Sherlock Holmes und die Büste der Primavera - Franziska Franke - E-Book

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera E-Book

Franziska Franke

4,3

Beschreibung

Florenz 1891 - Nach dem Tod seines Erzfeindes Professor Moriarty und nach seinem eigenen spektakulären Verschwinden an den Schweizer Reichenbachfällen glaubt sich Sherlock Holmes zunächst im sonnenbeschienenen Norditalien gänzlich unerkannt, doch anlässlich der schicksalhaften Begegnung mit dem englischen Buchhändler David Tristram gibt er sein Incognito vorübergehend auf. Er wird dafür mit einem Rätsel belohnt, das so ganz nach seinem Geschmack ist: Erst vor Kurzem ist Tristrams Schwiegervater, ein talentierter florentinischer Bildhauer, auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Der Detektiv beginnt sogleich seine Ermittlungen in der Villa des zwielichtigen Kunsthändlers Mortimer Hopper, der Holmes zudem den Auftrag erteilt, eine verschwundene Marmorbüste wiederzubeschaffen. Zum Erstaunen des Buchhändlers willigt Holmes ein, sich auch dieses Falles anzunehmen. Die weiteren Ermittlungen führen Holmes und Tristram auf eine wilde Jagd quer durch das Italien des zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhunderts, durch das nächtliche Rom und schließlich in das geheimnisvolle Venedig.

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Franziska FrankeSherlock Holmes und die Büste der Primavera

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris

Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten

Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.

Franziska Franke

Sherlock Holmes

und die Büsteder Primavera

1. Auflage 2009

2. Auflage 2012

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Redaktion, Satz: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3940077-66-0

E-Book-ISBN 978-3-95441-039-2

Vorwort des Herausgebers

In meiner Funktion als Nachlassverwalter des Florentiner Arztes Dottore Lorenzo Tristram-Boldoni gehörte es zu meinen Aufgaben, die Dachbodenentrümpelung des Hauses an der Piazza Santa Croce zu überwachen. Der Dottore hatte das Haus einer gemeinnützigen Stiftung hinterlassen. Dabei stießen wir auf eine wurmstichige Truhe, in der sich eine zweite, kleinere Truhe im neugotischen Stil befand, von der ich vermute, dass sie einst dem Urgroßvater des Dottore gehörte, jenem englischen Buchhändler, dessen Namen die alteingesessene Florentiner Familie noch heute trägt.

Die kleinere Truhe war gefüllt mit verschiedenen, seltsamen Gegenständen. Wir holten Blechdosen heraus, die nichts als Asche enthielten, eine stumpf gewordene Lupe, altmodische Kleidungsstücke und ein Buch über Bienenzucht. Unter diesen Dingen von geringem Wert waren einige ledergebundene Bücher im Quartformat gestapelt, in deren Deckel statt eines Titels durchlaufende lateinische Zahlen eingraviert waren. Die vergilbten Seiten der Bände waren mit winzigen Buchstaben in einer kaum lesbaren Schrift vollgekritzelt. Nur mit Mühe konnte ich einige Buchstaben entziffern, musste aber feststellen, dass der Text in englischer Sprache verfasst war. Ich war schon im Begriff, die Manuskripte für den Container auszusortieren, dessen Inhalt in den Aktenvernichter geworfen werden sollte, als bei einem letzten Durchblättern der Name Sherlock Holmes meine Aufmerksamkeit erweckte.

Unentschlossen, was ich damit anfangen sollte, nahm ich die Manuskripte mit nach Hause, wo mich meine Frau bedrängte, eine Übersetzung des ersten Bandes in Auftrag zu geben. Leider gestaltete sich dieses Unterfangen weit schwieriger als vermutet, denn der jungen Anglistin, die ich mit der Arbeit betraute, gelang es kaum, sich durch den Text zu kämpfen. Die Handschrift war äußerst nachlässig, und an vielen Stellen waren die Buchstaben durch die Stockflecken auf dem brüchigen Papier fast unlesbar geworden. Außerdem arbeitete die junge Dame zugleich an ihrer Abschlussarbeit über das Italienbild der englischen Touristen des 19. Jahrhunderts und unterbrach manchmal für Wochen die Übersetzungsarbeit, weil sie in ausländischen Bibliotheken recherchieren musste.

So hatte ich mich also bis zu diesem Frühjahr gedulden müssen, bis ich endlich einen Stoß Computerausdrucke auf meinem Schreibtisch fand, auf dessen Deckblatt Sherlock Holmes und die Büste der Primavera stand. Ich begann, wie ich zugeben muss, lustlos die Übersetzung des mehr als hundert Jahre alten Textes zu überfliegen, aber je mehr ich las, desto stärker zog die Geschichte mich in ihren Bann. Als ich die Lektüre beendet hatte, beschloss ich, Ihnen den Text zur Veröffentlichung anzubieten, denn ich glaube, dass das Bild, das man sich von Sherlock Holmes macht, nicht vollständig wäre ohne das Bekanntwerden dieser Episode.

Florenz, den 20.01.2008,Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Eine Begegnung bei der Post

Es war an einem ungewöhnlich heißen Tag im Mai des Jahres 1891, als ich das Postgebäude betrat. Vor dem Schalter, auf dessen Hinweisschild die wohlklingenden Worte Poste Restante standen, hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet, die mich unwillkürlich an das heimatliche England erinnerte. Ich begab mich schicksalsergeben an das Ende der Schlange, denn ich hatte die Hausmeisterin des Mietshauses, in dem wir damals noch wohnten, im Verdacht, fremde Briefe mit Wasserdampf zu öffnen. Daher zog ich es vor, mir meine Korrespondenz postlagernd zusenden zu lassen.

Die Schlange wurde immer länger, und bald wusste ich auch warum: Der langsamste Postbeamte der Toskana, der mich bereits viel Lebenszeit gekostet hatte, trieb an diesem Morgen sein Unwesen am Schalter für postlagernde Sendungen. Mit ohnmächtiger Wut beobachtete ich seinen Versuch, seinen eigenen Rekord zu brechen. Aufgrund der quälenden Langeweile verfiel ich auf die Idee, die anderen Wartenden zu studieren.

