Sherlock Holmes - Neue Fälle 30: Sherlock Holmes und das Rätsel des Diskos von Phaistos - Wolfgang Schüler - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 30: Sherlock Holmes und das Rätsel des Diskos von Phaistos E-Book

Wolfgang Schüler

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Beschreibung

Man schreibt das Jahr 1924. Der große Detektiv lebt einsam und zurückgezogen in seinem Cottage am Ärmelkanal. Dort arbeitet der 70-Jährige an seinem vierbändigen Hauptwerk Die hohe Schule der Verbrechensermittlung.Am 15. Mai 1924 erhält Sherlock Holmes einen Brief aus Griechenland. Er stammt von einem gewissen Professor Nikos Eratosthenes von der Insel Kreta. Darin wird der Detektiv gebeten, bei der Entschlüsselung eines mehrere tausend Jahre alten Artefakts zu helfen. Es handelt sich um eine Tonscheibe, die beidseitig mit geheimnisvollen Schriftzeichen bedruckt ist. Sie wird nach ihrem Fundort Diskos von Phaistos genannt und soll angeblich den Weg zu den Schatzkammern des untergegangenen Atlantis weisen.Holmes nimmt sich der Sache an und wird dabei in bewährter Weise von seinem alten Freund Dr. Watson unterstützt. Sehr bald stellt sich heraus, dass sich die scheinbar harmlose Übersetzungsarbeit in einen spannenden Kriminalfall verwandelt hat.

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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVSSHERLOCK HOLMES

In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter

3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel

3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler

3025 – Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3026 – Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner

3027 – Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler

3028 – Der Träumer von William Meikle

3029 – Die Dolche der Kali von Marc Freund

3030 – Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler

Wolfgang Schüler

SHERLOCK HOLMESDas Rätsel des Diskos von Phaistos

Basierend auf den Charakteren vonSir Arthur Conan Doyle

Wolfgang Schüler arbeitet als Rechtsanwalt, Schriftsteller und ­Journalist. Er ist Experte für historische Krimis. So erschienen von ihm bereits sechs Sherlock-Holmes-Romane und etliche Geschichten über den berühmten Detektiv, die zum größten Teil als E-Books und teilweise auch als Hörbücher erhältlich sind.

Wolfgang Schüler veröffentlichte außer mehreren Sachbüchern und zahlreichen Bänden mit Gerichtsberichten die erste deutschsprachige Edgar-Wallace-Biografie sowie das Handbuch zur Kriminalliteratur Im Banne des Grauens. Er ist Mitglied im Syndikat, der Vereinigung deutschsprachiger Kriminalschriftsteller in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der Deutschen Sherlock Holmes Gesellschaft sowie im Literaturverein FürWort.

www.schueler-wolfgang.de

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: iStock.com/neyro2008Satz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-229-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Personenverzeichnis

Die wichtigsten handelnden Personen sind:

Sherlock Holmes, Detektiv im Ruhestand

Dr. John H. Watson, Arzt im Ruhestand

Mycroft Holmes, Bruder von Sherlock Holmes und hoher Regierungsbeamter

Patty Patrick Bassington, geistig behinderter Dorf­bewohner

Gladys Neville, Haushaltshilfe von Sherlock Holmes

Professor Nikos Eratosthenes, Altertumswissen­schaftler

Skender Danapoulos, Leibwächter des Professors

Elisabeth Violett Blacksmith, Haushälterin von Dr. Watson

Jean de Saint-Gelais, Unterpräfekt der Pariser Polizei

Großfürst Alexander Tschernigow, Bandenführer

Percy Hellier, Gastwirt

Naser Keyhan, Bandenmitglied

Abdol Keyhan, Bandenmitglied

Konstantin Sotiropulos, Reeder und Kunstmäzen

Kapitel 1 – Der Brief

Sherlock Holmes zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Tasche und glättete es auf dem Tisch.

