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Shorty muss die Welt retten – SPIEGEL-Bestseller-Autor Jörg Maurer schickt uns in ein Abenteuer, so irrwitzig und unterhaltsam, wie nur er es kann Shorty ist ein unsteter Geist. Seine berufliche Karriere ist genauso wechselhaft wie sein Privatleben. Gerade repariert er elektrische Leitungen in einem Baubüro und überlegt, ob er die dort arbeitende Architektin Bluna zu einem Kaffee einladen soll. Da hört er plötzlich in seinem Kopfhörer eine Stimme, die ihn direkt mit Namen anspricht: »Shorty? Kannst du mich verstehen?« Die Stimme hat einen Auftrag für ihn. Er soll in dem Umspannwerk, wo er ebenfalls jobbt, eine kleine Maßnahme durchführen, angeblich, um die Welt zu retten. Die Stimme, die sich als hochintelligenter Alien vorstellt, versichert ihm, es sei ganz einfach, er müsse nur zum richtigen Zeitpunkt einen Kurzschluss auslösen. Shorty lässt sich auf die Sache ein, aber sie geht gründlich schief. Ein riesiges Durcheinander entsteht – nicht nur in der Stadt, in der Shorty wohnt, sondern auf der ganzen Erde. Shortys Problem: Alle Welt hält ihn für den Schuldigen an der Katastrophe. Was einerseits etwas ungerecht ist, andererseits aber auch nicht ganz falsch ... »Ich liebe die Romane von Jörg Maurer.« Denis Scheck
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Seitenzahl: 484
Jörg Maurer
Roman
Shorty muss die Welt retten – Jörg Maurer schickt uns in ein Abenteuer, so irrwitzig und unterhaltsam, wie nur er es kann
Shorty ist ein unsteter Geist. Seine berufliche Karriere ist genauso wechselhaft wie sein Privatleben. Gerade repariert er elektrische Leitungen in einem Baubüro und überlegt, ob er die dort arbeitende Architektin Bluna zu einem Kaffee einladen soll. Da hört er plötzlich in seinem Kopfhörer eine Stimme, die ihn direkt mit Namen anspricht: »Shorty? Kannst du mich verstehen?« Die Stimme hat einen Auftrag für ihn. Er soll in dem Umspannwerk, wo er ebenfalls jobbt, eine kleine Maßnahme durchführen, angeblich, um die Welt zu retten. Die Stimme, die sich als hochintelligenter Alien vorstellt, versichert ihm, es sei ganz einfach, er müsse nur zum richtigen Zeitpunkt einen Kurzschluss auslösen. Shorty lässt sich auf die Sache ein, aber sie geht gründlich schief. Ein riesiges Durcheinander entsteht – nicht nur in der Stadt, in der Shorty wohnt, sondern auf der ganzen Erde. Shortys Problem: Alle Welt hält ihn für den Schuldigen an der Katastrophe. Was einerseits etwas ungerecht ist, andererseits aber auch nicht ganz falsch ...
»Ich liebe die Romane von Jörg Maurer.« Denis Scheck
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Jörg Maurer ist Nr. 1-Bestsellerautor und wurde als Autor von zwölf Kriminalromanen wie auch als Kabarettist mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München, dem Agatha-Christie-Krimi-Preis, dem Publikumskrimipreis MIMI und dem Radio-Bremen-Krimipreis. Er wurde auch zum Münchner Turmschreiber ernannt. Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Nach dem Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften arbeitete er als Lehrer, dann als Kabarettist, bis er sich dem Schreiben zuwandte.
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Ist Ihnen beim Anblick einer Gruppe von manisch chattenden Jugendlichen schon einmal der Gedanke gekommen, dass all die Smartphones intelligente Wesen sind, die sich Menschen halten, um sie auszuspähen, in ihnen zu lesen, sie zu lenken und mit ihnen zu spielen? Oder fühlen Sie sich gar selbst bei vielen Entscheidungen fremdgesteuert? Kommen Sie sich des Öfteren vor wie ein ohnmächtiges, unbedeutendes Rädchen in einer gigantischen Maschine? Und glauben Sie manchmal, versteckte Botschaften in Wetterberichten, Popsongs, Gebrauchsanweisungen oder gar Romanen zu entdecken?
Dann trösten Sie sich. Für das alles gibt es Gründe. Eigentlich nur einen einzigen Grund.
Der wird Ihnen allerdings überhaupt nicht gefallen.
Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.
Johann Nestroy
Um das gleich von Anfang an klarzustellen: Shorty, dessen abschüssige Geschichte hier erzählt werden soll, waren derlei Gedanken noch nie gekommen. Natürlich besaß er ein Handy, aber er benützte es lediglich zum Telefonieren und um sich während besonders eintöniger Jobs Hörbücher reinzuziehen. Shorty hätte es für vollkommen verrückt gehalten, dass er von so einem harmlosen Gerät ausgelesen oder ausgespäht werden könnte. Er glaubte ohnehin nicht an höhere Mächte oder geheimnisvolle Strippenzieher. Shorty hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie fremdgesteuert gefühlt, er war sich im Gegenteil bei all seinen Schritten ziemlich sicher gewesen, dass er sie wohlüberlegt in die gewünschte Richtung gelenkt hatte. Er fand es eher lustig, dass jemand ernsthaft glaubte, die Beatles seien in Wirklichkeit die vier apokalyptischen Reiter, die mit versteckten Botschaften in ihren Songs das Ende der Welt einläuteten. Shorty wechselte rasch das Programm, wenn im Fernsehen ein Verschwörungstheoretiker wieder einmal mit der abgehangenen These von der inszenierten Mondlandung daherkam. Schwadronierte jemand in der Kneipe vom Kennedy-Mord durch die CIA (»Kennedy hat zuerst geschossen«), winkte Shorty nachsichtig seufzend nach dem Ober.
»Und selbst wenn es diese obskuren Strippenzieher geben sollte«, hatte er einmal bei einer Silvesterfeier argumentiert, »selbst wenn, dann hätten die doch bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich um solche kleinen Würstchen wie uns zu kümmern.«
Nach diesen Worten hatte er ein halbes Glas Erdbeerbowle hinuntergekippt.
»Und Gott?«, hatte einer aus der Geselligen Runde (von der später noch ausführlicher die Rede sein wird) nachgesetzt. »Was ist mit Gott?«
Gerade bei Silvesterpartys kommt das Gespräch immer wieder gerne auf Gott. Vielleicht liegt es an der Erdbeerbowle, die im Kugelglas schwappt und die einem in angeregter Stimmung durchaus vorkommen mag wie ein kleines sternengespicktes Universum voller beweglicher, nach den Kepler’schen Gesetzen einander umkreisender Planeten.
»Also, was ist mit Gott, Shorty?«, hatte der Skeptiker insistiert. »Dann dürftest du ja an den auch nicht glauben, oder?«
»Was hat Gott damit zu tun?«
»Eine geheimnisvolle Macht, die uns alle lenkt –?«
Auf Shortys Gesicht erschien ein ungeduldiger Zug. Schnell tauchte er die Schöpfkelle in die Kugel, um sich mit den vollgesogenen Früchten zu versorgen. Dass er auf diese Weise einen Ananasring und mehrere Erdbeeren aus ihren stabilen elliptischen Umlaufbahnen riss, entging ihm.
»Nur mal angenommen, es gäbe einen. Dann geht doch die Wahrscheinlichkeit gegen null, dass ein Gott an mir und meiner winzigen Existenz interessiert ist! Warum soll ich mich also umgekehrt für ihn interessieren?«
So hatte Shorty damals beim Millenniums-Jahreswechsel argumentiert. Er und die Gesellige Runde hatten sich den snobistischen Scherz erlaubt, den ganzen pompösen Wendeabend mit keinem Wort zu thematisieren, Mitternacht unaufgeregt sitzen zu bleiben und über alles Mögliche zu plaudern, nur nicht über das Jahrtausendereignis. Das Motto des Abends war es, sich gleichsam dem Diktat der schnöden Zahl zu entziehen. Shorty hatte das genossen. Denn das Gradlinige und Naheliegende war seine Sache nicht. Ihn zog alles magisch an, was abseits der ausgetretenen Pfade zu finden war.
Die Jahrtausendwende war lange her, Shorty hatte inzwischen die vierzig überschritten. Er wirkte sportlich, mit einem kleinen Ansatz von Schwarte über dem Gürtel, doch das tat dem fitten, kraftvollen Gesamteindruck keinen Abbruch. Die markant gefurchten Wangen und die hohe Stirn ließen ihn älter erscheinen, als er war, das aber machten die wachen, aufmerksamen Augen wieder wett. Shorty hatte bei aller Beweglichkeit etwas Gesetztes, etwas von einem altrömischen Senator, und deswegen hatte er sogar einmal eine Filmrolle angeboten bekommen. Der Casting-Scout einer Agentur hatte ihn auf der Straße angesprochen: Mensch, Wahnsinn, er sähe doch wirklich aus wie Julius Cäsar, oder jedenfalls so, wie man sich Julius Cäsar vorstellt. So einen wie ihn hätten sie schon lange gesucht. Es sei eine stumme Rolle. Eine stumme Rolle? Shorty war ein wenig enttäuscht. Ja, stummer ginge es gar nicht, hatte der Scout gesagt. Der Film spiele in der postcäsarischen Zeit, folgerichtig zeige die Anfangssequenz den legendären Staatsmann und Philosophen unmittelbar nach seiner Ermordung, auf der Treppe des Senatsgebäudes liegend, mit weit aufgerissenen Augen und den berühmten dreiundzwanzig Dolchstichen in der Brust. Tot? Mausetot? Ja, tot, aber sozusagen von einer edlen, altrömischen Töte. Shorty hatte zugesagt. Im Endeffekt blieb es dann aber sein einziger Auftritt in der Welt von Glamour, Glitz und rotem Teppich.
