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Auf der Reise zur Weltausstellung in Antwerpen lernt David Tristram, Sherlock Holmes' treuer Weggefährte, den Brüsseler Juwelier Jan Peeters kennen, da die Koffer der beiden Männer im Gepäckwagen vertauscht wurden. Wenige Tage später wird die Leiche des Juweliers aus dem Wasser der Schelde gefischt, und Holmes eilt aus seinem Exil in Paris herbei, um Licht in die mysteriösen Todesumstände des Belgiers zu bringen. Es stellt sich heraus, dass Peeters für einen in Brügge ansässigen Engländer den sagenumwobenen King-Diamanten begutachtet hat, einen lupenreinen grünen Diamanten, der angeblich großes Unglück über seine Besitzer bringt. Der kostbare Edelstein war fast dreihundert Jahre verschollen, bis er nun überraschend wieder auftauchte. Als ein weiterer Gast der Pension, in der auch Peeters logierte, eines unnatürlichen Todes stirbt, reist Holmes nach Brügge und Brüssel, wo er die Bekanntschaft eines etwas wunderlichen belgischen Kommissars macht, der sich ebenfalls sehr für den Tod des Juweliers interessiert.
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Seitenzahl: 308
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Franziska Franke
Sherlock Holmes und der Fluchdes grünen Diamanten
Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Sherlock Holmes und die Büste der Primavera
Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers
Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris
Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten
Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.
Franziska Franke
und der Fluch desgrünen Diamanten
Originalausgabe© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von: © Mykola Velychko · www.fotolia.deRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-942446-66-2E-Book-ISBN 978-3-95441-126-9
Unserer bewährten Übersetzerin ist es gelungen, einen weiteren der Manuskriptbände, die überraschenderweise im Nachlass des Florentiner Arztes Dottor Lorenzo Tristram-Boldoni aufgetaucht waren, in einen ordentlichen Computerausdruck zu verwandeln.
In diesen Quartbänden berichtet der Urgroßvater des Dottore von seiner Zusammenarbeit mit dem Londoner Detektiv Sherlock Holmes. Bedauerlicherweise haben aber die Manuskriptbände durch die unsachgemäße Lagerung auf dem Dachboden der Casa Tristram-Boldoni Schäden davongetragen. Die Tinte ist verblasst und das mit Stockflecken übersäte Papier nicht nur brüchig, sondern teilweise durch eine seltsame Flüssigkeit verunstaltet. Offenbar ist Holmes' Begeisterung für die Chemie irgendwann auf seinen Assistenten, den englischen Buchhändler David Tristram, übergesprungen. Da außerdem die Handschrift des Verfassers von Band zu Band immer nachlässiger wird, hatte ich ernsthaft erwogen, die Publikation künftigen Generationen zu überlassen, die hoffentlich über bessere naturwissenschaftliche Methoden verfügen, zumal ich befürchtete, manche Bände könnten Geschäftsberichte der Steinmetz-Werkstatt enthalten, die einst im Erdgeschoss des Hauses untergebracht war.
Aber meine Frau und ihre Freundinnen, die begeisterte Kriminalroman-Leserinnen sind, haben die noch nicht bearbeiteten Quartbände gesichtet, denjenigen ausgewählt, der im besten Zustand ist, und mich bedrängt, ihn an die Anglistikstudentin weiterzureichen, die bereits die ersten drei Bände aus dem Nachlass bearbeitet hat. Beim Durchblättern des fraglichen Bandes stieß ich mehrmals auf den Namen Sherlock Holmes und willigte daher ein. Aber damit war noch nicht die letzte Hürde auf dem Weg zur Veröffentlichung genommen: Am folgenden Tag rief mich Signorina Casagrande an und verlangte wegen des schlechten Zustands des Manuskripts eine höhere Seitenpauschale als für die Vorläuferbände, die ich ihr schweren Herzens gewährte, da ihre Argumente für die von ihr geforderte Lohnerhöhung leider nicht von der Hand zu weisen waren.
