Sherlock Holmes und der Mönch von Mainz - Franziska Franke - E-Book

Sherlock Holmes und der Mönch von Mainz E-Book

Franziska Franke

3,0

Beschreibung

Der berühmteste Detektiv der Welt ermittelt im Fastnachtstrubel Schauriges Maskenspiel in Mainz Der Engländer David Tristram, der in Mainz ist, um dort Licht in einen Kunstbetrug zu bringen, trifft auf seinen alten Freund Sherlock Holmes. Unverhofft geraten die beiden Engländer in den Trubel der Mainzer Fastnacht. Als der betrogene Kunstsammler, Sektfabrikant Klingelschmidt, erstochen wird, muss Tristram fürchten, der Tat verdächtigt zu werden, zumal in der Mordnacht ein Mönch gesehen wurde und er ein derartiges Fastnachts-Kostüm besitzt. Holmes willigt ein, im Auftrag von Frau Klingelschmidt den wahren Mörder ihres Gatten zu suchen. Obwohl er wenig Sinn für das närrische Treiben hat, ermittelt er sogar auf einem Maskenball und unter den Stammtischbrüdern des Ermordeten. Doch es geschieht noch ein weiterer Mord, bis er den Schuldigen endlich entlarvt.

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris

Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten

Sherlock Holmes und das Ungeheuer von Ulmen

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Sherlock Holmes und das Geheimnis der Pyramide

Sherlock Holmes und die schwarze Kobra

Sherlock Holmes und die Spur des Yeti

Franziska Franke wurde in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. In ihrer Sherlock Holmes-Reihe löst der Meisterdetektiv zahlreiche Kriminalfälle im Anschluss an sein rätselhaftes Verschwinden in den Reichenbach-Fällen. Dabei begleitet ihn der englische Buchhändler David Tristram.

Franziska Franke

Sherlock Holmesund der Mönch von Mainz

Originalausgabe© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von © Nomad_Soul - Fotolia.deund Eugène Charles François Guérand »Bal de l’Opéra«Lektorat: Volker Maria Neumann, KölnDruck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, UlmPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-95441-453-6E-Book-ISBN 978-3-95441-463-5

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

1. Ankunft in Mainz

2. Direktor Klingelschmidt

3. Der Kunsthändler

4. Kommissar Werner

5. Der Kondolenzbesuch

6. Der Gärtner

7. Im Rosenkranz

8. Prälat Schuster

9. Die Drogerie

10. Der Maskenball

11. Das Grundstück

12. Der Lehrer

13. Die Besucherin

14. Die Sektkellerei

15. Der Arzt

16. Das Kloster

17. Der Spaziergang

18. Das Begräbnis

19. Der Leichenschmaus

20. Der Tunnel

21. Die Annonce

22. Das Foto der Elfe

23. Die Rekrutenvereidigung

24. Das Gemälde

25. Der Rosenmontagszug

26. Die Tombola

27. Das Experiment

Vorwort des Herausgebers

Wieder habe ich das Vergnügen, eines der Manuskripte zu veröffentlichen, die auf dem Dachboden der Casa Tristram-Boldoni in Florenz aufgetaucht sind und in denen David Tristram, einer der Vorbesitzer des Hauses, von seiner Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes berichtet. Leider hat dieser Quartband jedoch durch jahrelange, unsachgemäße Lagerung so stark gelitten, dass die Stockflecken manche Worte unlesbar machen. Die Übersetzerin brauchte daher Wochen, um sich durch das Manuskript zu kämpfen. Bedauerlicherweise ist diesen Schäden auch die im ersten Kapitel genannte Jahreszahl zum Opfer gefallen, weshalb der exakte Zeitpunkt der Handlung im Dunkeln bleibt.

Die Tatsache, dass Holmes in dem Text als vermeintlicher Norweger Sven Sigerson auftritt, könnte darauf hinweisen, dass die Ereignisse in der Zeitspanne zwischen 1891 und 1894 stattfanden, in der alle Welt glaubte, dass Sherlock Holmes tot sei. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Holmes sich auch später dieses Decknamens bediente, als der in Florenz lebende, englische Buchhändler David Tristram ihm assistierte. Wir wissen jedoch nicht mit letzter Sicherheit, ob Holmes nach seiner Rückkehr nach England wirklich erneut Mister Tristram begegnet ist. Genauso wenig können wir einschätzen, ob alles in seinem Bericht auf Tatsachen beruht oder ob der phantasiebegabte, ehemalige Buchhändler manche Einzelheit dichterisch ausgeschmückt hat. Das herauszufinden bleibt zukünftiger Forschungsarbeit vorbehalten.

Florenz, den 30.4.2018, Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Ankunft in Mainz

Als mein Schwager mich bat, einen Kunden in Deutschland aufzusuchen, um ihn davon zu überzeugen, dass mein Schwiegervater, der berühmte Bildhauer Lorenzo Boldoni, kein Fälscher sei, hielt sich meine Begeisterung zunächst in Grenzen. Nur weil ich der Einzige in der Familie war, der wenigstens einige Brocken Deutsch sprach, hieß das noch lange nicht, dass ich bereit war, die Suppe auszulöffeln, die sich die Boldonis eingebrockt hatten. Das wäre eigentlich die Aufgabe des zwielichtigen Kunsthändlers Mortimer Hopper gewesen. Schließlich hatte so manche Skulptur Maestro Boldonis eine wundersame Wandlung zur Renaissance-Plastik vollzogen, während sie durch die Hände des geschäftstüchtigen, florentinischen Kunsthändlers gegangen war. Außerdem hatte ich überhaupt keine Lust, im Winter in den Norden zu reisen.

Am folgenden Tag erfuhr ich jedoch, dass Sherlock Holmes sich gerade in den Niederlanden aufhielt1, was meine Einstellung zum notorisch kalten Winter in Deutschland schlagartig änderte. Voller Vorfreude, ihn endlich einmal wiederzusehen, sandte ich Holmes ein Kabel, in dem ich ihm mitteilte, dass ich nach Mainz fahren müsse und dort im Palasthotel Eden abzusteigen gedenke. Dann reservierte ich einen Platz in einem Erste-Klasse-Abteil und packte geschwind meine wärmsten Kleidungsstücke in den stabilen Reisekoffer mit den zahlreichen Hotelaufklebern, der schon viel von der Welt gesehen hatte.