Und auch das war ganz typisch für Shorty. Es hatte schon vieles gegeben, was er nur ein einziges Mal angepackt und dann wieder aufgegeben hatte. Er, der durch sein nobles Äußeres immer den Eindruck vermittelte, als ginge er einer seriösen, erfolgversprechenden Arbeit nach und bastele an einer steilen Karriere, war im Grunde ein klassischer Gelegenheitsjobber. Shorty liebte diesen Ausdruck überhaupt nicht, er fand im Gegenteil nichts Kritisierenswertes daran, so vielseitig interessiert und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Seine Kumpels in der Geselligen Runde waren da von ganz anderem Schlag. Sie arbeiteten in qualifizierten Berufen, in denen Erfolge in klingender Münze gemessen wurden. Im Gegensatz zu Shorty, der möglichst viele Erfahrungen sammeln wollte, der sich überall schnell zurechtfand, jedoch genauso schnell die Lust verlor weiterzumachen. Zweifellos waren wirklich interessante und lukrative Tätigkeiten dabei gewesen, die er links liegengelassen hatte. Solche, in denen er hätte Fuß fassen können und die ihm Ansehen, Sicherheit und Wohlstand gebracht hätten. Aber diese Art von Dauerhaftigkeit passte nicht zu seinem Temperament. Einmal hatte er aus einer Laune heraus alle seine Berufe und Anstellungen zusammengeschrieben, in denen er jemals tätig war. Kaufhausdetektiv, Nachtportier, Schankkellner … Es waren mehr Jobs als Lebensjahre dabei herausgekommen.
Momentan verlegte er elektrische Leitungen bei der Firma Lix & Partner. Die Kabel waren in dem aufgeschlagenen Schacht über ihm nur lose und provisorisch befestigt, er musste aufpassen, dass er die richtigen Kontakte zusammensteckte. Immer wieder rieselten ihm Staub und Mörtel in die Augen. Hustend unterbrach er seine Arbeit und senkte den Kopf für ein winzig kleines Verschnaufpäuschen. Tief unter ihm breitete sich eine vorstädtische Wohnanlage aus, mit kurzgeschorenen Rasenflächen und einladenden Geschäftszeilen, schwungvoll geschnittenen Zufahrtsstraßen und dazwischen aufragenden achtstöckigen Hochhäusern, auf deren Dächern grün strotzende Gärten wucherten. Die Kieswege vor den Eingängen waren penibel geharkt, die Blumenbeete gepflegt, die Sträucher schienen frisch gepflanzt zu sein, so sehr glichen sie einander. Kein Lüftchen bewegte sie, kein Laut war zu hören. Die Straßen waren menschenleer, Shorty konnte zumindest niemanden ausmachen. Er fand die Anlage allerdings nicht sonderlich wohnlich, viel zu geleckt, nicht um viel Geld hätte er dort einziehen wollen, da lobte er sich seine verschrumpelte kleine, aber einzigartige Altbauwohnung in der Stadtmitte. Und natürlich seine reparaturbedürftige Fischerhütte am See, in der er manchmal übernachtete. Genau genommen war es nicht seine eigene. Natürlich nicht. Mit seinen Löhnen konnte er sich keine Fischerhütte mit zwei Booten leisten. Ein Rechtsanwalt, für den er immer wieder mal Kurierfahrten, Gärtnerarbeiten und den Winterdienst erledigte und der zudem Mitglied der Geselligen Runde war, hatte ihm im Gegenzug ein Dauerbenutzungsrecht eingeräumt. Shorty glaubte, dass der alte Zausel, der nur Scheidungen, Scheidungen und nichts als Scheidungen annahm, die Hütte schon längst vergessen hatte. Die Aussicht auf den See war jedenfalls immer inspirierend gewesen. Da sollte er mal wieder hinfahren. Seufzend hob Shorty den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Elektroklemmen aufschrauben, den blauen Draht rechts einstecken, Schraube wieder zudrehen, aufpassen, dass ihm nichts entglitt und hinunterfiel. Zweihundert Klemmen steckten noch in seiner Tasche, deshalb griff er zum Smartphone, um sich das Hörbuch weiter anzuhören, das er begonnen hatte, als er vor ein paar Tagen bei Lix & Partner mit der Arbeit angefangen hatte. Es war eine knüppelharte Räuberpistole mit vielen Schlägereien, Verfolgungsjagden, explodierenden Benzintanks und sonstigen Actiontools, momentan lief ein Gefängnisausbruch. Gianfranco Fantini, eine dubiose Gestalt mit einer Nasenprothese aus Silber, hatte sich gerade mit zusammengeknoteten Bettlaken durchs Fenster abgeseilt. Und wie herrlich Shortys Lieblingshörbuchsprecher Simon Jäger diese Stelle vortrug: Der Mond lag schlapp auf der Mauerbrüstung wie ein rolliger Iltis … Fantini schloss die Augen und lauschte … von Ferne vernahm er den verlockenden Verkehrslärm einer vielspurigen Autobahn … den Lärm der Freiheit. Dort wartete in einer Parkbucht der vollgetankte Fluchtwagen samt Pässen, Waffen und einer Sporttasche, prall gefüllt mit Geldscheinen. Gianfranco Fantini stöhnte leise auf. Die Bettlaken hatten nicht ganz zum Boden gereicht, die letzten drei Meter hatte er sich fallen lassen müssen, hart war er im Innenhof auf dem Beton aufgeschlagen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen humpelte er weiter. Doch dann zerrissen grelle Sirenen die Nachtstille. Auf den Wachtürmen blitzten schmerzhaft blendende Suchscheinwerfer auf. Rohe Kommandos schallten durch die Nacht. Gianfranco Fantini rannte los, er spurtete um sein Leben …
»Willst du auch einen Kaffee?«
Shorty drückte die Stopptaste seines Smartphones.
Ein junger Mann hatte die Tür vom Büro zum Lagerraum mit dem Fuß aufgestoßen, er war beladen mit meterlangen Papprollen, die er auf den Armen balancierte und nun in ein dafür vorgesehenes Regal schlichtete. Shorty nahm seine EarPods wieder ab.
»Was ist, willst du nun Kaffee oder nicht?«, wiederholte der junge Mann. »Wir machen drüben gleich Pause.«
Shorty schüttelte den Kopf. Der junge Mann hieß Eric, er war einer der Grafikdesigner des Architekturbüros Lix & Partner. Schnell ging Eric um den großen Tisch herum, auf dem das Pappmodell der geplanten vorstädtischen Wohnanlage im Maßstab 1:200 aufgebaut war, er belud sich mit weiteren Papprollen und verließ den Raum, ohne die Tür ganz zu schließen. Shorty konnte durch den Spalt einige der anderen Mitarbeiter von Lix & Partner sehen, allesamt über Baupläne gebeugt oder in tischtennisplattengroße Computerbildschirme starrend, auf denen man Grundrisse und Landkarten erkennen konnte. Shorty richtete seinen Blick zur Decke und nahm die Arbeit wieder auf. Er war schon drei Tage hier zugange, gestern hatte er die Schlitze für die Leitungen geschlagen und die Aussparungen für die Deckenspots gebohrt. Langsam richtete er sich auf der wackeligen Stehleiter auf und stützte sich mit der linken Hand von der Decke ab. Mit der rechten versuchte er, Ordnung in den Salat aus elektrischen Leitungen und Kabelbindern zu bringen. Immer die braunen Drähte zusammen, dann die blauen, dann die grün-gelben. Die Herren vom Ordnungsamt hatten die bisher frei liegenden Kabel moniert, einer hatte etwas von italienischen Verhältnissen gemurmelt. Und das in einem Architekturbüro wie dem Ihren, Herr Lix! Es musste also alles so schnell wie möglich unter Putz, bei der Gelegenheit sollte er auch gleich neue Lampen installieren. Der Chef fand allerdings, dass ein zertifizierter Handwerker dafür zu teuer war. Shorty mit seiner abgebrochenen Elektrikerlehre war genau der Richtige. Elektroarbeiten nahm er sowieso gerne an. Ihn faszinierte es, eine solch zerstörerische Macht wie die des fließenden Stroms in die Schranken zu weisen und nach Belieben zu lenken. Es waren die Phantasien von Zeus, dem notorischen Blitzeschleuderer. Gerade vorhin hatte Shorty daran gedacht, dass er es in der Hand hatte, nur durch eine einzige falsche Schaltung das ganze Büro Lix & Partner mitsamt seinem superklugen Chef lahmzulegen. Nette Idee, aber das traute er sich dann doch nicht. Also weiter mit der Arbeit: die Litze des braunen Kabels freifummeln, in die Lüsterklemme pfriemeln, zudrehen, nachprüfen, ob es nicht wackelte. Shorty hatte den Kaffee abgelehnt, weil er bis zur Mittagspause fertig sein wollte. Durch die halb geöffnete Tür hindurch konnte er einen Blick auf das knappe Dutzend Mitarbeiter erhaschen, die sich an den freigeräumten Tisch setzten. Eric reichte gerade einen Teller mit Süßigkeiten in Folienverpackung herum. Waren Snickers dabei? Nein, waren sie nicht, deshalb lohnte sich die Arbeitsunterbrechung sowieso nicht. Leises Murmeln und Geflüster, als ob die Gespräche nicht für Shortys Ohren bestimmt wären. Die hochaufgeschossene Architektin, Frau Lix, dünn wie ein Faden, der einem Schneider aus der Nadel geflutscht war. Ein Bauingenieur in Holzfällerhemd und lehmigen Stiefeln, der grimmig dreinblickende Chef und schließlich Bluna, die zweite Bauzeichnerin. Und ein freier Stuhl, gleich neben ihr. Sie winkte Shorty lächelnd zu, krümmte ironisch lockend den Zeigefinger und tätschelte mit der anderen Hand die Sitzfläche des leeren Stuhls. Shorty schüttelte bedauernd den Kopf. Er wollte mit der Arbeit fertig werden. Aber es war nicht nur das. Er hatte in den Pausen ein paarmal mit Bluna gequatscht, er hatte sie auf eine Zeichnung angesprochen, die er auf ihrem Schreibtisch liegen sah. Es war der Grundriss eines Bungalows.
