Shinjinmei und Shodoka - Sabine Hübner - E-Book

Shinjinmei und Shodoka E-Book

Sabine Hübner

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Beschreibung

Die beiden großen Zen-Gedichte Shinjinmei und Shodoka, die vor vielen Jahrhunderten geschrieben wurden, gehören nicht nur den Menschen des alten China, bei denen diese Texte entstanden sind. Diese Strophen voller Zen-Weisheit wurden zu Klassikern der Weltliteratur und kommen bis heute allen Menschen zugute, im Osten wie im Westen der Welt. Heute so modern und aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung, rezitieren Zen-Menschen auf der ganzen Erde täglich diese Verse, die nicht nur zum Genuss für die Ohren, sondern in der Klarheit und Tiefe ihrer Aussage als Medizin zur Heilung von Geist und Seele bestimmt sind und wirken. Ihre ungebrochene Aktualität, die sich im steten Hier und Jetzt begründet, macht diese beiden spirituellen Gedichte zu unserem täglichen Begleiter, und die Kommentare von Zen-Meisterin Sabine Hübner helfen uns, die vielfältigen Bezüge für unser Alltagsleben zu ergründen. Die Übersetzung der Zen-Texte wurde neu gefasst und Wort für Wort mit der chinesischen Urfassung abgeglichen, sodass uns hiermit eine verlässliche Übersetzung dieser wichtigen Texte vorliegt.

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Seitenzahl: 325

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Umschlagabbildung: Kalligrafie «Mu», von einem unbekannten chinesischen Künstler

 

 

Originalausgabe. Copyright © 2005 Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg/Leimen. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen Verwertung bleiben vorbehalten.

 

ISBN (eBook) 978-3-932337-88-8

ISBN (gebundenes Buch) 978-3-932337-16-1

 

www.kristkeitz.de

Websites der Autorin: www.westlicher-himmel.de www.sabine-huebner-zen.de

Inhalt

Widmung

Vorbemerkung zum Text, von Willigis Jäger

Vorwort

Teishō zu den Versen des Shinjinmei

Vorwort zum Gedicht Shinjinmei, von Willigis Jäger

Hinführung zu den Teishō über das Shinjinmei

Shinjinmei – Text und Kommentar

Teishō zu den Versen des Shōdōka

Vorwort zum Gedicht Shōdōka, von Willigis Jäger

Hinführung zu den Teishō über das Shōdōka

Shōdōka – Text und Kommentar

Schlusswort, von Vijāya Volker Fey

Anmerkungen

Lesetipps

Widmung

Die Strophen der beiden großen und berühmten Gedichte Shōdōka und Shinjinmei waren der Anlass, für die Zen-Schüler des Nürnberg-Zendō im Rahmen ihrer Zazen-Übungstage und Sesshin diese Teishō zu geben. Auf Wunsch einiger Schüler, die nur selten im Zendō anwesend sein können, wurden die Darlegungen, die nun miteinander dieses Buch bilden, aufgeschrieben. Mögen die Texte ihnen und vielen anderen Übenden zur Ermutigung auf ihrem WEG dienen.

 

Vor allem aber widme ich dieses Buch in großer Freude und Dankbarkeit meinem Zen-Meister Willigis Jäger Kyo-un-Rōshi, Zen-Meister der Sanbō-Kyōdan-Schule, der mich bis hierher im Laufe vieler Jahre geführt hat und der unserem Zendō ein großer Helfer und Freund ist.

 

Sabine Hübner

Hinweis des Verlags

Standardschriftarten sind nicht in der Lage, alle in diesem eBook verwendeten Schriftvarianten darzustellen. Hierfür sollte im Lesegerät die «Verlagsschrift» aktiviert werden.

Vorbemerkung zum Text

In diesem Buch deuten ausnahmslos alle mit GROSSEN BUCHSTABEN geschriebenen Begriffe direkt auf die WESENSNATUR, das kosmische WESEN, das SEIN selbst, hin. Dieses ist eine Hilfe beim Lesen zum leichteren Verständnis der Texte.