Glücklicherweise war es die Mühe wert, das Manuskript entziffern zu lassen, denn der Text enthüllt ein bisher unbekanntes Kapitel aus Sherlock Holmes' Jahren des Exils nach dem Kampf mit seinem Erzrivalen Professor Moriarty. Wie sich überraschenderweise herausstellte, wirkte der berühmte Detektiv kurz vor seiner Rückkehr nach London in Belgien. Dort traf er mit einem später berühmt gewordenen belgischen Kriminalisten zusammen – ein Detail, das der Forschung bisher verborgen geblieben war.
Florenz, den 7. 2. 2012,Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar
Seit Stunden trödelte mein Zug gemächlich durch das Flachland. Der Wind trieb weiße Wolken über den milchigen Himmel, und bis zum Horizont gab es außer kleinen Gruppen von weidenden Kühen nichts, woran sich das Auge festhalten konnte. Wehmütig dachte ich an die liebliche Toskana, in der ich seit sechs Jahren lebte und die mir mittlerweile zur Heimat geworden war.
Draußen zog ein Dorf vorbei, das von einer alten Kirche mit mächtigem Turm beherrscht wurde. Sicherlich hätte ich es malerisch gefunden, wenn meine Frau mir Gesellschaft geleistet hätte, aber sie war wegen unseres kleinen Sohns in Florenz geblieben. Sherlock Holmes, den ich in Frankreich besucht hatte, tauschte in Paris mit einem berühmten französischen Chemiker wissenschaftliche Erkenntnisse aus, und daher reiste ich allein zur Antwerpener Weltausstellung, wo die Bildhauerwerkstatt meines Schwagers ihre Skulpturen präsentierte. Über diesen trübsinnigen Betrachtungen musste das monotone Schütteln des Zuges mich in den Schlummer gewiegt haben.
Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch den Waggon, und der Zug blieb stehen. Als die Fahrt nach einigen Minuten noch immer nicht weiterging, blinzelte ich verschlafen und stellte mit Schrecken fest, dass der Zug bereits im Hauptbahnhof von Antwerpen stand. Erschrocken sprang ich von meinem Sitz auf und bahnte mir meinen Weg durch den Wagen, der sich schon mit einsteigenden Fahrgästen füllte. Als es mir endlich gelungen war auszusteigen, hastete ich zum Gepäckwagen am Ende des Zugs.
»Einen Moment, bitte. Mein Koffer ist noch da drinnen!«, rief ich dem Dienstmann zu, der gerade im Begriff war, die Schiebetür zu verriegeln.
In der Bahnhofshalle herrschte ein schummriges Licht, das nichts Gutes für das belgische Wetter verhieß.
»Das ist Ihnen aber früh eingefallen«, brummte der Dienstmann, dessen runder Bauch die kleidsame, blaue Uniformjacke mit den Messingknöpfen zu sprengen drohte.
»Tut mir leid. Ich bin unterwegs eingenickt und eben erst aufgewacht«, entschuldigte ich mich schwer atmend und kramte panisch in meiner Tasche nach dem Abholschein.
»Wir können doch nicht den Zug warten lassen, nur weil Sie verschlafen haben! Er hat sowieso schon eine halbe Stunde Verspätung«, knurrte der behäbige Dienstmann missmutig.
Um ihn von meinem Standpunkt zu überzeugen, drückte ich ihm einige Münzen in die feiste Hand.
»Ausnahmsweise«, brummte er und hievte meinen neuen, schwarzen Koffer, den ich mir in Paris zugelegt hatte, hastig auf den Bahnsteig.
Ein schriller Pfiff ertönte, die Lokomotive stieß weiße Dampfwolken aus, und die Räder der Eisenbahnwaggons setzten sich geräuschvoll in Bewegung. Noch immer etwas außer Atem schaute ich dem abfahrenden Zug nach, bis er den Bahnhof verlassen hatte.