»Arbeitest du gerade daran?«
»Nein, das ist privat. Ich zeichne gern. Das ist nur so eine Spinnerei von mir.«
Bluna hatte den Grundriss eines einstöckigen Wohnhauses mit zwei Zimmern, Küche und Bad skizziert, auf den ersten Blick sah alles ganz normal aus, beim näheren Hinsehen jedoch hatte er mit Verwunderung feststellen müssen, dass die Zimmer außerhalb des Hauses lagen, sich in alle Windrichtungen unendlich weit erstreckten, während im Inneren des Hauses nichts weniger als das ganze Universum zusammengepfercht war. Die Zimmer waren nach außen gestülpt, das Universum nach innen, dadurch maß das Universum zusammengenommen nicht mehr als 120 m2, die Flächen der Zimmer wiederum waren unendlich groß.
»Jedenfalls hat man viel Platz in der Küche«, hatte er gesagt und auf eine Spüle gedeutet, die laut Bemaßung ein paar Millionen Lichtjahre nach außen ragte.
»Ja, dafür ist die Welt umso kleiner«, hatte sie lachend erwidert. »Eine Reise zu fernen Galaxien dauert nur ein paar Minuten.«
Die Chemie zwischen ihnen stimmte, und der nächste Schritt wäre es gewesen, sich außerhalb des Lix’schen Architekturbüros in einer verschwiegenen Cocktailbar näher kennenzulernen. Aber Shorty hatte keine Anstalten in dieser Richtung gemacht. Sie hatten sich zwar kurz zu einem Abendessen getroffen, aber das war es auch schon. Er hatte gerade eine ungute Trennung hinter sich. Ihr Name war Solveig gewesen und sie hatte aus ihm einen besseren Menschen machen wollen. Anstatt das geduldig geschehen zu lassen und eventuell sogar ein solcher zu werden, hatten sie sich getrennt. Nach wenigen Wochen. Shortys Hang zur Unbeständigkeit wiederholte sich in allen Lebensbereichen. Die Schule kurz vor dem Abitur abgebrochen, eine Schreiner-, eine Elektrikerlehre und eine Ausbildung zum Industriehandelskaufmann angefangen, überschaubare Engagements in verschiedenen Vereinen, Initiativen und Parteien – es wird niemanden verwundern, dass sich die Beziehungen und Bindungen von Shorty ähnlich bröckelig gestaltet hatten. Shorty sah zu Bluna hinüber, die inzwischen den Blick gesenkt hatte, um die Süßigkeiten auf dem Teller zu begutachten. Er hatte natürlich bemerkt, dass sie enttäuscht über sein mangelndes Interesse war. Gefühllos war Shorty nicht. Eher unstetig. Sprunghaft. Wetterwendisch. Kapriziös. Mit rasch wechselnden und widersprüchlichen Empfindungen. Shorty fummelte nach seinem Handy, steckte sich die EarPods an und hörte das Hörbuch weiter: Gianfranco Fantini hetzte bis zum anderen Ende des Gefängnishofs. Und schon peitschte der erste Schuss durch die mondhelle Nacht. Klar, das hatte ja kommen müssen. Blitzartig warf sich der süditalienische Ausbrecherkönig zu Boden und robbte in Richtung rettender Mauer, an der schon die Strickleiter ausgerollt war. Geschmeidig kletterte er hoch. Und wieder spritzte knapp neben ihm eine Maschinengewehrgarbe an die Wand, blutrote Ziegelstücke brachen heraus und zerplatzten mit einem hässlichen Geräusch …
Die Tür öffnete sich, Bluna trat ein. Sie trug ein absinthgrünes Top, darüber eine opalfarbene Hemdbluse, lässig in der Taille geknotet. Die kaperngrünen Destroyed-Jeans mit ausgefranstem Saum gaben ihr etwas Kämpferisches, einen Hauch von Abenteuer, eine Spur Wildnis. Grün war offensichtlich ihre Lieblingsfarbe. In der Hand hielt sie eine große Pappkiste, die sie vorsichtig abstellte. Verschmitzt lächelnd begann sie, winzige Keramikfigürchen auszuwickeln und die Modellsiedlung damit zu bestücken. Die Geschäftszeile bevölkerte sie mit schlendernden Spaziergängern, auf ein Areal mit feinem Sand stellte sie eine Gruppe hochkonzentrierter Bocciaspieler, schließlich verteilte sie Bikinischönheiten auf dem grün wogenden Dach, die es sich in den winzigen bunten Liegestühlen fläzig gemacht hatten.
»Shorty, hörst du mich?«
Er drückte die Stopptaste und sah sich um. Außer Bluna war niemand im Raum.
»Hast du mich gerufen, Bluna?«
Sie blickte zu ihm hoch.
»Nein, wieso?«
Shorty schüttelte irritiert den Kopf. Er musste sich wohl verhört haben. Bluna zog nun mehrere schwarze Schablonen aus der Pappschachtel und platzierte sie an bestimmten Stellen des Modells. Erst nach und nach erkannte Shorty, dass das die Schatten waren, die die Gebäude warfen. Auch die Figuren fanden ihren Halt auf dunklen Flächen, die gleichzeitig ihren Schattenriss darstellten. Bluna rieb sich die Hände, schnitt ein zufriedenes Gesicht und verließ den Raum wieder.
Shorty drückte wieder die Starttaste. Immer noch stand er hoch oben auf der Leiter. Und wieder den rechten Draht in die rechte Öffnung der Lüsterklemme stecken, während Gianfranco Fantini über die Mauerbrüstung hechtete, ins dunkle Nichts sprang, zum Wald lief, Lüsterklemme zuschrauben, während in weiter Ferne die rettende Autobahn zu hören war … Motorengeräusche wie süße Verheißungen … Fantini hetzte atemlos durch den Wald. Seine Lungen brannten wie Feuer. Ein Schuss, und mit einem irren Aufschrei griff sich der Sträfling mit der silbernen Nasenprothese an den Oberschenkel …
»Shorty, hörst du mich? Kannst du mich verstehen? Antworte bitte … ich will wissen, ob ich die richtige Frequenz erwischt habe!« …
Dann Stille. Nicht einmal ein Rauschen. Shorty hielt erschrocken inne. Verwirrt blickte er um sich. Das war doch irre. Simon Jäger, der Sprecher des Hörbuchs kannte seinen Namen und sprach ihn damit an? Mitten in einer Verfolgungsjagd? Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Shorty hielt sich mit einer Hand krampfhaft am Leiterbügel fest. Er war unfähig zu reagieren. Doch jetzt wiederholte Simon Jäger seine Worte, sie klangen nun zerhackt und zerbröselt, wie der Anruf eines Kidnappers mit einem Voice-Changer:
»hort! all hort! anns u ic öre? erstehs du ic etz?«
Mehrere Sekunden vergingen. Drückende Stille machte sich breit. Lähmendes Entsetzen kroch Shortys Rücken hoch. Und dann, diesmal klar und deutlich:
»Hallo, Shorty, antworte! Ich will nur wissen, ob ich auf der richtigen Frequenz bin.«
Am 30. Mai ist der Weltuntergang!
Wir leben nicht mehr lang! Wir leben nicht mehr lang!
Die Toten Hosen
Immer noch unfähig zu antworten, vernahm Shorty jetzt technische Störgeräusche, die in den Ohren schmerzten, ein übersteuertes Jaulen und Fiepen, als ob ein Radioapparat die automatische Sendersuche gestartet hätte. War es ein defekter Stecker? Er wollte den Kopfhörer schon abnehmen, da löste sich die Stimme von Simon Jäger ganz deutlich aus dem Geräuschchaos:
»Shorty! Kannst du mich hören? Verstehst du mich jetzt? Hallo, Shorty! Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Dann verstummte die Stimme des Hörbuchsprechers abermals. Shorty blickte sich misstrauisch im ganzen Raum um. Doch außer ihm war niemand da. Die Tür zum Büro hatte Bluna wieder geschlossen, ein Lautsprecher war nirgends zu sehen. Die Stimme konnte nur aus seinen eigenen EarPods gekommen sein. Hatte es etwas mit den Leitungen an der Decke zu tun? Vorsichtig zupfte er an dem Drahtverhau, berührte eine Lüsterklemme mit dem elektrischen Schraubenzieher, doch er wusste vorher schon, dass die Stimme nichts damit zu tun haben konnte.
»Bitte antworte, Shorty«, wiederholte die Stimme freundlich. »Ich muss wissen, ob ich auf der richtigen Frequenz bin.«
Wieder knackste und fiepte es in der Leitung, ein wasserfallähnliches Rauschen brandete auf, durchsetzt von zwei, drei üblen Rückkopplungen. Schließlich dröhnte ihm das ganze Spektrum an Buzz, Squeak und Rattle in den Ohren. Shorty kniff die Augen zusammen. Schnell ging er einige seiner Freunde und Arbeitskollegen durch. Ein Joke von der Geselligen Runde? Vielleicht hatten sie Simon Jäger für den Anruf engagiert. Aber war es überhaupt ein Anruf? Er lauschte angestrengt, kam sich dabei ziemlich albern vor. Schließlich hörte das Knacken in der Leitung auf.
