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Wir kennen Kolumbus. Doch wissen wir etwas über Jermak, den Entdecker Sibiriens. Dabei ist dieser Landstrich größer als Amerika. Ab nach Sibirien, da ist es kalt: undurchdringlicher Urwald, eintönige Tundra, Dauerfrostböden, der Kältepol. Klischees über Klischees, Legenden und Sagen durchziehen unser Wissen, nähren unsere Ahnung. Doch Sibirien heißt, wenn man es aus der Sprache der alten Nomadenvölker übersetzt, nichts weiter als schlafende Erde. Wagen wir den Weg, benutzen wir die Schneise, welche uns die Transsibirischen Eisenbahn nach Osten vorgibt, bis in den letzten Winkel. Begleiten wir Eisenbahner der Fernostbahn, stoßen wir zu den Wölfen im Baikal-Lena-Naturreservat vor und tauchen ein in die Religion des Lamaismus im Kloster Ivolginsk. Entdecken wir Sibirien. Es ist warm, schön, herrlich wie am ersten Tag. „Als Globetrotter sucht er das Authentische im Land und in den Menschen...“ (Sächsische Zeitung) „…dem Weltenbummler, der immer die Spur der Menschen und ihre Nähe sucht. Das macht seine Reportagen so unverwechselbar.“ (Eurasisches Magazin)
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Seitenzahl: 56
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Vorwort
Begegnungen am Schienenstrang
Der Sibirier
Die murmelnden Mönche
Auf großer Fahrt
Literatur:
Internet:
Reisen & Reiseführer:
Jan Balster, Jahrgang 1974, arbeitet als Freier Bild-, Reisejournalist und Autor für in- und ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Verlage.
Er lebte mit Clochards und Wanderarbeitern in Frankreich, in englischen Obdachlosenasylen, mit türkischen Gastarbeitern in London und tingelte als Straßenmusiker durch Irland. Er arbeitete als Weinleser, Fahrradkurier und Tellerwäscher, traf Fremdenlegionäre, IRA-Sympathisanten, Schiffs- und Flugkapitäne.
Während er anfangs mit dem Fahrrad unterwegs war, reiste er 1998 zu Fuß und ohne Geld 3100km von Dresden, via Mittelmeer nach Irland. Heute ist er mit Verkehrsmitteln unterwegs, die auch die Einheimischen benutzen: zu Pferd, als Tramp, mit Bus und Bahn. Immer wieder zieht es ihn nach Russland und Zentralasien.
„Für Touristen ist Russland das interessanteste Land der Welt – und es wird mit jeder Woche… interessanter.“
George Bernard Shaw (1856 – 1950)
Ab nach Sibirien, da ist es kalt: undurchdringlicher Urwald, eintönige Tundra, Dauerfrostböden, der Kältepol. Klischees über Klischees, Legenden und Sagen durchziehen unser Wissen, nähren unsere Ahnung. Scheinbar zahllos sind die allgewaltigen Meldungen, welche den Medien überwiegend entspringen. Doch Sibirien heißt, wenn man es aus der Sprache der alten Nomadenvölker übersetzt, nichts weiter als schlafende Erde.
Sibirien bedeutet nicht nur Schnee und eisige Winde. Im Frühling ist es warm. Es duftet nach Lärche, blüht der Flieder, glänzen die Tulpen. Im Sommer steigt das Thermometer auf über 30 Grad. Die Wiesen leuchten im Rot ungezählter Beeren. Und wenn der goldene Herbst beginnt, stehen die Birkenhaine in flammendem Gelb unter dem blauem Himmel, neigen sich die Apfelbäume unter der Last ihrer Früchte und funkeln die Vogelbeerbäume in feurigem Rot. Hier gilt noch das Wort der Schamanen, den Vermittlern zwischen Menschen und Geistern, einem Kult, der in der Urgesellschaft entstand. Das ist Sibirien, warm, schön, herrlich wie am ersten Tag.
Kilometer um Kilometer reiste ich durch Sibirien, um besser zu verstehen, was in Russland wohl anders ist. Ich wählte die Route der Transsibirischen Eisenbahn, um von den unterschiedlichsten Menschen zu erfahren, was sie bewegt, sie denken und beschäftigt, was sie betrübt und glücklich macht. Begegnungen um Begegnungen mehrten meine Erfahrung, brachten Verständnis für Neues. Schritt um Schritt entdeckte ich Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Dennoch, immer noch zu wenig, gleich dem Zugereisten Sibiriens, der viele Jahre in diesem Landstrich verbrachte, ohne je ein Sibirjake geworden zu sein. So verstehe ich meine Reportagen mehr als Erinnerungen, als Bereicherung, gesammelt und notiert, nicht ohne Liebe, mit Herzblut.