Arthur Conan Doyle, Das Rätsel von Boscombe Valley

Sussex, 5. Mai 1924

Ein einzelner Schuss fiel oberhalb des Randes der Kreidefelsen. Der helle, scharfe Knall hallte über die schmale Bucht. Vögel stiegen auf. Ein aufgescheuchtes Kaninchen schlug mehrere Haken und verschwand dann in einem Erdloch. Der einsame Schwimmer draußen im Meer geriet etwas aus dem Rhythmus seiner bis dahin gleichmäßigen Schwimmzüge. Sherlock Holmes wandte sich der Küstenlinie der Downs von Sussex zu und hob den Kopf, konnte aber den Schützen nicht sehen.

Der Klang der Waffe war für jeden, der etwas von diesem Metier verstand, unverwechselbar gewesen. Ganz zweifellos handelte es sich um ein Flobert-Gewehr, mit dem eine schwache Schrotladung verschossen worden war. Wegen der kurzen Reichweite und der geringen Durchschlagskraft eignete sich diese Flinte vor allem zum Übungsschießen und kaum zur Jagd. Bestenfalls konnten Kleintiere und Vögel damit erlegt werden, und wenn überhaupt, dann mit sehr viel Glück aus nächster Nähe. Aber hier draußen am Meer, in dieser gottverlassenen Gegend, gab es keine Schießstände. Kein vernünftiger Mensch würde sich auf den weiten Weg machen, um hier irgendwo im Nirgendwo Löcher in die Luft zu schießen. Deshalb gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um zu erraten, wer da herumgeballert hatte.

„Aha, Patty ist es wieder einmal gelungen, seinem greisen Familienoberhaupt den Schlüssel zum Waffenschrank zu stibitzen“, brummte der Detektiv gleichsam besorgt wie auch verärgert.

Patty Patrick Bassington war 43 Jahre alt, nahezu sieben Fuß groß, wog mehr als zweihundert Pfund und hatte die Kraft eines Bären. Holmes hatte einmal mit eigenen Augen gesehen, wie Patty einen Ackerwagen an der Deichsel hochgehoben und mühelos solange gehalten hatte, bis das zerbrochene linke Vorderrad vom Bauern gewechselt worden war. Alles Gute ist jedoch nie beisammen. Als der liebe Herrgott den Verstand verteilte, hatte Patty es vergessen, seine rechte Hand zu heben. Das Resultat war ein gutmütiger, liebenswerter Kerl mit dem Intellekt eines vierjährigen Kindes. Patty konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Die Hänseleien der Dorf­jugend ertrug er mit großem Gleichmut. So schnell konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Gleichwohl übten Feuerwaffen aller Art eine große Anziehungskraft auf ihn aus. Und das war in jedem Fall gefährlich. Selbst ein an sich relativ harmloses Flobert-Gewehr konnte in der Hand eines Tölpels beträchtlichen Schaden anrichten.

Holmes beschloss, demnächst ein ernstes Wörtchen mit James Bassington zu reden, obwohl der ein unangenehmes Raubein war und sich jegliche Einmischung in seine Familienangelegenheiten verbat. Da wäre es höchst unklug, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Stattdessen würden Diplomatie und Fingerspitzengefühl gefragt sein.

Eine plötzliche Welle warf Sherlock Holmes aus der Bahn und beendete seine Grübeleien. Vor vier Monaten, am 6. Januar, war er 70 Jahre alt geworden. Im Leben eines jeden Menschen gibt es mehrere Zäsuren. Der 70. Geburtstag war eine davon. Das Leben neigte sich unaufhörlich dem Ende zu. Das Greisenalter hatte begonnen. Grauköpfe begannen unsichtbar zu werden. Niemand nahm sie mehr so richtig wahr. Ihr Wort galt wenig bis nichts, wenn sie nicht aufpassten.

Der Detektiv verabscheute es, Trübsal zu blasen. Er lehnte es ab, ständig in sich hinein zu horchen und bei jedem Zipperlein zum Arzt zu rennen. Er hielt sich körperlich fit, ging nahezu bei jedem Wetter schwimmen, boxte täglich eine Viertelstunden am Sandsack und hatte so gut wie alle Laster, vor allem das Injizieren berauschender Substanzen, aufgegeben. Nur hin und wieder gönnte er sich ein gutes Pfeifchen und ein Glas vom besten Whisky.