Ich blickte mich dezent um. Hinter mir stand eine hübsche, nach der neuesten Mode gekleidete Dame um die Dreißig, die ziemlich nervös zu sein schien. Sie holte eine Taschenuhr aus ihrem zierlichen Beutel, schaute verärgert auf das Zifferblatt und runzelte die Stirn. Sie hielt die vergoldete Uhr an ihr Ohr und schloss gedankenverloren die Augen. Ich vermutete, dass ihr Liebhaber ihr postlagernd schrieb und dass sie nun Angst hatte, von einem Freund ihres Ehemannes gesehen zu werden.

Dann schien sie zu bemerken, dass ich sie beobachtete, denn sie warf mir einen pikierten Blick zu. Ich tat so, als ob ich jemanden in der Menge suchte. Mit erhobenem Kopf ließ ich meinen Blick durch die überfüllte Halle schweifen, als mein Vordermann die Geduld verlor. Einen beliebten Fluch vor sich hinmurmelnd gab er seinen Platz in der Schlange auf.

Ich studierte den Mann, hinter dem ich nun stand. Er mochte rund einen Meter achtzig groß sein, aber er war extrem dünn und wirkte daher größer. Offensichtlich war ihm das Warten noch verhasster als der Ehebrecherin. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schien sich nur mühsam zurückzuhalten, den Beamten zu größerer Eile anzutreiben.

Schnell erkannte ich, dass mit meinem neuen Vordermann etwas nicht stimmte, denn er war zwar, etwas nachlässig, wie ein italienischer Gelehrter gekleidet, aber seine teuren Schuhe englischer Machart fügten sich nicht in dieses Gesamtbild ein.

Meine Neugier war also geweckt, und ich ließ den Unbekannten nicht mehr aus den Augen. Gern hätte ich seine Gesichtszüge analysiert, aber ein breitkrempiger Hut verschattete die Partien, die der dunkle Bart nicht ohnehin verdeckte. Es war unübersehbar, dass der Fremde nicht erkannt werden wollte. Mir kam ein beunruhigender Gedanke: Ob der bärtige Mann vorhatte, die Post zu überfallen? Ich erwog, mich zurückzuziehen, aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich vor dem Schalter für gelagerte Sendungen wartete.

Als der bärtige Mann endlich an der Reihe war, fragte er mit breitem, englischem Akzent, ob Post für ihn angekommen sei. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass etwas mit ihm nicht stimmte, so hatte ich ihn jetzt! Obwohl der Fremde passabel italienisch sprach, war nicht zu überhören, dass er seine Kindheit in einem stattlichen Haus an der Themse verbracht und anschließend viel Mühe darauf verwandt hatte, in Oxford diesen spezifischen, herablassenden Tonfall einzuüben, der den britischen Gentleman auszeichnet.

Meine Neugierde wuchs ins Unermessliche, und ich bedauerte, dass mein Beobachtungsobjekt sich bald meiner entziehen würde, aber der Postangestellte verschaffte mir etwas Bedenkzeit, indem er für mehrere Minuten im Lager verschwand. Die Ehebrecherin fluchte bereits leise vor sich hin, als der Staatsdiener endlich mit einem mittelgroßen Päckchen zurückgeschlichen kam.

Verdammt, dachte ich, gleich verschwindet er. Aber wieder hatte ich Glück, denn bei dem Päckchen handelte es sich um eine eingeschriebene Sendung.

Der bärtige Mann legte mit einstudierter Beiläufigkeit einen Handschuh auf die Anschrift, aber während er seinen Pass vorzeigte, gelang es mir, den Absender des Päckchens zu entziffern. Ich las: Mycroft Holmes, The Diogenes Club, London.

Ich war elektrisiert. Der Bruder von Sherlock Holmes hatte das Päckchen abgeschickt! Meine Gedanken rasten. Wie gebannt starrte ich den bärtigen Mann an. Mittlerweile war es mir völlig gleichgültig, was die anderen Kunden von mir dachten.

Ich wusste, dass Sherlock Holmes als ein Meister der Verkleidung in London mehrere Verstecke besaß, in denen er seine Identität nach Belieben ändern konnte. Ein prüfender Blick ließ die kühne Vermutung zur Gewissheit werden: Sherlock Holmes stand hier mitten in Florenz am Schalter für postlagernde Sendungen! Seine blasse Haut hatte er dunkel getönt, aber die adlerhaft gebogene Nase und die grauen Augen ließen sich nicht verbergen. Ich fragte mich, ob er den Auftrag erhalten hatte, eine Bestechungsaffäre bei der italienischen Post aufzudecken.

Dann konnte ich mich nicht länger zurückhalten. »Mister Holmes«, entfuhr es mir, »das Schicksal führt Sie hierher!«

»Sie müssen mich verwechseln. Mein Name ist Henry Baker Radcliffe«, erwiderte er und blickte auf mich herab.

Wie ich es hasse, wenn Männer ihre Körpergröße gegen mich ausspielen! Ich hatte mich in Italien sofort heimisch gefühlt, weil ich hier mit meinen Gesprächspartnern auf Augenhöhe bin.

Ich beschloss, mich nicht beeindrucken zu lassen. »Nein, Sie sind Sherlock Holmes!«, insistierte ich. »Erstens habe ich gesehen, dass Ihr Bruder Mycroft Ihnen ein Päckchen geschickt hat, und zweitens kenne ich Sie aus der Zeitung. Ihr Profil ist so unverwechselbar, dass ich es unter tausenden erkennen würde. Ich habe für derartige Dinge einen guten Blick. Schließlich habe ich in eine Bildhauerfamilie eingeheiratet.«

Mein Gegenüber zuckte nicht mit der Wimper. »Sherlock Holmes ist tot!«

Ich sah den bärtigen Mann fassungslos an.

»Er ist am 4. Mai, also vor über einer Woche, tödlich verunglückt«, informierte er mich in einem so sachlichen Tonfall, als referierte er den Wetterbericht. »Dr. Moriarty, sein Erzrivale, hat ihm in der Schweiz am Reichenbachfall aufgelauert. Es ist zu einem Kampf gekommen1, bei dem beide Kontrahenten den Wasserfall hinabgestürzt sind. Die Times hat am folgenden Tag ausführlich darüber berichtet.« Er holte ein schmutziges, zerknittertes Zeitungsblatt aus der Innentasche seines Jacketts und hielt mir das Corpus Delicti vor die Nase.