Wenige Tage später fuhr ich in den neu errichteten Mainzer Bahnhof ein. Neugierig schaute ich aus dem Zugfenster. Der Kohlequalm der Lokomotive mischte sich mit den kleinen, kristallinen Schneeflocken, die der Wind in die damals längste Bahnhofshalle Europas trieb. Selbst im Abteil nahm man den Kohlegeruch noch wahr. Mit einem lauten Quietschen kam der Zug zum Stehen. Auf dem Bahnsteig herrschte ein großes Durcheinander. Fahrgäste, ihre Dienstboten und Berge von Gepäck verstellten den Weg. Doch im Gegensatz zu mir hatten die anderen Reisenden vor, die Stadt zu verlassen. Ich riss die Tür des Abteils auf, und kalte Luft strömte herein. Nachdem ich mein Gepäck auf den Bahnsteig gehoben hatte, winkte ich den erstbesten Kofferträger herbei und trug ihm auf, mein Gepäck zum Hotel zu transportieren, das sich in Bahnhofsnähe befand.

Die Türen des Zuges wurden mit lautem Krachen geschlossen, ein schriller Pfiff erklang, und die Lokomotive setzte sich ratternd in Bewegung. Auch ich verließ die Bahnhofshalle. Die wenigen Menschen, die auf dem Bahnhofsvorplatz unterwegs waren, hatten die Mantelkrägen hochgestellt und ihre Hände in die Taschen versenkt. Der Gepäckträger – ein zäher, aschblonder Mann – marschierte voran, und ich folgte ihm nur langsam und mit zögerlichen Schritten, denn meine Schuhe knirschten auf der Eiskruste, die den weichen Schnee auf dem Gehweg bedeckte.

Wir überquerten den Bahnhofsvorplatz, gingen eine enge Seitengasse entlang und gelangten zu einem schmucken, viergeschossigen Bau im Barockstil mit Vorsprüngen an den Seiten, zwischen denen sich eine kahle Sonnenterrasse befand. Die beiden unteren Stockwerke waren aus rotem Sandstein gemauert, die oberen gelb verputzt und mit Dreiecksgiebeln über den Fenstern versehen. Vor dem Hotel-Eingang stand ein livrierter Page im Schneegestöber, der mich steif begrüßte und meinen Koffer übernahm. Nachdem ich den Gepäckträger entlohnt hatte, stieg auch ich die gefegten Stufen zum Eingang hoch und gelangte zur Rezeption, die durch schwarze Marmorsäulen mit vergoldeten Kapitellen vom Vorraum abgetrennt war.

»Ich habe ein Zimmer auf den Namen David Tristram reserviert«, sagte ich auf Englisch zu dem kahlköpfigen Empfangschef, der mich neugierig betrachtete.

»Herzlich willkommen«, begrüßte er mich dann in einem überraschten Tonfall, als ob er sich eine ganz andere Vorstellung von mir gemacht hätte. Aber wenigstens war er meiner Muttersprache mächtig. »Ihr Zimmer befindet sich im ersten Stock. Von dort haben Sie eine schöne Aussicht.«

Auf den Bahnhof?, fragte ich mich insgeheim belustigt und schob meinen Reisepass über die Theke.

»Sind Sie wegen der Fastnacht hier?«, fragte der Portier gelangweilt, während er mich ins Gästebuch eintrug.

»Nein«, entgegnete ich knapp, da den Hotelangestellten mein Auftrag nichts anging.

»Dann hätten Sie besser in der warmen Jahreszeit kommen sollen, wie die meisten anderen englischen Gäste, die von hier aus Schifffahrten machen«, empfahl er mir ungebeten.

»Gewiss gibt es bessere Zeiten, um an den Rhein zu fahren, als mitten im Winter. Aber ich bin geschäftlich hier«, erläuterte ich reserviert und kramte meinen Pass hervor.

Ich erwartete fast, dass der neugierige Rezeptionist sich auch noch erkundigte, in welcher Branche ich tätig sei, doch er schaffte es gerade noch, sich zu beherrschen, und überreichte mir wortlos meinen Zimmerschlüssel.

»Was ich fast vergessen hätte: Der Gentleman von Zimmer 12 erwartet Sie«, rief der Hotelangestellte mir nach, als ich schon fast den Aufzug erreicht hatte.

Ob der Gentleman Holmes war? Oder wollte sich Herr Klingelschmidt hier mit mir treffen? Aber dann hätte er sich wohl kein Zimmer gemietet, sondern mich im Restaurant erwartet.

Ein Page geleitete mich zum Fahrstuhl, zog die Aufzugstür auf, ließ mich in das winzige Gehäuse einsteigen und drückte den Knopf für die erste Etage.

»Danke, ich komme jetzt allein zurecht«, sagte ich, nachdem wir oben angelangt waren und der junge Hoteldiener die Aufzugstür für mich geöffnet hatte, und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld.

Ohne vorher meinen eigenen Raum in Augenschein zu nehmen, in den man bereits meinen Koffer getragen hatte, lenkte ich meine Schritte zu der Tür mit der Nummer 12. Auf mein Klopfen wurde sofort mit einem dynamischen »Herein« geantwortet, und ich stieß die Tür auf.

Rauchschwaden schlugen mir entgegen, die so dicht waren, dass ich einen Hustenreiz bekämpfte. Doch ich blieb nicht nur wegen der schlechten Luft abrupt stehen, sondern auch wegen des Anblicks, der sich mir bot. Neben dem Fenster saß auf einem bequemen Ledersessel ein älterer, ehrwürdiger Bettelmönch und las in einem zerfledderten Brevier. In seiner Rechten hielt er eine Meerschaumpfeife, an der er ab und zu gierig sog. Obwohl der fromme Klosterbruder Holmes nicht besonders ähnlich sah, konnte es wohl kaum jemand anderes sein. Und ich beschloss, mich nicht schon wieder von dem Meisterdetektiv zum Narren halten zu lassen. Außer meiner Familie war er schließlich der Einzige, der wusste, dass ich in Mainz war.

»Was soll die Maskerade, Holmes? Wollen Sie in einem Kloster ermitteln?«, fragte ich und betrat das mittelgroße Zimmer, das nicht ganz hielt, was die vornehme Rezeption versprach.

»Da sind Sie ja endlich! Ich habe schon vor einer halben Stunde mit Ihnen gerechnet«, sagte Holmes mit hörbarem Vorwurf, legte sein Brevier beiseite und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Aber uns bleibt heute Nachmittag noch genug Zeit, um beim Besitzer der Büste aus der Werkstatt Ihres Schwagers vorbeizuschauen. Ich habe mir dieses Kostüm zugelegt, da unser Fall vielleicht den Besuch eines Maskenballs erforderlich macht«, fügte er etwas freundlicher hinzu.

Ich wusste gar nicht, dass wir einen Fall hatten. Auch war mir schon wieder entfallen, dass wir in der Fastnachtssaison waren. Kopfschüttelnd ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. »Die Bahn hatte Verspätung«, sagte ich dann automatisch, bevor mir bewusst wurde, dass ich Holmes die Ankunftszeit meines Zuges gar nicht mitgeteilt hatte. Ob er sie aus der Größe meiner Reisetasche oder der Anzahl der Wörter in meinem Telegramm geschlossen hatte? »Holmes! Warum kennen Sie die planmäßige Ankunftszeit meines Zuges und woher wissen Sie, was ich vorhabe? Das grenzt an Zauberei!«, machte ich keinen Hehl aus meiner Bewunderung für seine brillanten Schlussfolgerungen.

