch vom blasierten Auftreten eines kleinen, mageren Dieners widerlegt. Die ausgebeulten Knie seines fadenscheinigen, ehemals schwarzen Anzugs ließen vermuten, dass sein Träger auch bei den Grabungen aushalf.
»Mister Sven Sigerson und Mister David Tristram«, stellte Holmes uns vor. »Man erwartet uns.«
»Doktor Jones empfängt gerade einen anderen Besucher«, kam die barsche Antwort zurück, und ich befürchtete schon, unverrichteter Dinge umkehren zu müssen.
Aber der Diener geleitete uns in das Bibliothekszimmer. Ich konnte es einen Augenblick lang nicht fassen, wen ich dort antraf: Der ominöse Gast war ausgerechnet Major Wallace. Breitbeinig saß er auf einem mit geblümtem Chintz bezogenen Sessel, ihm gegenüber thronte ein kräftiger Mann, der etwas kleiner, aber nicht schlanker als der Offizier war. Tiefe Falten durchfurchten die Haut seines von der Sonne geröteten Gesichts. Oder hatte auch der Alkohol seinen Beitrag dazu geleistet? Doktor Jones entsprach jedenfalls nicht gerade meiner Vorstellung von einem Archäologen. Ein blasses, vergeistigtes Männlein hatte ich erwartet, keinen korpulenten Trunkenbold.
Vor den beiden Männern standen auf einem niedrigen Tisch einfache Gläser. Die dazugehörige Flasche wartete bereits halb geleert auf einem Büfett aus Teak-holz, das mit kleinen Fotos in Silberrahmen dekoriert war. Darüber hing das Porträt eines mürrischen, alten Mannes, dessen Dogge ihm verblüffend ähnelte. Die anderen drei Wände wurden von Regalen aus Mahagoni eingenommen, darin gebundene Ausgaben antiker Autoren, archäologische Fachliteratur und Zeitschriften. Die Bücherschränke wurden bekrönt von echten und weniger echten Marmorbüsten unterschiedlicher Qualität.
»John! Könnten Sie …«, begann der Hausherr, ohne uns zu begrüßen, und ich hoffte, dass er uns wegschicken wollte. Aber er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn der Offizier fiel ihm ins Wort.
»Schön Sie wiederzusehen, Mister Sigerson«, rief er jovial durch den Raum. »Guten Tag, Mister Tristram, wo haben Sie denn Ihre reizende Gattin gelassen?«
»Sie ist mit Bekannten nach Kairo gefahren. Wir folgen ihnen in ein paar Tagen.«
»Meine bessere Hälfte ist im Hotelzimmer geblieben, da sie Kopfschmerzen hat«, kam der Major meiner Gegenfrage zuvor. »Ich kenne die Gentlemen von der Fähre«, erklärte er dann dem konsternierten Hausherrn sein ansonsten befremdliches Verhalten und machte zu allem Überfluss auch noch eine einladende Geste. »Aber setzen Sie sich doch!«
Trotz dieser Aufforderung hätte ich mich am liebsten dezent zurückgezogen. Aber Holmes ließ sich nicht vom finsteren Gesicht des Archäologen abschrecken, sondern nahm auf einem der geblümten Sessel Platz. Obwohl ich mich noch immer unerwünscht fühlte, blieb mir nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun. Der Diener trat mit einem Tablett an den Tisch, kredenzte uns Sherry in billig aussehenden Gläsern und schenkte den anderen beiden Männern nach.
»Ich würde meine Frau ja nicht mit irgendwelchen Bekannten durch die Weltgeschichte reisen lassen«, bemerkte unser Gastgeber, nachdem er an seinem Glas genippt hatte.
Empört wollte ich darauf hinweisen, dass es sich um ein gesetztes Ehepaar mittleren Alters handelte, als sich Doktor Jones’ Gesicht zu einem Grinsen verzog.
»Das ist wohl auch der Grund, warum ich niemals geheiratet habe«, verkündete er leicht beschwipst.
Major Wallace stieß einen gleichermaßen amüsierten wie tadelnden Laut aus. Dann lehnte er sich mit dem Glas in der Hand behaglich in seinen Sessel zurück.