Die Schlagzeile lautete: Sherlock Holmes ist tot.

An jedem anderen Tag hätte mich diese Nachricht erschüttert, aber an diesem Frühlingsmorgen hatte ich mir bereits meine Meinung gebildet. Daher glaubte ich der Times kein Wort, zumal ich beim Überfliegen des Artikels auf die Worte ein kompliziertes Kesselsystem machte das Bergen der sterblichen Überreste unmöglich gestoßen war.

Zwar fand ich es hochgradig seltsam, dass Holmes nicht nur – wie ich damals glaubte – seinen eigenen Tod inszeniert hatte, sondern sogar Berichte über sein tragisches Ableben herumreichte, aber nicht von ungefähr waren die Spleens der Engländer eine beliebte Zielscheibe für die Spottlust der Florentiner.

»Wie so oft werden Theorien durch die Tatsachen widerlegt«, sagte ich also. »Offensichtlich irrt die Times. Wieso aber, um Gottes willen, haben Sie dieses Missverständnis nicht aufgeklärt? Und wenn nur, um Dr. Watson einen unnötigen Kummer zu ersparen.«

»Diskutieren Sie nicht herum!«, mischte sich die Ehebrecherin ein. »Wir warten auch so schon lang genug.«

Ich bedeutete ihr mit einer Geste, meinen Platz in der Schlange einzunehmen, und folgte Holmes, der sich unauffällig aus dem Staub zu machen versuchte. Aber so leicht ließ ich mich nicht abschütteln. »Ich habe Ihre eigenen Methoden angewandt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie Sherlock Holmes sind. Die Tatsache, dass Sie so unfreundlich auf diese Feststellung reagieren, beweist nur, dass ich recht habe«, rief ich ihm nach, denn ich hatte Mühe Schritt zu halten. »Wenn Sie lieber inkognito bleiben wollen, verspreche ich Ihnen, Sie nicht zu verraten, aber ich brauche Ihre Hilfe!«

Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

»Wenn Sie mithilfe der außerordentlichen Fähigkeiten, für die Sie berühmt sind, den Mörder meines Schwiegervaters aufspüren, so wird sich meine Frau bestimmt erkenntlich zeigen.«

»Die Honorarsätze von Sherlock Holmes sind festgelegt«, erwiderte er, »aber dies braucht Sie nicht zu bekümmern, denn ich bin nicht Holmes.«

Langsam gingen mir die Argumente aus. »Ich habe gehört, dass Sherlock Holmes sich derer annimmt, denen die Polizei nicht helfen kann.«

Holmes drehte sich um. Er musterte mich mit skeptischen Blicken, aber seine Gegenwehr weichte auf. »Na gut, schildern Sie mir den Fall, und ich sage Ihnen, was ich davon halte, aber danach gehe ich meines Weges, der den Ihren hoffentlich nicht so bald wieder kreuzen wird.«

Ich schlug den Besuch der benachbarten Bar vor, stieß aber mit diesem Angebot auf wenig Gegenliebe.

»Ich würde lieber einen Tee trinken. Daher plädiere ich für das Café Rasmofsky.«

Ich bewunderte die Beiläufigkeit, mit der Holmes dieser Zungenbrecher über die Lippen kam.

»Es ist nicht weit von hier entfernt, und es besitzt den Vorzug, mit einem Teesalon ausgestattet zu sein«, fügte er hinzu.

Wir überquerten also die Piazza Vittorio Emanuele II2, deren überdimensionierte Neubebauung in krassem Gegensatz zur Klarheit der historischen Architektur von Florenz stand. Diese Piazza verdankt ihre Entstehung dem gesteigerten Repräsentationsbedürfnis der Jahre, als Florenz Hauptstadt des geeinten Italiens war. Mit Wehmut erinnerte ich mich an den belebten Mercato Vecchio, der dieser steinernen Wüste weichen musste, die, nach Verlegung der Hauptstadt nach Rom, völlig nutzlos geworden war.

Wahrscheinlich zog Holmes aber gerade das an, was mich abstieß. Er fühlte sich am wohlsten mitten im Getümmel. Wenn Florenz irgendwo großstädtisch war, so war es hier.

Wir betraten also das vor allem bei Ausländern beliebte Café Rasmofsky. Holmes steuerte zielstrebig einen Ecktisch abseits der allgemeinen Betriebsamkeit an und bestellte zwei Gläser Tee. Dann wandte er sich von mir ab und öffnete das Päckchen, leider in einer Weise, dass ich dessen Inhalt nicht sehen konnte. Ich beugte mich vor.

Holmes räusperte sich und sah mich amüsiert an.

Mir wurde mein ungehöriges Verhalten bewusst. Ich schaute zur Seite und sah mein eigenes Spiegelbild. Im Spiegel beobachtete ich, wie Holmes eine alte Tonpfeife hervorholte und das Päckchen wieder schloss.

Der Kellner kam zurück und servierte den dampfenden Tee mit vollendeter Höflichkeit.

»Ich ...«, begann ich, aber Holmes unterbrach mich.

»Sagen Sie nichts!«

Ich fand mich von forschenden Augen fixiert.

Dann holte Holmes eine silberne Tabakdose aus seiner Westentasche und begann mit langsamen, fast zeremoniellen Bewegungen seine Pfeife zu stopfen. »Sie sind ein linkshändiger Buchhändler aus Birmingham. Vor drei Jahren sind Sie nach Florenz gekommen. Es sollte eigentlich nur eine Studienreise sein, aber Sie haben eine Italienerin geheiratet und leben seitdem hier. In Ihrer anscheinend großzügig bemessenen Freizeit halten Sie sich in einer Bildhauerwerkstatt auf, wenn Sie nicht gerade Kriminalromane lesen – und offensichtlich langweilen Sie sich.« Holmes zündete seine Pfeife an. »Und was ich fast vergessen hätte: Bevor es Sie nach Florenz verschlagen hat, waren Sie in Südafrika.«

»Wie haben Sie dies nur herausbekommen?«, entfuhr es mir.

