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Warum stellen einige politische Gewalttäter ihre Taten öffentlich und spektakulär zur Schau? Lee Ann Fujii geht dieser Frage anhand von drei extremen Gewaltereignissen nach: der Ermordung einer Tutsi-Familie während des Völkermords in Ruanda, der Hinrichtung muslimischer Männer in einem serbisch kontrollierten Dorf in Bosnien während der Balkankriege und des Lynchmords an einem schwarzen Landarbeiter an der Ostküste von Maryland im Jahr 1933. Fujii zeigt mit diesen Beispielen, dass es bei demonstrativer Gewalt immer auch darum geht, Einfluss auf die Umstehenden, auf Nachbarschaften oder gar ganze Bevölkerungen zu gewinnen. Das Zuschauen und die Teilnahme an diesen Gewaltspektakeln verändern die Beteiligten mitunter tiefgreifend und stärken politische Identitäten, soziale Hierarchien und Machtstrukturen. Solche öffentlichen Gewalttaten zwingen die Mitglieder der Gemeinschaft auch dazu, sich für eine Seite zu entscheiden: offen die Ziele der Gewalt zu unterstützen oder zu riskieren, selbst Opfer zu werden. In ihrem letzten Buch zeichnet Lee Ann Fujii nach, wie Gewalt zur Schau gestellt wird, analysiert Konsequenzen und zeigt, wie die Täter die Fragilität sozialer Bindungen für ihre eigenen Zwecke nutzen.
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Seitenzahl: 530
Lee Ann Fujii
Formen und Folgen demonstrativer Gewalt
Vorwort von Thomas Hoebel, Laura Wolters und Stefan Malthaner
Einführung von Martha Finnemore
Nachwort von Elisabeth Jean Wood
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Hamburger Edition
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2022 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-472-5
eISBN 978-3-86854-473-2
E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
© der deutschen Ausgabe 2022 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-362-9
Copyright © der Originalausgabe 2021 by Cornell Universitiy
Published by Arrangement with Cornell University Press, Ithaca, NY 14850 USATitel der Originalausgabe: »Show Time. The Logic and Power of Violent Display«(Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.)
Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin
Thomas Hoebel, Laura Wolters, Stefan Malthaner
DEMONSTRATIVE GEWALT, PERFORMATIVE FORSCHUNG
Martha Finnemore
EINE EINFÜHRUNG
Lee Ann Fujii SHOWTIME
EINLEITUNG
1 BEMÜHUNGEN UM STABILITÄT
2 GENERALPROBE
3 DIE HAUPTATTRAKTION
4 ZWISCHENSPIEL
5 NEBENPROGRAMM
6 ZUGABE
7 FIKTIONEN
Elisabeth Jean Wood
EIN NACHWORT
Bibliografie
Zu den Autor*innen
Thomas Hoebel, Laura Wolters, Stefan Malthaner
Am frühen Abend des 10. Januar 2016, einem Sonntag, trafen sich in der Kölner Innenstadt einige Hundert Personen zu einem gemeinsamen – wie sie es nannten – »gewaltfreien Spaziergang«. Sie hatten sich dazu via Facebook verabredet. Erklärter Anlass für die Kundgebung waren insbesondere die sexuellen Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof, die sich während der Silvesternacht ereignet hatten.1 Was sie unter »Gewaltfreiheit« verstanden, zeigten einige der Spaziergänger:innen nur wenig später: Zwischen Rhein und Dom machten sie sich auf die Jagd nach Menschen, deren Hautfarbe ihnen nicht passte und deren Anwesenheit sie als Resultat der von ihnen so verhassten deutschen Geflüchtetenpolitik betrachteten. Auf der Trankgassenwerft, einer Promenade am Rhein, griffen etwa zwanzig der »Spaziergänger:innen« sechs Menschen pakistanischer Herkunft an; zwei der so Attackierten mussten sich daraufhin in einem nahe liegenden Krankenhaus ärztlich versorgen lassen. Kurz darauf verletzten fünf der Spazierenden in der nahe liegenden Trankgasse einen 39-jährigen Mann aus dem Kölner Umland mit syrischer Staatsbürgerschaft.2
Wie schon im Vorjahr verzeichneten deutsche Sicherheitsbehörden 2016 einen signifikanten Anstieg fremdenfeindlicher Übergriffe in Deutschland.3 Die Angriffe aus dem Kreis »gewaltfreier Spaziergänger:innen« in Köln heraus sind in dieser Perspektive beileibe kein Einzelfall.4 Um diese gewaltsamen Übergriffe – und ihre räumliche und zeitliche Häufung – zu erklären, wird oft auf eine Mischung aus strukturellen Variablen und einer Reihe parallel verlaufender Prozesse verwiesen: »materielle Deprivation« etwa, »soziale Desintegration« oder »Kontakt mit Fremden«5, kombiniert mit einer vergleichsweise hohen Zahl von Asylsuchenden6, sich lokal bildenden »Bürgerwehren«7 und zunehmend menschenfeindlichen Deutungsmustern im gesellschaftspolitischen Diskurs.8 Das ist aufschlussreich, spart aber in aller Regel das rätselhafteste und wohl auch verstörendste Element von An- und Übergriffen wie in Köln aus. Entsprechende Ansätze erklären nicht – können auch gar nicht erklären –, was so offensichtlich zentrales Momentum dieser Gewalt ist: ihre öffentliche Inszenierung und ihr spektakulärer Charakter. Wenn sich Gruppen gewaltfreier Spaziergänger:innen in der Kölner Innenstadt zusammentun, um »Fremde« zu jagen, dann tun sie dies vor aller Augen; voreinander, vor den Opfern und vor Dritten. Es wird nicht »einfach« Gewalt ausgeübt, auch nicht einfach fremdenfeindliche Gewalt, sie ist nicht klandestin oder gut verborgen – es ist Showtime!
Genau diese frische, das Denken provozierende Perspektive auf gewaltsames Miteinander eröffnet uns nun Lee Ann Fujiis posthum erschienene Studie. Von welchem Ort auch immer sie uns mittlerweile zuschaut: Sie trägt uns auf, unser analytisches Augenmerk insbesondere auf die Dramaturgie gewaltsamer Situationen zu richten – auf die konkreten Geschehensverläufe einzelner Taten. In ihnen können wir beobachten, dass ein mehr oder minder großer Teil der Beteiligten in diesen Gewaltepisoden damit befasst ist, individuelle und kollektive Identitäten zu arrangieren, kategoriale Grenzen zwischen Eigengruppen und Fremden (neu) zu ziehen und soziale Beziehungsgeflechte zu festigen oder sogar neu zu gestalten, welche die einen zu Lasten anderer begünstigen und Herrschaftsverhältnisse entweder (bis auf Weiteres) festschreiben oder mehr oder weniger grundlegend transformieren. Zentraler Schlüssel ist dabei der öffentliche Charakter gewaltsamer Attacken, deren Initiator:innen nicht nur billigend in Kauf nehmen, dass andere sie bei ihrem Tun betrachten. Sie legen es vielmehr geradezu darauf an, ein mehr oder minder breites Publikum zu finden, vor dem sie sich und die von ihnen attackierten Personen zur Schau stellen können – und mit dessen Hilfe sie gleichsam dafür sorgen, dass auch weitere, nicht unmittelbar Anwesende von ihren Auftritten erfahren. Wenn Akteure wie die Kölner »Spaziergänger:innen« solchermaßen demonstrativ Gewalt ausüben, stellen sie gleichsam ihre Vorstellungen zur Schau, wie ihre Welt zu sein habe – genauer: wie diese Welt geordnet sein solle, wer herrsche, wer zugehörig sei und auf Basis welcher Kriterien jemand überhaupt Zugehörigkeit beanspruchen dürfe.9
Im Kern entwirft Lee Ann Fujii eine Theorie der performativen gesellschaftlichen Gestaltung von kategorialen Differenzen, sozialen Hierarchien und identitätspolitisch grundierten Herrschaftsverhältnissen.10 Sie verschränkt expressive und instrumentelle Aspekte von Gewalt analytisch miteinander und ist insbesondere durch die Beobachtung geleitet, dass eine weit gefächerte Rollenbesetzung für die Aufführung von Gewalt entscheidend ist. Darunter sind viele Personen, die sich dieser Beteiligung nicht entziehen können – und andere, die sich erst aufgrund des sich entfaltenden Plots entschließen, sich aktiv zu engagieren. Fujii analysiert dazu in einer ungeheuren Detailtiefe und erzählerischen Intensität Episoden einer solchen demonstrativen Gewaltsamkeit, die sich Anfang der 1930er Jahre in der Eastern Shore von Maryland, 1994 während des Genozids in Ruanda und im Zuge des Bosnienkrieges in den 1990er Jahren ereigneten. Sie legt damit gleichsam selbst Zeugnis über die Ereignisse ab und stellt ihre Leser:innen vor die Aufgabe, es ihr nach der Lektüre gleichzutun. Indem sie sich geradezu schonungslos mit den Details des Lynchmords an George Armwood, der Exekution muslimischer Männer und der Hinrichtung von drei ruandischen Kindern befasst, zeigt sie eindrücklich, dass demonstrative Gewalt zwar soziohistorisch situiert ist, ihr gestalterischer Charakter und die Bedeutung, die sie erlangen kann, jedoch nicht räumlich und zeitlich gebunden sein müssen.11
Showtime ist ein im positiven und produktiven Sinn unbequemes Buch. Das liegt nicht allein daran, dass Lee Ann Fujii ihrem Publikum erschließt, wie Menschen einander drangsalieren, quälen, töten und über den Tod hinaus herabwürdigen, ohne die Ereignisse zu ästhetisieren.12 Wer liest, wie der Lynchmord in der Eastern Shore von Maryland bis heute das dortige Leben prägt (nicht zuletzt, weil er von vielen aktiv beschwiegen wird), kommt kaum umhin zu erkennen, wie vermeintlich pazifizierte Gesellschaften bis heute in die gewaltsame Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse verstrickt sind. So lässt sich das in Showtime entfaltete Argument aus europäischer oder nordamerikanischer Perspektive nicht einfach nur als Theoretisierung eines exotischen Vorgangs abtun, der sich geografisch und zeitlich entfernt abspielt! Indem Lee Ann Fujii sich insbesondere mit Gemeinsamkeiten demonstrativer Gewalt in Maryland (wie gesagt, bis heute aktiv tabuisiert), Bosnien und Ruanda befasst, entzieht sie diesem coping13 à la »Bei ›uns‹ doch nicht!« die Grundlage.
