Vietnam - Jan Balster - E-Book

Vietnam E-Book

Jan Balster

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Beschreibung

Vietnam, das kleine China im Süden, das ist eine mehr als tausendjährige Geschichte des Kampfes um seine Freiheit. Vietnam ist eine Entdeckungsreise, extrem lang gezogen und gebirgig von den Landesgrenzen Kambodschas und Laos bis zum Südchinesischen Meer. Dazwischen liegt ein ehrgeiziges Land. Ein Volk der Drachen und Feen, wie sich die Vietnamesen gern sehen. Ein Volk mit scheinbar unerschöpflichem Fleiß ausgestattet, aufbegehrend gegen ihre Besatzer, zugleich anschmiegend an ihre Invasoren. Der Autor nimmt den Leser mit in das Wechselspiel zwischen Ahnenkult, Sozialismus und Globalisierung. Er taucht ein in das harte Leben der Reisbauern, deren Jugend nach westlichen Werten strebt, genießt die herzliche Gemeinschaft des Dorflebens und unternimmt eine Zugreise von Hanoi nach Saigon im Wiedervereinigungs-Express. Er besucht eine der schillerndsten und ungewöhnlichsten Religionsgemeinschaften der Welt, die Cao Dai, spricht mit Studenten und Professoren, Reisbauern und einer caodaistischen Seherin. weitere Informationen: https://editioneurasien.de »Als Globetrotter sucht er das Authentische im Land und in den Menschen...« (Sächsische Zeitung) »... dem Weltenbummler, der immer die Spur der Menschen und ihre Nähe sucht. Das macht seine Reportagen so unverwechselbar.« (Eurasisches Magazin)

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www.auf‐weltreise.de

Inhalt

Bác Hổ

Die gute alte Heimat ‐ Vietnam

Begierde und Illusion

Immer ist es das alte Lied

Cao Ðài

Wort‐ und Sacherklärungen:

Literatur:

Internet:

Reisen & Reiseführer:

Über den Autor

Jan Balster, Jahrgang 1974, arbeitet als Freier Bild‐, Reisejournalist und Autor für in‐ und ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Verlage.

Er lebte mit Clochards und Wanderarbeitern in Frankreich, in englischen Obdachlosenasylen, mit türkischen Gastarbeitern in London und tingelte als Straßenmusiker durch Irland. Er arbeitete als Weinleser, Fahrradkurier und Tellerwäscher, traf Fremdenlegionäre, IRA‐Sympathisanten, Schiffs‐ und Flugkapitäne.

Während er anfangs mit dem Fahrrad unterwegs war, reiste er 1998 zu Fuß und ohne Geld 3100 km von Dresden, via Mittelmeer nach Irland. Heute ist er mit Verkehrsmitteln unterwegs, die auch die Einheimischen benutzen: zu Pferd, als Tramp, mit Bus und Bahn. Immer wieder zieht es ihn nach Russland und Zentralasien.

Hổ‐Chí‐Minh‐Mausoleum in Hanoi (2004)

»Không có gì quý hơn độc lập, tự do.« Hổ Chí Minh (1890 ‐ 1969)1

Bác Hổ

Der gefangene Geist des Hổ Chí Minh in Hanoi

Vier Tage in der Woche, von Dienstag bis Freitag, können ihn die Besucher betrachten. Lediglich in den Monaten Oktober und November müssen sie verzichten. Da wird er generalüberholt. Schließlich soll er nicht zusammenfallen, keine Spuren der Verwesung zeigen wie sein Kollege Lenin im fernen Moskau.

So stehe ich an diesem Freitag pünktlich um acht Uhr am Eingang zum Mausoleum am Hanoier Ba‐Dinh‐Platz. Er wird im Wesentlichen für Aufmärsche genutzt. Polizisten riegeln ihn ab. Zufahrtsstraßen sind mit Einbahnstraßenschildern bestückt. Verkehrspolizisten weisen die ankommenden Reisebusse ein. Touristen kommen immer, aus Japan, Deutschland, Frankreich und sogar aus dem einstigen Feindesland Amerika. Es gehört einfach zum Besucherprogramm für Hanoi, sagen die einen ‐ so eine Prozedur muss man erlebt haben, die anderen. Dieser Prunk, dieser Protz ist nötig, um auf Vietnams Regierung aufmerksam zu machen, höre ich aus der Schlange, welche sich langsam formiert.