»Elementar«, sagte Holmes und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Das Jackett, das Sie tragen, wurde von der Firma Buttercup Ltd in Birmingham hergestellt. Diese schmalen Revers kamen damals auf, sind aber mittlerweile außer Mode. Die Tatsache, dass Sie das Kleidungsstück weiterhin tragen, ist ein Anzeichen dafür, dass Sie seit drei Jahren den Kontakt mit ihrer Heimat verloren haben. Damals war es Ihnen so wichtig, gut gekleidet zu sein, dass Sie bereit waren, dafür viel Geld auszugeben. Nur eine Heirat kann bewirkt haben, dass Ihr Interesse an Ihrer Aufmachung so plötzlich nachgelassen hat, zumal es Ihnen nicht an Geld zu mangeln scheint.«

Ich sah an mir herab. Es war reiner Zufall, dass ich diese altmodische Kleidung trug, die seit Jahren im Schrank vor sich hinverstaubte, aber meine Frau hatte mich gebeten, an meinem freien Tag den Inhalt einiger Kisten auf dem Dachboden meines Schwiegervaters zu sichten.

»Dass Sie in eine Bildhauerwerkstatt eingeheiratet haben, erwähnten Sie selbst, aber ich hätte es auch so bemerkt, da sich auf Ihren Schuhen Reste von weißem Marmorstaub befinden. Die Farbe des grauen Staubes auf Ihrer Jacke hingegen lässt auf den Umgang mit alten Büchern schließen. Die Beobachtung, dass der Ärmel Ihrer Jacke links und nicht rechts speckige Stellen aufweist, belegt Ihre Linkshändigkeit«, hörte ich Holmes sagen und wagte es nicht, einen Kommentar über seine falsche Beurteilung meiner Kleidung abzugeben. »Die Vorliebe für Kriminalromane haben Sie mir selbst gestanden, und, wenn Sie nicht unter Langweile litten, würden Sie nicht Fremden auf der Hauptpost nachspionieren und versuchen, sie in die nächste Bar zu schleifen.«

»Und Südafrika?«, fragte ich automatisch, obwohl mir der Hinweis auf meine vier Jahre zurückliegende Zeit als glückloser Goldsucher in Transvaal eher peinlich war. Nach einer langen, beschwerlichen Reise nach Witwatersrand, einer gottverlassenen Kleinstadt im unwirtlichen, südafrikanischen Wüstengebiet, musste ich damals feststellen, dass alle Goldminen bereits von Ausländern aufgekauft worden waren. Diese Bergwerksbesitzer ließen Schwarze – aber auch arme Weiße wie mich – das Gold für einen Hungerlohn abbauen. Nur mit Schrecken dachte ich an die schwere Arbeit in der Grube zurück, mit der ich mir die Mittel für die Rückfahrt verdient hatte.

»Sie tragen am Mittelfinger der linken Hand einen gravierten Ring, wie er nur in der Umgebung von Pretoria hergestellt wird. Die Ornamente der Verzierung sind äußerst charakteristisch«, informierte mich Holmes.

Ich bemerkte, dass auch Holmes einen Ring trug. »Und den bemerkenswerten Diamantring an Ihrer Hand haben Sie für die Dienste erhalten, die Sie dem holländischen Herrscherhaus erwiesen haben«, konnte ich mich nicht beherrschen zu sagen.

Holmes würdigte diese Bemerkungen keines Kommentars. Falls er erstaunt gewesen sein sollte, so ließ er es sich nicht anmerken.

»Es bleibt eigentlich nur noch eine offene Frage«, sagte er sachlich, »nicht, dass es mich etwas anginge, aber wieso arbeiten Sie um diese Uhrzeit nicht in Ihrer Buchhandlung?«

»Sie hat Montag Ruhetag.« Ich nahm meinen gesamten Mut zusammen. »Kann ich jetzt den Fall schildern?«

»Bitte erzählen Sie!«, forderte mich Holmes kurz angebunden auf.

»Mein Name ist David Tristram, und ich wohne tatsächlich seit drei Jahren in Florenz. Auf einer Bildungsreise habe ich mich hier in die Tochter eines Bildhauers verliebt und sie kurze Zeit später geheiratet. Seitdem bin ich in der Libreria Niccolò Machiavelli beschäftigt. Das ist eine Fachbuchhandlung für juristische Bücher. Vorgestern Morgen suchte mich meine Frau tränenüberströmt an meinem Arbeitsplatz auf. Ihr Vater war in seiner Werkstatt erschossen aufgefunden worden. Man sagte ihr, er habe Selbstmord begangen, aber meine Frau glaubt es nicht.«

Holmes sagte nichts, und mir wurde bewusst, wie dürftig die Informationen waren, die ich ihm bisher gegeben hatte.

»Mein Schwiegervater heißt ... leider muss ich wohl sagen hieß Lorenzo Boldoni«, ergänzte ich, »und er war der Besitzer einer Werkstatt, die auf das Kopieren von Skulpturen der Florentiner Frührenaissance spezialisiert ist. Seine Firma ist recht erfolgreich, denn sie ernährt vier Bildhauer: außer dem Meister noch seinen Sohn Andrea und zwei Gesellen. Vorgestern gegen acht Uhr wollte Pietro, einer der Gesellen, wie es seine Gewohnheit war, die Werkstatt aufschließen, fand aber die Tür bereits geöffnet vor. Er trat ein und sah, dass mein Schwiegervater am Tisch zusammengebrochen war. Auf dem Boden hatte sich eine große Blutlache gebildet. Lorenzo Boldoni war tot, erschossen. In seiner rechten Hand hielt er noch die Pistole. Der Arzt hat die Todeszeit auf sieben Uhr morgens geschätzt.«

»War zu dieser Zeit noch jemand im Haus?«, fragte Holmes.

»Nur die Haushälterin. Sie hat aber weder den Schuss noch sonst etwas Verdächtiges gehört. Giovanna ist bereits fortgeschrittenen Alters. Sie sagte, dass sie in letzter Zeit nicht mehr gut hören würde.«

Dem unbewegten Gesicht meines Gegenübers war nicht anzusehen, was er dachte. »Gab es einen Abschiedsbrief?«

»Nein, aber dies ist nicht weiter verwunderlich. Lorenzo Boldoni konnte kaum schreiben. Er hat als Arbeiter im Steinbruch von Carrara begonnen. Später hat ein reicher Engländer es ihm ermöglicht, sich als Bildhauer ausbilden zu lassen und eine eigene Werkstatt zu eröffnen. Seine Tochter, meine Frau, war für die Korrespondenz zuständig und erledigte die Buchhaltung.«

»Auch nach Ihrer Hochzeit?«, fragte Holmes erstaunt.

