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Armin Nassehi stellt in seinem Beitrag die These auf, dass der Ausnahmezustand normal und gleichzeitig die Normalität ein Ausnahmezustand ist. Normalität, also das gerade Gültige, das wie selbstverständlich erscheint, ist deshalb auch Ausnahmezustand, weil es auf fragilen Voraussetzungen beruht: darauf, im Dunkeln zu lassen, wovon wir gar nichts wissen.
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Seitenzahl: 24
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Inhalt
Armin NassehiSichtbar unsichtbarWarum der Ausnahmezustand normal ist
Der Autor
Impressum
Armin NassehiSichtbar unsichtbarWarum der Ausnahmezustand normal ist
Universitäre Gremiensitzungen finden seit Frühjahr 2020 nicht mehr in Präsenz statt – was im Übrigen eine nicht ganz präzise Beschreibung ist, denn die durch Zoom und Äquivalente übertragenen Sitzungen erzeugen eine ganz spezielle Form der Präsenz. Aber darum soll es hier nicht gehen. Jedenfalls haben wir uns an den Modus dieser Sitzungen gewöhnt, inzwischen gelingt es sogar, nicht allzu oft das Anschalten des eigenen Mikrofons zu vergessen. Die Sache ist schnell normal geworden, bis in das Ritual hinein, dass am Anfang irgendjemand entweder im präoffiziellen Small Talk oder als begrüßende Sitzungsleitung versichert, wie froh man sein werde, wenn wir endlich wieder physisch unmittelbar anwesend sein können, und zwar im selben physischen Raum – so hören wir es jedenfalls in Sitzungen von Fachbereichsräten, Institutsdirektorien, Berufungskommissionen, Senats- und Hochschulratssitzungen, Prüfungsausschüssen und sonstigen Kommissionssitzungen. Was die Beteiligten dazu denken, wird selten Gegenstand der Kommunikation – manche dieser Formen haben auch etwas für sich.
Nun könnte mein Argument weitergehen, dass die neue Form von Sitzungen zunächst irgendwie anders war, eine Art Ausnahmezustand, wir hatten noch keine Routinen und mussten lernen. Mit der Zeit aber haben sich wechselseitige Erwartungen etabliert. Man weiß, wann man sich mit Bild zuschaltet, man kann den Hintergrund besser kontrollieren, auch die Frage, wie man sich Aufmerksamkeit verschafft, ist inzwischen zur Routine geworden, ebenso der Umgang mit Präsentationen, Tischvorlagen usw. Aber das wäre ein allzu simples Argument, denn das passiert eigentlich permanent – die Adaptationsnotwendigkeit an sich mehr oder weniger stark verändernde Routinen gehört zu den selbstverständlichen Alltagspraktiken, mit denen wir zu tun haben –, und hier treffen Veränderungen auf träge Alltagsroutinen und ändern sich unmerklich doch. Denkt man nicht genau nach, bleibt alles beim Alten, denkt man genauer nach, stößt man auf Veränderungen, die aber selten disruptiv und revolutionär sind, sondern eher unsichtbar bleiben.
Das ist keine Pfeife