»Ihrer Gemahlin hätte Alexandria sicher gefallen. Schließlich bilden Ihre Landsleute hier die größte Ausländerkolonie«, wunderte er sich.
»Mit Italienern kann sie in Florenz jeden Tag sprechen«, entgegnete ich belustigt. »Aber sie wollte schon immer die Pyramiden sehen.«
Trotz des belanglosen Plaudertons, dessen wir uns bedienten, lag eine gespannte Atmosphäre im Raum.
»Wo waren wir noch gerade stehen geblieben?« Major Wallace griff sich grübelnd an die Stirn, bevor er seine eigene Frage beantwortete. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich wollte mich danach erkundigen, wie lange Sie meine Landkarte noch benötigen.«
Sofort wich alle Farbe aus dem wettergegerbten Gesicht des Hausherrn. Er umklammerte sein Glas so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten, den Blick starr auf das Porträt über dem Schrank gerichtet. Man konnte geradezu sehen, wie sich seine Gedanken überschlugen. »Noch mindestens eine Woche«, sagte er schließlich mit trotzig erhobenem Kinn.
Der Offizier schien sich diesen Sachverhalt durch den Kopf gehen zu lassen, bevor er darauf einging. »In Gottes Namen! Aber nur weil Sie sich in der Vergangenheit mir gegenüber immer sehr kollegial gezeigt haben!«
Der Tonfall erinnerte an einen Bankdirektor, der sich dazu durchringt, einen Kredit zu bewilligen. Ich fühlte mich zunehmend unwohl in meiner Haut, denn diese privaten Dinge gingen mich nichts an. »Ich war etwas enttäuscht von den vielen europäischen Bauten in Alexandria und freue mich daher auf den Besuch von Gizeh«, sagte ich, um dem peinlichen Gespräch eine andere Wendung zu geben.
»Alexandria ist die kosmopolitischste Stadt am Mittelmeer. Aber das trifft nur auf die Innenstadt zu. Ein Großteil der einheimischen Bevölkerung ist am Rande der Innenstadt in armseligen Lehmhütten zusammengepfercht«, belehrte mich unser Gastgeber.
»Die Pyramiden laufen nicht weg«, mischte sich Major Wallace ein, der seine gute Laune erstaunlich schnell wiedergefunden hatte. »Wie ich Ihnen schon an Bord der Fähre sagte: Man sollte nicht vor Herbstbeginn nach Süden fahren. Wenn das restliche Land unter der Hitze stöhnt, herrscht im Nildelta mit seiner üppigen Vegetation ein angenehmes Klima. Daher würde ich an Ihrer Stelle die nächste Bahn in die Sommerfrische nach Ramle nehmen. Ich kann Ihnen dort ein ausgezeichnetes Hotel empfehlen.«
»Das ist nicht nötig!«, entfuhr es mir, da ich befürchtete, er könne sich unserer kleinen Reisegesellschaft anschließen. »Wir werden in Kairo erwartet«, fügte ich hinzu, um meine schroffen Worte abzumildern. »Außerdem sind wir nicht besonders wählerisch.«
Wenn das Violetta gehört hätte! Auch Holmes bedachte mich mit einem erstaunten Seitenblick.
»Das sollten Sie aber, mein Lieber!«, widersprach der Major und zwirbelte seinen grauen Schnurrbart. Das tat er immer, bevor er eine längere Erklärung abgab. »Für einen Europäer ist ein Hotel mit weniger als vier Sternen natürlich völlig unzumutbar. In diesem Land sind nämlich die Standards beklagenswert niedrig. Wenn ich nur an die Kampagne von 1882 denke! Der Sommer war selbst für Ägypten ungewöhnlich heiß und wir kampierten in der Wüste …«
Wie ich befürchtet hatte, schwadronierte der Offizier unerbittlich los, denn er wusste, dass wir nicht einfach verschwinden konnten. Major Wallace rühmte also in epischer Breite die Verdienste der britischen Armee im Allgemeinen und seine eigenen im Besonderen. Ein Blick auf Holmes’ geistesabwesendes Gesicht zeigte mir, dass dieser nicht zuhörte. Wie ich ihn darum beneidete, dass er in der Lage war, lästige Zeitgenossen einfach zu ignorieren. Seine steinerne Miene stand ganz im Gegensatz zum besorgten Blick unseres Gastgebers. Irgendwas bekümmerte ihn, das konnte er nicht verbergen, und ich fragte mich, ob es wirklich nur die Frage nach der Landkarte war.