Auch wenn in diesem Buch der Text des Shinjinmei scheinbar in etwas längere Strophen aufgeteilt ist, handelt es sich doch dabei um 145 kurze Verse, die einander vom ersten bis zum letzten folgen. Der gesamte Text wurde hier nur deshalb in größere Abschnitte aufgeteilt, weil es sich ursprünglich bei den Kommentaren um mündliche Unterweisungen handelt, die über größere Zeitabstände gegeben wurden. Sie gehören inhaltlich jedoch zusammen und gehen fließend jeder in den folgenden über.

Bei der Übersetzung der Original-Texte der Gedichte Shinjinmei und Shōdōka aus dem Chinesischen ins Deutsche hat Herr Dr. Günther Endres, Sinologe, mit hoher Kompetenz und spirituellem Einfühlungsvermögen unschätzbare Hilfe geleistet.

Ebenso hat mein Verleger mithilfe seiner Fachkenntnisse in klärender Weise zu der vorliegenden Übersetzung beigetragen. Seine Hinweise führten schließlich immer wieder zu einer treffenden und aufhellend-schönen Ausdrucksweise im Deutschen.

Herr Volker Fey, Gelehrter des authentischen Buddha-Dharma und seiner alten Sprachen, deutete im Rahmen dieser Übersetzungen viele Begriffe im Shinjinmei und im Shōdōka zum klaren und zweifelsfreien Verständnis des jeweils Gemeinten, entsprechend der authentischen Lehre des historischen Buddha, vor deren Hintergrund diese Gesänge eines Erleuchteten dereinst entstanden.

Allen dreien sei großer Dank für ihre freundliche, frohe und teilweise begeisterte Zusammenarbeit! So konnten diese schönen und alten Lehrgedichte des Zen in unsere moderne deutsche Sprache gebracht werden, ohne ihren ursprünglichen Sinn und Charakter zu verlieren.

Vorwort

Eine mystische Erfahrung ist wie die Erfahrung eines Liebenden. Sie lässt sich nicht in Worte kleiden. Man kann die Liebe nur besingen. Und daher fingen alle Weisen an zu dichten, wenn sie sagen wollten, was sie erfüllte. So ist es mit den Gedichten eines Johannes vom Kreuz, eines Rumi, eines Kabīr, so ist es auch mit den Zen-Gedichten Shōdōka und Shinjinmei.

Man kann eine tiefe Erfahrung nur besingen – wie man die Liebe besingt.

Shinjinmei heißt das erste Gedicht, um das es in diesem Buch geht. Gedichte faszinieren und locken: wir machen uns auf den Weg und erfahren, was sie vermitteln wollen. Die Worte erklären nicht, sie sind der Versuch, auf das Eigentliche zu verweisen, wie der Finger auf den Mond weist. Dabei besteht die Gefahr, dass der Finger angestarrt und nicht der Mond erfahren wird. Es ist die Angst aller Weisen, dass man aus ihrer Erfahrung ein System machen könnte, um darüber zu philosophieren, zu theologisieren.

Ein Gedicht auszudeuten, nimmt ihm leicht das Poetische. Ausdeutung verdünnt die Aussage. Und doch ist es sinnvoll, eine Deutung zu geben. Bilder im Zen können sehr fremd sein. Sie kommen aus einer anderen Kultur, einer anderen Zeit, aus einer anderen Religion und Weltsicht. Aber es geht nicht um Weltbilder. Die alte Erfahrung kann von dem, der sie heute selbst gemacht hat, unbefangen auch neu gesagt werden. Das macht die frische, unbekümmerte Art dieses Buches von Sabine Hübner aus. Hier wird nicht abgeschrieben, sondern aus einer aktuellen Erfahrung heraus niedergeschrieben. Die Worte kommen nicht aus dem Ich, sie kommen aus der Tiefe des Einen und Einzigen, das jenseits aller Konzepte und Vorstellungen liegt. Jeder empfängt aus einem Gedicht nur so viel, wie er selber erfahren hat.

Ziel des Zen ist Befreiung – Befreiung von allen Konditionierungen, von allen Fesseln, Ängsten und Intentionen. Nur wer einsieht, dass er gebunden ist durch Vorstellungen, Gefühle, Dogmen und gesellschaftliche Prägungen, wird ein solches Gedicht begreifen. Diese Prägungen, zusammengefasst im Ich, gehören zu unserem Menschsein. Wir brauchen das Ich für diesen Erdenweg. Aber eigentlich gibt es dieses Ich nur als eine vergängliche Anhäufung von Eindrücken. Unser Gedächtnis versucht, daraus eine permanente Identität zu machen. Zu erkennen, dass es diese vordergründige Identität nicht gibt, ist das Ziel des Zen.