Eng damit verbunden fordert Showtime die Lesenden heraus, das eigene silencing von Gewalt, wie sie es im amerikanischen Original nennt14, kritisch zu reflektieren – sei es in ihrem Alltag oder im engeren Sinn in ihren Forschungsaktivitäten. Jede noch so nüchterne Analyse hat in dieser Perspektive politische Implikationen, weil sie die Art und Weise des Erkennens, Betrachtens und Verschweigens von Gewaltsamkeit performativ mitgestaltet.15 Lee Ann Fujiis außergewöhnlich reichhaltige Auseinandersetzung mit kollektiver Gewalt fußte auf einem nicht minder außergewöhnlichen Selbstverständnis als Forscherin. Nicht nur standen für sie methodische und forschungsethische Fragen im Zentrum guter Forschung. Sie dachte beide als notwendige Komplementäre stets zusammen.16 Wie nur wenige andere in der Gewaltforschung betonte sie die politische Dimension ihrer eigenen Forschung und reflektierte ihr eigenes Schaffen fortwährend vor dem Hintergrund politischer Veränderungen und Narrative. So hat sie Sozialforschenden förmlich ins Stammbuch geschrieben, dass die Analyse gewaltsamer Phänomene mit der Aufgabe verbunden ist, sich mit möglichst vielen Details der Geschehnisse zu befassen, auch wenn das Forschungsinteresse eher ein makroskopisches ist.
Es ist kein Wunder, dass sich diejenigen, die Lee Ann Fujii kannten, heute fragen, was sie wohl zur Stürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 oder zu den immer wieder bekannt werdenden Fällen übermäßiger Polizeigewalt gesagt hätte.17Showtime ist zwar empirisch gesehen »nur« ein Buch über Geschehnisse in Maryland, Ruanda und Bosnien. Doch das entwickelte Argument über die performative, gesellschaftsgestaltende Relevanz demonstrativer Gewaltsamkeit ist eine einzige Aufforderung, die analytische Generalität dieser Perspektive und ihre empirische Reichweite auszutesten – und das sicher nicht nur mit Blick auf Vorgänge in Köln oder Washington D.C. Mit Blick auf die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen hat Birgitta Nedelmann schon vor fast 30 Jahren bemerkt18, dass, wenn »die Beobachter beobachtet werden, das heißt, die Beifall klatschenden Rostocker Bürgerinnen und Bürger am Bildschirm beobachtet werden, […] sich alle zu Rostockern [verwandeln]. Es gibt einen auf die Beobachter der Beobachter ausgeübten Zwang zur Übernahme der Rostocker Rolle, ohne zu wissen, wie mit dieser umgegangen werden soll, weder alltäglich, noch soziologisch.«19 Die Frage ist ungebrochen aktuell. Und Showtime eröffnet einen äußerst gut ausgebauten Weg zu ihrer Bearbeitung, vor allem indem Lee Ann Fujii mit ihrer Theorie des casting darauf abhebt, wie alle an einem Gewaltgeschehen Beteiligten leiblich involviert sind – nicht nur die Betroffenen oder die Angreifenden, sondern gerade auch die Zuschauenden –, und das bei Gewaltgeschehen, die mitunter geografisch und zeitlich weit voneinander entfernt stattfinden können. Hinzu kommt ihre theoretisch elegante Synthese eines situativ-prozessualen Forschungsansatzes und der Analyse gesellschaftlicher Ordnungsstiftung, die insbesondere durch die soziale Hierarchisierung von Personengruppen entlang von Kategorien erfolgt, deren auf- bzw. abwertende Bedeutsamkeit gewaltsam geschaffen wird. Gerade hier kann die deutschsprachige Gewaltforschung sehr von der Lektüre von Showtime profitieren, insbesondere was die klärungsbedürftige Verknüpfung von situationistischen Argumenten mit herrschaftssoziologischen Fragen betrifft. Die Studie setzt Maßstäbe für sozialwissenschaftliche Gewaltanalysen, weil Lee Ann Fujii es verstand, mikro- und makroskopische Perspektiven miteinander zu verknüpfen, zwischen denen sonst für gewöhnlich argumentative und theoretische Lücken klaffen. Durch ihren viel zu frühen Tod hinterlässt sie nun selbst eine Lücke, die nicht zu schließen ist.
1 Am Vortag war am selben Ort eine Demonstration der islamfeindlichen Pegida-Bewegung durch die Polizei aufgelöst worden; aus der Menge waren Flaschen und Böller auf die Beamt:innen geworfen worden. Der »Spaziergang« war im Gegensatz zur Demonstration am Vortag nicht versammlungsrechtlich angemeldet. Die Polizei, die bereits am Nachmittag von den Planungen der »Spaziergänger:innen« – in Berichterstattungen insbesondere als »Rocker, Hooligans und Türsteher« bezeichnet – erfuhr, war mit einem höheren Aufgebot als sonst üblich vor Ort. Im Lauf des Abends kontrollierten die Einsatzkräfte nach eigenen Angaben 153 Personalien, erteilten 199 Platzverweise und nahmen 2 Personen in Gewahrsam, die sich diesen Anordnungen widersetzten.
2 Die Darstellung der Ereignisse orientiert sich maßgeblich an den Berichten der Deutschen Presse-Agentur und den Recherchen eines Lokalreporters. »Erneut Gewalt in Kölner Innenstadt. Polizei: Angriffe hatten fremdenfeindlichen Hintergrund«, General-Anzeiger Bonn, 11. 01. 2016, https://ga.de/region/koeln-und-rheinland/polizei-angriffe-hatten-fremdenfeindlichen-hintergrund_aid-42645227 [Stand: 06. 05. 2022]; siehe dazu auch Michael Borgers, »Gereizte Stimmung«, Deutschlandfunk, 11. 01. 2016, https://www.deutschlandfunk.de/fremdenfeindlichkeit-gereizte-stimmung-100.html [Stand: 06. 05. 2022].
3 Für das Jahr 2016 stellten deutsche Sicherheitsbehörden, die diese Zahlen statistisch erfassen, insgesamt 23 555 Fälle von »politisch motivierter Kriminalität – rechts (PMK-rechts)« fest, wie u.a. fremdenfeindliche Straftaten im Amtsdeutsch bezeichnet werden. Darunter waren offiziell registrierte 1698 Ereignisse, die kriminalistisch als Gewaltdelikte galten, von denen wiederum 213 als rassistisch und fremdenfeindlich bewertet wurden. Zwischen 2001 und 2014 schwankte die Zahl der erfassten rechtsmotivierten Taten zwischen 800 und 1100, 2016 gab es somit einen erheblichen Zuwachs um mehr als 50 Prozent gegenüber dem bisherigen Gewaltniveau. (Bereits 2015 findet sich ein Sprung auf 1485 Taten, 2017 dann einen Rückgang auf 1130 Fälle.) Insbesondere fremdenfeindliche Angriffe nahmen dabei überproportional zu. Stiegen sie zwischen 2001 und 2014 bereits stetig von 29 auf 130 erfasste Taten an, gab es 2015 (166 Fälle) und 2016 (213 Fälle) sprunghafte Zunahmen der offiziell registrierten Fälle; alle Angaben übernommen von Toralf Staud, »Straf- und Gewalttaten von rechts: Was sagen die offiziellen Statistiken?«, Bundeszentrale für politische Bildung, 13. 11. 2018, https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/264178/straf-und-gewalttaten-von-rechts-was-sagen-die-offiziellen-statistiken/ [Stand: 06. 05. 2022].
4 Siehe dazu vor allem auch die »Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle« der Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL, https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/chronik-vorfaelle [Stand: 09. 05. 2022].
5 Siehe dazu die instruktive Studie von Sebastian Jäckle und Pascal David König, »Drei Jahre Anschläge auf Flüchtlinge in Deutschland – welche Faktoren erklären ihre räumliche und zeitliche Verteilung?«, in: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 71/4 (2019), S. 623 – 649, mit der sie eine vorangegangene Analyse replizierten; Sebastian Jäckle und Pascal D. König, »Threatening Events and Anti-Refugee Violence: An Empirical Analysis in the Wake of the Refugee Crisis during the Years 2015 and 2016 in Germany«, in: European Sociological Review 34/6 (2018), S.728 – 743.
6 Staud, »Straf- und Gewalttaten von rechts«.
7 Matthias Quent, Bürgerwehren. Hilfssheriffs oder inszenierte Provokation?, Berlin 2016.
8 Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer, Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II, Berlin 2020, S. 64.
9 Fujii, Showtime, S. 23.
10 Jonathan S. Blake und Nicholas Rush Smith, »Identifying Violence: Ethics, Representation, and Politics in Lee Ann Fujii’s Show Time«, in: Violence: An International Journal (2022), online first, DOI: 10.1177/26330024221087091.
11 Lahoma Thomas, »Rendering Visible the Invisible: Reflections on Violent Display«, in: Violence: An International Journal (2022), online first, DOI: 10.1177/263300 24221087093.