»Entspann dich«, fuhr die Stimme fort. »Es gibt keinen Grund zur Panik. Arbeite einfach an deinen Leitungen weiter und hör mir zu.«
»Wer bist du? – Warst du das, der vorhin schon mal angerufen hat?«, unterbrach Shorty flüsternd. »Vorhin in der S-Bahn?«
Rappelvoll war die S8 gewesen, er hatte gerade noch einen Platz ergattert. Bei dem grobschlächtigen Mann neben ihm hatte plötzlich das Handy geklingelt. Die Frau gegenüber zog pikiert die Augenbrauen hoch: Na, toll. Ihr Sitznachbar lächelte nachsichtig. Doch der Grobschlächtige schien den Anrufer nicht zu kennen.
»Mit wem spreche ich bitte? –« Er lauschte und blickte auf. »Entschuldigung, heißen Sie Shorty? Ich glaube, das ist für Sie.«
Kopfschüttelnd und verständnislos hatte Shorty das Handy angenommen.
»Ja? Hallo, wer ist denn da?«
Die Tonqualität war jedoch so schlecht gewesen, dass er schließlich aufgelegt hatte. Eine komische Sache. Woher hatte der Anrufer gewusst –
»Ja, aber da ist die Verbindung dauernd zusammengebrochen«, fuhr der Unbekannte mit der Stimme Simon Jägers jetzt fort. »Hier ist sie wesentlich besser. Und dort, wo du momentan stehst, ist sie perfekt. Hör einfach zu. Was ich dir jetzt sage, ist wichtig. Äußerst wichtig.«
Der Unbekannte legte eine bedeutungsvolle Pause ein. Shorty lauschte noch angestrengter als vorher. Der Schweiß brach ihm aus, sein Hemd klebte am Rücken. Was zum Teufel war das für ein böses Spiel, das man mit ihm trieb?
»Es wird entscheidend für dein Leben sein. Und nicht nur für deines. – Shorty! Hörst du mich?«
»Ja.«
Shortys Ja war mehr ein Krächzen als ein Ja. Die Stimme ließ sich jetzt sehr viel Zeit, schließlich sagte sie langsam und mit rücksichtsloser Ernsthaftigkeit:
»Es geht um den Fortbestand der Menschheit.«
Shortys Mund öffnete sich. Der Schraubenzieher glitt ihm aus der Hand und bohrte sich splatternd durch eines der achtstöckigen Hochhäuser. Er blickte kurz nach unten. Nur der Knauf lugte noch aus dem Dachgarten heraus. Die Bikinischönheiten waren mit ihren Liegestühlen größtenteils umgefallen oder ganz vom Hochhaus gepurzelt. In seinen EarPods rauschte und knackte es.
»Sorry«, sagte die Stimme. »Das werden wohl Funklöcher sein. Interferenzen, atmosphärische Schwankungen, was weiß ich. Ich bin kein Techniker.«
»Wer oder – was bist du – sind Sie – denn dann?«, flüsterte Shorty atemlos.
Was, wenn jetzt jemand in den Raum kam? Hektisch fingerte er sein Smartphone aus der Tasche. Möglicherweise hatte er vorhin aus Versehen aufs Display getippt, dabei das Hörbuch angehalten und irgendeine andere App aktiviert. Doch keine einzige Audiodatei war geöffnet. Shorty wischte weiter angestrengt auf dem Display herum. Vielleicht hatte jemand angerufen und war noch in der Leitung.
»Hallo!«, rief er ins Smartphone.
Keine Antwort. Ein weiterer Mitarbeiter des Büros stieß die Tür mit dem Fuß auf und wuchtete ächzend einen Stoß verschiedenfarbiger Aktenordner in eines der Regale. Es war der Chef des Unternehmens, Stararchitekt Ingolf Lix höchstpersönlich, der schon mal anpackte, wenn Not am Mann war. Das war aber auch das einzig Positive an ihm. Shorty hatte es in der Woche, in der er hier arbeitete, hautnah mitbekommen. Er war ein schlechter Chef: ungerecht, launisch, herablassend, cholerisch, nachtragend, humorlos, jähzornig – aber er half manchmal bei niederen Büroarbeiten. Besser als umgekehrt. Nachdem er alles verstaut hatte, blickte er Shorty ärgerlich an.
»Was ist los? Du schaust, als hättest du einen Geist gesehen. Und jetzt beeil dich gefälligst.« Er klopfte die Worte rhythmisch aneinander wie ein paar schmutzige Schuhe. »Arbeite weiter. Ich bezahle dich nicht fürs Musikhören.«
Hatte er mit der ganzen Sache zu tun? Nein, ihm traute Shorty am allerwenigsten einen Joke zu. Durch die offene Tür drangen laute Gespräche, Begrüßungen, Gelächter, vielleicht waren Kunden gekommen. Oder es wurde irgendein Abschluss gefeiert. Nachdem Lix den Raum verlassen hatte, stieg Shorty von der Leiter, zog den Schraubenzieher aus dem Hochhaus (dieses Malheur hatte der Chef zum Glück nicht bemerkt) und kletterte wieder hoch zu dem Gewusel der Leitungen. Mechanisch setzte er seine Arbeit fort, dabei überlegte er fieberhaft. Wer steckte hinter diesem unerklärlichen und verstörenden Anruf? Er konnte sich nicht mehr auf seine Schrauberei konzentrieren. Nachdenklich starrte er auf das Handy. Vielleicht war jemand durch eine Fehlschaltung zufällig in die Leitung geraten. Einer, dessen Stimme der von Jäger ähnelte. Ja, das war eine plausible Erklärung. Eine simple Phasenverschiebung – und er wäre vor Angst fast von der Leiter gefallen! Fortbestand der Menschheit, sehr witzig, eins drunter ging es ja wohl nicht. Gerade als er sich einigermaßen beruhigt hatte, knackte und schmatzte es erneut in der Leitung. Diesmal klang es wie vierzig rostige Schaufeln auf rauem Asphalt. Dann vernahm er klar und deutlich:
»Shorty, ich habe mit dir zu reden. Hör mir einfach zu, o.k.? Arbeite so unauffällig wie möglich weiter und spitz die Ohren.«
»Bist du Simon Jäger, der Hörbuchsprecher? Wir haben uns mal in einem Tonstudio kennengelernt –«
»Nein, bin ich nicht. Die Situation ist ohnehin schon so verwirrend für dich, also habe ich seine Stimme gewählt, weil du sie schon kennst.«
Shortys Mund fühlte sich staubtrocken an. Seine Knie gaben nach. Was zur Hölle war da los? Er musste sich an der Decke abstützen, so wackelig war er auf den Beinen. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Was stimmte nicht mit ihm? Waren akustische Halluzinationen nicht die Hauptsymptome von Schizophrenie? Vor einiger Zeit hatte er einen Bericht darüber gesehen. Stimmenhören war so etwas wie das Gratisticket in die Geschlossene. Shorty atmete kräftig ein und aus. Er spürte, dass er am ganzen Körper nassgeschwitzt war. Und ein und aus. Und ein und aus. Er musste etwas entgegnen. Vielleicht verschwand der Spuk ja dadurch. Sicher klärte sich auf diese Weise alles auf. Ganz sicher sogar. Nervös wischte er sich eine störrische Haarsträhne aus der Stirn.
»Wer – wer – bist du?«
Die Worte kamen leise und brüchig, noch immer mehr herausgekrächzt als gesprochen.
»Das ist nicht ganz leicht zu erklären«, erwiderte die Stimme. »Um es auf den Punkt zu bringen: Ich wende mich an dich, weil ich deine Hilfe brauche, Shorty.«
»Meine Hilfe? Warum – was willst du von mir?«
Plötzlich straffte sich Shortys Körper. Er richtete sich auf. Warum war ihm das nicht gleich eingefallen! Ein Grenzflächenmikrophon, das jemand mit einem daumennagelgroßen Pflaster irgendwo auf seinen Körper geklebt hatte. Dazu eine Membran, die als Lautsprecher fungierte, so dass man die Tonquelle nicht lokalisieren konnte und den Eindruck hatte, man hörte Stimmen im Kopf. Er hatte mal einen Film gesehen, in dem die U.S. Army so was als ›Weiße Folter‹ verwendete. Hieß nicht der Film auch so? White Torture? Egal jetzt. Vollkommen egal. Ein Sender irgendwo da draußen. Ein drahtloses Audioset. Und ein technisch versierter Spaßvogel, der eine Riesensache mit ihm veranstaltete. Und nun erinnerte er sich auch, dass ihn heute Morgen beim Herweg jemand angerempelt hatte. Genau! Nach der Geschichte in der S-Bahn, auf dem Bahnsteig. Er knöpfte sein Hemd auf.
»Was machst du da, Shorty?«, mischte sich die Stimme ein.
»Ich suche nach dem Mikro, das ihr mir verpasst habt. Du billiger Simon-Jäger-Verschnitt! Du sitzt doch da draußen irgendwo vor deinem Computer und lachst dich über deinen Riesenfez kaputt!«
Die Stimme in den EarPods hörte sich jetzt fast traurig an.