Ich nickte und verkniff mir einen Kommentar über die miese Bezahlung eines Buchhändlers.

»Und wer erbt die Werkstatt? Ich nehme an der Sohn?«

Wieder wurde mir bewusst, wie unersetzlich der Verlust des Meisters für die Werkstatt war. »Ja«, antwortete ich, aber er ist ein weit schlechterer Bildhauer als sein Vater. Die Firma wird nie wieder dieselbe sein.« Ich zögerte einen Augenblick, gewahrte aber dann, dass Holmes es sowieso erfahren würde, und fügte hinzu: »Mein Schwiegervater hat natürlich auch meine Frau in seinem Testament bedacht. Nun hat sie große Angst vor der Polizei, denn jeder, der meinen Schwiegervater kannte, hält es für völlig ausgeschlossen, dass er Selbstmord begangen haben soll. Er war ein erfolgreicher Handwerker, der seine Arbeit liebte.«

Holmes betrachtete mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck die Schwarz-Weiß-Fotos von Florenz, mit denen die Wände des Cafés dekoriert waren.

»Werden tatsächlich unter diesem wolkenlosen Himmel Verbrechen begangen?«, sagte er schließlich und zog ein Notizbuch aus der Tasche. Mit winzig kleinen Buchstaben notierte er einige Zeilen. Ich atmete innerlich auf, denn ich nahm dies als Zeichen, dass er sich des Falles annahm.

Dann sah Holmes zu mir hoch.

»Ich helfe Ihnen, aber nur unter zwei Bedingungen«, sagte er, ohne von seinem Notizbuch aufzuschauen. »Erstens müssen Sie mir versprechen, niemanden über meine Identität aufzuklären. Reden Sie mich stets mit Henry Baker Radcliffe an.«

»Selbstverständlich«, beteuerte ich. »Sie können sich auf mich verlassen.«

Holmes lehnte sich zurück. »Außerdem verpflichten Sie sich zu zehn Jahren absolutem Stillschweigen über den Fall.«

Ich versprach auch dies, wenn auch nur äußerst ungern.

Holmes warf einen Blick auf seine Notizen. »Sie haben mir nichts über Ihre Schwiegermutter erzählt. Ich vermute, dass sie bereits verstorben ist?«

»Ja, schon vor sehr vielen Jahren. Giovanna, die Haushälterin, hat ihre Rolle übernommen. Der Haushalt bestand also nur aus Maestro Boldoni, seinem Sohn Andrea Boldoni, Giovanna und dem Hausmädchen Vittoria. Die Gesellen und der Lehrling wohnen nicht im Haus.«

»Und wo waren der Sohn und das Hausmädchen, als Ihr Schwiegervater starb?«

»Vittoria war in der Markthalle«, antwortete ich, »und mein Schwager hatte die Nacht außer Haus verbracht, aber er verrät nicht, wo er war.«

Sherlock Holmes überlegte einen Augenblick. »Gab es Probleme mit anderen Werkstätten, Rivalitäten mit der Konkurrenz?«

Diese Frage hatte ich mir noch nie gestellt. »Nicht, dass ich es wüsste«, sagte ich. »aber vielleicht sollten Sie meinen Schwager fragen, denn …«

»Noch eine letzte Frage«, unterbrach mich Holmes. »Hat Ihr Schwiegervater seine Skulpturen direkt an die Kunden verkauft, oder hat sie ein Kunsthändler vertrieben?«

Ich überlegte einen Augenblick, denn von diesen Dingen verstand ich nicht viel. »Teils, teils. Er verkaufte recht viel an reiche Touristen, die bei ihm vorbeischauten, aber es gibt auch einen Händler, der seine Ware nach England und Amerika verschifft. Es hat sich seit dem Risorgimento in Italien vieles zum Besseren verändert. Der Wegfall der Zollschranken und der Ausbau von Postverbindungen erleichtern den Versandhandel. Dies war eine wichtige Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg meines Schwiegervaters.«

Einige Minuten lang herrschte Schweigen.

»Wollen Sie den Tatort aufsuchen?«, fragte ich dann, und meine Stimme klang zaghafter, als mir lieb war. Noch immer hatte ich Angst, dass Holmes das Interesse an dem Fall wieder verlieren könnte.

»Ja, das ist unerlässlich.«

Ich wollte mich erheben, aber Holmes machte keine Anstalten aufzustehen.

»Was wollen Sie nun tun?«, fragte ich.

»Rauchen!« Er legte seine Taschenuhr vor sich auf den Tisch und schloss die Augen. »Lassen Sie mich dreißig Minuten in Ruhe nachdenken.«

1 Anmerkung des Herausgebers: Conan Doyle behandelte diese dramatische Episode in der Geschichte Sein letzter Fall. Holmes war es nach dem Zweikampf an den Reichenbachfällen zwar gelungen zu entkommen, doch da Colonel Moran, der Gefolgs mann des Professors Moriarty, auf ihn gelauert hatte, war Hol mes geflüchtet. Was als kurzer Auslandsaufenthalt geplant war, endete so in einem mehr als zweijährigen Exil des Ermittlers, das ihn bis nach Tibet führen sollte.

2 Anm.: Mister Tristram meint die heutige Piazza della Repubblica, deren Umgestaltung im Jahr 1891 noch nicht abgeschlossen war.