Noch haben die Ordnungsfrauen mit ihren stahlharten Mienen nicht viel zu tun. Die erste Gruppe von etwa dreißig Personen darf eintreten. Eine Ordnungsdame stellt sich hinter die letzte zugelassene Person. Wir rücken vor. Eine Glastür wird aufgesperrt. Vor uns ein Röntgengerät, wie es auf Flughäfen zu Personen‐ und Taschenkontrollen eingesetzt wird. »Fotokamera«, die knappe Aufforderung. »Open« und die junge Frau weist fordernd auf meine Jacken, keine Geste der Freundlichkeit, kein Lächeln. Wovor haben sie Angst? Vor einem Anschlag, vor einem Bild, das ich nehmen könnte, von ihrem geliebten Hổ? Könnte ich ihm womöglich seine Seele rauben?

Ahnenkult hat eine lange Tradition in Vietnam, in jedem Tempel, in jeder Pagode kann man ihn finden. Siebzehn Jahre gab es nur einen Ahnen, einen öffentlichen Ahnen, während die anderen heimlich zu Hause in den kleinen Tempelchen im Wohnzimmer verehrt wurden. Der öffentliche Tempel war für den großen Ahnen H Chí Minh errichtet worden. Ein Klotz, der viermal größer sein soll als das Leninmausoleum in Moskau. Aber er wurde nach dessen Vorbild gebaut. Auch die Struktur des Kultes seiner Partei ähnelte der in Moskau. Es ist der Kult einer Partei, die es verlernt hatte, einen Mann zu ehren, der sich für sein Volk aufgeopfert hatte. Heute wird darauf geachtet, dass er nicht fotografiert wird. Aber wer soll wem die Seele rauben? Mit einem Bild von einem Toten, dem man seinen Letzten Willen verwehrt, den man nicht bestattet.

Mit Trillerpfeifen befehlen die Beamten der Volkspolizei dem Besucher: Gehen Sie in Zweierreihen. Und ehe der letzte Tourist begriffen hat, seine Kopfbedeckung endlich abzunehmen, haben sie uns sortiert. Wir nähern uns fast im Gleichschritt, in Zweierreihe rücken wir vor. Hinter uns, zwanzig Meter entfernt, versucht die zweite Gruppe, ebenfalls an die dreißig Leute, aufzuschließen. Keine Chance. Eine Trillerpfeife ertönt. Kein Wort, kein Satz, lediglich dieser schrille Ton der Pfeife schafft Ordnung. »Linksschwenk Marsch!« Wir betreten den roten Teppich, der geradewegs zum Vordereingang des Mausoleums führt.

Ein paar Stufen hinauf, vier Soldaten der vietnamesischen Volksarmee weisen den Weg. »Linksschwenk Marsch!« Vor uns an der Wand ein Zitat, wohl das wichtigste von H Chí Minh: »Nichts ist wertvoller als Unabhängigkeit und Freiheit« Seit mehr als fünfundvierzig Jahren ist Bác Hổ, Onkel Hổ, wie ihn die Vietnamesen liebevoll nennen, nun schon tot. Doch die Partei kann nicht von ihm lassen. Besonders in einer Zeit, wo die Korruption stärker wächst als in den ersten fünfzehn Jahren der jungen Republik. Selbst in den Reihen der eigenen Regierung nimmt die Verschwendungssucht immer mehr zu. Da hilft der Geist dieses einzigartigen Mannes mit seinen revolutionären Ideen, seiner harten Arbeit, seinem spartanischen Leben im Dienst des vietnamesischen Volkes leider nicht.

Heute heißt es: Viele sollen anpacken, wenige dürfen profitieren. Da ist man sich nicht zu schade, ein Bild Hổs auszugraben, auf dem er gerade einen mittelständischen Betrieb betritt. H Chí Minh wollte schon immer Privatwirtschaft, erklärt man. Beruht doch seine »Declaration of Independence« auf der Freiheitserklärung der Französischen Revolution und der Unabhängigkeitserklärung Amerikas, nicht auf Marx oder Lenin, deren Thesen heute in den Schulen gelehrt werden. Werden sie auch verstanden? Oder werden die Menschen ebenso betrogen und verraten wie Hổ Chí Minh? »Rechtsschwenk, Marsch!« die Treppe hinauf. Eiserne Blicke der Soldaten. Die Luft wird spürbar kühler. Nur nicht stehen bleiben, Treppe, Stufen, immer hinauf.