Hinter der Ichstruktur liegt das, was Zen ‹Leerheit› nennt. Es gilt also, die normale Sicht der Welt zu transzendieren. Deswegen steigt man aber aus dieser Welt nicht aus. Die phänomenale Welt wird nicht zerstört. Das wäre eine negative Erfahrung. In eben dieser Form drückt sich ja das Wesen aus. Dieser non-dualen Welt, hier und jetzt, in der rechten Weise zu begegnen, ist das Ziel. Im Shinjinmei rezitieren wir: «Weist du das Dasein zurück, verlierst du dich im Dasein.» Es geht also nicht um Ausstieg, es geht um das Absetzen einer farbigen Brille, um die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist.

Im Sūtra Shinjinmei kommt weder das Wort «Buddha» noch das Wort «Gott» vor und auch nicht das Wort «Religion». Wenn wir Zen im Westen inkulturieren wollen, dürfen und müssen viele Bilder, Begriffe und Rituale, die sich im Lauf der Zeit angesammelt haben, zurückbleiben. Zen ist wie ein breiter Strom, der sich nach links und rechts durch die Landschaft schlängelt: Der Strom bleibt immer derselbe. So wird wirkliches Zen immer dasselbe bleiben, so wie auch der Ozean zeitlos derselbe bleibt – in allen Wellen.

Das Shinjinmei lässt uns erkennen, dass Zen keine Religion ist. Es kennt keine personale Gottesvorstellung. «Es gibt eine Wirklichkeit, die vor Himmel und Erde steht.» (Daiō-Kokushi). Zen ist ein Weg in die Erfahrung einer non-dualen Wirklichkeit und damit in eine große Freiheit. Das heißt nicht, dass man aus den menschlichen Gesetzen und Gepflogenheiten aussteigen muss, denn auch diese Gesetze und Gepflogenheiten sind – wie alles – eine Offenbarung der Ersten Wirklichkeit. Es heißt vielmehr, dass ich innerhalb jeder Lebensweise frei sein kann. Die Ethik in dieser Freiheit ist von einer starken allumfassenden Liebe getragen. Mitgefühl und Liebe gehören zum Kern jeder Erfahrung. Wo sie fehlen, fehlt der endgültige Durchbruch.

Der Weg des Zen führt über die Achtsamkeit. Sie ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit nur im Hier und Jetzt erfahren werden kann. Hinter unseren Sorgen, Vorhaben, Ängsten, hinter diesen Wellen, liegt das Wasser des Ozeans, die endgültige Identität. Erst wenn die Welle erfährt, dass sie das Wasser des großen Ozeans ist, schwinden alle Ängste. Lange verstrickt sich der Mensch im Wellenbereich. Das bedeutet Leid, Enttäuschung, Angst und Frustration. Er hofft lange, irgendeine Welle müsse doch die Erfüllung bringen, bis er erkennt, dass die Welle, wenn sie nicht offen zum Meereswasser hin ist, Eingrenzen bedeutet, Isolation und Entfremdung. Die meisten Menschen aber erkennen ihre Verstricktheit nicht; sie versuchen nicht einmal, herauszukommen.

Zen lehrt, dass jeder Atemzug, jeder Schritt, jeder Handgriff eine Welle ist, durch die wir der Eingrenzung entrinnen können, um schließlich zu erkennen, dass wir Wasser sind. In dieser endgültigen Wirklichkeit gibt es nicht Geburt, nicht Tod. Wellen kommen und gehen, das Wasser bleibt. Weil wir im Ich stecken, können wir nicht erkennen, dass es Geburt und Tod nicht gibt. Solange wir uns mit der Welle identifizieren, haben wir Angst zu verebben. Wenn wir uns mit dem Wasser identifizieren, vergeht die Angst. Erleuchtung ist nicht ein absolutes Erlöschen, sondern das Erlöschen aller Vorstellungen und Bilder, die wir uns von der Welt machen.