2. Die Werkstatt der Familie Boldoni

Eine Stunde später überquerten wir die Piazza Santa Croce, an der sich Werkstatt und Wohnung der Familie befanden. Die neu vollendete, weiße Marmorfassade der großen Franziskanerkirche, nach der der Platz benannt war, strahlte in der Sonne, und ich fragte Holmes: »Haben Sie eigentlich schon Santa Croce besichtigt?«

»Ja«, antwortete er, ohne den Bau eines Blickes zu würdigen. »Ich habe dem Grab Galileis meine Reverenz erwiesen. In letzter Zeit interessieren mich die Gesetze der Natur mehr als die Fälle, derentwegen sich meine Klienten an mich wenden. Es ist der Preis des Ruhmes, dass sich meine Praxis in eine Agentur für das Wiederfinden von entlaufenen Hunden und verloren Hüten entwickelt hat.« Holmes sah mich von der Seite an. »Wussten Sie, dass sich am 8. Januar des nächsten Jahres der Todestag Galileis zum 350. Mal jährt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»In gewisser Weise ist er mein Vorläufer, denn er ist einer der Wegbereiter der empirischen Naturwissenschaften. Es kann als Beweis seiner Modernität angesehen werden, dass seine Werke noch immer auf dem päpstlichen Index stehen. Um die Discorsi e dimostrazioni matematiche im Original lesen zu können, habe ich sogar Italienisch gelernt.«

»Er hat nicht lateinisch geschrieben?«, fragte ich verblüfft.

Holmes lächelte über meine Ignoranz. »Nein! Galilei schrieb ein vorbildlich schönes Italienisch, das stilbildend auf die wissenschaftliche Prosa gewirkt hat. Ihn sollte sich mein Freund und Kollege Dr. Watson, der meine Abenteuer der Öffentlichkeit zur Kenntnis brachte, zum Vorbild nehmen. Vielleicht würde er sich dann die Unsitte abgewöhnen, Farbe in seine Berichte zu bringen, statt sich auf die Logik der Beweisführung zu konzentrieren.«

Bei dieser Unterhaltung, die eigentlich keine war, erschien mir die Piazza weiträumiger als jemals zuvor, aber endlich hatten wir das Haus meines Schwiegervaters erreicht.

»Ich werde meiner Frau Ihren Besuch ankündigen. Sie ist um diese Zeit meist oben im Büro«, sagte ich und führte Sherlock Holmes in die Werkstatt. Hier bearbeiteten zwei Gesellen ihre Marmorblöcke, als wäre nichts geschehen. »Wo ist Andrea?«, fragte ich.

»Bei der Polizei«, antwortete Pietro mit sorgenvollem Gesicht.

Ich sah Holmes an.

Er zuckte mit den Schultern. »Denken Sie daran: Mein Name ist Henry Baker Radcliffe!«, ermahnte er mich auf Englisch.

Die Gesellen hielten in der Arbeit inne und schauten zu uns hoch.

»Lasst euch nicht irritieren«, sagte ich auf Italienisch zu ihnen und eilte die Treppen hinauf in das Obergeschoss, wo sich das Büro befand, und schilderte meiner Frau in wenigen Worten, was vorgefallen war.

»Sherlock Holmes in Florenz auf der Post?«, fragte sie mit ungläubigem Staunen. »Davide, du solltest nicht so viele Kriminalromane lesen. Das kann ja auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben.«

»Nein«, protestierte ich, »ich habe nicht fantasiert, sondern er ist es wirklich, aber du musst ihn mit Henry Baker Radcliffe ansprechen, denn er möchte, dass man glaubt, er sei tot – warum, habe ich auch nicht verstanden.«

Meine Frau fand dies äußerst befremdlich, aber sie folgte mir in die Werkstatt, wo Holmes die Skulpturen studierte, die auf den Verkaufsregalen aufgebaut waren. Ich kann mir vorstellen, dass für Holmes diese Ansammlung von identischen Büsten junger Mädchen und würdiger Florentiner Patrizier ein seltsamer Anblick gewesen sein musste.

Als er unsere Schritte hörte, drehte er sich um.

»Meine Frau Violetta«, stellte ich vor.

Sie lächelte ihn an, aber Holmes verzog keine Miene, sondern nickte meiner Frau nur kurz zu.

»Das ist Mister Henry Baker Radcliffe, der sich bereit erklärt hat, Nachforschungen über den Tod deines Vaters zu unternehmen«, sagte ich und war froh, meine Frau die Sprache Shakespeares gelehrt zu haben, denn so konnten die Gesellen unser Gespräch nicht belauschen.

Meine Frau ließ sich nicht von der Wortkargheit ihres Gegenübers beeindrucken. »Es ist mir eine Ehre, Mister Baker Radcliffe, besuchen Sie Florenz wegen der Kunst?«

Holmes schien über diese Frage verblüfft zu sein. »Meine Kunst ist die Aufklärung von Verbrechen. In der Zeitung lese ich daher nur die Kriminalnachrichten«, sagte er. »Ich bin nach Florenz gekommen, weil es die Hauptstadt der im Ausland lebenden Engländer ist. Chiantishire sagt man in London scherzhaft. Die englische Kolonie in der Toskana erleichtert es mir, unterzutauchen, zumal es hier eine ausgezeichnete Infrastruktur gibt.«

Offensichtlich vermutete Holmes zu recht, dass ich meine Frau eingeweiht hatte. Ich tat so, als habe ich dies nicht bemerkt.

»Ja, man kann alles kaufen, was das britische Herz begehrt«, stimmte ich ihm mit argloser Miene zu. »Von schottischem Whisky bis zur Times, die zu lesen ich versäumt habe.«

Holmes sah mich leicht vorwurfsvoll an. »Ich dachte eigentlich eher an Bibliotheken und wissenschaftliche Einrichtungen, mit denen die Stadt hervorragend ausgestattet ist. Ich hatte vor, mich in Florenz ungestört der Grundlagenforschung zu widmen.«

Während dieses Wortwechsels war Holmes die Regale mit den Marmorkopien entlanggeschritten. Sein Auge war an einer Serie von Madonnen haften geblieben, die wiederum mit einem zuckersüßen Lächeln ihre herzigen Kindlein betrachteten.