12 Thomas, »Rendering Visible the Invisible«; Ekkehard Coenen, »Vorhang auf«, Soziopolis. Gesellschaft beobachten, 31. 03. 2022, https://www.soziopolis.de/vorhang-auf.html [Stand: 08. 05. 2022]. Bereits ihre Studie Killings Neighbors. Webs of Violence in Ruanda bestach durch ihre ethnografische Dichte. Sie stand im Kontext eines Perspektivwechsels in der Forschung zu Bürgerkriegen und politischer Gewalt (siehe dazu maßgeblich Elizabeth Jean Wood, Insurgent Collective Action and Civil War in El Salvador, Cambridge 2003; Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006). Anstatt die Ursachen von Kriegen und Ausbrüchen kollektiver Gewalt in sozialstrukturellen Faktoren, individuellen Prädispositionen, extremistischen Ideologien oder ethnischen Identitäten zu suchen, rückte Lee Ann Fujii hier lokale Gewaltgeschehnisse und soziale Prozesse der Mobilisierung ins Zentrum der Analyse. Ähnlich wie Scott Straus (The Order of Genocide: Race, Power, and War in Rwanda, Ithaca 2006) stellte sie so bis dahin gängige Interpretationsmuster der Gewalt in Ruanda als von einem tiefen ethnischen Antagonismus getrieben infrage. Wie sie eindrücklich zeigte, töteten die Täter zwar auf der Grundlage »ethnischer Skripte«, die ihr Handeln legitimierten. Wie diese Skripte interpretiert und umgesetzt wurden und wie sich Tätergruppen konstituierten, wurde jedoch durch die eigene Dynamik genozidaler Gewalt als sozialer Prozess bestimmt, der in die Beziehungsgefüge lokaler Dorfgemeinschaften eingebettet war. Theoretisch nahm ihr Buch dabei Fragen vorweg, die die Gewaltforschung heute beschäftigen. Insbesondere die Erkenntnis, dass die Formen und Muster, in denen sich Gewalt vollzieht, nicht belanglose Varianz im Detail sind, sondern zentraler Bestandteil ihrer Erklärung. Das »Wie?« der Gewalt ist immer auch ein Teil der Antwort auf ihr »Warum?«. Siehe dazu auch Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl, Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie, Hamburg 2019, S. 96 – 100.
13 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 266, 336, 482 – 505.
14 Fujii, Showtime, S. 46 (im Original ab S. 114).
15 Blake und Rush Smith, »Identifying Violence«.
16 Nirgendwo wird das so deutlich, wie in ihrem Buch Interviewing in Social Science Research. A Relational Approach (New York 2017). Hier arbeitete sie ihre methodologischen Grundannahmen und methodische Herangehensweise zu einem relationalen Ansatz aus, der vor allem auf soziale Positionierung und Beziehungsarbeit als Voraussetzung guter Interviewführung abstellt. Lee Ann Fujiis aus tiefster Überzeugung ethnografisch angelegtes Forschungsverständnis und der möglichst mikroskopische Blick auf soziale Interaktionen standen dabei nicht im Widerspruch zu, sondern vielmehr im Einklang mit ihrem Bestreben nach Theoriebildung, Abstraktion und dem Anspruch, die Rätsel des sozialen Handelns – insbesondere diejenigen der Gewalt – zu entschlüsseln und zu beschreiben. Äußerst instruktiv sind in diesem Zusammenhang auch ihre Überlegungen zu einer »zufälligen Ethnografie«, die Forschende nicht nur auf Aspekte stoßen lässt, die sie vorher nicht wissen konnten oder nicht beachtet haben. Vielmehr erlauben es diese ungeplanten (und unplanbaren) Forschungsmomente, den soziohistorischen und politischen Kontext der untersuchten Phänomene tiefgreifender zu verstehen und für die Analyse fruchtbar zu machen; Lee Ann Fujii, »Five Stories of Accidental Ethnography: Turning Unplanned Moments in the Field into Data«, in: Qualitative Research 15 / 4 (2015), S.525 – 539.
17 Blake und Rush Smith, »Identifying Violence«; Thomas, »Rendering Visible the Invisible«.
18 Es ist übrigens erstaunlich, dass zu den Ereignissen in Rostock-Lichtenhagen bis heute keine detailtiefe gewaltsoziologische Analyse vorliegt.
19 Birgitta Nedelmann, »Schwierigkeiten soziologischer Gewaltanalyse«, in: Mittelweg 36 4 / 3 (1995), S.13.
Martha Finnemore
Es ist schwierig, in die Fußstapfen einer anderen Wissenschaftlerin zu treten, vor allem, wenn es sich um Abdrücke jener Stiefel mit Leopardenmuster handelt, die Lee Ann bei unserer letzten Begegnung trug. Fujii stellte gerade das Manuskript dieses Buches für die Veröffentlichung bei Cornell University Press fertig, als sie vollkommen überraschend starb. Ich hatte eine Woche vor ihrem Tod einen (auf YouTube zugänglichen) Vortrag besucht, in dem sie über das Buch sprach, und mir war klar, wie gut es werden würde. Wie alle Arbeiten Fujiis war auch dieses Buch eine intellektuelle Offenbarung und von großer Bedeutung. Es enthielt eine tiefschürfende Analyse von öffentlicher ethnisch und rassistisch motivierter Gewalt, die gewöhnlichen Menschen von gewöhnlichen Menschen angetan wird. Fujii fragte nicht nur, warum und wie es zu einer solchen öffentlichen Zurschaustellung von Gewalt kommt, sondern untersuchte auch, wie die Inszenierung öffentlicher Gewalt alle Beteiligten verändert. Besonders faszinierend war Fujiis Auseinandersetzung mit der rassistisch motivierten Gewalt in den Vereinigten Staaten, genauer gesagt mit der Lynchjustiz, die mit den in Ruanda und Bosnien verübten Gewalttaten vergleichbar ist, obwohl die Amerikaner:innen derartige Gewaltexzesse oft mit distanziertem Unverständnis betrachten, so als wären es Dinge, die nur »dort drüben« möglich sein und anderen Völkern widerführen. Das Buch musste unbedingt veröffentlicht werden, aber weder ich noch Roger Haydon von der Cornell University hatten eine Kopie des vollständigen Manuskripts.
Devorah Manekin von der Hebräischen Universität in Jerusalem stellte uns den vollständigsten verfügbaren Entwurf zur Verfügung, den ihr Fujii vier Wochen vor ihrem Tod im März 2018 geschickt hatte. Diese Version war bereits ausformuliert, enthielt jedoch keine Schlussfolgerungen. Elisabeth Jean Wood willigte ein, diese Lücke mit einem Nachwort zu schließen, in dem sie nicht nur die wichtigsten Themen des Buchs zusammenfasst, sondern die Studie auch in die übergeordnete Diskussion und in Fujiis Werk einordnet.
In ihrer Forschungsarbeit stützte sich Fujii auf Interviews, die sie in der Region des Eastern Shore in Maryland, in Bosnien und in Ruanda führte. Fujii hat sich eingehend mit Interviewtechniken und den damit zusammenhängenden ethischen Fragen beschäftigt, und beides schlägt sich in ihrem Buch nieder. Ihre detaillierten Kommentare zur Bedeutung von Interviews als verlässlicher Quelle für die qualitative Forschung finden sich im Kapitel »Zwischenspiel« sowie in ihrem Buch Interviewing in Social Science Research. Bei den Interviews wurde sie von Forschungsassistenten und -assistentinnen unterstützt. Die Identität einer Mitarbeiterin kennen wir: Linda Duyer wird im Text erwähnt und willigte freundlicherweise ein, uns bei der Beantwortung von Fragen zum Material über den Eastern Shore zu helfen, und machte uns einen Teil dieses Materials zugänglich. Andere Primärquellen werden im Abschnitt »Daten und Quellen« in der Einleitung kurz beschrieben.
Fujii klärte alle von ihr interviewten Personen über die Implikationen der Zusammenarbeit auf, holte ihr Einverständnis ein und hielt die Bedingungen in einer Vertraulichkeitsvereinbarung fest (bei der es sich technisch um eine Mitteilung zur ethischen Prüfung an das Büro für Forschungsethik der Universität Toronto handelte), die uns von Antoinette Handley, der Leiterin der Politikwissenschaftlichen Abteilung, und ihren Kolleginnen und Kollegen im Büro für Forschungsethik zur Verfügung gestellt wurde. Im ursprünglich eingereichten Protokoll erklärte Fujii:
Die wichtigsten Risiken [für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer] sind psychologischer und sozialer Natur. Bei Überlebenden und Zeugen von Gewaltakten besteht stets die Gefahr einer erneuten Traumatisierung. […] Die sozialen Risiken betreffen die Beziehungen zu Nachbarinnen und Nachbarn oder Bekannten, die misstrauisch oder eifersüchtig auf die Teilnahme einer Person an einem Forschungsprojekt und / oder ihre Beziehung zu Außenstehenden (die gemessen an den örtlichen Maßstäben im Allgemeinen einer »Elite« angehören) werden könnten. Ich versuche, diese Risiken zu verringern, indem ich sämtlichen Teilnehmenden garantiere, dass ihre Anonymität in jeglicher Publikation gewahrt bleiben wird. Außerdem garantiere ich ihnen, dass ich ihre Angaben vertraulich behandeln werde, und kläre sie darüber auf, dass ich keine ihrer Äußerungen mit anderen Personen einschließlich Beamtinnen und Beamten der Regierung teilen werde; die einzige Ausnahme ist meine Forschungsassistentin.
Dass die Angaben der Teilnehmenden vertraulich behandelt werden, ist in diesem Fall nicht nur durch die bindenden Vereinbarungen mit dem Büro für Forschungsethik gewährleistet, sondern auch dadurch, dass Fujiis Laptop passwortgeschützt ist (wozu sie sich im Protokoll verpflichtet hat). Bisher hat niemand das Passwort ausfindig machen können.
Das hat zur Folge, dass die Quellennachweise zu den Interviews kryptisch sind. Fujii teilte Haydon im Mai 2014 in einer E-Mail über einen frühen Entwurf für ein Kapitel mit: »Die Quellennachweise und die übrige Nomenklatur (z.B. »Fil« und »Col«), die verschlüsselte Bezeichnungen für meine Interviewpartner:innen sind, werde ich am Ende säubern, um den Text lesbar zu machen. […] Ich werde auch in einer Fußnote erklären, wie ich meine Interviewpartner am Ende zitieren werde.« Diese Arbeit konnte sie nicht mehr fertigstellen. Wir wissen nicht, auf wen sich die Quellennachweise beziehen, und die Nachweise sind in dem uns vorliegenden Manuskript nicht vereinheitlicht. Fujii zog auch verschiedene Primärquellen heran. Wir haben alle Quellennachweise so stehen lassen, wie Fujii sie in dem Manuskript, mit dem wir gearbeitet haben, dargestellt hat. Die Mischung von Quellen und die damit einhergehenden Probleme bei den Nachweisen sind von einem Forschungsort zum anderen unterschiedlich.