Dieses Buch kann uns Aufschluss geben über Zen. Vor allem aber soll es uns locken, selber den Weg des Zen zu gehen.

 

Willigis Jäger Kyo-un-ken

 

 

Teishōzu den Versen desShinjinmei

Vorwort zum Gedicht Shinjinmei

Das Shinjinmei ist wohl das älteste Zen-Gedicht. Daher ist es auch so karg und so direkt. Es kennt nicht die blumenhaften Ausschmückungen späterer Texte. Es hat nicht ein überflüssiges Wort. Jeder Satz führt zum Wesen des Zen.

Der Autor ist Kanchi Sōsan-Daishi [→ 1], der 3. Patriarch in China. Man weiß nichts über seine Geburt. Er erreichte 100 Jahre und soll, aufrecht unter einem Baum stehend, 606 n. Chr. gestorben sein. Sein Lehrer war der 2. Patriarch, Shinkō Eka-Daishi [→ 2]. Dieser soll seinen Arm abgehackt haben, um Bodhidharma seine Entschlossenheit für den Zen-Weg zu zeigen. Als Sōsan zu ihm kam, war er krank. Eines der Gespräche zwischen den beiden Meistern, das aus Anlass der Dharma-Übertragung auf Sōsan geführt wurde, soll wie folgt verlaufen sein. Sōsan: «Ich bin von einer Krankheit durchdrungen. Sie ist das Ergebnis meines vergangenen üblen Karma. Befreie mich von meinem üblen Karma.» Vielleicht war Sōsan überzeugt, wie das auch heute noch in archaischen Gesellschaften der Fall ist, dass seine Krankheit aus begangenen unheilsamen Taten herrührte. Eher jedoch wollte der Schüler den Meister prüfen. Eka antwortete ihm: «Das ist eine Schande. Bring mir das üble Karma und zeige es mir, ich werde es für dich reinigen.» Sōsan suchte nach dem üblen Karma, konnte es aber nicht finden, so sehr er auch danach suchte. Und so ging er zurück und gestand: «Ich habe danach gesucht, konnte es aber nicht finden.» Eka antwortete ihm: «Du leidest also an etwas, was gar nicht existiert. So habe ich dein Karma gereinigt.»

Im Zen-Selbstverständnis können Sünden nur beseitigt werden, indem man erkennt, dass sie leer sind. Das ist die Form von Erlösung im Zen. Wer seine WAHRE NATUR erkennt, erkennt auch, dass das, was man ‹Sünde› nennt, leer ist. Das aber ist nicht leicht zu verstehen. Auf keinen Fall bedeutet es einen Freibrief für böse Handlungen. Sōsan erfuhr in diesem Augenblick die essenzielle Leerheit aller Dinge. Er antwortete: «Dieser Geist ist Buddha. Dieser Geist ist die Lehre [→ 3]. Die Lehre und der Buddha sind nicht getrennt. Das gilt auch vom Sangha [→ 4].»

Sōsan war Ekas Diener und setzte währenddessen seine Zen-Praxis fort. Die Legende sagt, dass er auch langsam von seiner Krankheit geheilt wurde. Sōsan war damals schon mehr als 40 Jahre alt. Nachdem er den Dharma von Eka erhalten hatte, ging er zuerst für einige Zeit in die Einsamkeit. Wahrscheinlich verbarg er sich, weil eine Buddhistenverfolgung durchs Land ging. Er zählt zu den bedeutendsten Patriarchen der Zen-Geschichte.

 

Willigis Jäger Kyo-un-ken

Hinführung zu den Teishō über das Shinjinmei

Das Shinjinmei, die «Meißelschrift über den Glaubensgeist», wurde von Meister Sōsan, chin. Seng-tsan, dem 3. Zen-Patriarchen in China, verfasst.

Das Shinjinmei ist in diesem Buch in 14 Abschnitte aufgeteilt, seine Sprache lässt eine Verschmelzung des Buddhismus mit dem Daoismus erkennen. Es ist das älteste überlieferte Zen-Gedicht, das überhaupt noch existiert, und es ist seit jeher in allen Zen-Schulen sehr berühmt. Besonders der Anfang erscheint immer wieder und wieder in Kōan und Anekdoten mit alten Zen-Meistern.