Dann hob ich meinen Koffer hoch und bemerkte erstaunt, dass er viel zu leicht war. Außerdem war ein Anhänger an ihm befestigt. Ich stutzte, denn aus Angst vor Dieben versah ich mein Gepäck grundsätzlich nicht mit meiner Adresse, selbst wenn ich im Ausland unterwegs war. Ich kniff die Augen zusammen, um die Beschriftung zu lesen: Jan Peeters, Pension Antonis van Dyck, Antwerpen. Ich stieß einen leisen Fluch aus: Das war nicht mein Koffer.
Augenblicklich bereute ich meine Entscheidung, ein Gepäckstück eines Herstellers gekauft zu haben, dessen schwarze Koffer in Frankreich derart weit verbreitet waren. Aber wie konnten die Koffer verwechselt werden, obwohl die aufgegebenen Gepäckstücke alle mit aufgeklebten Marken gekennzeichnet waren? Verärgert kramte ich meinen Gepäckschein heraus. Er trug die Nummer 66, während auf dem Aufkleber des Koffers 99 stand. Der Amtmann hatte also den Schein verkehrt herum gehalten und dadurch die Nummer falsch gelesen.
Einige Sekunden lang stand ich ratlos auf dem Bahnsteig herum. Dann sagte ich mir, dass ich Glück im Unglück gehabt hatte: Wenigstens befand sich mein Gepäckstück höchstwahrscheinlich in Antwerpen, und ich kannte sowohl den Namen des Mannes, der es mitgenommen hatte, als auch den der Pension, in der er abgestiegen war. Mit neuer Zuversicht suchte ich einen Gepäckträger in der Menschenmenge, konnte aber keinen finden.
Also transportierte ich den fremden Koffer selbst durch die Bahnhofshalle zum Vorplatz. Am Sammelplatz der Droschken standen jedoch bereits mindestens zwanzig Personen an. Kein Wunder, denn vor einigen Minuten war der verspätete Schnellzug aus Paris angekommen! Ich verwünschte den unfähigen Dienstmann, der mir das alles eingebrockt hatte, und verlagerte mein Gewicht ungeduldig von einem Bein auf das andere. Zu allem Überfluss begann es zu regnen, und ich beschloss, bei einem Kaffee so lange zu warten, bis die Schlange sich aufgelöst hatte.
Mit etwas Glück fand ich einen freien Stuhl in der sich rasch mit weiteren Regenflüchtlingen füllenden Bar am Ende des Bahnhofs. Am Nachbartisch saßen drei Männer, die aus tulpenförmigen Gläsern etwas tranken, das nach Bier aussah.
Einer von ihnen verschob seinen Stuhl, sodass er mir den Rücken zuwandte, und gab mir damit zu verstehen, dass er sich von mir angestarrt fühlte.
Auch ich wandte mich ab und bemerkte an der Wand gegenüber ein farbenfrohes Werbeplakat für die Weltausstellung, auf dem eine Blondine vor dem Antwerpener Stadtpanorama den Betrachter mit Palmenzweigen begrüßte, die sie in beiden Händen hielt. Neben ihr thronte ein magerer Löwe auf dem Streckennetzplan der Compagnie des chemins de fer du Nord, die die Bahnstrecken zwischen Frankreich und Belgien betrieb. Ich hatte keine Ahnung, was der Löwe mit Antwerpen zu tun hatte, und wollte meinen Reiseführer konsultieren. Gedankenverloren kramte ich meinen Schlüsselbund aus der Jackentasche, steckte den kleinsten Schlüssel ins Schloss des Koffers, konnte ihn aber nicht herumdrehen. Dennoch ließen sich die Verschlüsse öffnen, obwohl ich mir ganz sicher war, meinen Koffer abgeschlossen zu haben.