Bosnien: Zitate aus den Interviews, die Fujii führte, werden in folgendem Format nachgewiesen: Bra #1 / 2. Genauso werden die Fundstellen von Zeugenaussagen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) angegeben; beispielsweise werden Zitate aus der Anklageschrift gegen Brdjanin als »Brdj XXXX« nachgewiesen und stammen aus den englischsprachigen Niederschriften der Verhandlungen vor dem ICTY, die im Internet unter icty. org zugänglich sind, in diesem Fall unter https://www.icty.org/en/case/brdanin.
Maryland: Einige Nachweise zu Fujiis Interviews sind datiert, andere nicht. In dieser Studie, die den ältesten der drei Fälle zum Gegenstand hat, stammt der Großteil der Information aus Lokalzeitungen, aus den Erinnerungen älterer Einwohner der Region sowie aus Aussagen vor dem Untersuchungsrichter und vor Gericht. Testimony Given before Coroner Edgar A. Jones, at the Inquest of George Armwood on October 24, 1933 wird nach den privaten Papieren von Johnny Robins IV zitiert, die Fujii und Linda Duyer als PDF zur Verfügung gestellt wurden. Informationen zum Zugang zu dieser PDF-Datei finden sich im Anmerkungsteil.
Ruanda: Die Quellennachweise zu den von Fujii geführten Interviews werden unterschiedlich gehandhabt (beispielsweise als Chau #7 / 8 22 oder Fieldnotes, Dez. 2011) und sind manchmal datiert, in anderen Fällen hingegen nicht.
Wir hätten diese Aufgabe nicht ohne die freundliche Erlaubnis und Unterstützung von Carey Fujii und die der Familie Fujii bewältigen können. Sie und zahlreiche Freunde Fujiis halfen bei der Suche nach einem bearbeiteten Manuskript. Am Ende stellte Dvora Yanow den Kontakt zu Devorah Manekin her und wies uns auf die Existenz der vorliegenden Version hin. Fujii profitierte bei ihrer Arbeit von verschiedenen Forschungszuschüssen sowie von der Unterstützung zahlreicher Personen. Wir wissen vom Institute for Advanced Study an der Universität Princeton, vom Diversity-Fellowship-Programm der Ford Foundation, von der Russell Sage Foundation, dem Social Science and Humanities Research Council of Canada, dem National Council for Eurasian and East European Research, dem Connaught Fund der Universität Toronto, dem United States Institute of Peace und dem Dilthey-Fellowship-Programm der George Washington University.
Lee Ann selbst hätte zahlreichen Personen danken wollen, die ihr jene vielfältige Unterstützung gewährten, die erforderlich ist, um ein derart großes Forschungsprojekt zu bewältigen. Sie war stets großzügig und zeigte ihre Dankbarkeit. Wir können nur hoffen, dass jene, denen sie dankbar gewesen wäre, wissen, dass sie diesen Dank verdienen, und wir bedauern, dass wir nicht imstande sind, die wichtigen Beiträge vieler Personen zu diesem Buch angemessen zu würdigen.
Lee Ann Fujii
CDR
Coalition pour la défense de la république. Radikaler Flügel der ruandischen Partei MRND.
ICTR
Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda.
ICTY
Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia).
JNA
Jugoslawische Volksarmee (Jugoslovenska narodna armija).
MDR
Mouvement Démocratique Républicain. Ruandische politische Partei, gegründet 1991.
MRND
Mouvement Révolutionnaire National pour le Développement. Regierungspartei in Ruanda, 1974 – 1994, geführt von Juvenal Habyarimana.
NDH
Unabhängiger Staat Kroatien (Nezavisna Država Hrvatska), gegründet 1941.
PSD
Parti social démocrate. Oppositionspartei mit Wählerbasis im Süden Ruandas.
RPA
Ruandische Patriotische Armee. Militärischer Flügel der RPF.
RPF
Ruandische Patriotische Front. Herrschende Partei in Ruanda seit 1994, geführt von Paul Kagame.
RS
Republika Srpska. Von den serbischen Nationalisten im Bosnienkrieg ausgerufener unabhängiger Staat, 1992 – 1995. Seit 1995 eine von zwei Teilrepubliken Bosnien-Herzegowinas.
SDA
Stranka demokratske akcij. Muslimische Partei in Bosnien, geleitet von Alija Izetbegovic.
SDS
Srpska demokratska stranka. Serbische nationalistische Partei in Bosnien.
Ein Mann ist tot. Jeder weiß, wer ihn getötet hat. Und jeder weiß, wer noch ein paar Grausamkeiten beigesteuert hat, während das Opfer starb: wer ihm noch einen unnötigen Tritt versetzt hat, wer ein paar gut gewählte Worte an ihn gerichtet hat, wer ihm einen Finger abgeschnitten hat, um ein Souvenir mitzunehmen. Viele haben die Szene mit Jubel begleitet, andere haben sie mit weit aufgerissenen Augen fasziniert verfolgt, während einige wenige weggeschaut haben, weil sie den Anblick nicht mehr ertragen konnten.
Die Menschen, die für den Tod des Mannes verantwortlich sind, sind seine Nachbarn. Viele von ihnen wechselten jeden Morgen ein paar freundliche Worte mit ihm. Die täglichen Grüße sind in kleinen Gemeinden ein Ritual. Sie markieren Zeit und Raum und ziehen Trennlinien zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören. Wie andernorts leben die Menschen wie Familien zusammen: mit Gesten der Freundlichkeit und Großzügigkeit, aber auch mit langjährigem Groll, Neid und Vorurteilen. Groll und Neid sind zumeist persönlich, während Vorurteile naturgemäß unpersönlich sind. Doch all diese Gefühle lösten nur selten Gewalt aus, und Mord wäre undenkbar gewesen.
Am Tag nach der Ermordung des Mannes unterhalten sich die Leute über das Geschehen. Einige prahlen mit ihrer Beteiligung, andere wollen mehr über das erfahren, was ihnen entgangen ist. Viele andere verhalten sich still; sie stehen unter Schock oder schweigen aus Furcht. Die Zeit vergeht. Jahre, Jahrzehnte. Die Unterhaltungen gehören der Vergangenheit an, aber die Details haben Bestand. Sie bleiben im Gedächtnis der Menschen haften wie in Bernstein eingeschlossene Fliegen. Wer dabei war, kann es nie wirklich vergessen, denn die Erinnerung hat ein Eigenleben. Einige erinnern sich an das, was sie sahen, andere an das, was sie hörten. Viele versuchen, die Erinnerung zu unterdrücken, weil sie sich nicht mit der Beteiligung ihrer eigenen Familien auseinandersetzen möchten.
In Bosnien fand diese Szene vor dem Hintergrund der nationalistischen Kriege statt, die mit dem Zerfall Jugoslawiens einhergingen. In Ruanda bildete der Genozid den Kontext, ein Vernichtungsfeldzug, dessen Ziel es war, eine ganze Kategorie von Menschen auszurotten. In den Vereinigten Staaten bildeten die Südstaaten unter den Jim-Crow-Gesetzen die Kulisse, wo die Weißen ihre Vormachtstellung mit Gesetz, Brauch und Gewalt verteidigten. Für sich genommen ist jede derartige Episode mit einer eigenen Geschichte und einem bestimmten Schauplatz verbunden. In ihrer Gesamtheit werfen diese Episoden ähnliche Fragen auf. Warum ziehen Menschen die Tötung eines anderen menschlichen Wesens derart in die Länge? Warum nehmen sie derart große Mühe auf sich? Warum begehen sie extraletale Akte und verstümmeln und erniedrigen ihr Opfer? Warum erschießen sie den Menschen nicht einfach und gehen nach Hause? Und warum tun sie all diese Dinge unter den Augen so vieler Nachbarn, die lachen und vor Entzücken jubeln? Die Antwort finden wir in der Art und Weise, wie wir an derartigen Geschehnissen teilnehmen. Ich werde zeigen, dass es sich in sämtlichen Fällen um eine Zurschaustellung von Gewalt handelt. Derartige gewalttätige Aufführungen stellen kollektive Versuche dar, Gewalt so zu inszenieren, dass die Menschen sie sehen, wahrnehmen und verinnerlichen. In diesem Buch untersuche ich bestimmte Episoden in verschiedenen Kontexten, um zu erklären und theoretisch zu erfassen, wie und warum verschiedenste Kollektive – Nachbarn, Nationalisten und Niemande – sich selbst ausdrücken, indem sie Gewalt zur Schau stellen. Es geht mir darum, eine Dimension der kollektiven Gewalt zu beleuchten, die zu wenig Beachtung findet: die entscheidende Bedeutung des verkörperten Handelns für die Verwandlung des Bildes, das sich Menschen von sich selbst und von anderen machen. Würden sich nicht Körper auf eine bestimmte Art bewegen und verhalten, so würden diese Aufführungen nie zustande kommen und könnten nie über Zeit und Raum hinweg neues Publikum anlocken.
Was bedeutet es, etwas zur Schau zu stellen? Etwas sichtbar zu machen, bedeutet nicht, Verborgenes zum Vorschein zu bringen; es bedeutet, das mit Leben zu erfüllen, was in der Imagination existiert.1 Die Zurschaustellung macht das Imaginierte »real«, indem sie ihm Dinglichkeit, Sichtbarkeit und eine dreidimensionale Form verleiht. So lenkt sie die Aufmerksamkeit auf bestimmte »Realitäten«, während sie andere verbirgt oder in den Hintergrund rückt. Indem solche Aufführungen strukturieren, was die Zuschauenden sehen, strukturieren sie auch, was sie nicht sehen.2
Wenn Akteure Gewalt zur Schau stellen, erfüllen sie Vorstellungen davon mit Leben, wie die Welt aussehen und wie sie geordnet werden sollte – wer Macht haben sollte, wer in die Gemeinschaft aufgenommen werden sollte und welche Menschen einen begründeten Anspruch auf Zugehörigkeit geltend machen können. Wenn wir die Zurschaustellung von Gewalt als eine kollektive Bemühung definieren, Gewalt zu inszenieren, damit die Menschen sie sehen, wahrnehmen und verinnerlichen können, so erkennen wir, dass sie sowohl ein soziales als auch ein ästhetisches Unterfangen ist. Der Begriff kollektiv deutet auf die ausgesprochen soziale Natur dieses Akts hin. Wenn Menschen Gewalt zur Schau stellen, arbeiten sie zusammen; sie verfolgen keine widersprüchlichen Bestrebungen. Das Konzept der »Inszenierung« bedeutet, dass die Teilnehmenden ein gemeinsames Interesse haben und mit der Zurschaustellung der Gewalt eine bestimmte »Atmosphäre« erzeugen wollen. Damit die Anwesenden das Geschehen sehen, wahrnehmen und verinnerlichen können, müssen die Akteure ein Gespür dafür haben, wie man vor einem Publikum oder vor mehreren Zuschauergruppen gleichzeitig auftritt. Das Publikum kann jene umfassen, die sich körperlich am Schauplatz aufhalten (die Zuschauenden), aber auch weiter entfernte Adressaten in der Weltöffentlichkeit.