Zwischen 1973 bis 1975, unterbrochen durch etliche Baustopps wegen der Bombardierung Hanois, wurde der Mausoleums‐Klotz errichtet. Der riesige Platz davor mildert seine Strukturen optisch etwas ab. Dieser Aufbewahrungspalast ist ein Bauwerk, das Hổ Chí Minh niemals wollte, ebenso wenig wie ein Staatsbegräbnis. Eine einfache Einäscherung hat er sich gewünscht, keinen Pomp, keine Verschwendung. Ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen, wäre eine viel größere Ehrung für diesen Mann gewesen als diese Zurschaustellung. Das Geld für den Bau dieses Mausoleums wäre besser in die Wirtschaft, die Bildung und das Gesundheitswesen investiert worden.

»Rechtsschwenk Marsch!« ‐ und den Blick nach links gewendet. Da liegt er, aufgebahrt im rotfarbenen Spotlight, Onkel Hổ im gläsernen Sarg. Und ebenso leblos, nur mit offenen Augen stehen vier Soldaten an den Ecken des Sarges. Nur nicht stehen bleiben, marsch, marsch. Keine Sekunde verweilen im Gedenken an diesen Ahnen. Hier ist strengstens verboten, was in Tempeln und Pagoden wieder öffentlich erlaubt ist. Verweilen, nein. Onkel Hổ ist noch nicht angekommen, dort, wo er glaubte, dass er alle die großen Geister, wie Marx und Lenin, treffen könnte.

Zwanzig Sekunden hatten wir Zeit. Die brütende Sonne erwärmt unsere Gesichter nach der Kühle im Mausoleum. Schnell löst sich die Gruppe auf, dreißig Leute, die eben noch in Zweierreihe vereint, hintereinander schritten. Wir haben ihn gesehen – ihn, den großen Hổ. Liegt hier der letzte Kommunist des Landes Vietnam begraben?

Hổ‐Chí‐Minh‐Mausoleum in Hanoi (2004)

Reisernte westlich von Mỹ Tho am Rande des Mekong

1 »Nichts ist wertvoller als Unabhängigkeit und Freiheit«

»Es ist kein Übel Ärger zu begehren, kein Unheil böser als sich Nichtbegnügen, kein Fehler größer als Erwerben wollen. Nur wer sich in Genügsamkeit begnügt, hat stets genug.« Lao Dse

Die gute alte Heimat - Vietnam

Wenn die Kinder in die Städte ziehen, droht das Elend

»Es gibt immer zu wenig Land für zu viele, die Reis essen wollen«, behauptet Hùng. Er runzelt seine Stirn, wie immer, wenn er intensiv zurückdenkt. Dann schließt er die Augen, für einen Moment, und als er sie wieder aufschlägt, ist sein Gesicht wie verwandelt. Als sei er weit, weit weg gewesen, um eine vergangene Zeit wieder einzuholen, die ihm unerreichbar scheint, doch glücklich machte.

Lange ist er nicht mehr dort gewesen. Reis wird in Bãi Cháy heute nicht mehr angebaut, lediglich Straßen, an deren Rändern sich Hotel an Hotel, Neubau an Neubau türmen. Investoren überbieten sich in ihren Angeboten. »Vietnam ist ein großer Markt. Wir sind alle potentielle Kunden. Jetzt kommen auch ausländische Touristen in das kleine Mallorca der Chinesen«, meint Hùng, der von 1986 bis 1989 in der DDR Landmaschinenbauer gelernt hatte. Ein wenig hat er noch in Deutschland gearbeitet, dann plagte ihn das Heimweh, und er ging zurück: »Das hat mir gereicht. Hier wird es bald genauso sein wie in Deutschland.« Er spricht fließend deutsch. Er wollte nach Hause, zu seiner Familie, zu seinem Bruder, zu seinen Reisfeldern. Doch nichts ist so, wie er sein Land verlassen hatte. Vietnam hat sich verändert, die Vietnamesen haben sich verändert.