Holmes quälten keine nennenswerten Gebrechen. Doch gegen das allmähliche Abnehmen der Konstitution, der Sehkraft und des Hörvermögens halfen weder die ständigen Leibesübungen noch eine gesunde Ernährung etwas. Selbst Gelée Royale, der Futtersaft der Bienenköniginnen, welchen Holmes bei seiner Bienenzucht gewann und regelmäßig in winzigen Dosen zu sich nahm, konnte, trotz aller positiven Wirkung auf die Vitalität der Zellen, den Alterungsprozess nicht aufhalten.

Als der Wind leicht auffrischte, hatte Holmes einige Mühe, gegen eine plötzlich auftretende Unterströmung anzukämpfen, die ihn hinaus in die offene See ziehen wollte. Doch es bestand kein Grund zur Sorge. Nach einigen kraftvollen Crawlzügen erreichte er unbeschadet das steinige Ufer.

Wieder knallte ein Schuss. Eine in dieser Gegend sehr seltene Ringschnabelmöwe mit weiß-grauem Gefieder, einer schwarzen Schwanzspitze und einem gelb-­schwarzen Schnabel schoss in der Luft einen Purzelbaum. Federn stoben durch die Luft. Dann klatschte der blutige Körper des unglückseligen Vogels unten auf den Küstenstreifen der kleinen Bucht.

Holmes runzelte indigniert die Stirn, trocknete sich ab und kleidete sich an. Dann stieg er den schmalen Saumpfad hinauf, den Blick ständig nach oben gewandt. Patty erwartete ihn bereits. Er war unrasiert, trug oft geflickte Arbeitssachen und hatte die kläglichen Reste eines einstmals prächtigen Strohhuts auf dem Kopf. Die Krempe befand sich in völliger Auflösung, und die Farbe des Hutbands ließ sich beim besten Willen nicht mehr erraten.

Der ungeschlachte Hüne strahlte wie ein Honigkuchenpferd und fuchtelte begeistert mit der Flinte, die in seinen Pranken wie ein Kinderspielzeug wirkte. „Onkel Homms, hattu das gesehn? Patty hat puff gemakt, und bumms ist Möbel runtagefalln.“

„Aber gewiss doch, mein Junge“, lobte ihn der Detektiv, obwohl ihm keinesfalls danach zu Mute war. „Das hast du ganz ausgezeichnet gemacht. Zeig mir doch bitte einmal dein Schießgewehr.“

Bereitwillig reichte ihm Patty die Waffe. Holmes zog den Klappverschluss zurück und sah nach der Munition. Das Flobert-Gewehr war nachgeladen worden. Im Lauf steckte eine scharfe Patrone. Der Detektiv zog sie aus dem Lager und verwahrte sie in seiner Rocktasche. „Hast du noch mehr davon?“, wollte er wissen.

Patty nickte begeistert. „Ja, Onkel Homms, der gute Patty hat ganz viele Mumpeln.“

„Gib sie mir bitte. Ich hebe sie für dich auf.“

„Och nö.“ Patty zog einen Flunsch. „Ich will weiter puff auf Möbel maken.“

„Ein anderes Mal. Jetzt gehen wir zu mir nach Hause. Dort bekommst du eine schöne heiße Tasse Kakao.“

Das Verlangen des Einfaltspinsels war sofort geweckt. „Mit Hafakäk?“

„Ganz genau. Kakao und Haferkekse.“

Patty kramte bereitwillig die restlichen Patronen hervor und rief hocherfreut: „Juhu, ich mag Kacko und Hafakäk sehr.“

Der Weg zum Cottage war nicht weit. Das kleine, weiß gekalkte Landhaus mit seinen dunklen Balken, dem bemoosten Schindeldach und den weithin duftenden Rosenstöcken vor der Tür stand direkt hinter dem Hang oberhalb der Kreidefelsen. Gleich neben dem Gartentor befand sich die letzte Ruhestätte von Mrs. Hudson. Die treue Seele war in der Neujahrsnacht nach einigen Gläschen Sherry mit einem leichten Schwips zu Bett gegangen und morgens nicht wieder aufgewacht. Sherlock Holmes gönnte ihr diesen leichten Tod von Herzen, aber dieses resolute Persönchen, welches viele lange Jahre für sein leibliches Wohl gesorgt hatte, fehlte ihm sehr. Viel mehr, als er sich selber eingestehen wollte. Im Laufe der Zeit waren die beiden wie ein altes Ehepaar geworden, das sich wortlos verstand und einander von ganzem Herzen zugetan war.