Der zentrale Bestandteil, der eine gewalttätige Episode zu einer Aufführung macht, ist die Inszenierung. Dieser Begriff aus der Welt des Theaters bezieht sich darauf, wie der Regisseur Körper, Objekte, Beleuchtung, Ton und Versatzstücke arrangiert, um ein bestimmtes Bühnenbild zu schaffen. So wie im Theater, wo die Möglichkeiten zur Inszenierung eines Stücks beinahe unbegrenzt sind, können auch Aufführungen von Gewalt viele verschiedene Formen annehmen. Beispielsweise kann die Inszenierung darin bestehen, dass die Opfer gezwungen werden, pornografische Szenen darzustellen, wie es amerikanische Soldaten und Soldatinnen in Abu Ghraib taten, als sie nackte Gefangene zwangen, sich zu Menschenpyramiden aufeinanderzulegen.3 Oder sie kann in der präzisen Positionierung von Körpern bestehen, was zum Beispiel der IS tat, als er die amerikanischen Geiseln James Foley und Steven Sotloff sowie die Briten David Haines und Alan Henning enthauptete. Für die Aufzeichnung dieser Morde wählten die IS-Mitglieder einen bestimmten Schauplatz aus, stellten mehrere Kameras auf, passten die Beleuchtung an, filmten die Szene aus verschiedenen Winkeln und bearbeiteten die Aufnahmen, bevor sie die Videos ins Internet stellten.4
Die Inszenierung kann auch choreografierte Bewegungen beinhalten, und manchmal werden Opfer gezwungen, Kostüme und Requisiten zu tragen. Deutsche Soldaten zwangen im besetzten Weißrussland 6000 Juden, an einer Parodie auf eine Parade im Gedenken an die bolschewistische Revolution teilzunehmen. Die Gefangenen mussten in Zweierreihen aufmarschieren, sowjetische Flaggen schwenken, Revolutionslieder singen und in die Kamera lächeln. Am Ende der Parade töteten die Soldaten die Gefangenen en masse.5 Manchmal tragen auch die Täter:innen Kostüme und treten mit Requisiten in der Szene auf. Eines der schlimmsten Fotos aus Abu Ghraib zeigt Lynndie England, die auf eine Reihe nackter Gefangener zeigt, die gezwungen worden sind, vor ihren Augen zu masturbieren. In ihrem Mundwinkel steckt eine Zigarette, was ihre spöttische Haltung noch unterstreicht.
Eine weitere Form der Inszenierung besteht darin, Souvenirs von einem Gewaltakt zur Schau zu stellen (der eine Vorführung von Gewalt gewesen sein kann oder nicht).6 Zu den Erinnerungsstücken können Körperteile zählen; ein Beispiel ist der Schädelknochen eines Vietnamesen, den General George S. Patton III., der Sohn des berühmten Generals aus dem Zweiten Weltkrieg, während des Vietnamkriegs auf seinem Schreibtisch liegen hatte.7 Oder es werden Fotos von dem Gewaltakt aufbewahrt; beispielsweise machten Soldaten in Abu Ghraib Tausende Fotos von der Erniedrigung irakischer Gefangener. Manchmal stellen die Akteure auch Leichen zur Schau. Während des »schmutzigen Kriegs« in Argentinien bestand eine der bevorzugten Praktiken der Militärs darin, vermeintliche »Subversive« am hellichten Tag von der Straße zu holen und »verschwinden« zu lassen. Nachdem die Opfer an unbekannten Orten gefoltert und hingerichtet worden waren, ließ die Junta die Leichen an Orten »wieder auftauchen«, wo sie mit Sicherheit gesehen würden, zum Beispiel auf dem Gehweg oder in Mülltonnen.8
Obwohl die Zurschaustellung von Gewalt sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, weisen alle derartigen Vorführungen eine gemeinsame Logik auf, die um die Ästhetik kreist. Wenn Akteure Gewalt zur Schau stellen, erzeugen sie eine bestimmte »Atmosphäre«, die sämtliche Sinne der betrachtenden Person anspricht: Sehen, Hören, Tasten, Riechen. Von den amerikanischen Soldaten in Abu Ghraib über die IS-Terroristen in Syrien, die deutschen Soldaten in Weißrussland und die Militärjunta in Argentinien gehen alle Akteure auf eine bestimmte Art vor, um eine unmittelbare, körperliche Erfahrung für alle Anwesenden sowie für all jene zu erzeugen, die aus der Ferne oder im Nachhinein zuschauen.
Die Zurschaustellung von Gewalt gibt uns Rätsel auf. Wir fragen uns, wie es in Anbetracht der mit solchen Vorführungen verbundenen Risiken und Kosten überhaupt dazu kommen kann. Beispielsweise schadete die sexuelle Erniedrigung irakischer Gefangener in Abu Ghraib nicht nur dem Ansehen des amerikanischen Militärs, sondern auch den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Irak, und zwar genau in dem Moment, da die Regierung Bush versuchte, das Land nach dem Sturz Saddam Husseins wieder aufzubauen.9
Die Zurschaustellung von Gewalt kann auch in anderer Hinsicht kontraproduktiv sein. Sie kann die falsche Art von Aufmerksamkeit auf die Region oder Stadt lenken, in der eine Aufführung stattfindet. Beispielsweise provozierten Lynchmorde in den Vereinigten Staaten oft heftige Kritik und eine scharfe Verurteilung der Gemeinden, in denen sie stattgefunden hatten.10 Diese negative Aufmerksamkeit hatte weitreichende wirtschaftliche und soziale Auswirkungen. Arthur Raper gelangte in seiner Studie über sämtliche Lynchmorde, die im Jahr 1930 in den Vereinigten Staaten stattfanden, zu folgendem Ergebnis: »Die Lynchjustiz lenkte die Aufmerksamkeit auf diese Gemeinden, die nicht als Orte betrachtet wurden, an denen die Arbeitsbedingungen stabil und Leben und Eigentum sicher waren, sondern als Orte, an denen die zwischenmenschlichen Beziehungen instabil und Leben und Eigentum der Bürger den Launen des Mobs ausgeliefert waren. Jeder Lynchmord verschaffte nicht nur der unmittelbar beteiligten Gemeinde, sondern der ganzen Gegend unvorteilhafte Aufmerksamkeit.«11 Neuere Studien haben Rapers Ergebnis bestätigt. Cynthia Carr erklärt, der doppelte Lynchmord an Tommy Shipp und Abe Smith in ihrer Heimatstadt Marion (Indiana) am 7. August 1930 sei der Hauptgrund dafür gewesen, dass die wirtschaftliche Entwicklung Marions in den folgenden Jahrzehnten stagnierte.12 Patrick Phillips erzählt eine ähnliche Geschichte über das Forsyth County in Georgia. Er zeigt, dass eine unbarmherzige Terrorkampagne gegen die schwarze Bevölkerung im Jahr 1912 die Bemühungen vereitelte, das County wirtschaftlich zu entwickeln und seine Hauptstadt in eine regionale Drehscheibe zu verwandeln.13
Die Zurschaustellung von Gewalt ist auch auf organisatorischer, institutioneller oder Gruppenebene kostspielig. Es kostet Zeit, Energie und Ressourcen, Leichen in Position zu bringen, eine Parodie auf eine Parade zu inszenieren oder Opfern Körperteile als Souvenirs abzuschneiden. Das Ressourcenangebot ist stets begrenzt, insbesondere in Kriegszeiten, wenn die Zurschaustellung von Gewalt Energie und Aufmerksamkeit von anderen Aufgaben und Prioritäten ablenkt. Solche »Ablenkungen« können Kampagnen beeinträchtigen, in denen es auf Geschwindigkeit oder Effizienz ankommt, zum Beispiel einen Völkermord oder eine ethnische Säuberung.
Die Zurschaustellung von Gewalt ist auch für die individuellen Beteiligten kostspielig. Die Beteiligung kann eine emotionale und psychische Belastung mit sich bringen, die einen Menschen sein Leben lang nicht loslässt.14 Beispielsweise verdeutlichen die Memoiren und Zeitzeugenberichte ehemaliger amerikanischer Soldaten, die in Vietnam und im Irak kämpften, welche psychische, emotionale und körperliche Belastung die Beteiligung an grausamen Akten mit sich bringt, die vielfach meiner Definition von gewalttätigen Aufführungen entsprechen. Ein Beispiel ist Varnado Simpson, ein Soldat in der Charlie-Kompanie, jener Einheit, die in dem von den Amerikanern als My Lai bezeichneten Dorf verschiedenste Gräueltaten gegen unbewaffnete Zivilisten verübten. Aus dem Krieg zurückgekehrt, schloss sich Simpson in seinem Haus ein, lebte vollkommen zurückgezogen und betäubte sich mit Medikamenten, bevor er sich schließlich im Alter von 48 Jahren das Leben nahm.15
Die Zurschaustellung von Gewalt birgt auch individuelle Risiken. Die Beteiligten können gerügt, degradiert, strafrechtlich verfolgt und sogar zu Haftstrafen verurteilt werden. Zu den ersten Kriegsverbrechern, die sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ISTY) verantworten mussten, zählte Duško Tadić, dem Gräueltaten im Internierungslager Omarska vorgeworfen wurden. Auch die amerikanischen Soldaten, die irakische Gefangene in Abu Ghraib sexuell gefoltert hatten, erfuhren am eigenen Leib, wie riskant es sein kann, Gewalt zur Schau zu stellen. Elf beteiligte Soldaten wurden vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt; andere wurden gerügt, degradiert oder unehrenhaft aus der Armee entlassen. Auch mehrere Offiziere wurden gerügt und degradiert (obwohl nur einer vor Gericht gestellt, später jedoch in sämtlichen Anklagepunkten freigesprochen wurde).16
In Anbetracht der Risiken und Kosten stellt sich die Frage, warum es überhaupt zur Zurschaustellung von Gewalt kommt, insbesondere, wenn es möglich ist, die Gewaltakte unauffälliger zu verüben. Tatsächlich kann nicht offen zur Schau gestellte Gewalt in vielen Situationen ebenso gut wie oder sogar besser als eine Vorführung der Gewalt geeignet sein, die Ziele der Täter zu erreichen.