»Nein, Shorty, Mensch, mach mir keinen Kummer, spinn nicht so rum. Das ist kein Riesenfetz!« Der Unbekannte sprach das aus der Mode gekommene Wort so aus, als ob er es nicht kennen würde. »Die Sache ist ernst und wichtig. Knöpf zuerst einmal dein Hemd wieder zu.«
Zorn flammte in Shorty auf. Er riss die EarPods herunter und stopfte sie in die Hosentasche. Dann stieg er hastig von der Leiter, zwängte sich zwischen den Arbeitstischen und Regalen durch, stürmte durch zwei weitere menschenleere Lagerräume in die sogenannte Stiefelkammer, in der die schmutzigen Schuhe nach Baubegehungen gewechselt wurden. Er riss die Tür zur Angestelltentoilette auf und zog sich drinnen vollständig aus. Zentimeter für Zentimeter begann er seinen Körper zu untersuchen. Von oben bis unten. Und schon wieder hörte er ganz deutlich die Stimme:
»Es hat keinen Sinn, Shorty, du bist auf dem Holzweg. Gib es auf. Und zieh dich wieder an. Stell dir vor, wenn jemand hereinkommt. Was soll der von dir denken.«
Der Wahnsinn! Eine Kaskade von winzigen Nadelstichen durchlief Shortys Körper. Die Stimme befand sich in seinem Kopf! Ganz ohne Mikro. Das war furchterregend. Und der Unbekannte konnte ihn sehen! Das war der reinste Horror.
»Was – was soll das –?«, stotterte Shorty und griff sich mit beiden Händen an die Schläfen. Er ballte die Fäuste und hämmerte auf ihnen herum. Die Stimme blieb ruhig.
»Nein, du Idiot, ich bin nicht in deinem Schädel. Wirf mal einen Blick auf den kleinen Deckenlautsprecher da oben. In den habe ich mich eingeklinkt. Ich kann nur über die Membran eines Schallwandlers mit dir in Kontakt treten. In dein Eiweißhirn komme ich nicht rein, jedenfalls nicht, ohne es zu beschädigen.«
Shortys Atem flatterte immer noch. Eiweißhirn? Wieso Eiweißhirn? Splitternackt stand er da, und er kam sich nun doch ziemlich lächerlich vor.
»Solche Tricks wollte ich eigentlich vermeiden, Shorty. Du ziehst dich jetzt sofort wieder an, gehst in den Lagerraum zurück und arbeitest dort weiter. Schraubst die braun markierten Drähte in die linke Öffnung der Klemme, die blauen in die rechte, vergisst die Erdung nicht, du weißt schon: grün-gelb –«
»Was weißt du über meinen Job hier?«
»Shorty, ich weiß über alle deine Jobs Bescheid. Ich kann sie dir aufzählen, wenn du mir nicht glaubst. Tomatenpflücker, Bademeister, Stadionsprecher …«
»Stadionsprecher?« Shorty schluckte. »Das habe ich bloß mal für drei Stunden gemacht. Und es ist ewig lange her. Wie kannst du das wissen, Mensch?!«
Die Stimme war unerbittlich.
»… Möbelpacker, Inventurhelfer, Nachrufschreiber … Und eben auch Elektriker. Und in dieser Funktion brauchen wir dich. Also bitte, geh zurück an die Arbeit.«
»Ja, gut«, versetzte Shorty eingeschüchtert. »Aber dass du Simon Jägers Stimme hast, bringt mich total durcheinander.«
»Ich kann auch eine andere Stimme verwenden, wenn es nur das ist, was dich verwirrt.«
Rauschen und Kratzen, Fiepen und Rückkopplungen. Dann:
»Eins zwei, eins zwei, das ist jetzt eine andere Stimme, ebenfalls eine angenehme, wohlige Stimme. Eins zwei – besser so?«
»Ja, besser so«, murmelte Shorty.
Die Stimme, die Shorty jetzt hörte, kam ihm entfernt bekannt vor. Er war jedoch zu aufgewühlt, um sie einordnen zu können. Widerwillig und wie in Trance kleidete er sich an und verließ die Toilette. Die beiden indonesischen Reinigungskräfte hatten inzwischen begonnen, den schmutzigen Boden der Stiefelkammer zu putzen. Sie blickten kurz auf und nickten unverbindlich. Hatten sie etwas mitbekommen? Und wenn schon. Shorty hielt kurz inne, drehte sich von ihnen weg, griff sich sein Handy und wählte eine Nummer. Einen letzten Versuch, das Ding auf eine reale Ebene zu stemmen, wollte er noch wagen.
»Ja, Praxis Dr. Flessen.«
»Hallo, Günter. Shorty hier. Hast du gerade einen Patienten?«
Der andere verneinte. Dr. Flessen war ein Mitglied der Geselligen Runde.
»Nur ganz kurz.«
Shorty schilderte seine Unterhaltung mit der ›Stimme‹ und fragte, ob es möglich war, dass er sich das einbildete. Ob es sich vielleicht um Tinnitus handeln könnte.
»So, wie du das beschreibst, ist es kein Tinnitus.« Nach einem viel zu langen Zögern sagte der Arzt ernst und eindringlich: »Aber es ist besser, du kommst bald mal bei mir vorbei.«
Shorty bedankte sich und legte auf. Mit zittrigen Knien ging er wieder zurück in den Lagerraum, bestieg die Leiter, steckte sich die EarPods in die Ohren und nahm seine Arbeit auf, noch verkrampfter und mechanischer als vorher. Das Kabelwirrwarr verschwand langsam in dem Schlitz, und als Lix hereinkam, um eine Mappe mit Holzmustern aus dem Regal zu nehmen, pfiff der sogar anerkennend durch die Zähne.
»Sieh zu, dass du heute noch fertig wirst.«
Der Stararchitekt, wie ihn die Zeitungen oft bezeichneten, rauschte aus dem Zimmer. Ein wirklich unangenehmer Typ. Der hätte bei Shortys Cäsar-Dreh einen schön fiesen Brutus abgegeben. Von der Stimme war momentan nichts zu hören. Shorty sah auf die Uhr. Bald war Mittagspause für die Angestellten. Wenn er hier fertig war, würde er nach Hause in seine verwinkelte Altbauwohnung fahren, die Tür hinter sich zuknallen und sich im Bett verkriechen. Aber dass die Stimme jetzt ganz und gar schwieg, machte ihn auch nervös. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
»Bist du noch da?«, fragte er leise und vorsichtig.
Buzz, Squeak und Rattle. Eine besonders schmerzhaft helltönige, laute und kratzende Rückkopplung.
»Ja, Shorty. Ich höre dich.«
Shorty ließ sich mit der Frage Zeit. Er hatte Angst, sich lächerlich zu machen. Schließlich begann er zögerlich:
»Bist du –«
Er schämte sich, das Wort auszusprechen. Das war noch peinlicher, als nackt im Klo zu stehen und seinen schweißnassen Körper nach Minilautsprechern abzutasten.
»Bist du – ein Alien? – ein Außerirdischer?«
»Nun ja, die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich würde sie aber im Endeffekt bejahen. Ich gehöre einer Spezies an, die unvorstellbar weit von dir entfernt ist. Unvorstellbar weit für dich, mein Lieber. Wollen wir es zunächst dabei belassen, o.k.?«
Shorty befand sich im freien Fall. Jemand hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Das Weltall. Unendliche Weiten. Fremde Spezies. Psychiatrische Anstalt.
»Aber … aber –«, stotterte er, heiser flüsternd. »Wieso gerade jetzt, mitten in der Arbeit? Ich stehe hier momentan auf einer wackeligen Leiter, jeden Augenblick kann jemand reinkommen –«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Woher –?«
»Ich bin in Eile, Shorty. Ich habe schon öfter versucht, mit dir Kontakt aufzunehmen, aber es hat nie geklappt. In der S-Bahn, im Bootshaus, bei dir zu Hause.«
»Und von wo genau kommst du?«, stieß Shorty hastig und heiser hervor.
Er biss sich auf die Lippen. Das war eine dümmliche Frage. Was spielte es schon für eine Rolle, von wo genau. Verstohlen sah er sich um, ob auch niemand hereingekommen war. Oder ob ihn jemand durchs Fenster beobachtete.
»Nun, ich könnte dir natürlich Koordinaten nennen«, fuhr die Stimme geduldig fort. »Zahlen, Lichtjahre, Sternbilder, Energieraumpunkte, Zeitkrümmungsrelationen – ich könnte dich mit viel billigem Datenschmutz bewerfen, doch mit all dem würdest du nichts anfangen können.«
»Aber – Moment!«, rief Shorty und richtete sich auf. »Natürlich, das ist es!«
Plötzlich wusste er, warum ihm die Stimme so bekannt vorkam.
»Verdammt nochmal, sprichst du etwa mit meiner Stimme?« Er war so laut geworden, dass er Angst bekam, dass man ihn im Nebenzimmer gehört hatte.
»Ist dir deine eigene Stimme nicht angenehm?«, fragte der andere fast besorgt. »Ich habe sie ganz bewusst gewählt. Ich dachte, sie käme dir am wenigsten fremd vor.«
»Glaub mir«, keuchte Shorty. »Es gibt nichts Fremderes als die eigene Stimme.«
Die Stimme seufzte.
»Weißt du, ich bin mit den Feinheiten menschlicher Artikulation nicht so vertraut. Also, du willst weder den Hörbuchsprecher noch deine Stimme –«
»Kannst du nicht die eigene nehmen?«, zischte Shorty, jetzt fast ärgerlich. »Ich meine: deine eigene.«
Der andere lachte das erste Mal laut auf. Es war das Lachen Shortys. Dem kam es allerdings reichlich gekünstelt und unecht vor.