Schlagartig kam mir ins Bewusstsein, dass ich mich an einem fremden Gepäckstück zu schaffen machte. Doch meine Neugier war geweckt, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Wie von einer fremden Macht gesteuert klappte ich den Koffer einen Spaltbreit auf und lugte hinein. Teure, aber nachlässig zusammengelegte Kleidungsstücke quollen mir entgegen, die ich ernüchtert zurückstopfte. Gleichzeitig schalt ich mich selbst einen Narren. Was hatte ich in dem Koffer zu finden gehofft: Geheimdokumente, Banknoten oder Konstruktionspläne einer kriegsentscheidenden Erfindung?
»Sie wünschen bitte?«, sprach mich der Ober, ein kleines, dünnes Männlein, auf Englisch an, und ich ärgerte mich trotz meines eleganten, italienischen Anzugs und meines französischen Koffers als Engländer erkannt worden zu sein. Musste ich mir einen Schnurrbart wachsen lassen, um in Belgien nicht als Ausländer aufzufallen?
»Eine Tasse Kaffee«, bestellte ich konsterniert.
»Schwarz oder mit Milch und Zucker?«, fragte der magere Ober zurück.
»Mit Zucker, aber ohne Milch.«
Als der Kellner verschwunden war, legte ich den Koffer auf den Schoß, klappte den Deckel zurück und drückte vorsichtig die unordentlichen Kleidungsstücke herunter. In einem Innenfach steckte ein ledergebundenes Notizbuch. Ich zog es heraus, wobei ich mein Gewissen damit beruhigte, dass Jan Peeters selbst dran schuld war, seinen Koffer nicht abgeschlossen zu haben. Nur die ersten beiden Blätter des Notizbuchs waren mit Aufzeichnungen bedeckt, die ich aber leider nicht verstand, denn sie waren auf Flämisch verfasst. Dennoch sprang mir das Wort Diamant ins Auge, das mehrmals im Text auftauchte. Ob der Koffer einem Juwelendieb gehörte? Schließlich war Antwerpen der weltweit führende Handelsplatz für Diamanten. Hier wurden Edelsteine von unermesslichem Wert geschliffen und einer zahlungskräftigen Käuferschaft angeboten.
Der magere Ober, der mein Getränk brachte, riss mich aus meinen Gedanken. Als ich daran nippte, stellte ich fest, dass der Kaffee kaum lauwarm war und ich winkte den Kellner augenblicklich zurück. Aber beim Anblick seines erschöpften Gesichts, bekam ich Skrupel, mich zu beschweren.
»Ich möchte zahlen«, sagte ich stattdessen.
Nachdem ich meine Zeche beglichen hatte, versuchte ich, den Koffer in den Zustand zu bringen, in dem er gewesen war, bevor ich ihn durchsucht hatte. Dann leerte ich meine Kaffeetasse in einem Zug und verließ den Bahnhof. Diesmal gelang es mir sofort, eine Droschke zu ergattern.
»Zur Pension Antonis van Dyck!«, rief ich dem grobknochigen, aschblonden Mann auf dem Kutschbock zu, der glücklicherweise ein paar Worte Englisch sprach.
»Kenne ich nicht!«
Anklagend zeigte ich auf den Anhänger des fremden Koffers, denn ich traute mir nicht zu, die darauf verzeichnete Adresse korrekt auszusprechen. Der Kutscher bedeutete mir einzusteigen, und die Fahrt begann. Wir durchquerten einige belebte Geschäftsstraßen und bogen dann in eine Seitenstraße ein, die von schmalen Häusern mit hohen Stufengiebeln gesäumt war. Kurze Zeit später hielt die Droschke mit quietschenden Bremsen vor einem altertümlichen Backsteinbau. Ein schlichtes Blechschild wies den nur zwei Fensterachsen breiten Bau als Pension Antonis van Dyck aus. Trotz seines teuren Koffers lebte Jan Peeters offenbar nicht auf großem Fuß. Ich bereute meinen Entschluss, hier zu übernachten, aber die Gaslaternen-Anzünder machten bereits ihre Runde, und ich befürchtete, das von mir telegrafisch reservierte Hotelzimmer könnte mittlerweile anderweitig vergeben sein. Wenigstens hatte der Regen nachgelassen, aber auf der Straße hatten sich zahlreiche Pfützen gebildet.