»Es war ein Kinderspiel. Nachdem ich Ihr reichlich verworrenes Kabel erhalten hatte, habe ich meinerseits eine Depesche an Ihre reizende Gattin geschickt und dadurch erfahren, was der genaue Grund Ihrer Reise nach Deutschland sei und welchen Zug sie zu nehmen gedächten.« Holmes schwieg einen Augenblick lang. »Das musste über kurz oder lang so kommen«, sagte er dann mit finsterer Miene.

»Was musste so kommen?«

»Dass Ihre Familie juristisch belangt wird. Inzwischen sind die Werke Ihres Schwiegervaters über den halben Kontinent verbreitet, und nicht überall legt man die Fälschungen betreffenden Gesetze so flexibel aus wie in Italien«, erklärte Holmes und zitierte ein deutsches Sprichwort2. »Die Affäre könnte sich daher als heikler erweisen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Daher haben Sie recht getan, mich sofort in Kenntnis zu setzen, auch wenn ich eine exaktere Schilderung des Sachverhalts vorgezogen hätte.«

Immer wieder erstaunte mich, wie bescheiden Holmes in Zeiten einer beruflichen Flaute war. Es war ihm derart unerträglich, wenn sein Verstand nichts hatte, womit er sich beschäftigen konnte, dass er sich lieber der banalsten Kriminalfälle annahm. Doch leider sollte sich diesmal herausstellen, dass sein Instinkt für drohende Gefahr ihn niemals im Stich ließ.

»Ich habe übrigens vorhin eine hochinteressante Geschichte gehört. 1857 ist in Mainz ein Pulverturm explodiert«, sagte Holmes unvermittelt und listete Todesopfer und Sachschäden auf.

»Und was hat diese Katastrophe mit Herrn Klingelschmidt und der Büste zu tun?«, fragte ich irritiert.

»Nichts, aber ungeklärte Todesfälle ziehen mich magisch an«, entgegnete Holmes und schaute ungeduldig auf die Uhr. »Wir sollten uns jetzt endlich auf den Weg machen. Sie können Ihr Zimmer auch nach unserer Rückkehr begutachten. Außerdem sieht es ohnehin genauso aus wie meines«, drängte er dann zum Aufbruch. »Ich hoffe, Sie haben Herrn Klingelschmidt Ihren Besuch schriftlich angekündigt?«

Ich schüttelte schuldbewusst den Kopf, was mir einen finsteren Blick von Holmes einbrachte.

Doch sein Ärger über mein Versäumnis hielt nicht lange an. »Es ist nun einmal nicht zu ändern, aber wir sollten ihn trotzdem noch heute aufsuchen«, sagte er und schlüpfte aus seiner Kutte. Darunter trug er einen nach neuester Mode geschnittenen Gehrock mit Pelzbesatz und eine elegante, schwarze Hose, die viel zu schade für einen Marsch durch die verschneiten Straßen war.

1Leider gelang es trotz umfangreicher Recherche nicht herauszufinden, welcher Fall Sherlock Holmes dort beschäftigte und wie David Tristram davon Kenntnis bekommen hatte.

2Wahrscheinlich: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.

2. Direktor Klingelschmidt

Wie ein Jagdhund, der eine Spur wittert, ging Holmes mit dem Stadtplan in der Hand über den gefrorenen Boden voran, und ich folgte. Wir sprachen kein unnötiges Wort, denn die kalte Luft brannte in der Lunge. Unser Weg führte uns auf einen Hügel, auf dem sich ein stattliches, neues Haus an das andere reihte. Schließlich gelangten wir zu einem trotz seiner Größe nicht protzig aussehenden Gebäude inmitten eines Gartens, was in diesem Viertel die Ausnahme war. Mit einem Gefühl der Beklemmung zog ich am Klingelzug neben der mit Säulen verzierten Haustür. Nur Sekunden später öffnete uns ein neugierig aussehendes, sommersprossiges Dienstmädchen mit strohblondem Haar.

»Entschuldigen Sie, dass wir einfach so unangemeldet vor der Tür stehen, aber wir sind gerade erst in der Stadt angekommen. Doch vielleicht hätte Herr Klingelschmidt trotzdem Zeit, uns zu empfangen. Es geht um die italienische Büste«, sagte Holmes in gebrochenem Deutsch und überreichte seine Visitenkarte.

Ich tat es ihm gleich, wobei ich meine geschäftliche Karte mit der Adresse der Firma Boldoni wählte.

Eine barsche, männliche Stimme drang aus dem Haus, und ich machte mich schon auf eine abschlägige Antwort gefasst. Obwohl ich feste Schuhe mit dicken Ledersohlen trug, war mir die Kälte in die Glieder gekrochen, und ich trat auf der Stelle, damit meine Zehen nicht taub wurden.

»Der gnädige Herr empfängt Sie im Salon«, verkündete das Mädchen jedoch mit einem schüchternen Lächeln und nahm unsere Mäntel und Hüte in Empfang.

Schnell klopften wir uns den Schnee von den Schuhen und traten ein. Die Luft in der Diele war kühl und roch intensiv nach Schmorbraten, Kartoffeln und Seife. Wir folgten dem Dienstmädchen in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit einem wuchtigen, mit purpurrotem Brokat bezogenen Sofa und vier passenden Sesseln aus schwarzem Holz möbliert war. Vor dem Fenster stand ein kleines, ebenfalls schwarzes Klavier – ein Hinweis darauf, dass es auch weibliche Familienmitglieder gab. Ein ovaler Spiegel mit dunklem Rahmen ließ den Raum größer erscheinen. Er wurde von zwei gleich großen Historiengemälden flankiert, die beide Gewalttaten zum Thema hatten. Eines zeigte den Leichnam eines alten Mannes, der ausgestreckt auf einem Himmelbett lag. Davor stand sein Mörder mit dem blutigen Dolch in der Hand und wandte sich mit Grausen ab. Ich interpretierte die Darstellung als Macbeth vor der Leiche König Duncans. Auf dem anderen Gemälde sah man eine mittelalterliche Königin, die mit zorniger Miene eine jüngere Frau bei der Schulter gepackt hatte, an die sich wiederum zwei kleine Kinder Schutz suchend klammerten.

Vor einer kränklichen Palme stehend, erwartete uns ein schmaler, verhärmt wirkender Mann, der jedes Alter von Anfang dreißig bis Mitte fünfzig haben konnte. Er sah wie ein pedantischer Finanzbeamter aus und war mir auf den ersten Blick unsympathisch. Als wir eintraten, machte er eine einladende Handbewegung in Richtung der Sessel. Ich bemerkte an seiner rechten Hand einen großen, goldenen Siegelring. Offenbar bereitete es dem Hausherrn Freude, seinen Reichtum zur Schau zu stellen.