»Shorty, Shorty, was meinst du, wie dich das erschrecken würde! Ich gehöre einer Spezies an, die auf andere Weise kommuniziert.« Es folgte ein Brummen, Knarren und Schleifen. Die Nebengeräusche waren wirklich lästig. Aber sie kamen wenigstens nur noch in großen Abständen. »Ich bin eine Art Übersetzer. Ein Translationator. Ein Gondoliere, der dich von einem Ufer der Bedeutung ans andere bringt. Ich habe deine Sprache, wenn auch mühsam, erlernt. Meine eigene Stimme würde dich, wie soll ich sagen, in Angst und Schrecken versetzen! Willst du denn eine andere Stimmfärbung? Eine Frau? Deinen Lieblingsschauspieler? Einen italienischen Akzent, wie man ihn zum Beispiel in einem bestimmten Stadtteil von Neapel spricht? Die Lehrerin aus der Grundschule? Bill Gates? Die Stimme der Mutter von Howard Wolowitz, ganz authentisch aus dem Nebenzimmer gebrüllt? Oder lieber etwas Historisches? Martin Luther, Napoleon, Hitler …«
»Nein, um Himmels willen, belassen wir es dabei, so schlimm finde ich meine Stimme nun auch wieder nicht.«
»Aber gerne, Shorty«, sagte die Stimme Shortys zu Shorty in dessen angenehmstem Timbre. »So schlimm klingt deine Stimme tatsächlich nicht.«
Shortys Puls ging immer noch auf hundert. Die beiden Indonesier kamen mit Putzkübeln und Lappen in den Lagerraum und begannen hier mit ihrer Arbeit. Fiel ihnen nicht doch etwas auf? Hatte der eine von ihnen nicht gerade wissend und verschwörerisch gelächelt? Nein, das bildete er sich bloß ein. Lix beschäftigte die beiden schwarz, das wusste er von Bluna. Sie verstanden kein Wort Deutsch, reagierten nur auf das Wort »verschwinden«. Wenn Lix das zischte, so hatte ihm Bluna erzählt, liefen sie sofort in die Stiefelkammer, zogen sich um, verließen die Büroräume durch eine Seitentür, setzten sich auf die Terrasse des Bistros gegenüber und spielten die Touristen, mit Selfiesticks, Sonnenbrillen und dem zerfledderten Fremdenführer ›Europa in acht Tagen‹. Dabei unterhielten sie sich angeregt und deuteten bewundernd auf einen fernen Kirchturm. Jedenfalls so lange, bis die Jungs vom Ordnungsamt wieder weg waren. Ob die Geschichte stimmte? Zuzutrauen war es Lix. Mit offenem Mund starrte Shorty auf eine schillernde Seifenblase auf der Oberfläche des Spülwassers im Eimer, die größer und größer wurde, um sich schließlich mit einem schmatzenden Geräusch in nichts aufzulösen. Interessiert hätte es ihn schon, ob der Fremde die Stimme seiner Grundschullehrerin getroffen hätte. Oder wie die Stimme von Napoleon geklungen hatte. Stattdessen sagte er:
»Verrate mir bitte endlich, warum du mich kontaktiert hast. Ich fühle mich wirklich geehrt. Aber wie bist du auf mich gekommen? Was ist so Besonderes an mir?«
Shorty wusste allzu gut, dass an ihm ganz und gar nichts Außergewöhnliches war. Er bewegte sich auf der sozialen Skala nicht gerade ganz oben. Er hatte zwar sein Dasein als Jobhopper durchaus freiwillig gewählt, und er stand auch dazu. Doch manchmal beschlich ihn trotzdem das Gefühl, dass er sich sein Leben ein wenig schönredete. Ewig konnte das vermutlich nicht so weitergehen. Wie jeder kreative und neugierige Mensch träumte er davon, sich selbständig zu machen, doch dazu fehlte die Kohle, denn richtig gut bezahlte Jobs hatte er naturgemäß selten ergattert. Durch den ständigen Wechsel hatte er viele Menschen kennengelernt, doch Freunde im engeren Sinn hatte er kaum. In der Geselligen Runde wurde er geduldet, quasi als Quotenluftikus. Vorgestern, an seinem zweiundvierzigsten Geburtstag, hatte ihm bezeichnenderweise niemand gratuliert. Lediglich sein Physiotherapeut, bei dem er vor Jahren einmal in Behandlung war, hatte ihm eine vorgedruckte Grußkarte geschickt.
»Wir haben ein Problem.«
»Wer ist wir? Und was für eines? Und vor allem: Was habe ich damit zu tun?«
»Zunächst zu deiner letzten Frage: Du kannst es lösen. Du und nur du, Shorty.«
Du und nur du, Shorty. Das machte ihn trotz aller Verwirrung, in der er momentan steckte, fast ein wenig stolz.
Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.
Keilschrifttext aus Chaldäa, um 900 v. Chr.
Lix steckte den Kopf zur Tür herein. Shorty war bereits dabei, den Kabelschacht zu verschließen. Was wollte denn dieser lästige Controlletti schon wieder?
»Na also, geht doch«, sagte der Chef, um auf eine imaginäre Uhr an seinem Handgelenk zu tippen und gleich darauf wieder zu verschwinden.
»Es ist ein Unfall passiert«, fuhr die Stimme fort. »Oder sagen wir besser: eine Betriebsstörung. Allerdings eine ziemlich weitreichende. Stell dir das wie eine undichte Stelle in einem riesigen Tank vor. Nur dass in unserem Fall kein Wasser ausläuft oder andere kostbare Flüssigkeiten wie Blut, Wein oder Lethe, sondern Energie. Die Störung betrifft in erster Linie deinen Heimatplaneten, und zwar genau den Quadranten, in dem du lebst. Deshalb muss auch dort repariert werden. Wir haben vor, einen Trupp Arbeiter in deine Gegend zu schicken, der das in ein paar Minuten erledigt. Es ist wie gesagt nichts Dramatisches. Aber – und jetzt kommt das große Aber – mit diesem Aber kommst du ins Spiel, Shorty.«
Die Stimme legte eine bedeutungsschwere Pause ein. Die beiden Indonesier quälten immer noch schweigend den Boden. Es pflatschte und quiekte, das erdete Shortys angegriffene Nerven fast ein bisschen, sie standen im Raum wie zwei Fixpunkte zur Realität, wie zwei sichere Verbindungen zu seiner gewohnten und alienfreien Welt. Einem der indonesischen Cleaner fiel jetzt eine Glasflasche mit Reinigungsmittel zu Boden, die krachend zerschellte. Er fluchte laut. Auf Indonesisch, was sich sehr eigenartig und gar nicht besonders fluchig anhörte. Außer vermutlich für Indonesier.
»Die Reparatur darf von eurer Spezies keinesfalls bemerkt werden«, fuhr die Stimme fort. »Es entsteht zwar nur ein kleiner Blitz am Himmel, und das auch nur für einige Augenblicke, aber ihr befindet euch momentan – wie soll ich sagen – in einem ungünstigen Entwicklungsstadium. Wenn ihr noch im Mittelalter oder in der Steinzeit stecken würdet, dann bekämt ihr diese temporäre und lokal begrenzte Schwankung des Erdmagnetfeldes mangels genauer Messinstrumente gar nicht mit, wir könnten ohne weiteres reparieren. Wenn ihr andererseits schon zwei- oder dreihundert Jahre weiter wärt mit eurer … Physik –«, die Pause vor Physik war unverschämt lang, »– dann würde die menschliche Zivilisation die Zusammenhänge begreifen, wir könnten die Reparaturen mit euch absprechen und ganz offen durchführen. Aber momentan wäre eine drastische Veränderung der Takashi-Konstante auf der Erde vollkommen unerklärlich. Und, lieber Shorty: Etwas ganz und gar Unerklärliches ist für eine so wackelige Welt wie die eure verhängnisvoll.«
»Takashi-Konstante?«
»Ja, so nenne ich sie mal. Schlag es gar nicht erst nach. Ich schätze, dass der Japaner seine Untersuchung darüber bei euch nicht veröffentlicht hat.«
»Das musst du mir erklären. Was sollte geschehen?«
»Eure derzeitigen Wissenschaftler hätten keine Antworten für den Blitz und die schlagartige elektrische Spannungsveränderung in der Atmosphäre parat. Das ist ein idealer Nährboden für Spekulationen und Verschwörungstheorien. Glaub mir: Es käme über kurz oder lang zu Unruhen, zu großflächigen Panikreaktionen, am Ende sogar zu Kriegen. Es könnte das Ende der Zivilisation bedeuten.« Mit einem staatspräsidialen Beben fügte er hinzu: »Shorty, du hast die ehrenvolle Aufgabe, all das zu verhindern.«
Shorty lachte ungläubig auf.
»Ich soll also die Welt retten? Ausgerechnet ich?«
»Du scheinst dich darüber lustig zu machen. Aber wenn du so willst: ja. Die. Welt. Retten. Es klingt sehr abgegriffen, aber es trifft den Sachverhalt.«
»Und was genau soll ich tun?«
»Führst du jetzt schon Selbstgespräche, Shorty?«
Das war wieder Bluna, die sich aus dem Schrank einen Eimer Figurengießmasse holte. Die auf der Straße liegenden Bikinischönheiten, deren Schatten momentan senkrecht nach oben standen, bemerkte sie nicht. Sie lehnte sich an das untere Ende der wackeligen Stehleiter. Shorty warf ihr einen kurzen Blick zu. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Er wurde unsicher, wenn ihm Bluna so nah kam.