Der Kutscher riss den Schlag auf, ich stieg mit steifen Knochen von der langen Reise aus und entlohnte ihn. Kaum hatte er das Geld in Empfang genommen, schnalzte er schon mit der Zunge und sein Pferd trabte mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon.
Mit gemischten Gefühlen stieg ich die drei abgetretenen Steinstufen zum Portal der Pension hinauf und zog an der Klingel, die lediglich ein kaum hörbares Bimmeln produzierte. Trotzdem wurde die Tür sogleich von einem mich schelmisch anlächelndem, molligen Hausmädchen aufgerissen, das offenbar die Ankunft meiner Droschke durch das mit weißen Häkelgardinen geschmückte Fenster neben der Tür beobachtet hatte.
»Guten Abend, mein Herr!«, begrüßte mich eine resolute Dame mittleren Alters mit einladender Geste, als ich den Empfangsraum betreten hatte.
Drinnen roch es nach gebratenen Kartoffeln, und mir wurde bewusst, dass ich außer dem mageren Frühstück im Zug und der Tasse Kaffee im Bahnhofslokal an diesem Tag noch nichts zu mir genommen hatte.
»Guten Abend, Madame«, erwiderte ich ihren Gruß auf Französisch.
Die Tür hinter dem Empfang öffnete sich lautlos, und ein behäbiger, blonder Mann mit einem gewaltigen Schnurrbart trat ein, in dessen rundem Gesicht mich ein paar helle Augen wachsam begutachteten.
»Wie ist Ihr werter Name, Monsieur?«, fragte die Wirtin in holprigem Französisch, während sie mit gerunzelter Stirn im Gästebuch herumblätterte. Ihr Mann schaute ihr dabei gönnerhaft über die Schulter und nickte mir freundlich zu. »Haben Sie ein Zimmer vorbestellt?«
»Das nicht, aber …«
»Das war sehr leichtsinnig«, tadelte mich die Wirtin, »aber Sie haben Glück. Zufällig ist ein Stammkunde krank geworden und wir haben noch ein freies Zimmer.«
Die geflissentliche Art der Wirtin mit ihrer spitzenverzierten, blütenweißen Haube ließ eher darauf schließen, dass die Hälfte der Gästezimmer leer stand.
»Das freut mich ungemein«, entgegnete ich und erkundigte mich nach dem Preis für die Übernachtung.
Die Zahl, die sie mir nannte, war höher als erwartet.
»Falls es mir gefällt, nehme ich das Zimmer«, sagte ich nach kurzer Bedenkzeit, obwohl ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte.
»Aber selbstverständlich.« Der schnurrbärtige Wirt klang leicht indigniert. »Das Mädchen wird Ihnen das Zimmer zeigen.«
»Vorher habe ich aber noch eine Frage«, begann ich vorsichtig. »Wenn ich richtig informiert bin, wohnt ein gewisser Herr Jan Peeters in Ihrem Haus?«
Die Wirtin, die noch immer mit dem Gästebuch beschäftigt war, blickte alarmiert zu mir hoch, und auch ihr Mann wirkte irritiert.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen darüber Auskunft erteilen darf!«, erwiderte er und musterte mich von Kopf bis Fuß. Offenbar sah ich anders aus als die Leute, mit denen sein Gast gewöhnlich verkehrte.
»Sie tun ihm damit einen Gefallen, denn man hat im Gepäckwagen unsere Koffer vertauscht«, erklärte ich.
Die verkrampfte Haltung des Wirtspaares lockerte sich ein klein wenig.