»Guten Abend, Herr Klingelschmidt …«, begann ich.

»Direktor Klingelschmidt«, wurde ich sogleich korrigiert.

»Guten Abend, Direktor Klingelschmidt«, machte ich einen zweiten Anlauf und fragte den Hausherrn, ob er Englisch spreche, was zum Glück der Fall war. Auch später musste ich zum Glück nicht meine brachliegenden Deutschkenntnisse aktivieren, da viele Mainzer Englisch oder wenigstens Französisch sprachen.

»Das ist Mister Sigerson, und mein Name ist David Tristram«, stellte ich uns vor. »Ich bin der Schwager von Andrea Boldoni.«

»Lorenzo Boldoni hätte sich getrost persönlich der Sache annehmen können«, beschwerte sich der Hausherr belustigt.

In diesem Augenblick bedauerte ich, keinen Titel zu besitzen wie Doktor, Oberst oder Studienrat. Bestimmt hielt mich der Hausherr für einen unfähigen, eingeheirateten Verwandten, den man zu unangenehmen und ohnehin aussichtslosen Verhandlungen schickte. »Lorenzo Boldoni ist leider vor einigen Jahren verstorben. Ich bin mit der Korrespondenz der Firma seines Nachfolgers, seines Sohnes Andrea, betraut«, erwiderte ich mit mühsam aufrechterhaltener Freundlichkeit.

»Sind Sie Italiener?«, fragte der Hausherr und sah mich an wie eine Laus, die er am liebsten zerquetscht hätte.

»Nein, ich bin Engländer, aber ich lebe mit meiner Frau in Florenz«, entgegnete ich. »Könnte ich vielleicht die umstrittene Skulptur sehen?«

Wortlos geleitete uns der Hausherr in den Nachbarraum, in dem zwei Wände mit Bücherregalen bedeckt waren, in denen nach den einheitlichen Buchrücken zu schließen Klassiker-Gesamtausgaben standen.

»Das ist sie«, verkündete Direktor Klingelschmidt und deutete anklagend auf die weiße Marmorbüste einer schönen Frau, die auf einer Säule aus dunklem Marmor aufgestellt war.

Beim Anblick des Corpus Delicti zuckte ich unwillkürlich zusammen, denn die Büste gehörte ausgerechnet zu jenen vermaledeiten Exemplaren, die unübersehbar der berühmten Schauspielerin Eleonore Primavera ähnelten3. Ich hätte nicht erwartet, eine von ihnen im fernen Deutschland wiederzufinden. Bei näherer Betrachtung sah sie obendrein nach einem Werk meines Schwagers Andrea Boldoni aus, der zwar ein tüchtiger Bildhauer war, doch nicht an die Genialität seines Vaters Lorenzo herankam. Aber das behielt ich lieber für mich.

»Ich darf sie doch in die Hand nehmen?«, fragte Holmes, und bevor Direktor Klingelschmidt etwas erwidern konnte, hatte er es bereits getan. »Sehen Sie«, sagte er und deutete auf ein paar Kratzer auf der Unterseite. »Die Skulptur trägt das Firmenzeichen der Werkstatt Boldoni. Es ist nur noch schwer erkennbar, denn jemand hat sich große Mühe gegeben, es zu entfernen.«

Der Hausherr war einen Moment lang sprachlos. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die undeutliche Signatur, wobei sein Gesicht der Büste so nah kam, dass seine Nase den Stein fast berührte.

»Wer hat Ihnen denn das gute Stück als Renaissance-Skulptur verkauft?«, fragte Holmes mit professioneller Neugier.

»Der Antiquitätenhändler Nikolaus Leistikow in Wiesbaden. Und er hat mir einen happigen Preis dafür berechnet«, entgegnete Direktor Klingelschmidt, der schlagartig aus seiner Erstarrung erwacht war. Seine Stimme war leise, aber schneidend. »Als ich meine Neuerwerbung stolz einem mir bekannten Kunstexperten präsentiert habe, musste ich erfahren, dass er fast identische Stücke in Italien gesehen hat, wo ein gewisser Lorenzo Boldoni im großen Stil Skulpturen der Frührenaissance gefälscht hatte.«

Tapfer beteuerte ich, dass mein Schwiegervater ein bedeutender Künstler gewesen sei, und gratulierte Direktor Klingelschmidt zu seinem Kauf.

»Wenn man sich keine echte Renaissance-Büste leisten kann, muss man dankbar sein, wenn man eine Nachahmung des allzu früh verstorbenen Maestro Boldoni ergattern kann. Er ist in ganz Italien bekannt«, betonte ich in der Hoffnung, dass mein Gegenüber nicht nachfragte, wofür mein Schwiegervater eher berüchtigt als berühmt war. »Maestro Boldonis Büsten sind schöner als manch echte Werke der Renaissance. Ich habe gehört, dass es inzwischen sogar Fälscher gibt, die Lorenzo Boldoni imitieren«, fügte ich kühn hinzu.

»Könnten Sie mir vielleicht den Namen dieses befreundeten Kunstexperten nennen?«, fragte Holmes höflich.

»Es war Prälat Schuster, der die meisten Sammler in der Stadt berät.«

»Vielleicht hätten Sie ihn vor dem Kauf nach seiner Meinung fragen sollen«, rutschte es mir heraus. Um diese voreilige Bemerkung abzumildern, erkundigte ich mich schnell danach, was mein Gegenüber unter einem hohen Preis verstand.

Die Zahl, die er mir daraufhin nannte, war lächerlich niedrig.

»Wir alle suchen in Antiquitäten-Läden nach Schnäppchen, nach Dingen, die unter Wert verkauft werden«, sagte ich diplomatisch. »Woher die Ware kommt, interessiert niemanden. Aber wehe, ein besonders preiswertes Stück entpuppt sich später als Fälschung. Und wenn es tatsächlich echt sein sollte, so ist es wahrscheinlich gestohlen. Und für Sie als Gentleman käme es doch bestimmt nicht infrage, Diebesgut zu erwerben.«

»Ich bin Unternehmer, praktizierender Katholik und Mitglied des Vorstandes des MFV«, brauste Direktor Klingelschmidt auf. »Und im Gegensatz zu anderen Geschäftsmännern habe ich mein Vermögen mit eigener Arbeit hart verdient.«

»Und zwar mit einer Sektkellerei«, ergänzte Holmes. »Zuvor haben Sie in Gau-Algesheim Ihr Glück mit dem Verkauf von Spirituosen zu machen versucht, was Ihnen jedoch nicht einträglich genug war. Daher sind Sie vor zehn Jahren nach Mainz übergesiedelt und haben die Kellerei Ihres Bruders übernommen.«

»Er war mein Schwager«, korrigierte der Hausherr.