Ich behaupte, dass manche Akteure trotz der Risiken und Kosten Gewalt zur Schau stellen, weil solche Aufführungen etwas bewirken können, wozu nicht öffentlich zur Schau gestellte Gewalt nicht in der Lage ist. Indem Akteure Gewalt zur Schau stellen, sagen sie anderen, wer sie sind. Indem die Beteiligung an der Gewalt zur Grundlage für die Zugehörigkeit gemacht wird, wird klargestellt, was es bedeutet, eine bestimmten Kategorie, Gruppe oder »Seite« anzugehören. Vorführungen von Gewalt versetzen die Akteure auch in die Lage, eine neue politische Ordnung zum Leben zu erwecken und Macht, Autorität, Souveränität und andere politische Ansprüche auf die deutlichste mögliche Art geltend zu machen.17
In meiner Argumentation stütze ich mich auf die vielfältige Literatur zu Gewalt, Performanz, race und Ethnizität. Mein Beitrag besteht darin, die Analyse auf die Gewalt als Prozess der Gruppenbildung auszuweiten, anstatt sie lediglich als Produkt des Handelns von Gruppen zu betrachten. Ich werde untersuchen, wie all jene, die auf der Bühne stehen, einen Augenblick zu etwas Besonderem machen, anstatt mich ausschließlich auf jene zu konzentrieren, die tatsächlich physische Gewalt ausüben. Ich werde mich ernsthaft mit den über die Absichten der Akteure hinausgehenden Wirkungen beschäftigen, darunter die Festschreibung von Bedeutungen und die Verwandlung des Selbstbilds und der Selbsterfahrung der Akteure.
Dabei stütze ich mich auf wissenschaftliche Erkenntnisse über den strategischen Nutzen der Zurschaustellung von Gewalt. Die Akteure in Bürgerkriegen oder bewaffneten Konflikten zwischen Staaten können Aufführungen von Gewalt einsetzen, um jene zu warnen oder zu bestrafen, die zur Gegenseite überlaufen.18 Bewaffnete Gruppen können Gewalt zur Schau stellen, um den Eindruck zu erzeugen, ihre militärische Stärke sei größer, als sie tatsächlich ist; das tat zum Beispiel die Rebellenorganisation RUF im Krieg in Sierra Leon, indem sie begann, Dorfbewohner:innen die Arme und Hände abzuhacken.19 Die Zurschaustellung von Gewalt kann auch eine Möglichkeit sein, um den Machthabern Gefolgschaft, Ergebenheit oder Begeisterung zu demonstrieren.20 Oder sie dient dazu, neue Rekruten mit den Normen und Erwartungen der Organisation vertraut zu machen.21
Zusätzlich zu diesem strategischen Wert kann die Zurschaustellung von Gewalt auch wegen ihres expressiven Potenzials nützlich sein. Beispielsweise kann die Zurschaustellung von Gewalt eine an die Mächtigen gerichtete »Entgegnung« sein. Als sich die Angehörigen der Charlie-Kompanie folternd, brandschatzend und vergewaltigend ihren Weg durch My Lai bahnten, schickten sie damit ein nachdrückliches Signal der Ablehnung an eine Militärführung, die auf die Zahl getöteter Feinde als einzigen Erfolgsmaßstab fixiert war.22 Gleichzeitig waren diese Gewaltakte auch eine Botschaft an die Adresse des schwer fassbaren Feindes, der den Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern mit versteckten Sprengfallen, Minenfeldern und Hinterhalten führte.23
Forschende haben auch verschiedene Antworten auf die verwandte Frage gegeben, warum Akteure an einer Vorführung von Gewalt teilnehmen, insbesondere an einer, die mit »Übertöten« oder einem in der gegebenen Situation unnötigen Maß an Brutalität einhergeht. Randall Collins sieht die Antwort in einer spezifischen situativen Dynamik, die er als »Vorwärtspanik« bezeichnet.24 Zu Vorwärtspanik kommt es dann, wenn sich die in einer Konfliktsituation (zum Beispiel in einem Krieg) aufgestaute Spannung und Furcht endlich entladen kann. In einem solchen Augenblick der Entladung ziehen sich Soldaten nicht ruhig zurück, sondern stürmen in einem »emotionalen Rauschzustand« vorwärts, was im Allgemeinen mit hemmungsloser Aggression und unnötiger Gewaltanwendung einhergeht. Collins zieht die Vorwärtspanik heran, um Episoden wie den amerikanischen Angriff auf den Hamburger Hill im Vietnamkrieg und das japanische Massaker in Nanking im Zweiten Weltkrieg zu erklären.25 Stefan Klusemann zieht Collins’ Deutung heran, um Ratko Mladics Befehl zu erklären, alle männlichen Flüchtlinge in Potocari (bei Srebrenica) zu töten, nachdem diese von UN-Friedenstruppen den Serben überantwortet worden waren.26
Diese Arbeiten sind eine wichtige Grundlage für meine Untersuchung. Die Zurschaustellung von Gewalt kann sowohl strategischen als auch expressiven Nutzen haben. Auch die Dynamik einer speziellen Mikrosituation kann bestimmte Ergebnisse der Gewalt erklären, etwa Vorführungen, in denen mehr Gewalt angewandt wird als nötig. Doch viele Fragen sind weiterhin unbeantwortet. Was erklärt Aufführungen von Gewalt, die den übergeordneten Zielen eher schaden, statt ihnen zu dienen, oder Gewaltakte, die nichts mit Vorwärtspanik zu tun haben? Die Wärter:innen in Abu Ghraib zum Beispiel hatten Anweisung, die Gefangenen für die Verhöre »kooperationsbereit« zu machen; niemand hatte ihnen befohlen, die Häftlinge endlosen sexuellen Qualen auszusetzen, die keine verwertbaren »nachrichtendienstlichen Erkenntnisse« lieferten. Außerdem entlud sich hier keine aufgestaute Spannung oder Furcht; die Wärter:innen zwangen wehrlose Gefangene, sich zu erniedrigen, und machten zahlreiche Fotos, um die Demütigung noch zu verschlimmern.
Wenn Gewaltakte eine »Entgegnung« sind oder wenn sich Akteure in einer Situation befinden, in der es zu Vorwärtspanik kommt, stellt sich die Frage, warum verschiedene Akteure so unterschiedlich auf dieselbe Situationsdynamik reagieren? Beispielsweise verhielten sich die Männer der Charlie-Kompanie in My Lai sehr unterschiedlich. Einige Soldaten schossen brüllend und johlend auf Menschen, Tiere und Gebäude, während andere durch das Blutbad wanderten, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Einige Männer vergewaltigten Frauen und zündeten Hütten an, verweigerten jedoch einen direkten Befehl, auf eine Gruppe von Dorfbewohner:innen zu schießen.27
Ich konzentriere mich auf die perfomativen Dimensionen der Gewalt – darauf, wie wichtig es ist, sich in einem bestimmten Kontext auf eine bestimmte Art zu verhalten, weil dieses Verhalten eine bestimmte (gender, nationale, lokale) Identität und Ordnung prägt, anstatt lediglich Bezug auf die Ideen zu nehmen.28 Ganz ähnlich stellen bestimmte verbale Äußerungen – »Ich tue« oder »Ich wette« –, wenn sie im richtigen Augenblick auf die richtige Art gemacht werden, an sich Handlungen dar, anstatt sich lediglich auf diese Handlungen zu beziehen, wie John Austin erklärt hat.29 Wenn wir Gewalt und ihre Zurschaustellung als performativ betrachten, verstehen wir, was die Beteiligten mit und durch ihre eigenen Körper und die Körper anderer Personen tun. Mit »Beteiligten« meine ich nicht nur jene, die eine Schusswaffe einsetzen oder eine Machete schwingen. Ich meine alle Personen, die auf irgendeine Art an der Aufführung von Gewalt beteiligt sind, sei es, dass sie einen Strick oder Benzin holen, das Opfer anstarren oder verhöhnen, anderen zujubeln, Fotos machen und in Umlauf bringen oder sich ein Souvenir sichern, um es später herumzuzeigen. Auch ahnungslose Passant:innen oder Nachbar:innen, die einfach aufgrund ihrer Nähe zur Szene nicht vermeiden können, die Geschehnisse zu sehen und zu hören, sind Beteiligte. Ich analysiere diese Handlungen in ihrer Gesamtheit, anstatt sie im Einzelnen zu betrachten; so will ich zeigen, wie dadurch, dass etwas auf eine bestimmte Art getan wird, eine besondere Situation erzeugt und der Augenblick als besonders gekennzeichnet wird.30 Zum Beispiel stellen ein Spießrutenlaufen oder eine Menschenjagd nicht nur eine Gelegenheit dar, andere zu schlagen oder zu hetzen, sondern sie ermöglichen es den Beteiligten auch, an einem besonderen kollektiven Akt teilzunehmen.