Gelangweilt griff ich nach einem dicken, ledergebundenen Buch, das auf dem Couchtisch lag. Doch leider war der Text in griechischer Sprache verfasst. Um mich von dem erschöpfenden Vortrag des Offiziers abzulenken, blätterte ich den Folianten durch und betrachtete die Illustrationen, die blutrünstige Schlachtszenen zeigten, bis Major Wallace sich endlich erhob.
»Leider kann ich nicht weiter mit Ihnen plaudern, denn ich habe einen Termin beim Friseur«, erklärte er und blickte erwartungsvoll in die Runde. Doch niemand tat ihm den Gefallen, ihn zum Bleiben zu bitten. »Ich kann Ihnen nur raten, vorsichtig zu sein! In Alexandria kommt man leicht unter die Räder. Mancher Europäer endete hier schon als Hafenarbeiter«, warnte er uns, bevor er sich verabschiedete. »Und lassen Sie sich nicht von den Einheimischen das Grab Alexanders des Großen zeigen. Das sind alles Beutelschneider!«
Ob er sich den Schnurrbart frisch pomadisieren ließ?, überlegte ich boshaft, als der Diener den lästigen Zeitgenossen zum Ausgang brachte. Das Haupthaar des Offiziers war jedenfalls so spärlich, dass ein Haarschnitt reine Geldverschwendung gewesen wäre.
»Ich dachte, ich werde ihn niemals los. Darauf müssen wir einen trinken«, seufzte der Hausherr und blickte sich nach seinem Diener um. Dieser kehrte gerade mit einer neuen Flasche Sherry zurück und goss uns nach.
»Zu Hause hätte ich Ihnen auch Ingwer-Plätzchen anbieten können, aber meine ägyptische Haushälterin bringt sie einfach nicht zustande«, entschuldigte er sich und genehmigte sich dann einen großen Schluck. »Mortimer Hopper, der alte Halunke schickt Sie zu mir?«
»Er möchte ägyptische Kunstwerke erwerben«, entgegnete ich ausweichend, denn es war mir unangenehm, mit diesem Menschen in Zusammenhang gebracht zu werden. »Haben Sie zufällig etwas nicht allzu Teures für ihn?«
Holmes ließ dem Hausherrn keine Zeit für eine Antwort auf meine Frage. »Sie besitzen diese Landkarte nicht mehr«, stellte er lakonisch fest und schwieg einen Moment, um die Wirkung seiner Eröffnung zu beobachten.
Unserem Gastgeber fiel vor Schreck fast das Glas aus der Hand. »Wie können Sie … Woher wissen Sie …«, stammelte er mit hochrotem Kopf und wandte sich ab, um zum Fenster hinüberzuschauen.
»Das ist doch ganz offensichtlich«, sagte Holmes nicht ohne Selbstgefälligkeit. »Als die Karte erwähnt wurde, haben Sie ängstlich auf das Gemälde Ihres Vaters gestarrt, sicherlich befindet sich ein Safe dahinter.«
Erschrocken richtete der Archäologe sich auf und musterte Holmes mit gerunzelter Stirn. Er sah aus, als bereute er, uns vorhin nicht hochkant hinausgeworfen zu haben. »Was wissen Sie sonst noch über mich?«
Ich erwartete, dass Holmes sein Gegenüber als atheistischen, heimwehkranken Londoner bezeichnete, der in seiner Jungend ein guter Schwimmer war. Oder als ehemaligen Grubenarbeiter, der sein Universitätsdiplom gefälscht hatte, um seine praktischen Fertigkeiten zu versilbern. Aber er begnügte sich mit der Feststellung: »Sie haben Ihren Haushalt in Bristol aufgelöst, um hier das Grab Alexanders des Großen zu suchen.« Dabei deutete er auf eine ausgezeichnete Marmorbüste des großen Makedonen, als wollte er sie in den Zeugenstand rufen.