»Das erklärt, dass der Herr auf dem Porträt im Vorzimmer Ihnen gar nicht ähnlich sieht«, überlegte Holmes mechanisch.

Leider tat Wilhelm Klingelschmidt Holmes nicht den Gefallen, sich zu erkundigen, woraus er seinen beruflichen Werdegang geschlossen hatte, weshalb auch ich es erst später erfuhr.

»Sie werden noch von mir hören«, verkündete der Hausherr unvermittelt. »Zuerst verklage ich den betrügerischen Kunsthändler auf Schadensersatz. Dann strenge ich einen Prozess gegen diese dreisten Fälscher in Ihrer Familie an!« Die letzten Worte schrie er mir geradezu ins Gesicht.

»Damit werden Sie nicht weit kommen«, sagte Holmes ungerührt.

Wortlos klingelte der Hausherr nach dem sommersprossigen Dienstmädchen, das augenblicklich eintrat. Wahrscheinlich hatte sie an der Tür gelauscht und kein Wort verstanden, weil wir Englisch gesprochen hatten.

»Die Herrschaften möchten gehen«, wies er sie an und strich dann seinen makellosen Gehrock noch glatter.

»Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte ich mit einer ironischen Verbeugung und folgte Holmes zur Tür.

»Bei Menschen, die den ganzen Tag splitterfasernackte Weiber meißeln, sollte man wohl keine übertriebenen ethischen Maßstäbe anlegen! Aber damit ist bald Schluss! Ich werde diesem Lorenzo Boldoni das Handwerk legen!«, schimpfte uns Direktor Klingelschmidt so laut nach, dass man es bestimmt noch im Nachbarhaus hören konnte.

Ich schwor mir, mich nie wieder von meinem Schwager einspannen zu lassen, auch wenn er mich mit Schmeicheleien bei meiner Eitelkeit zu packen versuchte. Was hatte er noch gesagt? Bei deiner Beredsamkeit wird es dich nicht mehr als eine halbe Stunde kosten, ihn umzustimmen. Nun hatte ich Schwierigkeiten am Hals, die mich fatal an unseren ersten Fall erinnerten.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen. Die Signatur auf der Unterseite der Büste beweist hinlänglich, dass sie nicht in fälscherischer Absicht hergestellt wurde. Trotzdem sollten wir sicherheitshalber morgen mit diesem Herrn Leistikow sprechen«, versuchte Holmes mich zu beruhigen, erreichte aber damit eher das Gegenteil.

Nachdem wir im Hotel ein aus Rouladen, Kartoffeln und Gemüse bestehendes warmes Abendessen zu uns genommen hatten, zog ich mich hundemüde in mein Hotelzimmer zurück. Das Zimmer war jedoch so kalt, dass ich mir eine Decke aus dem Nachbarraum stibitzte. Den restlichen Abend verbrachte ich damit, Vokabeln zu lernen. Vorsichtshalber hatte ich mir nämlich in Florenz ein Lehrbuch der deutschen Sprache und ein Wörterbuch gekauft. Nach dem unglücklichen Verlauf des Nachmittags befürchtete ich, dass ich gut beraten sei, meine Deutschkenntnisse zu verbessern.

3David Tristram spielt auf seine erste Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes an, über die er in Die Büste der Primavera berichtete.

3. Der Kunsthändler

Am nächsten Morgen um sechs Uhr schlug ich widerwillig die Decke zurück. Die eisige Kälte ließ mich erschaudern. Als ich mich ächzend aus dem Bett quälte, war es draußen noch stockdunkel. Nach den Strapazen der Reise hätte ich lieber ausgeschlafen, aber Holmes hatte darauf gedrängt, schon bei Ladenöffnung in Wiesbaden zu sein.

Obwohl es noch immer heftig schneite, eilten wir nach einem kärglichen kontinentalen Frühstück quer über den Vorplatz zum Bahnhof und wärmten uns dort mehr schlecht als recht im Wartesaal erster Klasse, bis endlich der Zug nach Wiesbaden einfuhr. Fröstelnd wickelte ich meinen Wollschal fester um den Hals, bevor wir uns auf den Bahnsteig begaben und sofort in den ersten Waggon einstiegen.

Als die Lokomotive sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, lehnte ich mich nachdenklich auf meinem Sitz zurück. »Wissen Sie, dass meine Frau mich vor der Spielbank in Wiesbaden gewarnt hat? Hier soll schon so mancher Russe sein Vermögen verspielt haben.«4

»Aber nicht im Februar. Der Kurbetrieb beginnt erst im Frühjahr. Daher ist das Casino zurzeit geschlossen«, informierte mich Holmes, und ich schaute den Rest der Fahrt wortlos aus dem Zugfenster auf den breiten Strom, den wir überquerten, winterlich dürre Wiesen, vereinzelte Häuser und schließlich vornehme Straßen mit Villen.

In Wiesbaden leisteten wir uns eine Droschkenfahrt, da der Bahnhof am Rande der eigentlichen Innenstadt lag. Während wir über einen breiten Boulevard an eleganten Ladengeschäften vorbeifuhren, stellte ich mir vor, wie in der schönen Jahreszeit gut gekleidete Damen auf dem Bürgersteig flanierten und die Auslagen betrachteten. Schließlich passierten wir das Kurhaus und bogen dann in die Taunusstraße ein, in der es offenbar mehr Antiquitätenläden gab als in ganz Florenz.

Das Geschäft des Herrn Leistikow unterschied sich nur durch seine geringe Abmessung von den benachbarten Läden. Staunend blieb ich vor dem Schaufenster stehen und betrachtete eine krude Kombination qualitativ minderwertiger Gemälde verschiedener Epochen, die überwiegend leicht bekleidete Damen zeigten, Bronzestatuetten der gleichen Thematik, allerlei wertlosen Krimskrams, aber auch einige ausnehmend schöne Schmuckstücke. Eine Skulptur der Werkstatt Boldoni war jedoch zu meiner Erleichterung nicht ausgestellt.

»Sie wissen doch noch, was Sie sagen sollen?«, vergewisserte sich Holmes und erläuterte mir nochmals, wie er vorzugehen gedachte.

»Selbstverständlich«, gab ich leicht eingeschnappt zurück, denn so kompliziert war sein Plan nun auch wieder nicht.

Ich hatte mir den Kunsthändler wie ein Abbild seines zwielichtigen Kollegen Mortimer Hopper vorgestellt, der in Florenz wohlhabenden Reisenden Fälschungen andrehte. Doch im Laden trat uns ein sportlich wirkender, geschmackvoll gekleideter Mann um die vierzig entgegen, der zumindest auf den ersten Blick einen kultivierten Eindruck machte.

