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Wenngleich sich PEGIDA und die Fridays for Future-Proteste inhaltlich nicht ähneln, so haben sie doch die Form, die Legitimation und die Eigendynamik des gesellschaftlichen Protests als Phänomen gemeinsam. Armin Nassehi führt diese in seinem Beitrag im Jubiläumskursbuch 200 aus und untersucht auch, inwiefern die Geschichte der Bundesrepublik anhand ihrer Proteste erzählbar wird. Bei einer bloßen Beschreibung des Protests als kommunikativem Phänomen bleibt der bekannteste Soziologe unserer Zeit nicht stehen – er legt auch frei, wieso Proteste als Demokratisierungsinstrument von immenser Wichtigkeit zeugen.
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Seitenzahl: 50
Inhalt
Armin NassehiDas große NeinÜber die Eigendynamik gesellschaftlichen Protests
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Armin NassehiDas große NeinÜber die Eigendynamik gesellschaftlichen Protests
Proteste sind womöglich die sichtbarste Form von Kritik. Nicht jede Kritik ist Protest, aber Kritik wird zum Protest dann, wenn sie sichtbar wird, weil sie Routinen unterbricht und dadurch einen hohen Informationswert bekommt. Protest unterbricht Erwartbarkeiten und zwingt das Gegenüber geradezu zur Stellungnahme. Deshalb sind die meisten Protestformen nicht nur an den Gegenstand der Kritik gewandt, sondern ebenso an Dritte. Daher ist die Demonstration der vielleicht sinnfälligste Ausdruck von Protest. Die Demonstration ist die klassische Form der Visibilisierung von Konflikten. Denkt man an die klassischen öffentlichen Konflikte der letzten Jahrzehnte, dann sind es oftmals Bilder von Demonstrationen, an denen sich die Protestformen ablesen lassen. Nur auf den deutschen Fall bezogen: Die Protestklassiker der frühen Bundesrepublik sind die Ostermärsche zu Zeiten der Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren, die vor allem studentischen Proteste in den späten 1960er-Jahren hin zu den Alternativbewegungen der 1970er-Jahre und der Anti-AKW-Bewegung. Dann die Friedensbewegung der 1980er-Jahre mit dem Höhepunkt der großen Kundgebung 1983 in Bonn, die zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik gehört. Die DDR ist aus vielen Gründen zugrunde gegangen, aber der sinnfälligste Ausdruck waren die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten, an denen man nicht vorbeisehen konnte. In den Nullerjahren waren es antikapitalistische Proteste aus Anlass von G-7- oder G-8-Treffen, aber auch die Proteste gegen die Banken während der Finanzkrise. PEGIDA und seine Derivate gehören auch zur Protestgeschichte der Bundesrepublik, genauso wie die großen Gegenproteste. Und derzeit schicken sich die Klimaproteste an, die Dimension der 68er-Proteste zu übersteigen. Man kann die Geschichte der Bundesrepublik (und natürlich auch anderer Länder) als Protestgeschichte erzählen, weil sich in den Protesten letztlich die wesentlichen Konflikte öffentlicher Debatten materialisierten.1 Protest ist ein Seismograf für Grundkonflikte, die sich nicht von selbst auflösen und nicht mit den üblichen Routinen bearbeiten lassen. Man denke an die Arabellion vor einigen Jahren oder an die Proteste in Hongkong, um nur wenige zu nennen. Man kann daran eine der Funktionen von Protesten ablesen: Es geht nicht nur um die Adressierung eines Gegners oder um die Bearbeitung eines empfundenen Missstands, sondern auch darum, eine Form der Sichtbarkeit herzustellen, die vor allem politische Öffentlichkeiten adressiert. Protest wendet sich nicht nur an den anderen, sondern auch an Dritte. Der Protestant wird damit zum Seismografen von Konfliktlagen. Der protestantische Klassiker schlechthin ist der Protestantismus der Reformation.