Ohne ein Wort zum Abschied hatte sich Mrs. Hudson auf den Weg zu anderen Seite gemacht. Stattdessen kam eine Zugehfrau aus dem Dorf, um sich dreimal wöchentlich um den Haushalt des Hagestolzes zu kümmern. Aber sie konnte die Kochkünste der verblichenen Haushälterin nur äußerst unvollkommen ersetzen.

Der Detektiv seufzte, als er auf den Grabstein blickte und an sein einstiges Leibgericht Petersilienkartoffeln mit Hackbraten denken musste, in dessen Genuss er nun nie wieder kommen würde. Doch noch mehr als Mrs. Hudson vermisste er seinen alten Freund aus der Baker Street. Dr. Watson hockte einsam und allein im fernen London und langweilte sich zu Tode, wie er hin und wieder in einem seiner Briefe zwischen den Zeilen durchblicken ließ. Wenn etwas schlecht war, merkte man es sofort. Wenn etwas gut war, merkte man es immer erst hinterher. Die größte Bürde des Alters war außer dem Schwinden von Saft und Kraft die stark zunehmende Vereinsamung.

In der Küche klapperte die Hausgehilfin mit den Töpfen. Gladys Neville war 35 Jahre alt, stämmig und von untersetzter Statur. Ihr rundes Gesicht war mit Sommer­sprossen übersät und wurde von rotblonden Locken umrahmt. Sie hatte fünf Kinder und einen guten Gatten. Roger Neville galt als ein geschickter Zimmermann. Trotzdem hatte er Mühe, mit seiner Hände Arbeit für seine ständig weiter wachsende Sippschaft zu sorgen. Der Schuldenberg wuchs, anstatt kleiner zur werden. Doch damit nicht genug. Neuer Nachwuchs hatte sich bereits angekündigt. Gladys war im fünften Monat schwanger und bereits kräftig aus dem Leim gegangen. Ihre einstige Schönheit ließ sich nur noch erahnen.

„Meine liebe Mrs. Neville. Ich habe heute netten Besuch mitgebracht, der sich bereits mächtig auf eine Tasse Kakao und einen Teller Haferkekse freut.“

Gladys drehte sich um und musterte Patrick Bassington verächtlich, der inzwischen seinen Strohhut abgenommen hatte und verlegen zwischen seinen Fingern drehte. „Du Schwachkopf hast nur Grütze im Kopf. Was hast du diesmal wieder angestellt?“

„Patty war ganz lieb. Onkel Homms hat mich sogar gelobt“, lautete die Antwort.

Gladys aber blieb ungnädig. „Master, Sie werden langsam wunderlich. In der vorigen Woche erst haben Sie den Hirten Ben angeschleppt, einen ungewaschenen Schmutzfinken vor dem Herrn. Nach seinem Weggang hat es noch tagelang überall im Haus penetrant nach nassem Fell und Ziegenbock gestunken. Nun kommen Sie mit dem Dorftrottel hereingeschneit. Wer folgt als nächster? Der Kalte James? Wenn dieser Unhold über die Schwelle tritt, kündige ich auf der Stelle.“

Der Kalte James war der hochaufgeschossene Küster und Leichenwäscher der Gemeinde. Dank seiner ­wachsbleichen Gesichtsfarbe, seiner dürren Gestalt in ewig schlotternden schwarzen Kleidern und der tiefliegenden Augen erinnerte er an einen Vampir. Sobald er den Dorfgasthof The King and the Dragon betrat, um sich ein Feierabendbier zu genehmigen, erstarben die Gespräche an den Tischen, und die Bauern drehten ihm den Rücken zu.