Meister Sōsan starb wahrscheinlich etwa gegen Anfang des 7. Jahrhunderts. Da um diese Zeit der Buddhismus in China stark bekämpft wurde, war auch Sōsan wie so viele Zen-Menschen damals schweren Verfolgungen ausgesetzt.

Vom 3. Patriarchen werden zwei unterschiedliche Legenden erzählt, die beide beim ersten Treffen mit dem 2. Zen-Patriarchen in China stattgefunden haben sollen, obwohl diese beiden Geschichten trotz aller Ähnlichkeiten zum Teil widersprüchlich erscheinen, so als könnten nicht beide zum gleichen Zeitpunkt stattgefunden haben. In der ersten Legende erscheint Sōsan voller Zweifel und noch ohne tiefe Einsicht in das BUDDHA-WESEN, in der zweiten jedoch voll kühner Kraft und klarer Schau der WESENSNATUR.

Daher ist anzunehmen, dass verschiedene Biografen jeweils andere Aspekte ein und desselben Gespräches betonten, um das in ihren Augen Wesentliche zu überliefern, entsprechend dem, was sie den Menschen nahe bringen wollten, um diese zu lehren.

Höchstwahrscheinlich hat das erste Gespräch der beiden großen Männer sich ähnlich wie gleich folgt abgespielt. Da Sōsan in seinem Shinjinmei einen tiefen Durchblick in das WESEN DER WELT erkennen lässt, nehme ich an, dass die Legende, wie sie hier erzählt wird, mehr ist als nur Legende, dass sie der Wahrheit entsprach und immer noch entspricht. Hier ist sie:

Als Meister Sōsan zum 2. Zen-Patriarchen, Meister Eka, kam, soll er leprakrank gewesen sein. In alter Zeit glaubte man, kranke Menschen, und vor allem Leprakranke, hätten ein ungünstiges eigenes Karma abzutragen und somit ihre Krankheit selber schuldhaft verursacht. Als Sōsan nun Meister Eka begegnete, sagte dieser zu ihm:»Du leidest an Lepra! Was könntest du von mir wollen?«

Das wirkt, als habe der Meister gesagt: «Du schleppst ein so verheerendes Karma mit dir herum, dass du wohl nicht so schnell auf Rettung hoffen kannst! Was willst du also hier?» Es ist anzunehmen, dass Meister Eka, der eine tiefe Einsicht in das WAHRE WESEN hatte, sich nicht etwa durch dunkle Ideen von Krankheit als Folge von negativem Karma, das Sühne zum Ausgleich fordert, verwirren ließ, wohl aber Sōsan provozieren und damit prüfen wollte.

Nun lässt Sōsan seine wahre Einsicht aufleuchten, und er antwortet dem Patriarchen sofort auf prachtvolle Weise: «Auch wenn mein Körper krank ist, so ist der Herz-Geist eines Kranken doch nicht verschieden von Eurem Herz-Geist.» Der Überlieferung nach sagt er an dieser Stelle auch: «Ich habe mein Karma gesucht – und da ist keines! [→ 5] Auch wenn mein Körper krank ist – mein Herz-Geist ist gesund wie Euer Herz-Geist.»

Diese Antwort ist großartig. Sie zeigt, dass Sōsan klar erkennt, dass seine eigene WESENSNATUR und die WESENSNATUR des Meisters ein und dieselbe WESENSNATUR ist, die niemals krank oder gesund, wissend oder unwissend sein kann. Der Antwort Sōsans wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Sie ist der Standpunkt der WESENSNATUR, die kein Karma kennt, und wenn man noch so sehr danach sucht.

Als Eka erkannte, dass Sōsan, bereits ehe er ihm begegnete, sein GEIST-AUGE weitgehend geöffnet und die WAHRHEIT geschaut haben musste, nahm er ihn als Schüler an.

Später wurde Meister Sōsan der Dharma-Nachfolger von Meister Eka und damit der 3. Zen-Patriarch in China.

Wie nun lernen wir Meister Sōsan am besten kennen? Schauen wir tief in unser eigenes WAHRES WESEN, dann begegnen wir dort Sōsans WAHREM WESEN. Das ist die beste und wahrhaftigste Art und Weise, einem Zen-Patriarchen zu begegnen.