Indem ich mich auf die sinnstiftende Macht des verkörperten Handelns konzentriere, versuche ich, die umfangreiche Literatur zu ergänzen, die untersucht, wie Akteure soziale Identitäten wie »Faschist«, »Bürger«, »Nation« oder »Geschlecht« »aufführen«.31 Ich greife auch auf die Theorien des Körpers zurück, die erklären, dass der menschliche Körper größere und abstraktere soziale »Körper« repräsentieren kann und in welcher Beziehung diese verschiedenen Arten von »Körpern« zueinander stehen.32 Wie Mary Douglas gezeigt hat, repräsentiert der menschliche Körper nicht nur anatomische Konzepte, sondern verkörpert auch die gesellschaftlichen Werte, Unterscheidungen, Tabus und Grenzen, die dem Alltagsleben seine Ordnung geben.33 »Der menschliche Körper ist das mikrokosmische Abbild der Gesellschaft, ihrem Machtzentrum zugewandt und in direkter Proportion zum zu- bzw. abnehmenden gesellschaftlichen Druck ›sich zusammennehmend‹ bzw. ›gehenlassend‹.«34 Douglas’ Erkenntnisse sind sehr gut auf die Zurschaustellung von Gewalt anwendbar. Indem durch und mit den individuellen Körpern der Opfer Gewalt ausgeübt wird, kann eine solche Vorführung gleichzeitig übergeordnete gesellschaftliche Vorstellungen von der Ordnung ausdrücken – wer sollte Macht haben und wer nicht, welche gesellschaftlichen Segmente haben Anspruch auf welche Rechte und Vorrechte gegenüber welchen anderen Segmenten, welche Teile des sozialen Körpers sollten amputiert oder herausgeschnitten werden?
Die kommunikative Kraft des Körpers entspringt seiner Fähigkeit, ganze Kategorien von Personen zu repräsentieren. Diese Fähigkeit ist nicht unbegrenzt. Wie Douglas erklärt: »Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird.«35 Die sozialen Körper verleihen den physischen Körpern verschiedene Bedeutungen. Diese Bedeutungen sind weder willkürlich noch unveränderlich. Bei oberflächlicher Betrachtung mag es den Anschein haben, als wären sie statisch oder würden als selbstverständlich betrachtet, aber unter der Oberfläche weisen sie oft widersprüchliche Schichten auf. Diese Schichten zeigen, dass die Bedeutungen und der Prozess der Erzeugung von Bedeutungen im Allgemeinen fließend sind. Bedeutungen sind nie Endpunkte, sondern stets im Entstehen begriffen. Sie haften Körpern nicht unproblematisch oder automatisch an, denn kein Körper gehört von vornherein einer bestimmten Kategorie an. Vielmehr konstruieren und dekonstruieren soziale Körper die Vorstellungen von Reich und Arm, Ausländern und Einheimischen, »wirklichen« und »falschen« Serben und andere Unterscheidungen durch die alltäglichen zwischenmenschlichen Interaktionen sowie durch außergewöhnliche Episoden kollektiver Gewalt, darunter zur Schau gestellte Gewalt. Bei der Zurschaustellung von Gewalt geht es nicht unbedingt darum, ein bestehendes Verständnis davon zu bekräftigen, was es bedeutet, weiß oder schwarz, Tutsi oder Hutu zu sein: Oft dient eine solche Vorführung der radikalen Neuformulierung dessen, was es bedeutet, einer gegebenen Kategorie anzugehören. Ein Weißer zu sein, hat vor einem Lynchmord eine andere Bedeutung als nach der Teilnahme an einem solchen Gewaltakt.
Aufführungen von Gewalt erzeugen neue Bedeutungen, indem sie die Fungibilität des menschlichen Körpers nutzen, das heißt seine Fähigkeit, größere soziale Körper und ganze soziale Kategorien zu repräsentieren. Die Zurschaustellung von Gewalt verwandelt den Körper des Gewaltopfers in den Repräsentanten einer imaginierten Kategorie von Menschen. Der Körper wird zu einer Leinwand, auf der das Ganze dargestellt werden kann, womit das, was die Täter auf dem einen (individuellen) Körper darstellen, automatisch auf den anderen (kollektiven) Körper übertragen wird. So dient der Körper zugleich als Inhalt und als Medium, Plakatwand und Slogan. Er ist sowohl das Objekt der Vorführung als auch das Medium für die Inskription von Bedeutungen.
Abgesehen davon, dass die Zurschaustellung von Gewalt konstruiert oder neu definiert, was es bedeutet, dazuzugehören, verwandelt sie auch die Akteure auf eine neue Art. Der Prozess der Zurschaustellung von Gewalt kann die Beteiligten als Mitglieder einer Gruppe – eines Mobs, einer Bruderschaft, einer Straßenbande oder einer Armee – bestätigen. Tatsächlich ist genau das der Grund dafür, dass viele Organisationen Gewalt einsetzen, um neue Mitglieder einzuweihen und mit den Normen und Erwartungen der Gruppe vertraut zu machen.36 Zusätzlich dazu, dass sie die Beteiligten zu vollwertigen Mitgliedern der Gruppe macht, kann die Zurschaustellung von Gewalt auch das »Gruppengefühl« in einem bestehenden Kollektiv vertiefen oder erweitern, indem sie die Normen der Solidarität festigt.37
Durch die Aufführung können auch die Akteure selbst verwandelt werden. Indem sie sich versammeln, umhergehen, Gespräche führen, klatschen, lachen, johlen, fesseln, fahren usw., verwirklichen die Akteure nicht nur den Augenblick, sondern erleben ihn direkt mit ihrem Körper und ihren Sinnen. Amy Louise Wood schreibt über die Erfahrung, einem Lynchmord zuzusehen:
»Die Zuschauenden hörten die Reden des Mobs, die Zurufe der Menge, die Geständnisse des Opfers und vor allem sein Kreischen und seine Todesschreie. In Fällen, in denen das Opfer verbrannt wurde, konnte man den Lynchmord auch riechen. Und in sämtlichen Fällen erzeugten die Stimmung und das Gedränge in der Menge jenes Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft, das die Gewalt aufrechterhielt. In dieser Hinsicht bezeugten die Zuschauenden den Lynchmord eher, als dass sie ihn sich ansahen oder konsumierten – das heißt, sie betrachteten oder erlebten ihn mit aktivem Engagement.«38
Dasselbe »aktive Engagement« ist auch bei anderen Arten von gewalttätigen Vorführungen zu beobachten. Beispielsweise waren die Soldaten in Abu Ghraib auch Konsumenten der von ihnen inszenierten Vorführungen. Sie hörten die Schreie oder Proteste der Opfer, sie fühlten den Zug der Hunde, die sich in die Leine warfen (die Tiere wurden eingesetzt, um die Gefangenen zu terrorisieren), sie rochen Schweiß, Urin und Kot der Opfer und fühlten das anerkennende Schulterklopfen ihrer Freunde, das Abklatschen und andere Gesten von »Zugehörigkeit und Gemeinschaft, welche die Gewalt stützten«.39
Abgesehen davon, dass die Teilnehmenden die Vorführungen mit ihren Körpern und Sinnen erleben, genießen sie auch neue Formen von Macht, Zugehörigkeit und Hierarchie. Diese Formen der Macht können neuartig und erregend sein. Die Mitglieder der großen Volksmengen, die an den Lynchmorden an Sam Hose, Claude Neal oder Jesse Washington teilnahmen, dürften die Macht über Leben und Tod zum ersten (und möglicherweise einzigen) Mal in ihrem Leben gespürt haben.40
Das Verständnis der kommunikativen, konstitutiven und performativen Kraft der Zurschaustellung von Gewalt hilft zu erklären, warum viele verschiedene Akteure daran teilnehmen. Es liefert auch Einblicke in die übergeordneten politischen Wirkungen der Zurschaustellung von Gewalt, denn diese ist geeignet, Bedeutungen zu verankern, Ansprüche geltend zu machen und Macht auszustrahlen. Dabei können diese Wirkungen außerhalb der Absichten, Interessen oder Präferenzen der Akteure liegen. In dieser Untersuchung folge ich Glenn Bowman, der fragt: »Was tut Gewalt außerdem?«41 Ich würde dieser Frage eine weitere hinzufügen: Was ist Gewalt außerdem in der Lage zu tun?
Aufführungen von Gewalt sind geeignet, die Beteiligten – bereitwillige ebenso wie widerwillige, bewusste ebenso wie unabsichtliche – in das Geschehen hineinzuziehen. Um zu erklären, wie verschiedene Menschen zur Beteiligung an diesen Shows kommen, stelle ich eine Theorie der Rollenbesetzung (casting) auf. In diesem Prozess schlüpfen die Akteure in Rollen, und die Rollen finden Akteure. Rollen werden nicht nur von jenen ausgefüllt, die in Haupt- und Nebenrollen im Mittelpunkt der gewalttätigen Handlung stehen, sondern auch von jenen, die kleine Rollen spielen, als Statist:innen auftreten oder in die unverzichtbaren Rollen der »Zuschauenden« schlüpfen. In ihrer Gesamtheit geben diese Rollen der Aufführung Form, Inhalt und Bedeutung. Sie erwecken die Aufführung zum »Leben«. Der Prozess ist dynamisch und interaktiv. Wenn die Akteure in ihre Rollen schlüpfen, nimmt die Aufführung Gestalt an. Und während das geschieht, tauchen neue Rollen auf, während andere in den Hintergrund treten. In jeder Phase des Prozesses ermöglichen die Rollen neue Auftritte und machen die Aufführung in ihrer Gesamtheit zu dem, was sie ist. Beispielsweise verwandeln sie einen Mord in Lynchjustiz oder die Beaufsichtigung von Häftlingen in einem Gefängnis in eine pornografische Vergnügung.42 Die Rollenbesetzung ist ein Prozess der fortgesetzten Einbeziehung. Sie gibt nicht nur den Eifrigsten und Bereitwilligsten die Möglichkeit, an der Aufführung teilzunehmen, sondern zieht auch die Ahnungslosen und Widerwilligen in das Geschehen hinein.
Um zu untersuchen, wie die Zurschaustellung von Gewalt auf lokaler Ebene funktioniert, untersuche ich mehrere Episoden, die in unterschiedlichen Kontexten stattfanden. Eine Episode definiere ich als einen Gewaltakt im Rahmen eines umfassenderen Projekts organisierter Gewalt. Eine Episode ist normalerweise zeitlich abgegrenzt und trägt sich an einem einzigen Tag oder Nachmittag zu. Aber in manchen Fällen können bestimmte Formen von gewalttätigen Aufführungen zur Routine werden, wodurch die zeitlichen Grenzen verwischt werden; das geschah bei der Zurschaustellung extraletaler Gewalt im serbischen Internierungslager Omarska in Bosnien. Ich behaupte nicht, dass diese Episoden repräsentativ für die übergeordnete organisierte Gewalt sind, die zu jener Zeit angewandt wurde. Auch will ich nicht sagen, dass der Vergleich verschiedener Episoden einem Vergleich von Lynchjustiz mit einem Völkermord oder von einem Genozid mit einer ethnischen Säuberung entspricht – im Gegenteil. Ich konzentriere mich nicht auf die nationale Ebene, sondern auf kleine Gemeinschaften, in denen die Unterschiede und Unterscheidungen nicht immer sind, was sie zu sein scheinen, aber unter bestimmten Umständen über Leben und Tod entscheiden können.