„Der Kalte James mag zwar wunderlich wirken, aber er ist ein äußerst ehrenhafter Mann und tut keiner Fliege etwas zu Leide. Der Beruf, den er ausübt, ist nicht begehrenswert, aber für die Hygiene in unserem Sprengel unerlässlich. Darüber hinaus hege ich nicht die geringste Absicht, ihn vor meinem Ableben in mein Heim zu bitten. Also Schluss jetzt mit diesem Unsinn. Bewirten Sie bitte unseren Gast, so wie es sich gehört.“

„Sehr wohl, Master.“ Gladys machte einen Knicks. „Übrigens ist vorhin der Postbote mit seinem Fahrrad den Hügel hinauf gestrampelt gekommen. Er hat einen Brief mit vielen Marken und seltsamen Buchstaben gebracht. Das Billett liegt dort drüben auf dem Tisch.“

Holmes hob das Kuvert auf und betrachtete es eingehend. Es war aus steifem weißen Papier, mit einer schwungvollen Handschrift versehen und trug einen roten Luftpostaufkleber. Die grauen und braunen Briefmarken waren links und rechts mit antiken Säulen geschmückt und zeigten unterschiedliche Wertangaben. „Die Nachricht hat einen weiten Weg hinter sich und wurde sogar teilweise mit einem Aeroplan befördert. Das spricht für ihre Dringlichkeit. Sie kommt aus dem fernen Griechenland, und zwar von der Insel Kreta.“

„Woher wissen Sie das? Es steht kein Absender darauf, und auch sonst konnte ich kein einziges Wörtchen in einer verständlichen Sprache entdecken“, meinte Gladys. Nebenbei versorgte sie Patty mit einem Becher Kakao und einer Handvoll Haferkekse, welche dieser sogleich genussvoll in sich hineinzustopfen begann. Krümel rieselten aus seinem Mund und bestäubten den Tisch.

„Langsam, langsam, niemand nimmt dir etwas weg“, sagte Holmes zu seinem grobschlächtigen Gast und wandte sich dann wieder der Haushaltshilfe zu. „Die seltsamen Buchstaben auf den Briefmarken entstammen dem griechischen Alphabet. Diese Schrift gibt es bereits seit über 2.000 Jahren. Aus ihr ist das lateinische Alphabet entstanden, welches wir heutzutage in Großbritannien zu unser aller Nutzen und Frommen verwenden. Der Poststempel trägt die Aufschrift ΚΡΕΤΑ, was übersetzt Kreta heißt.“

„Aber der Brief ist keineswegs seit 2.000 Jahren unterwegs, nicht wahr? Auf mich macht er keinen so altertümlichen Eindruck.“

„Nein, die Sendung wurde erst vor wenigen Tagen zur Post gegeben, und zwar am 30. April. Der Adressant ist Linkshänder und ein gebildeter Mann mittleren Alters, der in einem Museum arbeitet und mir einen Auftrag erteilen möchte.“

„Woher wollen Sie das alles wissen?“

„Der Duktus, also der Schreibstil der individuellen Handschrift, lässt Rückschlüsse auf den Verfasser zu. An der Schreibrichtung lässt sich deutlich erkennen, dass der Aktuar kein Rechtshänder gewesen sein kann. Kommen wir nun zur Schriftpsychologie. Die Schrift ist ausgeschrieben und gleichförmig im Verlauf. Ein solches Schriftbild entsteht erst nach langjähriger und häufiger Übung, wie sie für gebildete Menschen typisch ist. Aber es fehlen die weiblichen Merkmale. Frauen schreiben die Buchstaben meistens rund und groß. Ergo ist der Absender ein Mann. Die gute Gliederung und die klaren Zwischenräume von Worten und Zeilen sprechen für eine hohe Intelligenz, die tief stehenden Oberzeichen für Zuverlässigkeit und Fleiß.“

„Sie können mir ja viel erzählen. Woher wollen Sie wissen, dass der Mann Ihnen einen Auftrag erteilen will, wenn er noch nicht einmal seine Adresse auf dem Umschlag vermerkt hat?“

„Mein guter Freund Dr. Watson hat einst einen Fall, bei dem ich etwas mit einem Griechen zu tun hatte, zu Papier gebracht. Im Jahr 1893 wurde die Episode im Strand Magazin unter dem Titel Der griechische ­Dolmetscher veröffentlicht. Es ging darin um eine höchst mysteriöse Entführungsgeschichte, die dank meiner bescheidenen Mithilfe restlos aufgeklärt werden konnte. Diese an sich kaum der Rede wert gewesene Sache ist dann später in dem Band mit meinen Memoiren aufgenommen worden und 1894 sowohl in London als auch parallel dazu in New York in Buchform veröffentlicht worden. Auf irgendwelchen verschlungenen Wegen mag dieses Werk dann nach Kreta gelangt sein und hat den Verfasser des Briefes dazu veranlasst, mich als einen vermeintlich kompetenten Fachmann für griechische Fragen um Rat zu fragen.“