 

Nun überlassen wir uns den Strophen der «Meißelschrift über den Glaubensgeist» des Meisters Sōsan und nehmen auf, was er uns zu diesem Thema – «dem WAHREN WESEN begegnen» – zu sagen hat.

 

Sabine Hübner

 

1

 

Der höchste WEG ist nicht schwer,

wenn du nur aufhörst zu wählen.

Wo weder Liebe noch Hass,

ist alles offen und klar.

Doch die kleinste Unterscheidung

trennt Himmel und Erde in zwei.

Soll ES sich dir offenbaren,

lass Abneigung wie Vorliebe beiseite.

Der Konflikt zwischen Neigung und Abneigung

ist nichts als eine Krankheit des Geistes.

Verstehst du diese tiefe Wahrheit nicht,

versuchst du vergeblich, deine Gedanken zu beruhigen.

 

 

Der erste Vers des Shinjinmei taucht immer wieder in Zen-Texten auf. Er ist sehr berühmt und allen Zen-Schülern bekannt. Er wird oft zitiert.

Dieser berühmte Vers, «Der höchste Weg ist nicht schwer, wenn du nur aufhörst zu wählen», sagt uns: Der Weg der Erleuchtung ist nicht schwer. Er ist sogar leichter als alles andere. Der Zen-Weg ist nicht schwer. Der Weg des Erwachens ist nicht schwer …, wenn du nur aufhörst zu wählen! Bei diesem Wählen ist einerseits das Ergreifenwollen von etwas Angenehmem gemeint, was nicht vorhanden oder längst vergangen ist – und auf der anderen Seite das Sichwehren, das Ablehnen, das Bekämpfen von etwas Unangenehmem, Lästigem, Ungeliebtem. In jedem Fall ist damit ein Leugnen der Realität verbunden. Das kann mit heftigen Emotionen verbunden sein. Der Mann, der sagt: «Ich kann ohne diese Frau nicht leben, ich bringe mich um, wenn sie mich verlässt!», ist nicht mehr frei. Er ist besetzt von der Idee, dass er verloren sei durch den Verlust dieser einen Frau. Sein Leben erscheint ihm bedroht und sinnlos ohne sie. Es geht also bei dem unheilsamen «Wählen» um das Sichsträuben gegen die aktuelle Lebenssituation, gegen das momentane Faktum, das nun einmal so ist, wie es ist. Oft ist das Leiden durch dieses Sträuben riesengroß, auch wenn es um geringere Dinge geht als den Verlust einer Frau.

«… wenn du nur aufhörst zu wählen», damit meint Sōsan: «Der spirituelle Weg ist für dich ganz leicht, wenn du nur aufhörst, das haben zu wollen, was du nicht hast. Der höchste Weg ist nicht schwer, wenn du dich für das entscheidest, was du hast.»

Wenn wir annehmen, was uns gegeben ist, und loslassen, was uns nicht gegeben oder gar genommen wird, ist das Leben leicht. Dann wollen wir nur das, was uns in jedem Augenblick ohnehin geschenkt wird; und wir verlangen nicht mehr nach dem, was nicht möglich ist.

Der höchste Weg ist demnach nicht schwer, wenn du nur aufhörst, das Unmögliche zu wollen! Worunter leiden wir Menschen denn? – Nur darunter, dass eine Situation nicht so ist, wie wir sie uns im Kopf vorstellen. Die Vorstellung, der wir nachjagen, lässt uns leiden. Ich behaupte, das größte Übel für unser menschliches Wohlbefinden sind unsere eigenen Vorstellungen. Worum auch immer es geht, unsere Vorstellungen lassen uns leiden. Wir wollen, dass eine Situation anders sein soll, als sie ist, nämlich so, wie wir sie uns sehnsüchtig ausmalen. Vorstellungen! Fantasie! Welche Qualen wir Menschen uns damit so oft verursachen! Und dann die Ängste, die Dinge könnten sich entgegen unseren Wünschen entwickeln!

Aus Śākyamuni Buddhas Lehre wird oft der Satz wiederholt: «Leben ist Leiden.»