Wie viele Russen sprach er ausgezeichnet Französisch, eine Sprache, die wir beide beherrschten, weshalb Holmes mir nicht bei komplizierten Wörtern helfen musste.

»Führen Sie nur Antiquitäten oder vermitteln Sie auch den Verkauf moderner Kunstwerke?«, fragte ich, nachdem wir einander förmlich begrüßt hatten.

»Selbstverständlich biete ich auch zeitgenössische Werke an. Aber das lässt sich am besten bei einer Tasse Tee besprechen. Ich habe gerade einen aufgebrüht«, sagte er mit einem verbindlichen Lächeln.

»Das wäre sehr nett«, erwiderte ich, Holmes’ skeptischen Blick ignorierend, denn im Winter ging doch nichts über eine schöne Tasse heißen Tee.

Herr Leistikow ging zu einem altertümlichen, bronzenen Samowar, den ich bisher für ein besonders unansehnliches Verkaufsobjekt gehalten hatte, und füllte zwei winzige, kobaltblau und golden dekorierte Porzellantassen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit, die eher nach Kaffee aussah. »Bitte sehr«, sagte er, stellte die Tässchen auf der Verkaufstheke ab und holte eine nicht zu den Tassen passende, aber ebenso farbenfrohe Zuckerdose.

Der Tee war so bitter, dass ich fast das Gesicht verzogen hätte. Nachdem ich zwei Löffel Zucker in mein Getränk hineingeschaufelt hatte, versuchte ich nochmals einen Schluck, fand den Tee aber immer noch zu herb und süßte ihn dann mit einer weiteren Portion Zucker nach.

Da ich den Geschmack des Getränkes dezent übergehen wollte, lobte ich höflichkeitshalber die Ware, worauf der Händler weitschweifig berichtete, wie es zur Eröffnung des Ladens gekommen sei. Wie ich erfuhr, war Herr Leistikow mehrere Jahre lang als Diplomat des Zaren in verschiedenen, teils exotischen Ländern tätig gewesen, unter anderem in Japan. Anfangs hatte seine Ware aus Kunstwerken bestanden, die er in diesen Ländern erworben hatte. Später hatte er dann auch Gegenstände in Kommission genommen, und mit der Zeit hatte es sich herumgesprochen, dass er bei Ankäufen keine Fragen stellte. Das las ich jedenfalls zwischen den Zeilen.

»Manchmal vermisse ich schon die alten Zeiten«, sagte er und berichtete von seinen Reisen in die entlegensten Teile der Welt – ein Thema, zu dem auch Holmes einiges beizutragen hatte.

»Ich bin auf der Suche nach einem Bildhauer, der eine schöne Madonna für unsere Hauskapelle anfertigen kann. Sie soll ein Geburtstagsgeschenk für meine Gattin sein. Sie ist Italienerin, und es würde ihr bestimmt gefallen, wenn die Skulptur einer Renaissance-Statue ähnelte. Mir schwebt etwas im Stil von Donatello vor«, kam ich irgendwann zur Sache.

Holmes, der mit der Teetasse in der Hand neben mir stand, hatte mich schon mehrfach mit ungeduldigen Blicken malträtiert.

»Leider kenne ich keinen Bildhauer, der auf religiöse Kunst spezialisiert ist«, antwortete der Kunsthändler, ohne nachzudenken. Dabei sprach er religiös wie ein Schimpfwort aus. »Aber vor Kurzem hatte ich eine Büste im Angebot, die Ihrer werten Gemahlin bestimmt zugesagt hätte. Allerdings handelte es sich dabei um ein wirklich altes Stück.«

»Ich weiß. Wir haben diese Büste nämlich im Haus von Wilhelm Klingelschmidt gesehen, und er hat berichtet, dass er sie bei Ihnen erworben hat. Wenn ich mich recht entsinne, hat er sie als Arbeit einer gewissen Werkstatt Boldoni bezeichnet«, mischte Holmes sich ein und stellte seine Tasse ab.

Ich hatte mich schon gewundert, wie lange er sich mit der Rolle des Zuhörers begnügt hatte.

»Da müssen Sie wohl etwas falsch verstanden haben. Es handelte sich um ein historisches Stück, das ich von einem renommierten Florentiner Kunsthändler erworben habe«, sagte der Kunsthändler unerwartet scharf.

Ich hatte gerade zum Trinken angesetzt und hätte mich bei dieser Bemerkung fast an meinem Tee verschluckt. »Doch nicht etwa bei Mortimer Hopper?«, vergewisserte ich mich, nachdem ich den grausigen Sud heruntergeschluckt hatte.

Herr Leistikow bejahte freudestrahlend, bevor sich seine Miene langsam verdüsterte. »Sie kannten also den armen Direktor Klingelschmidt? Standen Sie ihm nahe?«, fragte er und goss sich ebenfalls einen Tee ein, wenn auch in eine große Tasse.

»Nicht besonders gut«, entgegnete ich, was eine grobe Untertreibung war. »Aber wieso nennen Sie ihn arm?«

»Sie haben offenbar noch nicht gehört, dass er tot ist?«

»Er ist tot?«, fragten Holmes und ich zugleich.

»Die Polizei hat mich deshalb heute Morgen bereits vor Ladenöffnung bei mir zu Hause aufgesucht. Direktor Klingelschmidt ist gestern Abend in seinem Garten erstochen worden.«

Kaltes Entsetzen packte mich. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Kurze Zeit nachdem wir uns mit Direktor Klingelschmidt herumgestritten hatten, war er ermordet worden! Das Letzte, was ich momentan brauchen konnte, waren Scherereien mit der Polizei im Ausland. Außerdem fragte ich mich, was der Sektfabrikant mitten im Winter nachts im Garten zu schaffen hatte.

»Das ist ja schrecklich! Als wir ihn gestern verlassen haben, war er noch gesund und munter«, sagte Holmes ungerührt. »Darf ich vielleicht fragen, warum die Polizei ausgerechnet Sie konsultiert hat? Waren Sie ein guter Bekannter von Direktor Klingelschmidt?«

»Ich hielt ihn bisher für einen guten Kunden«, entgegnete Herr Leistikow in einem eingeschnappten Tonfall. »Aber wie ich heute Morgen erfahren musste, lag auf seinem Sekretär ein Schreiben, in dem er seinen Anwalt bittet, juristisch gegen mich vorzugehen.«

Wieder wurde mir mulmig zumute, denn ich hatte nicht vermutet, dass Direktor Klingelschmidt seine Drohung unverzüglich umsetzen würde. Womöglich hatte er auch bereits gegen die Familie meiner Frau rechtliche Schritte eingeleitet.

»Gegen mich und einen gewissen Lorenzo Boldoni«, bestätigte der Händler sogleich meinen Verdacht.