»Ich glaube, Herr Peeters ist auf seinem Zimmer. Ich schicke das Hausmädchen zu ihm«, sagte die resolute Wirtin.
Sie instruierte das Mädchen auf Flämisch, das ihre Arbeitgeberin daraufhin eine Sekunde lang mit weit geöffneten, blaugrauen Augen anstarrte. Dann machte sie einen angedeuteten Knicks und eilte die steile Wendeltreppe hinauf. Von oben hörte ich bald eine cholerische Männerstimme. Wenige Sekunden später polterte der dazu gehörende hagere, aber noch immer drahtige, ältere Mann von durchschnittlicher Größe die Holzstufen der Treppe herunter. Sein Gehrock und die Beinkleider waren aus feinstem Tuch. Die Weste schloss mit vier vergoldeten Knöpfen, an deren unterstem eine Uhrkette baumelte. An den knochigen Fingern steckten mehrere wertvolle Ringe. Sein schütteres, graues Haar war leicht gelockt, und auf der breiten Nase trug er einen goldenen Kneifer.
»Da sind Sie endlich, Monsieur! Sie haben sich ja reichlich Zeit gelassen!«, beschwerte er sich feindselig, und mich traf ein zorniger Blick aus seinen zusammengekniffenen Augen, in deren Winkeln tiefe Falten eingegraben waren.
»Mein Zug hatte Verspätung und dann habe ich keine Droschke bekommen«, erwiderte ich, fragte mich aber im gleichen Augenblick, warum ich mich eigentlich entschuldigte.
»Dabei ist die Pension recht nah am Bahnhof. Viele unserer Gäste kommen zu Fuß.«
Es war die Pensionswirtin, die gesprochen hatte, und ich hätte ihr am liebsten geheißen, sich aus unserem Gespräch herauszuhalten. Wenigstens war ihr Mann wieder in den Raum hinter dem Empfang verschwunden.
»Woher sollte ich das wissen? Ich bin zum ersten Mal in Antwerpen«, fuhr ich sie enerviert an. »Und außerdem hatte ich in einem anderen Hotel ein Zimmer gebucht. Ohne diese Verspätung und die leidige Verwechslung meines Koffers …«
»Nichts für ungut. Schließlich hat sich alles zum Guten gewendet«, lenkte mein Kontrahent überraschend mit einer fahrigen Geste ein. »Gerade hatte ich mich darüber gewundert, dass der Schlüssel nicht ins Schloss passte.«
»Sie haben doch das Schloss hoffentlich nicht aufgebrochen?«
»Natürlich nicht, aber ich wollte den Koffer morgen zum Schlosser zu bringen.«
Ich erwiderte nichts, denn langsam war es mir peinlich, mich vor der Wirtin herumzustreiten, die keine Anstalten machte, sich diskret zurückzuziehen. »Wir sollten endlich unsere Koffer austauschen«, schlug ich daher vor.
»Monsieur, wollten Sie nicht das Zimmer anschauen?«, fragte die Wirtin mit einem honigsüßen Lächeln und überreichte mir den Schlüssel mit einem dieser monströsen Anhänger aus Messing, mit denen Wirte ihre Gäste davon abhalten wollten, ihn einzustecken. »Es ist die Nummer zehn, das Nachbarzimmer von Monsieur Peeters. Welchen Namen darf ich in mein Gästebuch eintragen?«
»Mister David Tristram«, antwortete ich automatisch, bevor mir bewusst wurde, dass ich den Raum noch immer nicht angesehen hatte. »Aber warten Sie bitte mit den Formalitäten, bis ich zurückkomme.«
Ich steuerte das Treppenhaus an, und der alte Mann folgte mir, leise vor sich hinbrummend. Die gewundene Treppe war so schmal, dass wir hintereinander gehen mussten.
»Haben Sie denn nicht bemerkt, dass der Koffer, den man Ihnen ausgehändigt hat, keinen Anhänger hatte?«, fragte ich Herrn Peeters, während wir die knarrenden Holzstufen hinaufstiegen.