Der Ausspruch ist so natürlich unvollständig, denn Śākyamuni lehrt ja gerade einen Weg aus dem Leiden heraus. Diejenigen, die diesen Weg erfolgreich gehen konnten, deren Geist leer und rein geworden ist, haben ihr Leiden bereits abgelegt. Für sie gilt nicht mehr der Satz: «Leben ist Leiden.» Sie reiben sich nicht mehr an äußeren Dingen auf, da sie keine innere Entsprechung dazu mehr haben. Das Loslassen und das Annehmen haben sie befreit.

Wenn wir uns daran stoßen, dass alle Dinge und Situationen vergänglich sind, leiden wir; und wenn wir uns darüber aufregen, dass einfach nicht eintritt, was wir doch so peinvoll ersehnen, leiden wir.

Fast alles Leiden ist selbst gemacht. Man könnte sogar mit Berechtigung radikal behaupten: Alles Leiden ist selbst gemacht. Der Normalmensch kann sich dieses eben nicht vorstellen. Er neigt ohnehin dazu, die Verantwortung für seine seelischen Miseren den Mitmenschen und der Politik zuzuschieben und sich als Opfer zu fühlen.

Liebe Schüler, etwas Großartiges kann jeder von euch für sich selber tun: Nehmt an, was ist, so wie es ist, und das Leiden hört auf!

Nicht das Leben an sich bringt das Leiden, sondern das dauernde Kämpfen gegen oder für eine Situation, die doch nicht verändert werden kann. Das Nicht-annehmen-Wollen dessen, was ist, ohne dass wir es ändern können – das führt zu Leiden! Das ist eine schlichte und einfache Wahrheit, die es umzusetzen gilt.

Ein Mensch, der seine schwere Krankheit anzunehmen gelernt hat, hört auf zu leiden.

Unser Leben ist eine Lernphase, die wir zu absolvieren haben. Wir sollen hier das Annehmen und das Loslassen lernen. Das ist die wahre Bedeutung von Meister Sōsans «Nicht-Wählen».

Ich kannte einen Doktor der Philosophie, der vor Ärger schäumte, weil die Menschen nicht ausführten, was er von ihnen wollte, damit die Welt besser werde. Er litt darunter sehr. Er «wählte» etwas Unmögliches. Er «wählte», dass die Menschen sich nach seinen Vorstellungen zu verändern hätten, und er «wählte» für sie die Art und Weise, wie das zu geschehen habe. Er «wählte», wie die Menschen zu sein haben, wie die Welt zu sein habe. Nur – die Welt spielte nicht mit. Die Welt spielt nie mit. Sie spielt nicht mit nach unseren Vorstellungen. Sie spielt selber.

Eltern wählen manchmal für ihre Kinder deren Lebensstil, die Frisuren und Kleider, die Berufe, sogar die Partner – und doch handeln die Kinder dann ganz anders. Die Kinder spielen nicht mit. Das macht die Eltern unglücklich, weil sie ihre Kinder nur schwer freilassen können.

Selbstverständlich sollen wir Entscheidungen treffen und dann dazu stehen. Auch diese unsere Fähigkeit nehmen wir selbstverständlich an! Wir nehmen dann unsere Entscheidungen an, die Umsetzung und die sich daraus ergebenden Folgen. Wir bekämpfen nicht das abhängige Entstehen. Wir nehmen unser vollständiges menschliches Potenzial an, das doch vorhanden ist, und machen Gebrauch von ihm!

Wir nehmen unsere Krankheiten an, aber auch die Medizin.

Wir sind nicht etwa gleichgültig, weil ja alles EINS sei und wir uns deshalb für nichts mehr interessieren würden, sondern wir sind gleichmütig – das ist etwas anderes als Gleichgültigkeit – und nehmen liebevoll das Gegebene an, wobei wir zuerst und vor allem uns selber liebevoll annehmen. Mit uns fangen wir immer an. Wir haben die Möglichkeit, uns zu ändern – durch Selbstannahme. Mit der Selbstannahme beginnt die Veränderung. Das, was ist, zuerst zu akzeptieren, kann Veränderung bewirken. Es gibt ohnehin ständig Veränderung. Heilsam wird die Veränderung durch die Annahme unser selbst in der jetzigen Situation.