Das Grab Alexanders des Großen! Das war auch das Einzige, was den Aufenthalt eines Archäologen in dieser Stadt rechtfertigte. Aber es war ein völlig aussichtsloses Unterfangen.
»Hat man denn nicht in den letzten hundert Jahren bereits jeden einzelnen Keller danach untersucht?«, fragte ich erstaunt, was der Archäologe mit einer wegwerfenden Geste quittierte.
»Die heutige Stadt nimmt nur etwa ein Drittel der Fläche des alten Alexandria ein, nämlich die frühere Insel Pharos und die sie mit dem ägyptischen Festland verbindende Landzunge«, erläuterte Doktor Jones in einem dozierenden Tonfall. »Große Teile des ehemaligen Stadtgebietes sind daher noch nicht wissenschaftlich untersucht.«
»Was hat es nun mit dieser Landkarte auf sich?«, nahm Holmes den Gesprächsfaden wieder auf. Wenn er einen Kriminalfall witterte, interessierte er sich nicht für Altertumskunde.
Unser Gastgeber schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf und machte dann eine hilflose Geste. »Mir ist die ganze Sache schrecklich peinlich. Wer hätte gedacht, dass Major Wallace seinen Aufenthalt in England abkürzen würde? Ich habe ihn erst in einem Monat erwartet«, platzte es schließlich aus ihm heraus. »Ich habe mir die Karte von seinem Assistenten ausgeliehen. Der arme Kerl wird so schlecht bezahlt, dass es erschreckend preiswert war, ihn zu bestechen.«
»Diese Landkarte hat der Offizier vermutlich bei der Armee mitgehen lassen, ehe er seinen Abschied genommen hat?«, vergewisserte sich Holmes.
Der Hausherr nickte und hob dann sein Glas, dessen Pegel inzwischen um die Hälfte gesunken war. Nachdem er den Rest in sich hineingeschüttet hatte, setzte er seinen Bericht fort.
»Sie wurde nach den Angaben der einheimischen Späher präzisiert. Der Major hat sich in nächtlicher Kleinarbeit eine Kopie davon angefertigt, da er seit Jahren vorhatte, sich nach seiner Pensionierung als Ausgräber zu betätigen.«
»Wie haben Sie von der Existenz dieser Landkarte erfahren?«, wollte Holmes wissen.
»Der Major hat im angesäuselten Zustand damit angegeben«, entgegnete der Hausherr und lehnte sich zurück. »Wie ich vorhin bereits dargelegt habe, interessiere ich mich ausschließlich für die Umgebung von Alexandria. Diesen Ausschnitt der Karte habe ich mir durchgepaust. Nachdem ich damit fertig war, schaute mein Kollege Christopher Butterfield zufällig bei mir vorbei. Ich schuldete ihm noch einen Gefallen und habe ihm daher die Karte für den Rest des Monats überlassen.«
Diese Landkarte schien der reinste Wanderpokal zu sein.
»Das war äußerst leichtsinnig von Ihnen«, bemerkte Holmes, der offenbar meine Bedenken teilte.
»Eigentlich ist Mister Butterfield die Zuverlässigkeit in Person.« Unser Gastgeber führte gedankenverloren das Glas zum Mund, bevor er feststellte, dass es leer war. »Zu meinem namenlosen Schrecken traf ich gestern die Gemahlin des Majors in einer englischen Buchhandlung. Gut gelaunt erzählte sie mir, sie sei am Vortag mit ihrem Gatten in Alexandria eingetroffen. Natürlich wollte ich die Karte augenblicklich zurückfordern und bin in das Hotel geeilt, in dem mein Kollege logierte. Aber was musste ich erfahren: Christopher Butterfield war am Vortag ganz plötzlich zu seiner winterlichen Grabungskampagne aufgebrochen. Der Hotelangestellte an der Rezeption wusste nicht, wo genau dieser graben wollte. Zumindest behauptete er das. Ich vermute aber eher, dass Mister Butterfield ihm aufgetragen hat, es nicht zu verraten. Als ich in mein Haus zurückkehrte, hatte Major Wallace bereits erfahren, dass sein Assistent seine Landkarte verliehen hat. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde den Verlust nicht so schnell bemerken.«
»Der Major scheint Ihnen die Sache ja nicht weiter verübelt zu haben«, warf ich ein, denn ich hätte an seiner Stelle auf eine sofortige Rückgabe meines Eigentums bestanden.