»Echt gutes Hörbuch, das ich mir runtergeladen habe«, schnatterte er überflüssigerweise. »Ich habe es mir schon so oft angehört. Kann es fast mitsprechen.«
»Sag bloß«, entgegnete Bluna spöttisch und fingerte am Deckel des Eimers herum.
Dann stieß sie sich graziös von der Sprosse ab, vollführte eine unbestimmte Handbewegung, die er nicht recht deuten konnte, und verließ den Lagerraum. Nach einer Weile sagte die Stimme:
»Du arbeitest doch einmal die Woche als Putzer im Umspannwerk.«
»Ja, ich reinige die Kontakte der Sicherungen in den Schaltschränken. Warum?«
»Du wirst dort einen lokal begrenzten Kurzschluss erzeugen, der zu einem Stromausfall von ein, zwei Minuten führt. Das genügt als Ablenkung. In dieser Zeit reparieren wir. Und niemand von euch wird die Schwankung bemerken. Weil sie der Stromausfall überdecken wird.«
Shorty war enttäuscht. Ein klein bisschen hatte er gehofft, wegen seiner charakterlichen oder intellektuellen Fähigkeiten ausgewählt worden zu sein. Zum Beispiel wegen der einen Gehirnwindung mehr, die bisher noch niemandem aufgefallen war, die aber seinen Mitmenschen fehlte. Oder wegen seiner Fähigkeit, sich in jede nur erdenkliche neue Situation rasend schnell einzuarbeiten. Oder gar wegen seines noblen cäsarischen Aussehens. Unwillkürlich nahm er bei diesem Gedanken eine straffe Haltung an, drückte die Brust heraus und zog majestätisch den Bauch ein. Aber aus acht Milliarden Menschen nur wegen eines windigen Hausmeisterjobs herausgepickt zu werden … Shorty spürte, wie ein kleines Pfund Wut in ihm aufstieg. Und auch Misstrauen gegenüber der Stimme. Das aber zentnerweise. Klar, die Stimme wusste von seinem Job als Reinigungskraft im Umspannwerk. Aber der Ausdruck ›Putzer‹ hatte ihn geärgert. Zweifellos bestanden die meisten seiner Verdienstquellen aus unqualifizierten Arbeiten. Aber musste ihm das die außerirdische Intelligenz so deutlich unter die Nase reiben?
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Shorty. »Ich habe ganz vergessen, dich danach zu fragen.«
»Wir haben keine Eigennamen.«
»Und wie geht das? Wie redet man dich an?«
»Man redet mich gar nicht an. Wenn jemand anderer redet, dann kann ich aus dem Zusammenhang erkennen, ob ich gemeint bin oder nicht. Die Bäume im Wald wachsen auch ohne Eigennamen in die Höhe.«
Shorty schüttelte den Kopf.
»Wir von der Erde brauchen aber einen Namen für jemanden, mit dem wir sprechen.«
»Ihr von der Erde, ja, ich habe das schon bemerkt.«
»Wie wäre es, wenn du dir selbst einen Namen gibst?«
»Wozu?«
»Ja, Mensch, damit ich dich anreden kann.«
»Du redest mich doch an. Hör zu, meine Spezies ist ein Vielfaches älter als die deine, wir sind jetzt fünfundsechzig Millionen Jahre ohne Otto und Hugo und Ilse ausgekommen, warum soll ich in der Rumpelkammer eines Architekturbüros damit anfangen?«
Shortys Gesicht verzog sich zu einem kleinen Schmunzeln.
»Ich gebe auf«, seufzte er schließlich. »Dann bekommst du eben keinen Namen. Du bist für mich einfach Die Stimme.«
Der andere seufzte ebenfalls. Das Seufzen klang übertrieben, wie auf der Theaterbühne für die letzte Reihe. Imitierte und veräppelte er Shorty jetzt?
»Jedes einzelne Mitglied meines Volkes könnte man ›Die Stimme‹ nennen.«
»Und wie nennt sich dein Volk insgesamt?«
»Wir werden oft die Bageliten genannt, auch Lochkrapfen oder Tori, wie du willst.«
»Lochkrapfen? Im Ernst?«
»Manche nennen uns so. Die meisten nennen uns die Ruu’n.«
Shorty hatte den Gedanken noch nicht vollständig aufgegeben, dass alles ein riesengroßer Bluff war. Dass sich jetzt vielleicht ganz in der Nähe irgendwelche Typen kaputtlachten über seine Naivität, an einen unsichtbaren Außerirdischen zu glauben. Und sich mit ihm zu unterhalten!
»Warum steigst du eigentlich nicht einfach aus deinem Raumschiff und kommst hierher? Wir könnten uns diskret in der Tiefgarage treffen. Falls du Angst hast, wegen deines Äußeren aufzufallen.«
Die Stimme antwortete nicht sofort. Es rauschte und knackte wieder in der Leitung. Dann ertönte ein Geräusch, als ob ein Laster tonnenweise Glasflaschen im Vorgarten ablud.
»Das ist nicht möglich. Ich befinde mich nicht bei dir auf der Erde.«
»Was?«
»Ich sende Funksignale. Es sind eine Art Radiowellen.«
»Du bist in einem Raumschiff?«
»Nein. Die Entfernung zwischen uns und euch wäre auch mit dem leistungsfähigsten Raumschiff nicht zu überwinden. Ich sitze, wenn du so willst, in einem Büro, vor einem Funkgerät, und ich klinke mich in Lautsprechermembranen ein, die sich in deiner Nähe befinden. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir das Ablenkungsmanöver nicht selbst durchführen können. Wir sind zwar in der Lage, irdische Computersysteme zu manipulieren. Aber das wäre für eure Techniker viel zu leicht nachzuverfolgen und würde zur Vermutung eines Hackerangriffs führen. Wenn aber du, Shorty, einen Stromausfall per Hand erzeugst, werden keine Spuren von uns zurückbleiben. Man wird es als Materialermüdung eines veralteten Moduls betrachten, und der Käse ist gebissen. Ich bereite deinen Auftritt vor, auf die Bühne musst du selbst steigen. Es wird ein großer, denkwürdiger Auftritt werden, Shorty. Du wirst mit ein paar kleinen Handgriffen die Zukunft der Menschheit sichern.«
Wieder dieses staatstragende Zittern in der Stimme der Stimme. Direkt gruselig, dachte Shorty.
Doch er ließ nicht locker. Er hatte wieder ein klein bisschen an Souveränität gewonnen.
»Aber wenn es möglich ist, dass du mit mir auf der Erde Kontakt aufnimmst, dann müsste doch umgekehrt auch ich –«
»Jetzt wird er aber übermütig, unser Shorty«, unterbrach ihn die Stimme, die eigentlich seine war, und sie mischte genauso einen Hauch Ironie hinein, wie er das gemacht hätte. »Aber ich habe die Frage erwartet. Ja, du kannst ein bisschen bei uns auf der Oberfläche herumspazieren.«
Willkommen zum Grande Finale.
Die Erde geht unter, erfahren wir soeben.
Der Eintritt ist ohne Bezahle,
Sie zahlen hier bloß mit Ihrem Leben.
Udo Lindenberg
Shorty hatte seine Sachen zusammengepackt und die wackelige Leiter an den großen Haken in der Stiefelkammer gehängt. Nachdem er die Hände mit der Wurzelbürste bearbeitet hatte, zog er den Stöpsel aus der Spüle und stierte auf den Strudel, mit dem das Wasser im Abfluss verschwand. Takashi-Konstante. Er würde trotzdem danach googeln.
»Und wie soll das vor sich gehen?«, fragte er. »Ich meine: das mit dem Herumspazieren?«
»Aber hallo!« Es klang so, als ob die Stimme genüsslich mit der Zunge schnalzte. »Zunächst düsen wir mal mit zwanzigfacher Lichtgeschwindigkeit los, schalten auf Warp 8, und dann – foiiiiiiiingszzplash – durchqueren wir beiden Hübschen die Betreka-Nebel, nehmen aber eine Abkürzung über zwei, drei Wurmlöcher, Aye, aye, Käpt’n Picard!, landen kurz auf meinem Planeten, zum Abendessen sind wir aber auf jeden Fall wieder zurück.«
Shorty schüttelte verwirrt den Kopf. War da im Hintergrund nicht sogar die Titelmusik von ›Raumschiff Enterprise‹ zu hören gewesen?
»Wie bitte?«
»Kleiner Spaß, muss auch mal sein. Nach Aristoteles ist Komik eine unschädliche Ungereimtheit, die Nachahmung eines mit Hässlichkeit verbundenen Fehlers, nach eurem Philosophen Kant die plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts und nach Schopenhauer die scheinbar aus dem Nichts kommende Wahrnehmung einer Inkongruenz.«
Blechernes Lachen, pubertäres Gegacker. Oder war es bloß wieder eine Tonstörung?
»Mein liebes Eiweißhirnchen, wir können da nicht einfach hinfliegen«, fuhr die Stimme fort. »Auch nicht mit Überlichtgeschwindigkeit. Die zudem gar nicht möglich ist, wie du sicher weißt. Genauso wenig, wie sich Wurmlöcher beweisen lassen. Das sind rein theoretische Konstrukte, niemand hat bisher eines gefunden, selbst die Ruu’n nicht oder die Konföderation der Tjuttschew-Völker, deren Wissenschaft sich zur menschlichen verhält wie ein Quantencomputer zu einem Kinderrechenschieber.«
»Du hast das Modell unbrauchbar gemacht, mein Freund. Das muss ich dir vom Lohn abziehen«, sagte Lix, während er seine fettverschmierte Designerbrille putzte.
Unvermittelt war er in die Stiefelkammer getreten, brillenlos sah er aus wie ein triefäugiger Gnom. Shorty nickte zerstreut und hängte sich seine Werkzeugtasche um.