»Lorenzo Boldoni war mein Schwiegervater. Er ist schon vor einigen Jahren von uns gegangen, und sein Sohn Andrea hat die Firma übernommen«, sagte ich und charakterisierte dann mit knappen Worten die Produkte der Werkstatt.

Herr Leistikow hörte aufmerksam zu, obwohl ich mir sicher war, dass er nichts Neues erfuhr. Seine zur Schau getragene Unbekümmertheit täuschte mich nicht. Der Händler war zutiefst alarmiert.

»Habe ich es mir doch gedacht, dass ein eleganter, junger Mann wie Sie keine Madonna sucht«, sagte er wie jemand, der viel auf seine Menschenkenntnis hält, und wandte sich dann an Holmes. »Sind Sie Mister Tristrams Anwalt?«, wollte er wissen.

»Ich bin beratender Ermittler«, verkündete Holmes und leerte seine Teetasse, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich unterstütze Mister Tristram in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sich das Missverständnis nicht klären lässt. Leider gab es schon einmal einige Verwirrungen wegen einer Büste aus der Werkstatt Boldoni.«

»Hier liegt bestimmt kein Missverständnis vor. Die Büste, die ich Direktor Klingelschmidt verkauft habe, ist eine von führenden Experten beglaubigte Renaissancearbeit«, insistierte der Kunsthändler und begann, verärgert in seinem Laden auf und ab zu gehen.

Selbst Holmes kapitulierte vor so viel Impertinenz und widersprach nicht. »Ich habe noch eine letzte Frage«, begann er hörbar missgelaunt. »Haben Sie Direktor Klingelschmidt auch noch andere Kunstwerke verkauft?«

Herr Leistikow hielt mitten in der Bewegung inne und blieb vor Holmes stehen.

»Nein, dabei hat er sich für eine Gipsbüste unseres lieben Kaisers Wilhelm interessiert, sie aber dann doch nicht erworben«, berichtete er, und ich schaute mich im Laden um, ob er noch immer Kaiserporträts vorrätig habe, was jedoch nicht der Fall war.

»Dann möchten wir Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte Holmes, bedankte sich für die Bewirtung, und wir verließen unverzüglich das Geschäft.

In der Zwischenzeit war die Temperatur nicht angestiegen, aber wenigstens schneite es nicht mehr ganz so heftig.

»Es würde mich nicht wundern, wenn er mit Mortimer Hopper unter einer Decke steckt. Er machte auf mich einen ziemlich skrupellosen Eindruck. Ihm würde ich zum Beispiel zutrauen, dass er sogar Künstler dazu verleitet, Fälschungen zu produzieren«, sagte ich, als wir uns einige Schritte vom Haus entfernt hatten, und trat frustriert einen herumliegenden Zweig vom Bürgersteig. Dabei hinterließ mein Fuß eine Furche im Neuschnee.

»Ich fürchte, das ist unser geringstes Problem«, brummte Holmes, während wir so schnell es das Wetter zuließ zum nächsten Droschkenstand marschierten. »Wenn wir Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen wollen, müssen wir zuerst mehr über Wilhelm Klingelschmidt und sein Umfeld in Erfahrung bringen.«

»Er war im Vorstand des MVV«, erinnerte ich mich. »Was mag es wohl mit diesen Initialen auf sich haben? Ob es sich um einen Turnverein handelt?«

»Es heißt MFV«, verbesserte mich Holmes. »Diese Abkürzung steht für Mainzer Fastnachtsverein.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich erstaunt.

»Ich habe mich im Vorfeld über Direktor Klingelschmidt informiert. Als ich erfuhr, dass er in der Fastnacht aktiv sei, habe ich mir vorsichtshalber schon einmal ein Kostüm zugelegt.«

Es dauerte einen Moment, bis mir die volle Tragweite dieser Worte bewusst wurde. »Sie haben gewusst, dass Direktor Klingelschmidt Sektfabrikant war, und haben es nicht aus seiner Kleidung geschlossen?«, fragte ich empört.

Holmes zuckte nonchalant mit den Achseln.

»Selbstverständlich! Ich wusste übrigens auch, dass er ein Querulant war, der mit niemandem zurechtkam, und dass er die Firma von einem fast gleichaltrigen Verwandten übernommen hat. Doch das war nicht sein eigener Bruder, wie ich angenommen hatte, sondern der Bruder seiner Frau.«

Ich beschloss, mich nicht über Holmes’ Geheimniskrämerei zu ärgern, aber es gelang mir nicht. »Aus welchen Gründen werden Geschäftsleute umgebracht?«, überlegte ich und machte einen Ausfallschritt, um einen weiteren Zweig wegtreten zu können, der gerade so aus dem Schnee herausragte.

»Aus denselben Gründen wie andere Menschen auch: Geldgier, Eifersucht und Hass. Bei Geschäftsleuten kommen dazu noch Neid und der Wunsch, die Konkurrenz auszuschalten«, entgegnete Holmes finster.

Vor uns sahen wir, wie eine Droschke am Bürgersteig hielt, und ich dachte, dass damit unsere Pechsträhne beendet sei. Aber ich irrte mich, es sollte alles noch viel schlimmer kommen.

4Wie zum Beispiel Dostojewski.

4. Kommissar Werner

Gegen zwölf Uhr betrat ich gut gelaunt wieder unser Hotel, wo wir eigentlich das Mittagsmahl zu uns nehmen wollten. Die Atmosphäre in der Empfangshalle war jedoch so angespannt, dass ich mich beunruhigt umschaute. Der Grund für die Schweigsamkeit der anderen Gäste waren zwei ernst dreinblickende Männer, die an der Rezeption standen – einer in Uniform, der andere in korrekter Zivilkleidung. Letzterer war ein großer, drahtiger Enddreißiger mit militärischer Haltung. Als seine grauen Augen uns musterten, schienen sie jede Einzelheit wahrzunehmen.

Sein uniformierter Begleiter hingegen war ein korpulenter, relativ kleiner Mann um die fünfzig mit dünnem, aschblondem Haar, schlaff herabhängendem Schnurrbart und Hamsterbacken. Die Messingknöpfe seiner Uniformjacke spannten bedenklich über dem runden Bäuchlein. Seine schweren Lider verliehen ihm einen schläfrigen Eindruck, aber man durfte ihn sicher nicht unterschätzen.

Ich war bereits aufs Schlimmste gefasst. Bestimmt wollte man uns zu Wilhelm Klingelschmidts Tod vernehmen.

»Mister David Tristram und Mister Sven Sigerson?«, vergewisserte sich der Große. Offenbar wusste die Polizei bereits, dass wir Engländer waren, denn man hatte einen Ermittler geschickt, der unsere Muttersprache beherrschte, wenn auch mit einem absonderlichen Akzent. »Sie sind die Herrschaften, die gestern am späten Nachmittag Direktor Klingelschmidt besucht haben, wie uns sein Hausmädchen berichtet hat?«, fragte er, nachdem ich unsere Identität bestätigt hatte.