»Zuerst war er natürlich schrecklich ungehalten. Als ich jedoch zusagte, ihm bei seinen eigenen Grabungen nicht in die Quere zu kommen, hat er sich wieder etwas beruhigt und mir sogar gestattet, die Landkarte noch ein wenig zu behalten.«
Holmes hatte ein kleines Merkheft gezückt und machte sich einige Notizen, was den Hausherrn sichtlich irritierte.
»Sie suchen also nicht nur eine Landkarte. Sie suchen auch den Mann, dem Sie diese gegeben haben«, präzisierte er, in den Augen ein kriegerisches Glitzern, das ich nur allzu gut kannte. »Sie sollten die Dienste eines privaten Ermittlers in Anspruch nehmen. Und wie der Zufall es will haben, Sie gerade einen ganz hervorragenden bei sich zu Gast«, ergänzte er ohne falsche Bescheidenheit.
Mit angehaltenem Atem wartete ich auf die Reaktion des Archäologen. Ich an seiner Stelle hätte Referenzen verlangt. Doch Doktor Jones nickte nur nachdenklich. Als ich neugierig seinen Gesichtsausdruck studierte, fand ich, dass er erleichtert wirkte.
»Sehen Sie denn auch nur die geringste Chance, die Karte wiederzubeschaffen?«, fragte er schließlich bang.
»Ich habe schon schwierigere Fälle gelöst«, versicherte Holmes verbindlich. »Und Mister Tristram hat mir bei dem einen oder anderen Problem assistiert.«
Ich erwartete, dass unser Gastgeber sich zumindest nach unserem Honorar erkundigen würde, aber ohne ein Wort zu sagen, stemmte er sich aus seinem Sessel und tappte leicht schwankend zum Regal, das er gerade noch rechtzeitig erreichte, um sich daran festzuhalten. Anscheinend war er weit betrunkener, als ich bisher vermutet hatte. Erst im zweiten Anlauf gelang es ihm, eine abgegriffene Bibel herauszuziehen. Nachdem er den Deckel hochgeklappt hatte, zeigte sich, dass die vermeintliche Heilige Schrift nur eine Attrappe war. Das Innere war ausgehöhlt und enthielt Banknoten. Ohne nachzuzählen entnahm er dem Versteck ein Bündel Geldscheine, stellte die Bibel zurück und händigte Holmes kommentarlos das Geld aus.
»Das sollte als Vorschuss reichen. Beschaffen Sie mir bitte die Karte und zwar so schnell wie möglich!«, sagte er, nachdem er sich wieder auf einen Sessel fallen gelassen hatte.
Holmes bot ihm an, den Betrag zu quittieren, aber unser neuer Klient winkte mit einer fahrigen Handbewegung ab.
»Ich vertraue Ihnen«, behauptete er, aber ich vermutete, dass er eher der einheimischen Polizei misstraute.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Anschrift des Assistenten von Major Wallace mitteilen könnten«, bat Holmes den Archäologen. »Auch die letzte Adresse von Mister Butterfield könnte ich gebrauchen.«
Mit einem Bleistift, der grob mit dem Messer gespitzt worden war, notierte Doktor Jones uns Straße und Hausnummer eines Mietshauses, in dem ein gewisser Mustafa Ylmaz wohnte, und schob den Zettel über den Tisch.
»Wie ich vorhin schon erwähnte, im Hotel wusste man nicht, wohin mein werter Kollege aufgebrochen ist«, bedauerte er dann.
»Mister Butterfield wird doch irgendwo eine feste Anschrift haben«, wandte Holmes ein.
Doktor Jones schaute ihn finster an, bevor er sich leise fluchend nochmals schwerfällig hochhievte. Mit bedächtigen Schritten verließ er den Raum. Wir hörten aus dem Nachbarzimmer das vehemente Öffnen und Schließen von Schubladen, dann kehrte unser Gastgeber endlich zurück. Er schwenkte einen Briefumschlag in der Luft, den er Holmes überreichte. Dann ließ er sich wieder auf seinen Sessel fallen.