»O.k., dann ziehen Sie es mir ab.«
Das war jetzt auch schon egal, dass ihm der öde Typ das bisschen lädierte Pappe berechnete. Das Beste an dem Modell waren sowieso Blunas kunstvolle Schatten gewesen: der große, beeindruckende Schlagschatten des Hauses und die vielen kleinen Schlackerschatten, die die Bikinischönheiten auf dem Dach warfen. Trotz der extrem stressigen Situation, in der sich Shorty befand, stieg ein kleiner, wohliger Schauer in ihm auf. Darüber vergaß er sogar den Ärger, dass Lix ihn unverschämterweise ständig duzte. Er fühlte sich dem fies grinsenden Bürohengst überlegen. Das tat gut. Shorty wunderte sich selbst darüber, wie gut das tat. Wenn du wüsstest, mit wem du hier sprichst, dachte Shorty. Und wenn du nur eine Ahnung davon hättest, mit wem ich mich gerade unterhalte.
»Ich habe einen Avatar für dich eingerichtet«, fuhr die Stimme fort, als die Brille von Lix wieder halbwegs sauber und er selbst gegangen war. »So ein Exokörper verbraucht zwar eine Unmenge an Energie, aber du bist es uns wert.«
»Und wann soll das stattfinden?«
»Heute Nachmittag. Du hast, bevor du deine Manipulation im Elektrowerk beginnen wirst, noch einen diplomatischen Termin. Eigentlich ist es eine Audienz bei seiner Exzellenz, dem Möglichen Kaiserchen. Und Ihro Gnaden trittst du in der Gestalt eines Avatars gegenüber.«
Shorty schüttelte ungläubig den Kopf.
»Was denn für ein Kaiserchen? Ich dachte, eure Zivilisation wäre so furchtbar weit entwickelt. Und dann lebt ihr in einer K.-u.-k.-Monarchie, wie?«
»Ich verwende Begriffe, die für dich verständlich sind. Unser soziales System ist hierarchisch und gleichzeitig fraktal gegliedert.«
Einige Übertragungsstörungen und Buzzes und Squeaks und anderer akustischer Schrott unterbrachen die Stimme. Wenn die Typen technisch wirklich so überlegen waren, warum bekamen die dann eine simple Rückkopplung nicht in Griff? Denn danach klang es. Shorty hatte einmal als Mädchen für alles in einem Tonstudio gearbeitet. Das Pfeifen und Kratzen erinnerte ihn daran. In diesem Tonstudio hatte er auch seinen Lieblingssprecher Simon Jäger kennengelernt, von dem er sogar eine signierte CD besaß.
»Es gibt bei den Ruu’n durchaus eine Rangordnung, aber jeder kann jeden Platz besetzen«, fuhr die Stimme störungsfrei fort. »Wir haben eine Art Rotationsprinzip. Es ist eine fließende – nun ja, Demokratie kann man es auch nicht nennen. Es gibt jedenfalls jemanden sehr weit oben, der sich bei dir bedanken will. Ich nenne ihn für dich das Mögliche Kaiserchen. Selbst ich als Translationator und diplomierter Astrolinguist finde oft keine Begriffe in deiner Sprache. Ich muss also auf Umschreibungen und Hilfsvorstellungen ausweichen. Hast du schon einmal versucht, deiner Katze die Integralrechnung zu erklären? Oder ihr vorgeschlagen, Haikus zu schreiben?«
Shorty ging nicht auf die Frechheiten ein. Außerdem besaß er gar keine Katze.
»Aber wieso Mögliches Kaiserchen?«, fuhr er fort. »Kannst du mir wenigstens das erklären?«
»Seine wellenbasierte Herrlichkeit existiert in mehreren Zuständen gleichzeitig. Schon mal was von Heisenberg gehört? Welle-Teilchen-Dualismus? Compton-Effekt? Bragg’sche Beugung?«
»Ja, ich erinnere mich dunkel. Die Begriffe sind im Physikunterricht gefallen«, murmelte Shorty kleinlaut.
Er hatte schon mehrmals entsprechende populärwissenschaftliche Abhandlungen in dieser Richtung gelesen. Wissenschaft interessierte ihn, aber er war nie über die Hälfte eines Buchs hinausgekommen. Irgendwann setzte sein Verständnis für das, was die Welt im Innersten zusammenhält, einfach aus. Shorty fragte sich, warum sie sich für ihre Aktion nicht jemanden ausgesucht hatten, der ein bisschen mehr Ahnung von der Materie hatte. Zum Beispiel Klaus Tietze von der Geselligen Runde. Der war Wissenschaftsjournalist bei verschiedenen Zeitschriften und Magazinen und konnte alles wunderschön erklären: die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, die Sache mit den Photonen, die keine Masse haben und trotzdem da sind …
»Dunkle Erinnerung, im Physikunterricht gefallen, soso«, äffte ihn die Stimme anzüglich nach.
»Und wieso Kaiserchen? Ist euer Herrscher ein Kind?«
»Du meinst wegen: Altes Testament, Prediger 10:16, Weh dir, Land, dessen König ein Kind ist?«
»Jetzt bin ich aber platt. Du kennst die Bibel? Sind die Ruu’n am Ende katholisch?«
»Viele Völker kennen die Bibel«, erwiderte die Stimme mit plötzlichem Ernst. »Du musst wissen –«
Die Stimme stockte. Interessiert richtete sich Shorty auf. Er hatte ein äußerst distanziertes Verhältnis zur Religion, aber was die Stimme dazu zu sagen hatte, hätte er schon gerne gewusst. Doch bevor sie das Thema vertiefen konnten, kam Lix noch einmal zurück. Er zog ein paar zerknitterte Geldscheine aus der Hosentasche und blätterte sie mit säuerlichem Ausdruck auf den Tisch. Eine Quittung oder dergleichen gab es nicht, es handelte sich eher um verschwiegenes, außerbuchhalterisches Salär, aber Schwarzgeld war ohnehin Shortys zweiter Vorname.
»Zähl nach, ob es stimmt!«, forderte Lix ihn auf.
»Wird schon passen.«
Zwei haarige und klatschnasse Wischmopps schoben sich quietschend um die Ecke, an hölzernen Leinen geführt von den beiden Indonesiern. Der Stararchitekt musste wohl oder übel zurücktreten und ihnen Platz machen, einer der Wischmopps fuhr dem Chef trotzdem voll über die Schuhe. Lix fluchte und nannte dabei vorwurfsvoll den Einkaufspreis der Kalbsledertreter. Im Nebenraum klingelte das Telefon. Jemand steckte den Kopf zur Tür herein und wollte wissen, wo die Schachtel mit den Radiergummis abgeblieben war. Shorty hätte nicht gedacht, dass ein Erstkontakt mit Außerirdischen dermaßen beiläufig und mit so vielen alltäglichen Störungen einherging. Keine prächtige Kulisse mit hochhausgroßen Raumschiffen, keine musikumschmalzte Höchstspannung, sondern eine wackelige Standleitung in einem schmutzigen Nebenraum mit ständigen Unterbrechungen.
»Was wird mich da erwarten, rein optisch?«, fragte Shorty vorsichtig, als sich alle verzogen hatten. »Jetzt sag schon. Versuch es wenigstens.«
Die Stimme seufzte.
»Ich kann dir nicht beschreiben, wie wir aussehen. Streng genommen weiß ich es selbst nicht. Wir sind nicht mit Sinnesorganen ausgestattet, die Licht rezipieren können.«
»Ihr seid blind?«
»So kann man das auch nicht sagen. Wir haben einige andere Sinne, die ihr nicht habt und die wesentlich schärfer sind als Sehen, Hören und so weiter. Stell dir vor, die Evolution hätte bei euch aus irgendeinem Grund keine Augen ausgebildet. Trotzdem gäbe es natürlich Licht, das auf einen Gegenstand fällt und reflektiert wird. Ihr würdet das nicht sehen, aber ihr würdet euch deswegen nicht als blind bezeichnen. Ihr würdet nämlich den Begriff und dessen Bedeutung gar nicht kennen.«
»Wo findet das Treffen statt?«, fragte Shorty in einer plötzlichen Anwandlung von Mut und Abenteuerlust. »Hier? Bei mir zu Hause? Im Wald?«
»Nein. Im Freizeitpark. Kennst du die Stelle mit den vielen kleinen Halfpipes für Skateboarder und Inlineskater? Setz dich auf eine der Bänke. Dort ist die Verbindung gut, ich habe es schon getestet.«
Shorty schwieg. Nachdem er die Scheine eingesteckt und die Jacke übergeworfen hatte, verabschiedete er sich zerstreut von den Büromitarbeitern, die er auf dem Weg traf. Bluna legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Sag mal, du bist so komisch heute. Ist denn bei dir alles in Ordnung?«
Ein Hauch von Besorgnis schwang mit, aber auch ein Spritzer Ironie.
»Ja natürlich, alles bestens.«
Hatte sie etwas mitbekommen? Er sah ihr in die Augen. Ein fragender Ausdruck lag darin.
»Na, dann bis irgendwann mal«, sagte sie schließlich mit einer lässigen Handbewegung.
Er grüßte ebenso zurück. Hastig schulterte er seinen Rucksack und verließ das Architekturbüro Lix & Partner. Er spürte, dass sie ihm durchs Fenster nachsah, bis er um die Straßenecke verschwunden war. Schöne Hände hatte sie. Feingliedrig, trotzdem muskulös. Die Fingerkuppen zart, die Handgelenke schlank, die Proportionen fein abgestimmt. Genauso, wie er es liebte.