Ich nickte stumm, während Holmes hingegen sich erst einmal höflich danach erkundigte, wer denn das wissen wolle.

Schneidig zückte der Uniformierte seine Dienstmarke. Hinter der Theke aus Kirschbaumholz mit der versilberten Druckglocke reckten sich bereits die Hotelangestellten, um jedes Wort mitzubekommen.

»Ich bin Kommissar Louis Werner.«

Offenbar hielt der Kommissar es nicht für nötig, auch seinen uniformierten Kollegen vorzustellen, wodurch meine intuitive Abneigung gegen ihn wuchs, falls das überhaupt noch möglich war.

»Sehr angenehm. Könnten wir uns vielleicht an einem weniger öffentlichen Ort unterhalten?«, fragte Holmes mit einer angedeuteten Verbeugung und zeigte auf die offene Tür des Restaurants.

Der Kommissar bedeutete uns mit einer ungeduldigen Geste voranzugehen, und ich fragte mich, ob er befürchtete, dass wir flüchten könnten.

Wir gelangten in einen lang gestreckten, mit Rattan-Möbeln ausgestatteten Saal. Mit seinen tropischen Topfpflanzen, chinesischen Buddha-Figuren und ausgestopften Papageien hätte er auch zu einem Luxushotel in den Tropen gehören können. Beim Eintreten betrachtete ich mein Spiegelbild in einem der zahlreichen Wandspiegel und sah, dass meine Nase von der Kälte gerötet war. Dann nahm ich meinen Hut ab und schlüpfte aus dem Mantel.

Kaum hatten wir an einem Tisch am Fenster Platz genommen, kam Kommissar Werner schon zur Sache. »Mister Tristram. Darf ich Sie fragen, was der Zweck Ihres gestrigen Besuches bei Direktor Klingelschmidt war?«, erkundigte er sich gereizt.

»Er hat vor einiger Zeit eine Skulptur erworben, die ursprünglich aus der Werkstatt meines Schwagers stammte. Leider hat man ihm die Büste als Original aus der Renaissance angedreht, was aber nicht die Schuld der Firma Boldoni ist. Dieses Missverständnis wollte ich aufklären.« Langsam konnte ich die Geschichte nicht mehr hören, aber es hatte keinen Sinn, den Streit zu leugnen, da die Polizei bereits Direktor Klingelschmidts Schreiben an seinen Anwalt gefunden hatte.

»Der Wiesbadener Kunsthändler Nikolaus Leistikow erwähnte mir gegenüber, dass er nach Paris übersiedeln wolle. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat es steuerliche Gründe. Er scheint also die Sache nicht sehr ernst zu nehmen, und Sie wollen mir weismachen, dass Sie wegen dieser Lappalie die beschwerliche Reise nach Deutschland auf sich genommen haben?«, fragte mich Kommissar Werner befremdet, und ich hatte auf einmal das Gefühl, auf einem schwankenden Floss zu stehen.

»Die Büste gebrauchte er nur seiner Frau gegenüber als Vorwand, um sich mit mir zu treffen, da er wusste, dass ich in der Gegend war«, kam Holmes mir zuvor, und ich war beschämt, wie leicht ich zu durchschauen war.

»Sie sind ebenfalls im Kunstgewerbe tätig?«, erkundigte sich der Kommissar und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf einer Aktenmappe, die er neben sich auf den Tisch gelegt hatte.

»Ich bin beratender Ermittler, und Mister Tristram hat mich wiederholt bei meiner Arbeit unterstützt.«

Genauer gesagt war ich sein zeitweiliger Assistent, heimlicher Chronist und leider auch sein Sündenbock, falls etwas schiefging.

»Zwei Laienermittler. Das hat mir gerade noch gefehlt!«

Ich ärgerte mich über den herablassenden Tonfall des Polizisten, verkniff mir aber lieber meinen Protest.

»Wie Mister Tristam bereits erwähnt hat, bin ich zufällig hier«, entgegnete Holmes genauso blasiert. »Mein Weg hat mich nach Mainz geführt, weil ich ein wenig Geige spiele und zu meinem Vergnügen das eine oder andere Musikstück komponiert habe. Ich spiele nun mit dem Gedanken, meine Kompositionen bei B. Schott’s Söhne stechen zu lassen.«

Die beiden Polizisten blickten ihn an, als würden sie an seinem Verstand zweifeln. Auch ich fragte mich, ob Holmes das nur behauptete.

»Ach so«, sagte der Kommissar trocken und ging wieder zur Tagesordnung über. »Offenbar hat sich Direktor Klingelschmidt nicht beschwichtigen lassen, denn er hatte vor, Herrn Leistikow und einen gewissen Herrn Lorenzo Boldoni, seines Zeichens Bildhauer, zu verklagen.«

»Maestro Boldoni weilt nicht mehr unter den Lebenden, und sein Sohn Andrea kann auch nichts dafür, wenn skrupellose Händler die Büsten seines Vaters als Originale verkaufen«, sagte ich enerviert, und der Kommissar schüttelte den Kopf.

»Ich kann Ihnen sagen, was Sie vorhatten«, sagte er in einem anklagenden Tonfall. »Sie haben Direktor Klingelschmidt Geld angeboten, damit er die Sache auf sich beruhen lässt. Als er Ihr Angebot abgelehnt hat, ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen, die in Handgreiflichkeiten ausgeartet ist.«

Empört holte ich Luft, um zu protestieren. Doch Holmes räusperte sich und brachte mich damit zum Verstummen. »Das ist völlig absurd«, stellte er richtig. »Direktor Klingelschmidt hat sich bester Gesundheit erfreut, als wir ihn verlassen haben. Das kann Ihnen das Hausmädchen bestätigen, das uns zur Tür begleitet hat.«

Der Kommissar machte eine abfällige Bemerkung auf Deutsch. Ich verstand zwar nicht jedes Wort, bekam aber mit, wie wenig er von Aussagen des Hauspersonals hielt.

»Das Mädchen hat bestätigt, dass ihr Arbeitgeber noch am Leben war, als Sie das Haus verlassen haben. Anderenfalls hätten wir Sie beide schon längst verhaftet. Ein Nachbar hat allerdings kurz nach Ihrem Aufbruch beobachtet, dass ein Mann in einer Mönchskutte das Grundstück betreten hat«, sagte Kommissar Werner und ließ seine Worte einige Sekunden lang wirken, bevor er zum nächsten Schlag ausholte. »Wie mir das Hotelpersonal freundlicherweise mitteilte, besitzen auch Sie ein derartiges Kleidungsstück, Mister Sigerson.«

Einen Augenblick lang meinte ich, mich verhört zu haben. Dann kam ich mir wie in einem Albtraum gefangen vor.