»Doch, aber ich dachte, er sei im Gepäckwagen verloren gegangen.«
Oben auf der Etage passierten wir eine geöffnete, dunkel gebeizte Holztür mit den Bronzeziffern 10. Ich blieb stehen und warf einen kurzen, kritischen Blick in das mir angebotene Gästezimmer. Das düstere Abendlicht fiel durch ein hohes Schiebefenster, das einen Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite bot. Ich hätte ein Zimmer zum Garten vorgezogen, aber ich musste wahrscheinlich froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Herr Peeters war schon in sein eigenes Zimmer verschwunden, und ich folgte ihm.
Kaum hatte ich die Türschwelle überquert, wurde mir schon der Koffer aus der Hand gerissen und mit einer Wucht auf den Tisch geknallt, die ich einem Herrn seines Alters nicht zugetraut hätte.
»Haben Sie den Koffer geöffnet?«, stellte er mich empört zur Rede, nachdem er die Verschlüsse aufgeklappt und der Inhalt des Koffers sich über den Tisch ergossen hatte.
»Der Koffer war nicht abgeschlossen«, stellte ich ausweichend fest und ging zu meinem eigenem Gepäckstück, das schräg auf dem Bett lag, dessen Bezüge mit Spitzenborten verziert waren.
Jan Peeters durchwühlte währenddessen mit grimmiger Miene seine Habseligkeiten.
»Das Notizbuch lag mit dem Deckblatt nach unten«, murmelte er grimmig vor sich hin. Offenbar war es seine Gewohnheit, Selbstgespräche zu führen. Außerdem erstaunte mich, dass er sich trotz der Unordnung in seinem Koffer dieses Detail gemerkt hatte.
Inständig hoffend, nicht wieder den falschen Koffer vor mir zu haben, steckte ich den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn mühelos herum und öffnete schließlich die Schnappverschlüsse des Gepäckstücks. Erleichtert blickte ich auf meine Wäsche und die Bücher, die ich in Paris erstanden hatte, um meine mühsam erworbenen Sprachkenntnisse nicht einrosten zu lassen.
»Deshalb hat sich der Gepäckträger über das Gewicht des Koffers beschwert! Wenn ich mir vorstelle, dass ich diese Trivialromane durch die Stadt habe transportieren lassen«, beschwerte sich der Belgier, der mir über die Schulter geschaut hatte.
Zugegebenermaßen war Alexandre Dumas kein Shakespeare, aber trotzdem ärgerte ich mich über die Arroganz meines Gesprächspartners. Was lesen Sie denn so, wollte ich schon fragen, als ich ein dünnes, in Leder gebundenes Buch auf dem Nachttisch bemerkte. Ich beugte mich vor, um den Titel entziffern zu können. Er lautete Bruges-la-Morte1, was »Das tote Brügge« hieß. Jedem das seine, dachte ich.
»Darf ich Sie fragen, was Sie von Beruf sind? Vielleicht Literaturprofessor?«, fragte ich schlecht gelaunt.
»Nein, Juwelier!«, antwortete der alte Mann in dem Tonfall, in dem man »Großherzog« sagt.
Nur mühsam unterdrückte ich ein Lachen. Wenn er wüsste, dass ich ihn für einen Juwelendieb gehalten hatte! »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend«, sagte ich schmunzelnd, nahm meinen Koffer und deponierte ihn im Zimmer Nummer zehn, bevor ich die ächzenden Treppenstufen hinabschritt.
»Ich nehme den Raum«, erklärte ich an der Rezeption, und die Wirtin atmete sichtbar auf.