»Auf der Rückseite steht Christopher Butterfields Anschrift in England«, erklärte er überflüssigerweise, denn Holmes hatte den Umschlag längst umgedreht.
»Ist er verheiratet?«, fragte dieser, während er die Adresse in sein Notizbuch übertrug.
»Ja, das ist er. Aber ich habe seine Gattin noch nie gesehen. Sie begleitet ihn nicht nach Ägypten.«
»Das ist gut«, kommentierte Holmes zufrieden.
»Dass sie zu Hause bleibt?«, fragte ich verblüfft und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass der dünne Diener Anstalten machte, unsere Gläser erneut zu füllen. Um ihn davon abzuhalten, nahm ich mein Trinkgefäß in die Hand – und auch Holmes schüttelte den Kopf.
»Dass er verheiratet ist. Vielleicht weiß Mrs Butterfield ja, wo sich ihr Gatte momentan aufhält«, erwiderte er und sprang energisch aus seinem Sessel hoch. »Wir sollten uns gleich an die Arbeit machen!«
Als wir die Zimmertür erreicht hatten, hielt Holmes inne und drehte sich nochmals um. »Was ich fast vergessen hätte. Eigentlich hatten wir Sie ja besucht, um altägyptische Kunstwerke zu erwerben. Mister Hopper war so freundlich, uns Ihre Adresse zu geben. Daher …«
»Etwas Gutes kommt heutzutage kaum noch auf den Markt. Und wenn, kaufen es die deutschen Museen einem vor der Nase weg«, schnitt ihm unser Gastgeber das Wort ab. »Was meinen Sie, warum ich den Kunsthandel aufgegeben habe und mich darauf beschränke, Ausgrabungen durchzuführen und Bücher zu schreiben?«
»Da kann man wohl nichts machen. Es war mir jedenfalls ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben«, erklärte ich, bevor ich mich in unser beider Namen verabschiedete. Wenn Holmes eine heiße Spur verfolgte, vergaß er manchmal selbst die elementarsten Höflichkeitsformen.
»Das schreit doch zum Himmel, wie dieser Mensch mit anderer Leute Eigentum umgeht«, machte ich gleich vor dem Haus meiner Empörung Luft. »Außerdem kann er uns doch nicht allen Ernstes weismachen, dass er so selbstlos ist, geheimes Material mit seinen Konkurrenten zu teilen.«
»Vergessen Sie nicht, dass er sich nur für Alexandria interessiert«, entgegnete Holmes. »Er konnte sich also diese Großzügigkeit leisten.«
Sollte er bereits eine Theorie entwickelt haben, so behielt er sie wie immer für sich. Mich jedenfalls erinnerte die Geschichte fatal an unseren letzten Fall. Hoffentlich suchten wir nicht schon wieder nach einem Toten.
1 David Tristram hatte Holmes dort bei der Aufklärung des Falls Der Ritter von Malta assistiert.
2 Der Kunsthändler, der die Werke der Florentiner Steinmetzwerkstatt Boldoni vertrieb, in die der Erzähler eingeheiratet hatte.
3 Am 11. Juni 1882 kam es zur blutigen Verfolgung der Europäer. Einen Monat später beschossen britische Kriegsschiffe die Stadt, worauf von den sich zurückziehenden Soldaten die europäischen Viertel in Brand gesteckt wurden. Nach der Niederschlagung der Urabi-Bewegung blieb Ägypten bis 1922 unter britischer Herrschaft.
4 Beide Städte hatten im ausgehenden 19. Jahrhundert etwa 200.000 Einwohner.
5 Ursprünglich Place des Consuls, heute Tahrir-Platz.
Mustafa Ylmaz, der Grabungsassistent des Majors, wohnte nicht in einem der von Doktor Jones erwähnten Elendsquartiere mit Lehmbauten und ungepflasterten Straßen. Doch es ging in diesem Viertel weit orientalischer zu als in den Teilen der Stadt, die wir bisher gesehen hatten. Die aus Backstein oder hellem Sandstein errichteten Gebäude waren höchstens drei Stockwerke hoch. Ihre Dächer waren flach, die Türen verschlossen und die Fenster vergittert. Außerdem begann direkt hinter der Straße ein unübersichtliches Gewirr von kleinen Gassen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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