Gladys stemmte beide Hände in die Hüfte, hob dann einen Kochlöffel auf und schwenkte ihn wie einen Tambourstab. „So viel, so gut. Von mir aus können wir das fürs Erste gelten lassen. Aber woher wollen Sie das mit dem Museum wissen? Vielleicht will Ihnen lediglich ein schmieriger Händler gepanschtes Olivenöl andrehen? Die Zeitungen sind doch voll von solcherlei Betrugs­geschichten.“

„Ich bin in meinem Leben noch nie in Griechenland gewesen, geschweige denn zur Insel Kreta übergesetzt. Ich hege auch nicht die geringste Absicht, jemals eine Reise dorthin anzutreten. Kreta ist meines Wissens nach eine unbedeutende Insel ohne nennenswerte Industrie, wenngleich von großer landschaftlicher Schönheit. Das Eiland kam erst dann in aller Munde, als dort Altertümer gefunden wurden. Irgendwo musste der Klimbim aber bleiben, und so hat man auf Kreta ein archäologisch-­historisches Museum gegründet, um den Krimskrams aufzubewahren und zu sortieren. Deshalb wird mir kaum ein griechischer Reeder geschrieben haben, der mir eine Schiffsbeteiligung andrehen will, sondern eher ein Mann der Altertumswissenschaften. Aber die Wahrheit wird sich uns sogleich offenbaren, wenn ich das Kuvert öffne.“

Sherlock Holmes nahm ein Federmesser zur Hand und zog es durch den Falz. Der Briefbogen war aus feinstem Büttenpapier. Das Wasserzeichen zeigte einen antiken Tempel. Am oberen Rand waren in Schwabacher ­Frakturschrift kunstvoll die Absenderangaben eingeprägt worden. Nikos Eratosthenes, Professor für Altertums­wissenschaften und Vorsteher des Instituts für Archäologische Missionen von der Insel Kreta.

Der Text an sich war von Hand abgefasst worden und trug das Datum 20. April 1924.

„Stell dir vor, liebe Gladys, der Brief ist nicht gleich zur Post gegeben worden, nachdem ihn ein gewisser Professor Eratosthenes geschrieben hatte. Das bedeutet, dass ihm nicht sonderlich wohl dabei gewesen ist und er krampfhaft nach einer anderen Lösung suchte. Als er aber nicht weiter wusste, hat er die Nachricht an mich schließlich doch noch abgeschickt.“

Gladys verdrehte die Augen. „Mein Großer, der Stanley, ist auch so eine Trantüte. Wenn ich ihm sage, wisch den Boden in der Küche auf, braucht er eine Ewigkeit, ehe er sich für den richtigen Bottich und den passenden Schrubber entschieden hat. Aber dann leistet er eine sehr ordentliche Arbeit, das muss ich schon sagen. Aber nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter. Was will dieser Museumsonkel von Ihnen?“

„Jawoll. Patty will auch wissen.“

Vier Augen blickten Holmes wissbegierig an. Der seufzte und begann laut vorzulesen:

„Hoch geehrter Herr!

Geruhen Euer Wohlgeboren, diese Bitte meiner Wenigkeit eines gnädigen Blickes zu würdigen, welche ich Hoch denselben untertänigst vorzutragen wage. Ich hoffe, auf dieses schwülstige Geschwurbel folgt recht bald ein ­tieferer Sinn. Mal sehen, wie es weiter geht:

Zunächst zu Eurem besseren Verständnis – gleichfalls Ihr, als hochgebildeter und aufgeklärter Geist, alles samt und sonders bereits bestens wisset und ich auf diese Weise quasi Eulen nach Athen trage – ein flüchtiger Streifzug durch die Geschichte meiner geliebten Heimat, der Insel Kreta.