im Ural
„Die russische Volksseele hat noch nicht vermocht, das westeuropäische Joch abzustreifen und sich frei zu entfalten. Sie hat noch nicht die Form für ihr eigenes wahres Sein gefunden. Aber diese Zeit wird kommen…“
Fridtjof Nansen (1861 – 1930)
Am Bahnsteig des Jaroslawski - Bahnhofes in Moskau drängen sich die Menschen, alle wollen mit auf die große Reise. Gepäckstücke, alle aus dem gleich aussehenden karierten, in blau gehaltenen Stoff türmen sich in fünfzehn Meter Abständen. Polizisten schreiten den Bahnsteig ab. „Wann kommt der Zug?“ frage ich die Provodniza Irina, die allein in der dunkelblauen Uniform der russischen Staatseisenbahn auf ihrer kleinen Tasche hockt. „Bald“, antwortet sie und beißt in einen Kanten belegtes Brot. Über knisternde Lautsprecher wird unser Zug angekündigt. Die Reisenden scheren sich um ihr Gepäck, Polizisten verlassen fluchtartig den Bahnsteig. „Passen Sie auf ihren Rucksack auf“, mahnt mich Irina.
Wie bekannt erscheint uns doch Russland. Gerade wir Deutschen kennen dieses Land, aus dem Rundfunk, aus dem Fernsehen, der Presse, tagesaktuell werden uns Bilder serviert, die Landschaften, die Städte, ob politisch oder wirtschaftlich beleuchtet. Und warum fühlen wir uns dann so hilflos, wenn wir dieses Land besuchen? Warum können wir diesen Menschen nicht folgen, wenn wir ihnen begegnen, beruflich, privat und auf der Straße?
Kein Windhauch treibt Blätter über den Bahnsteig, kein Schnee fällt hinab und verzaubert, säuselt, als der Zug Nr.2 „Rossija“ den Moskauer Bahnhof verlässt. Eine blaue Linie zwängt sich durch die Vorstadt. Vorbei an verfallenen Fabriken und Mietshäuser, leer stehenden Wohnungen mit eingeschlagenen Fensterscheiben und Mühlplätzen nebenan.
Dann tauchen die ersten Gärten auf, verschwinden die Vorstadt-Haltepunkte, auf denen Menschen, vom Leben gezeichnete Gesichter, ruhig umherlaufen. Moskau verschwimmt.
Eine Nacht und einen Tag, meine Knochen werden steif. Der Zug rattert. Ich sitze am Fenster und lasse die Landschaft an mir vorbeiziehen. Meine Gedanken hängen an der Vergangenheit, reißen sich um ein Bild der Zukunft.
Die Provodniza, die Zugbegleiterin Irina, klopft. Jeder Waggon wird von zwei Provodniks betreut. Sie stehen jedem Fahrgast rund um die Uhr, 9289 Kilometer von Moskau bis Wladiwostok zur Verfügung. Heißer Tee wird gereicht, die Bettwäsche ausgeteilt und eine Kochgelegenheit wäre vorn in ihrem Abteil, meint sie. Die Reisenden sind zufrieden.
250 Euro im Monat verdient Kolja umgerechnet beim Militär: „Es reicht gerade, um mit Alexandr zu seinen Großeltern aufs Land zu fahren.“ Das ist die einzig freie Zeit, die ihm bleibt, mit seinem achtjährigen Sohn zu verbringen. Er war in der DDR stationiert von 1974 bis 1986, erzählt er. Dann wurde er versetzt, wegen der Perestroika. Heute verbringt er das Jahr mit Truppenübungen in Moskau, Einsätzen in Kasan und Aufmärschen in St. Petersburg. Ihn treibt es durch sein Land. „Ist besser als nichts“, meint er lächelnd. Immerhin fließt sein Lohn regelmäßig, jeden Monat: „Entweder du bist beim Militär oder bei der Bahn.“ Nach den Politikern und den sogenannten neuen Russen, wage ich gar nicht zu fragen. Ehrlich will er sein Geld verdienen.
Jaroslawl, Kirow, Perm die Gleise schwingen sich durch die Vorläufer des Uralgebirges. Der Ural selbst, erstreckt sich über 2500km von Norden nach Süden, beginnend in der kalten Tundra, endet er in der schwülen Hitze der Wüstensteppe. Was mag hinter ihm kommen? Kälte, ewiges Eis, Taiga, dunkler Wald. Sibirien, ein Land mit ebenso vielen Legenden behaftet, in unzähligen Liedern besungen, wie sein Entdecker, Eroberer, Nationalheld, der Kosakenhauptmann, Söldner der Kaufmannsfamilie Stroganow, Jermak Timofeew. Noch zu Zeiten des Zaren bis ins 19. Jahrhundert glaubten viele Menschen, dort sei das Ende der Welt gekommen. Und ein wenig sitzt auch uns, den Fahrgästen, die Spannung, vermischt mit Aufregung in den Köpfen.
Die beiden Mädchen, fünf und sechs Jahre alt, des jungen Ehepaares aus dem Nachbarabteil, hüpfen über den Gang. Zum ersten Mal unternehmen sie eine Reise abseits ihrer Heimatstadt Simbirsk. Sie möchten nicht schlafen: „Wir wollen alles sehen“ sagt Igor: „Wer weiß, wann wir wieder zum Baikal kommen.“ Und dieser ist noch weit, als die Nacht hereinbricht.