»Wegen dieser makellos schönen Figuren aus reinem, weißen Marmor ist vielleicht ein Verbrechen begangen worden«, sagte er nachdenklich. Dann drehte er sich zu uns um. »Wo werden die Originale aufbewahrt, nach denen diese Kopien gearbeitet sind?«

»Die meisten stehen in der Skulpturensammlung im Palazzo del Bargello«, sagte meine Frau und zeigte auf eine Madonna. »Das ist eine Schöpfung von Donatello, und das Porträt daneben ist eine Kopie nach Mino da Fiesole. Beide Originale stehen im Bargello.« Sie überlegte einen Augenblick. »Mortimer Hopper, der englische Kunsthändler, der unsere Skulpturen nach Übersee exportiert, bringt auch von Zeit zu Zeit Gipsabgüsse mit, die wir kopieren sollen. Außerdem hat mein Vater für ihn eigene Schöpfungen im Stil der Frührenaissance angefertigt. Mortimer Hopper hat meinen Vater wiederholt gedrängt, die reine Kopistentätigkeit seinen Gesellen zu überlassen.« Meine Frau vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Es ist so schrecklich. Ich kann es gar nicht begreifen, dass er tot ist.« Sie sprang auf und eilte aus dem Raum.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

Holmes holte ein Vergrößerungsglas aus seiner Westentasche und begutachtete den Tisch, an dem mein Schwiegervater tot aufgefunden worden war. »Hier finden sich nicht die geringsten Blutspuren«, bemerkte er irritiert.

Das hatte ich auch schon bedauernd bemerkt. »Vittoria hat etwas vorschnell hier geputzt. Sie ist sehr gewissenhaft, wenn es um die Sauberkeit geht, aber sie versteht nichts von der Spurensicherung.«

Holmes war noch immer mit der Untersuchung des Raums und der darin gelagerten Skulpturen beschäftigt, als meine Frau kurze Zeit später zurückkam.

»Sie haben Andrea verhört«, sagte sie, noch völlig atemlos. »Er ist eben zurückgekommen und sagt, man habe ihn wie einen Verdächtigen behandelt.«

»Das war zu erwarten«, erwiderte Holmes in einem sachlichen Tonfall. »Falls die Polizei zu dem Ergebnis kommen sollte, dass es sich um Mord handelt, dann ist er der Hauptverdächtige, denn anscheinend profitiert sonst niemand vom Tod seines Vaters.«

»Falls Sie mit Andrea Boldoni sprechen möchten, kann ich gern übersetzen«, schlug ich vor, in der Hoffnung, mich unverzichtbar machen zu können.

Holmes sah mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. »Das ist nicht nötig. Ich spreche die Sprache hinreichend, um als italienischer Priester auftreten zu können, wenn auch nur auf englischen Bahnhöfen.«

Mein Schwager Andrea betrat die Werkstatt.

»Verraten Sie Ihrem Bruder nicht, wer ich bin!«, schärfte Holmes meiner Frau auf Englisch ein.

»Nein. Das werde ich bestimmt nicht tun, aber Andrea wird wahrscheinlich noch nie von Ihnen gehört haben, denn er liest nur einheimische Zeitungen.«

»Glücklicherweise bin ich in Italien unbekannt«, stimmte Holmes ihr zu, »sonst hätte ich es nicht wagen können, mir das Päckchen per Einschreiben zusenden zu lassen, aber der Inhalt war viel zu wertvoll, um ihn der normalen Post anzuvertrauen.«

»Manche Engländer glauben, dass jenseits des Kanals die Barbarei lauert«, erwiderte ich, »aber auch in Florenz gibt es Fachgeschäfte für Tabakwaren.«

Holmes lachte lautlos. »Ich weiß, denn dort habe ich mich bereits mit Pfeifentabak eingedeckt, aber würden Sie eine Stradivari einfach so bei der Post aufgeben?«

Andrea blickte uns fragend an. Mir wurde bewusst, dass es nicht sehr höflich war, uns in einer Sprache zu unterhalten, von der er kein Wort verstand.

»Ich würde es vorziehen, oben in der Wohnung zu sprechen«, sagte mein Schwager. Verständlicherweise wirkte er sehr mitgenommen. Er hatte einen roten Kopf und atmete schwer. Damals war Andrea erst Anfang dreißig, besaß aber einen für sein Alter erstaunlichen Leibesumfang, der von der Kochkunst der Haushälterin zeugte.

Bezeichnenderweise zog es Andrea zuerst in die Küche, wo Giovanna mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt war. Sie war eine kleine, mollige Frau, die viel sprach und ihre Worte dabei stets mit expressiven Gesten begleitete. Normalerweise war sie immer guter Dinge, aber an diesem Mittag wirkte sie bedrückt.

Es roch so köstlich, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief. Ich schaute verstohlen auf meine Taschenuhr. Es war bereits zwölf Uhr fünfzehn. Mit einem lautlosen Seufzer steckte ich die Uhr wieder ein.

Andrea holte eine große Chiantiflasche, goss sich ein Glas Wein ein und leerte es in einem Zug. Dann erst schien ihm bewusst zu werden, dass er einen Gast hatte.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Signor Baker Radcliffe?«

»Nein danke«, antwortete Holmes, sicherlich nicht zuletzt, weil er an der Qualität des angebotenen Tranks zweifelte – zurecht, wie ich aus eigener Erfahrung wusste.

Andrea führte uns in das angrenzende Esszimmer und schloss die Tür hinter sich. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck ließ er sich auf einen Stuhl fallen, der ein lautes Knarren von sich gab.

»Meine Schwester sagt, sie seien in England eine Art Polizeiermittler«, sagte er und betrachtete Holmes, der wie eine Statue neben ihm stand, nicht viel lebhafter als die Produkte der Werkstatt im unteren Stockwerk.

Andrea nahm sein Schweigen als Zustimmung. »Aber nehmen Sie doch Platz, Signor Baker Radcliffe. Es macht mich ganz nervös, wenn Sie so herumstehen.«

Als Holmes dieser Aufforderung Folge geleistet hatte, begann Andrea zu reden: »Wir sind alle ziemlich ratlos. Unser Vater hat bestimmt keinen Selbstmord begangen, aber irgendjemand wollte, dass es so aussah. Das habe ich auch schon dem Commissario gesagt, aber fast hatte ich den Eindruck, dass er mich verdächtigt, ihn umgebracht zu haben. Das ist völlig absurd, aber ich bin ein einfacher Mann, und es ist leicht, mir die Worte im Mund herumzudrehen.«

»Also müssen wir versuchen, etwas Licht in diese dunkle Affäre zu bringen«, unterbrach Holmes meinen Schwager. Offensichtlich überforderte ihn der emotionale Ausbruch Andreas. »Meist kann ich mir schon bei oberflächlicher Betrachtung der Tatsachen ein Bild von der Angelegenheit machen, aber in diesem Fall, so einfach er erscheint, hilft auch das Heranziehen von Vergleichsfällen nicht weiter. Wenn Sie also so freundlich wären, Signor Boldoni, mir so genau wie möglich zu schildern, was sich zugetragen hat.«

Leider brachte der Bericht Andreas keinerlei neue Erkenntnisse zutage. Ich wartete voller Spannung, ob Holmes meinen Schwager fragte, wo er die Nacht verbracht hatte, in der sein Vater starb, aber zu meiner Enttäuschung übersprang Holmes dieses Detail.