Nach Erledigung der Formalitäten schlenderte ich die regennasse Straße entlang und gelangte zu einer Gastwirtschaft. Warmes Licht erleuchtete die Fensterscheiben, und durch die geöffnete Tür drang Gelächter. Neugierig trat ich ein. Der Schankraum war klein, dafür aber gemütlich eingerichtet. Ich ließ mich an einem Ecktisch nieder, wo ich mich mit einer Portion frittierter Kartoffeln mit Mayonnaise stärkte. Der Geruch aus der Hotelhalle war mir nämlich nicht aus dem Sinn gegangen, und nun erfuhr ich, dass diese einfache, aber nahrhafte Speise das belgische Nationalgericht war.
Angenehm gesättigt verfasste ich dann einen Brief an Holmes, in dem ich von dem vertauschten Koffer und dem Notizbuch berichtete. Nachdem ich gezahlt hatte, wandte ich mich an einen älteren, korrekt gekleideten Mann, der ebenfalls gerade im Begriff war, das Lokal zu verlassen. »Entschuldigen Sie, Monsieur! Könnten Sie mir bitte den Weg zum nächsten Postamt beschreiben?«, fragte ich in meinem besten Französisch.
Der ältere Herr verschränkte die Arme vor der Brust und blickte mich feindselig an. »Wie kommen Sie dazu, mich auf Französisch anzusprechen?«, fuhr er mich in einem grauenhaften Englisch an.
»Ich habe mir nichts Böses dabei gedacht«, entschuldigte ich mich verblüfft, »aber ich spreche kein Flämisch.«
Die Haltung des Einheimischen entspannte sich etwas. »Sie sind kein Franzose?«
»Nein, ich bin Engländer und …«
»Dann hätten Sie es auf Englisch versuchen sollen!«
»Aber …«
»Um diese Uhrzeit hat leider nur noch die Hauptpost geöffnet«, schnitt mein Gesprächspartner mir das Wort ab. »Der Weg dorthin ist recht schwierig zu beschreiben. Daher werde ich Sie begleiten.«
»Das ist nicht nötig«, beteuerte ich, aber der alte Herr machte trotzdem seine Drohung wahr und redete während des gesamten halbstündigen Fußmarsches vehement auf mich ein.
»Es ist schon schlimm genug, dass ich auf den Ämtern französisch sprechen muss2, aber wenigstens die Touristen sollten mich damit verschonen«, schimpfte er, als wir eine barocke Kirche mit dreistöckiger Fassade passierten, die so überreich mit Figuren, Engeln und steinernem Blattwerk verziert war, dass sie hätte in Italien stehen können. Ich erwog meinen Begleiter nach dem prächtigen Bauwerk zu fragen, wagte es dann aber doch nicht, da ich befürchtete, es könnte von den »falschen« Landsleuten erbaut worden sein.
»Sie müssen mir hoch und heilig versprechen, niemals wieder einen Belgier einfach auf Französisch anzusprechen!«, forderte der alte Mann mich feierlich auf, als wir endlich unser Ziel erreicht hatten.
»Das kommt mir bestimmt nicht noch einmal in den Sinn!«, versprach ich wahrheitsgemäß. Ich verabschiedete mich, atmete tief durch und stieg die Freitreppe vor dem Portal der Hauptpost hinauf.
1 Der Roman George Rodenbachs war zwei Jahre zuvor erschienen.
2 Erst 1898 erhält Flämisch in Belgien denselben Status wie Französisch.
Die nächsten beiden Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Am dritten Morgen meines Aufenthalts in Antwerpen erwachte ich um sechs Uhr auf dem Gipfel eines Albtraums, in dem eine Verbrecherbande mir meinen Koffer stehlen wollte. Nur ein schmaler, heller Streifen am Horizont kündigte die Dämmerung an, als ich eine halbe Stunde später noch etwas schlaftrunken den Frühstücksraum betrat, der sich im Parterre befand. Auf den weißen, spitzenbesetzten Decken der quadratischen Tische standen einfache, weiße Teller, dazu passende Kaffeetassen, Körbe mit aufgeschnittenem Weißbrot und Glasschälchen mit Marmelade und Butter.
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