Nehmen wir als Beispiel das Sesshin: Obwohl gerade ein Sesshin die große Chance bietet, das Gegebene gelassen anzunehmen, wehrt sich hin und wieder im Sesshin mancher gegen vermeintliche Widrigkeiten, und seien sie noch so lächerlich und klein: Die Wand ist zu weiß, das Licht scheint zu hell durch das Fenster, abends dagegen sind die Lampen nicht hell genug, der Ofen bullert zu laut, ein Sitznachbar schnauft zu geräuschvoll, jemand hustet, der Gong wird zu unmusikalisch geschlagen, das Sūtra zu schnell oder zu langsam rezitiert, es ist zu kalt, oder es ist zu heiß. Wenn so ein selbstquälerischer Mensch innerlich immer wieder gegen Nichtigkeiten ankämpft wie gegen Windmühlenflügel, kann er niemals zufrieden sein, denn die Welt ist nun einmal nicht perfekt.

Das Sesshin ist nicht perfekt, wenn wir es perfekt haben wollen. Wir finden immer Fehler, wenn wir etwas unbedingt fehlerfrei haben wollen. Wenn wir aber die Gegebenheiten wertfrei annehmen, wie sie sind, geht es uns auf der Stelle gut: Wir sind ruhig und gelassen. Wir sind zufrieden. Wir nehmen Augenblick für Augenblick, wie der jeweilige Augenblick uns gegeben wird, und so haben wir die große Chance, dass dieser jetzige Augenblick sich uns öffnet.

Annehmen ist Sitzen mit offenen Händen und kein Zurückweisen dessen, was kommt, aber auch kein gieriges Ergreifen und Festhalten. Durch die offenen Hände fließt das ganze Leben wie Wasser. Wir schieben das Wasser nicht zurück, und wir halten es nicht fest.

Ebenso verfahren wir mit den Dingen, die von innen kommen: Wir nehmen an, was auftaucht, ohne es zu bekämpfen; und wir lassen los, was wieder geht. Wenn Gedanken, Gefühle oder innere Bilder aus der Vergangenheit auftauchen, nehmen wir sie an, so wie sie kommen, ohne sie festzuhalten. Dann gehen sie wieder, und wir lassen sie los. Wenn wir auf diese Weise annehmen, nämlich «wollen», was wir bekommen, und nicht wünschen, was wir nicht bekommen können – dann haben wir alles, was wir wollen. Dann sind wir einverstanden mit dem Leben, ob es nun leicht oder schwer ist. Der Unterschied zwischen «leicht» und «schwer» ist nur ein gradueller und kein prinzipieller. Wenn das unsere Wahl ist, dann ist unser höchster Weg nicht schwer. Das ist die große Freiheit, die wir im Leben haben, die vollkommene Freiheit des Menschen.

Nicht, dass wir uns an keinerlei Richtlinien und Ordnungen mehr halten müssten oder wie Chaoten handelten, wäre Freiheit. Nein! Freiheit ist, dass wir die Wirklichkeit wählen, wie sie ist, und nicht einer Fiktion, einer Illusion oder einem Luftschloss nachjagen.

Diese Art, die Wirklichkeit zu wählen, wie sie uns gerade begegnet, diesen Anblick – diesen Klang – diese Bewegung – dieses Regenwetter – diese Sommerhitze – das ist Meister Sōsans Nicht-Wählen – und das ist unsere Rettung.

Hiervon sprechen diese Worte:

 

Wo weder Liebe noch Hass,

ist alles offen und klar.

Doch die kleinste Unterscheidung

trennt Himmel und Erde in zwei.

Soll ES sich dir offenbaren,

lass Abneigung wie Vorliebe beiseite.

Der Konflikt zwischen Neigung und Abneigung

ist nichts als eine Krankheit des Geistes.

Verstehst du diese tiefe Wahrheit nicht,

versuchst du vergeblich, deine Gedanken zu beruhigen.

 

Nehmen wir also sorgfältig an, was kommt, denn es kommt ja doch; und lassen wir gleichmütig gehen, was geht – es geht ja doch. Alle Dinge sind im Wandel, und wir stimmen zu. So sind wir immer mit dem, was gerade da ist, einfach nur da.

Uns in diese innere Geisteshaltung einzuüben, schafft uns tiefen Frieden.

Üben wir den Frieden.

 

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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