»Hatte Ihr Vater Feinde?«, fragte er stattdessen.

Andrea dachte nach.

»Noch vor Kurzem hätte ich dies verneint, aber in letzter Zeit verhielt er sich seltsam. Er war nervös. Wenn Kunden die Werkstatt betraten, fuhr er vor Schreck zusammen. Letzte Woche erzählte mir Vittoria, dass sie beim Bettenmachen einen Revolver unter seinem Kopfkissen gefunden hatte. Als ich meinen Vater zur Rede stellte, ist er grob geworden und hat gesagt, dass mich dies nichts angehe. Jetzt mache ich mir natürlich Vorwürfe, dass ich die Sache auf sich beruhen ließ, denn es handelte sich um die Waffe, mit der er umgebracht worden ist.«

Holmes nickte. »Wann trat diese Veränderung ein?«

Andrea dachte wieder kurz nach. »Etwa vor einem Monat.«

»Haben Sie irgendeinen Verdacht?«

Andrea schüttelte den Kopf.

»Ist Ihnen sonst irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hat er zum Beispiel Besucher mitgebracht, die Sie nicht kannten, oder war er zu ungewöhnlichen Zeiten unterwegs?«

Wieder wusste Andrea nichts zu sagen.

Holmes sah sich um. »Ich gehe richtig in der Annahme, dass Sie diese Werkstatt nun weiterführen werden?«

Andrea nickte.

»Glauben Sie, dass Sie dadurch Kunden verlieren könnten?«

Andrea lief rot an. Einen Augenblick wirkte der stattliche Mann, als ob er Holmes anschreien wolle, aber er beherrschte sich. »Ich kann genauso gut kopieren wie mein Vater«, sagte er mit gekränktem Gesichtsausdruck. »Seine Spezialität waren Neuschöpfungen im alten Stil, aber unser Hauptumsatz wird mit den Kopien gemacht.«

»Warum habe ich bisher keine dieser eigenständigen Arbeiten, von denen ich jetzt schon zweimal gehört habe, gesehen?«, wollte Holmes wissen.

»Bei uns kommen nur Touristen vorbei.« Andrea sprach das Wort aus, als sei es eine Beleidigung. »Sie wollen nicht viel ausgeben. Daher werden die Unikate ausschließlich von Mister Hopper verkauft. Er besitzt die nötigen Kontakte zu reichen Sammlern.«

Holmes erhob sich von seinem Stuhl. »Jegliche Fortsetzung der Unterhaltung wäre Zeitverschwendung«, sagte er ohne Umschweife. »Es ist unerlässlich, dass ich so bald wie möglich mit diesem Händler spreche.«

»Ich begleite Sie«, bot ich an.

Meine Frau sah mich fragend an. »Kennst du Mortimer Hopper eigentlich, Davide?«

»Nur vom Sehen, aber ich habe natürlich von seiner Villa bei Fiesole gehört. Sie soll ziemlich protzig sein.«

Meine Frau lachte.

»Geschmackssache. Mister Hopper hat ein heruntergekommenes Anwesen gekauft und den alten Bauernhof durch ein Herrenhaus ersetzen lassen. Seitdem heißt die Anlage Villa Hopper, aber der Kunsthändler unterhält auch ein Verkaufsbüro im Stadtzentrum.«

Holmes legte seine Fingerspitzen aneinander und schloss die Augen. »Ich würde es vorziehen, ihn in seiner Villa zu besuchen. Nirgends kann man sich besser ein Bild von einem Menschen machen als in dessen Heim.«

Ich dachte, dass dies vielleicht für Engländer zutreffen mochte, aber nicht für die extrovertierten Italiener, die ihr Leben auf der Piazza verbrachten.

»Haben Sie zufällig eine Pistole, Mister Tristram?«

Die Frage schreckte mich aus meiner Grübelei auf. »Nein, selbstverständlich nicht«, rief ich entsetzt aus, erinnerte mich dann aber daran, dass Doktor Watson zu gefährlichen Unternehmungen immer seinen alten Armeerevolver mitnahm.

»Was die Bezahlung betrifft«, sagte meine Frau und stockte, »so werden Sie uns bestimmt nicht undankbar finden.«

Holmes machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es gibt etwas, das ich viel nötiger brauche als Geld, und das sind Papiere. Aus Gründen, die ich leider nicht darlegen kann, möchte ich nicht unter meinem richtigen Namen reisen. Daher brauche ich einen neuen Pass. Leider besitze ich hier keinerlei Kontakte, die mir dabei behilflich sein könnten.«

»Wie haben Sie sich in Ihrem Hotel ausgewiesen?«, entfuhr es mir.

»Bei meiner Ankunft in Florenz hat mich vor dem Bahnhof ein Junge angesprochen, der Reklame für eine preiswerte Pension machte. Zuerst habe ich spontan mit Abwehr reagiert, aber dann kam es mir in den Sinn, dass es sich sicher um ein illegales Unternehmen handelte, das keine Steuern abführt und wo man es wahrscheinlich mit den Formalitäten nicht allzu genau nehmen würde. Ich bin dem Jungen also gefolgt und so bei einer Witwe untergekommen, die ihre Rente damit aufbessert, dass sie ein Zimmer ihrer Wohnung an Fremde vermietet. Wie ich gehofft hatte, fragte mich Signora Rossi nicht nach meinen Papieren, aber ich kann mich schließlich nicht ewig in dieser Pension verstecken.«

Andrea war anzumerken, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Er machte mehrere Anläufe, bevor er sprach: »Bitte denken Sie nichts Schlechtes von mir, aber ich habe einen Nachbarn, dessen Vetter, ein Kupferstecher, Ihnen vielleicht weiterhelfen kann. Er ist natürlich kein Verbrecher, sondern er hilft nur unglücklichen Ausländern, die ihre Dokumente verloren haben.«