Protestant zu sein, war eine Fremdzurechnung. Diejenigen, die evangelisch sein wollten, also die Praxis der Kirche an der Auslegung der Heiligen Schrift orientieren wollten, erschienen aus der Perspektive der katholischen Kirche als Protestanten, also als solche, die gegen die Praktiken der Kurie opponierten. Protestanten waren die Evangelischen zunächst tatsächlich aus der Perspektive des Adressaten von Kritik. Es geht hier nun nicht um den Protestantismus, sondern darum, die Form des Protests zu verstehen. Zunächst fällt an diesem historischen Beispiel auf, wie sehr Protest sich über den kritisierten Gegenstand definiert. Die Evangelischen sind eben nicht nur jene, die das Evangelium und seine Auslegung zur Richtschnur des eigenen Glaubenslebens machen wollten, sondern vor allem jene, die gegen die Praktiken der mächtigen Kirche angehen. Deutlich wird daran: Protest hängt stärker an seinem Gegenstand, als es zunächst den Anschein hat. Die definierende Größe ist das Gegenüber, gegen das der Protest sich richtet.
Dabei ist der Wortsinn ganz anders. Es ist nicht von Contratest die Rede. Das Verb protestari hat eine positive Konnotation. Es bedeutet bezeugen, Zeugnis abzulegen, für etwas zu stehen. Der Protestanlass freilich ist eine Opposition, lebt von einem Gegenüber, das offensichtlich dazu zwingt, Zeugnis abzulegen, für etwas zu stehen, weil offensichtlich die Strukturen des kritisierten Gegenstandes nicht ausreichen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Protest wird immer dann wahrscheinlich, wenn der Protestierende seine Ziele nicht mit den Mitteln des kritisierten Gegenstandes erreichen kann. Wenn sich ein politisches Ziel nicht mit den Bordmitteln des parlamentarischen Verfahrens erreichen lässt, wenn eine Tarifverhandlung nicht innerhalb der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einem Ergebnis kommen kann, wenn ein Jugendlicher bei Eltern oder Lehrern nicht mit Argumenten durchkommt, steigt die Wahrscheinlichkeit für Protest. Protest ist zwar im Wortsinne ein positives Zeugnis, aber Protestanlässe sind zunächst Negationen, Nein-Stellungnahmen, in diesem Sinne Formen, die sich gegen etwas wenden, was sich nicht aus sich selbst heraus ändert. Um dem Protest auf die Spur zu kommen, ist es wohl sinnvoll, zunächst diese Bedeutung von Nein-Stellungnahmen genauer zu untersuchen. Darin wird nämlich deutlich, dass Protestpotenziale schon in der Struktur von Kommunikation angelegt sind.
Das Protestpotenzial von Kommunikation
Wer kommuniziert, setzt sich dem Risiko des Protestes aus. Dieser sehr einfache Satz hat es in sich, weil er das Protestantische bereits in die Struktur der Kommunikation, insbesondere sprachlicher Kommunikation einbaut. Kommunikation wäre keine, wenn es nicht die grundlegende Möglichkeit der Negation gäbe. Es ist kein Zufall, dass die meisten Selbstbeschreibungen der gesellschaftlichen Moderne auf Kommunikation setzen. Das gilt sowohl für (sozial)wissenschaftliche Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, die auf symbolische Interaktion setzen oder auf kommunikative Verständigung, auf selbstreferenzielle Kommunikationsprozesse oder Benennungspraktiken. Überall wird Kommunikation als Grundbegriff gebraucht. So unterschiedlich solcherlei Modelle sind, so ist ihnen doch gemein, dass sie auf die Organisation oder Bearbeitung von Alternativen setzen.
Kommunikationsprozesse, auch wenn man sie an Handlungsketten beobachtet, zeichnen sich dadurch aus, dass sie andere Verläufe nehmen können, als man es erwartet. So würde man etwa das Nacheinander von Reaktionen von Kugeln auf einem Billardtisch nicht als Kommunikation auffassen. Wenn eine Kugel auf eine andere trifft und ihr einen kinetischen Impuls verleiht, kommunizieren die Kugeln nicht miteinander – weil sie keinen Handlungsspielraum haben. Eine Kugel könnte sich nicht weigern, sich in exakt dem Winkel zu bewegen, der durch den Aufprallwinkel der impulsgebenden Kugel bewirkt wird. Da sie nicht anders kann, würden wir der Kugel keinen Handlungsspielraum unterstellen und das Verhältnis der Kugeln nicht als ein Kommunikationsverhältnis auffassen. Erst dort, wo die Kugel auch anders könnte, wenn sie eine Wahl hätte, würde man ihr ihre Bewegung selbst zurechnen und das Verhältnis der Kugeln als ein Kommunikationsverhältnis auffassen.