»Kann ich es den Leuten hier verdenken«, gesteht Hùng, »wenn sie aus ihrem Weltwunder Ha‐Long‐Bucht Kapital schlagen.« Früher, bis 1991 war Bãi Cháy eine Sommerfrische für verdiente Arbeiter, Soldaten und Funktionäre. Ein attraktiver Ort. Heute hat man die Promenaden verbreitert und verlängert, Palmen und Flamboyants gepflanzt, Strände aufgeschüttet, wo einst Fischerboote in den Wellen wiegten, den Touristenhafen an die Peripherie verlegt und den Bauern immer mehr Land abgenommen, um mehr Beton zu pflanzen. Seither lebt Hùng mit seiner Familie nördlich der Kleinstadt Ninh Binh, in der Trockenen‐Ha‐Long‐Bucht ‐ ebenfalls ein Weltwunder.

In den Morgenstunden, kurz nach Sonnenaufgang, scheinen alle unterwegs zu sein. Fahrräder in Kolonnen, Marktfrauen und Schulkinder. Schon ein paar Kilometer von Hanoi entfernt, im Delta des Roten Flusses, erstreckt sich das landwirtschaftliche Vietnam. Fleiß, wohin man blickt. Auf den Feldern pflügende Wasserbüffel, Männer und Frauen bei harter Arbeit. Das war schon immer der Mehrwert der Vietnamesen.

Der Nassreisanbau erfordert viel Kooperation innerhalb der Dorfgemeinschaft. Familien müssen sich zusammenschließen, um die Reisschüsseln vieler hungriger Münder füllen zu können. Dabei steht die gemeinsame Bewässerungsanlage im Vordergrund. »Auf den Nachbar muss Verlass sein«, erklärt Hùng leidenschaftlich. »Die Systeme nutzen eine hoch gelegene Quelle, die talwärts ein Feld nach dem anderen speist.« Drei bis fünf Tage nach der Wässerung müssen alle Setzlinge gleichzeitig gepflanzt werden. Da rückt das Interesse der Gruppe gegenüber dem Einzelnen immer in den Vordergrund. Es scheint überlebensnotwendig, Spannungen zwischen den Familien zu vermeiden. »Das ist schon seit dem 11. Jahrhundert so«, sagt Hùng. »Doch die Familien brechen auseinander, wenn sie andere Einnahmequellen erschließen.«

Das Durchschnittseinkommen auf dem Land liegt bei 39 Dollar, in der Stadt bei 100 bis 120 Dollar im Monat. »Extrem arbeitsintensive Zeiten, in denen wir weit mehr Arbeitskräfte benötigen, als uns zur Verfügung stehen, wechseln sich mit Wochen, manchmal Monaten von Untätigkeit ab«, sagt Hùng. Reisanbau ist die ergiebigste aller landwirtschaftlichen Kulturen. Reis ernährt auf einer gleichgroßen Fläche etwa viermal so viele Menschen wie Weizen. Seit 3000 bis 4000 Jahren bauen die Vietnamesen im Delta des Roten Flusses Reis an. Es ist ein ewig gleicher Zyklus von Aussaat, Umpflanzung, Bewässerung und Ernte. Er bestimmt den Lebensrhythmus der Vietnamesen seit Jahrtausenden. Auch das wird sich ändern. »Die Chinesen haben ihn längst, und bald wird auch auf unseren Feldern angepflanzt ‐ der Genreis«, sagt Hùng. Neuartige Reispflanzen sollen gegen Schädlinge, Krankheiten und Trockenheit resistent sein, sie verheißen steigende Ernten und einen sinkenden Pestizidbedarf. Seit 2004 laufen im Süden erste Freilandversuche mit Genreis.

Das Wetter ist umgeschlagen. »Es wird regnen«, meint Hùng und weist mit seinen Händen zum späten Nachmittagshimmel hinauf. Ein feiner Schleier aus Melancholie und Erinnerung scheint sich über sein Land gelegt zu haben. Die Sehnsüchte nach der Vergangenheit, die Gier nach der Zukunft ‐ irgendwie wirkt nun auch das Delta des Roten Flusses zerrissen zwischen dem Wunsch, die Geschichte zu konservieren und dem Drang, so sein zu wollen wie andere, vielleicht sogar wie der Süden, wie das Mekong‐Delta. Dann wird auch hier die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, und »die Unzufriedenheit wächst stetig an«, stellt er fest.