Die Episoden, die ich im Detail untersuche, zeigen uns, wie verschiedene Aufführungen von Gewalt abhängig von Umfang und Art der Bühnenkunst »aussehen« und wie sie sich »anfühlen«. Ich untersuche Episoden, die ich als »Hauptattraktion« bezeichne (Kapitel 3), sowie solche, die ich als »Nebenprogramm« definiere (Kapitel 5). Diese Aufführungen unterscheiden sich in Bezug auf zahlreiche Merkmale. An einigen nahmen große Menschenmengen teil, an anderen nur ein kleiner Kreis ausgewählter Personen. Einige dauerten wenige Augenblicke, andere Tage, Wochen oder auch Monate. In einigen wurden eine ausgefeilte Choreografie entwickelt und Requisiten eingesetzt, andere waren eher improvisiert. Einige fanden an öffentlichen Orten, andere an abgeschlossenen Schauplätzen wie Internierungslagern statt. Schließlich unterschieden sie sich in Bezug auf das Maß an extraletaler Gewalt. (Als extraletal definiere ich jede körperliche Gewalt, welche gegen die allgemein anerkannten Normen und Vorstellungen von der angemessenen Behandlung von Personen oder Körpern verstößt.)43 Einige beruhten fast ausschließlich auf extraletaler Gewalt, während eine solche Gewaltanwendung in anderen Fällen fast vollkommen fehlt.
Die am wenigsten publikumswirksame der drei behandelten »Hauptattraktionen« ist die Ermordung einer bekannten Familie im Verlauf des Genozids in Ruanda. Der Völkermord war das Projekt in ihrer Macht bedrohter Extremisten in der Hauptstadt, wurde jedoch von örtlichen Eliten ausgeführt, die mit einem unterschiedlichen Maß von Eigeninitiative und Begeisterung die Bevölkerung organisierten, damit diese die eigentlichen Tötungen übernahm. Die Ziele waren alle Tutsi sowie jedermann, der sich den machthabenden Extremisten widersetzte. In der Gemeinde Ngali nahm eine Familie eine herausragende Stellung ein. Mehrere Gruppen von Angreifern brachten die Mitglieder dieser Familie zur Strecke. Eine große Gruppe spürte sogar drei Kinder auf. Obwohl die Ermordung dieser Kinder offenkundig eine Vorführung war, wies sie weniger Merkmale einer Inszenierung auf als die beiden anderen und beinhaltete auch keine extraletale Gewalt, wie zum Beispiel eine Verstümmelung oder Schändung der Leichen.
Die zweite Aufführung wies mehr Merkmale einer Inszenierung auf. Im Frühjahr 1992 begannen die bosnischen Serben, gewaltsam Gebiete im Norden und Osten der Republik zu erobern und in »autonome Regionen« umzuwandeln. Am 10. Juli 1992 trieben Soldaten in einem Dorf im serbisch kontrollierten Gebiet sämtliche männlichen Muslime im »kampftauglichen Alter« zusammen, ließen sie im Ort zu einer Parade aufmarschieren und sperrten sie in einer Schule ein, um sie am Nachmittag schließlich zu töten. Die eigentliche Ermordung der Gefangenen wurde so wie die Beseitigung der Leichen nicht zur Schau gestellt. Diese Episode zeigt, dass die Akteure einen Teil der Gewalt öffentlich vorführen können, während sie andere vor Zuschauenden verbergen.
Die dritte Episode ist der Lynchmord an einem 22-jährigen schwarzen Landarbeiter namens George Armwood am Eastern Shore in Maryland. Am Abend des 18. Oktober 1933 strömte vor dem Gefängnis der Kleinstadt Princess Ann eine Volksmenge zusammen, die auf mehrere Tausend Köpfe geschätzt wird. Nachdem sich der Mob mehrere Stunden lang aufgeschaukelt hatte, stürmte er das Gefängnis, holte Armwood aus seiner Zelle, hängte ihn an zwei verschiedenen Orten an Bäumen auf und setzte seine Leiche in Brand. Diese Episode ist die am sorgfältigsten inszenierte und beinhaltet das höchste Maß an extraletaler Gewalt.
Die Kontexte dieser Episoden waren sowohl zeitlich als auch politisch und kulturell sehr unterschiedlich, aber alle drei ereigneten sich in einer Zeit wirtschaftlicher und politischer Krisen, die sich auf alle Gesellschaftsschichten auswirkten. In Bosnien ermöglichte der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nach Titos Tod im Jahr 1980 den Aufstieg radikaler nationalistischer Führer und löste einen wirtschaftlichen Niedergang mit galoppierender Inflation aus. In Ruanda führten die lauter werdenden Forderungen nach einer Demokratisierung zur Radikalisierung von Teilen der Elite, die ihr Machtmonopol verteidigen wollten. Gleichzeitig stürzte ein Einbruch der Weltmarktpreise für Kaffee das Land in eine schwere Wirtschaftskrise, während die Invasion der Rebellengruppe RPF eine Sicherheitskrise auslöste. In den Vereinigten Staaten löschte die Weltwirtschaftskrise das Vermögen zahlreicher Familien aus und machte die Armen noch ärmer. Der Gouverneur von Maryland, Albert Ritchie, verschärfte die Krise noch, indem er die Unterstützung der Bundesregierung ausschlug. In Reaktion auf diese Krisen begannen politische Eliten und Unternehmer an allen drei Schauplätzen, vor einer unmittelbaren existenziellen Bedrohung zu warnen, die von einem inneren Feind ausgehe. Die Lösung sahen viele in tödlicher Gewaltanwendung gegen diesen Feind.
Doch Krisen sind kein Schicksal, sondern eröffnen Möglichkeiten. Sie lenken die Menschen nicht in eine Richtung, sondern bieten ihnen verschiedenste Wege an.44 Wir können Gewalt auf lokaler Ebene nicht einfach mit einem Verweis auf das »Leitnarrativ« erklären,45 weil die Akteure zu viele Möglichkeiten haben, um die Leitnarrative zu interpretieren, davon abzuweichen und sie sich anzueignen. Zudem können sich die politischen Eliten abhängig von Wahlchancen und anderen politischen Erfordernissen zwischen radikalen und gemäßigten Positionen hin und her bewegen und tun dies auch.46 Zudem deckt sich das, was die politischen Eliten sagen, nicht immer mit dem, was sie tun. In Ruanda unternahmen Anführer des Genozids auf allen Ebenen große Anstrengungen, um ihre Frauen, Geliebten und Familienmitglieder aus der Gruppe der Tutsi zu schützen, und bemühten sich gleichzeitig, für die Ausrottung aller Tutsi zu sorgen. Mit anderen Worten, klare Unterschiede auf der Makroebene beginnen auf der Ebene der Nachbarschaft zu verschwinden, wo die lokalen Beziehungen und Machthierarchien darüber entscheiden, wie die Menschen auf Anweisungen von oben reagieren.47
Die Methode zur Aufdeckung und theoretischen Analyse der Zurschaustellung von Gewalt ist der Vergleich. Die vergleichende Analyse von Fallbeispielen in verschiedenen Umfeldern ist in der Erforschung von Genozid,48 politischen Konflikten,49 Demokratisierungsprozessen,50 Unruhen51 und anderen politischen Phänomenen üblich. Doch dieses Buch unterscheidet sich von anderen Studien dadurch, dass sein Kernkonzept – das der Zurschaustellung von Gewalt – auf verschiedene Formen organisierter Gewalt anwendbar ist. Und da das Konzept nicht genau zu einem bestimmten Typ passt, eröffnet es neue Möglichkeiten der Analyse und Erklärung und wirkt der Tendenz der Spezialist:innen entgegen, weitgehend isoliert von Fachleuten für andere Formen von Gewalt zu arbeiten.52 Wie Randall Collins erklärt: »Wir müssen die üblichen Kategorien – Mord als ein Spezialgebiet der Forschung, Krieg als ein anderes, Misshandlung und Missbrauch von Kindern als ein drittes, Polizeigewalt als ein viertes und so weiter – überwinden und uns stattdessen an die Situationen halten, die sich jeweils ergeben.«53 Collins ist der Meinung, dass äußere Unterschiede die Fachleute nicht davon abhalten sollten, nach Mustern zu suchen, die über verschiedene Formen von Gewalt hinweg zu beobachten sind. William Beik argumentiert in seiner Studie über Unruhen zu verschiedenen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten ähnlich und erklärt, die Aufgabe bestehe darin, »nicht die zahlreichen Unterschiede in Bezug auf Bestrebungen und Form zu leugnen oder zu ignorieren, aber gemeinsame Elemente herauszuarbeiten«.54 In Anlehnung an Collins und Beik versuche ich, Ähnlichkeiten zwischen den Prozessen aufzuspüren, die auf lokaler Ebene gewalttätige Aufführungen hervorbrachten, und beschäftige mich gleichzeitig theoretisch mit der Frage, wie sich diese Prozesse über verschiedene Gegebenheiten hinweg entfalten.
Ich stelle nicht die üblichen Vergleiche an. Wenn ich unterschiedliche Episoden einander gegenüberstelle, tue ich das nicht, um die Unterschiede zu bereinigen, sondern um die Lupe anders einzustellen. Indem man eine Episode durch die Linse einer anderen betrachtet, kann man neue Grundlagen für Vergleiche und die theoretische Analyse finden, die herkömmlich aufgebauten Studien möglicherweise entgehen. Anstatt von einer deduktiv abgeleiteten normativen Theorie dessen auszugehen, wie die Zurschaustellung von Gewalt ablaufen sollte, verwende ich jede Episode als Modell für einen möglichen Weg, den die Akteure einschlagen können, um Gewalt zur Schau zu stellen. Die von den einzelnen Episoden gelieferte Linse bezieht sich sowohl auf den – historischen, politischen, sozialen und kulturellen – Kontext