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Bei einem Anschlag in Taloqan wird die Bundeswehr-Soldatin Soraya Alekozei so schwer verletzt, dass sie zunächst als tot gilt. Dabei war die 1979 aus Afghanistan Geflohene gekommen, um ihr Heimatland zu befrieden. Nicht mit Waffen, sondern mit Worten: Sie dolmetscht für die Generäle, kümmert sich um Waisenkinder. Bis zu jenem Schicksalstag im Mai 2011. Der bewegende Bericht einer ungewöhnlichen Kriegsveteranin, der uns Afghanistan und die menschlichen Dimensionen des Bundeswehreinsatzes neu sehen lässt.
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Das Buch
„Habe ich die Schreie meiner Kameraden gehört? Gesehen, wie sie vor mir in Stücke gerissen wurden? Konnte ich spüren, wie ein dreißig Zentimeter langes Kantholz in meinen Kopf eindringt, wie unzählige Splitter meine Haut durchbohren und meine Hände Feuer fangen?“
Bei einem Anschlag in Taloqan wird die Bundeswehr-Soldatin Soraya Alekozei so schwer verletzt, dass sie zunächst als tot gilt. Dabei war die 1979 aus Afghanistan Geflohene gekommen, um ihr Heimatland zu befrieden. Nicht mit Waffen, sondern mit Worten: Sie dolmetscht für die Generäle, kümmert sich um Waisenkinder. Bis zu jenem Schicksalstag im Mai 2011.
Der bewegende Bericht einer ungewöhnlichen Kriegsveteranin, der uns Afghanistan und die menschlichen Dimensionen des Bundeswehreinsatzes neu sehen lässt.
Die Autorin
Soraya Alekozei wurde 1955 in Kabul geboren, studierte dort Literaturwissenschaft und lebt seit 1979 mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Deutschland. Sie moderierte für die Deutsche Welle und arbeitete später bei der Deutschen Post. Soraya Alekozei initiierte bereits private Hilfsprojekte in Kabul, bevor sie erstmals 2005 als Leutnant für die Bundeswehr nach Afghanistan ging.
Soraya Alekozei
Sie konnten mich nicht töten
Als Afghanin im Einsatz
für die Bundeswehr
Aufgeschrieben
von Colla Schmitz
Econ
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Meinen gefallenen Kameraden undallen Kriegsopfern in Afghanistan
Einmal Taloqan und zurück
Kunduz. Es ist der 28. Mai 2011. Frühmorgens. Wir können es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, aber es wird ein blutiger Monat für die Deutschen am Hindukusch werden. Die Fahnen wehen heute auf halbmast. Ihr Schwarz-Rot-Gold bewegt sich mit stummem Vorwurf in der sanften Brise dieses Frühlingstags. Die Medien sprechen vom Blutzoll, den wir zahlen müssen. Wir – das ist die Bundeswehr. Und in diesem Fall hat ihn Hauptmann Markus Matthes beglichen. Drei Tage vor seinem vierunddreißigsten Geburtstag fiel er bei einem Sprengstoffanschlag nahe Kunduz. Keine zwanzig Kilometer vom Camp entfernt. Nun gehe ich hinter seinem Sarg. Nicht zum ersten Mal begleite ich einen getöteten Kameraden auf seinem letzten Weg. Im Hintergrund spielt jemand leise auf einer Trompete eine Melodie: »Ich hatt’ einen Kameraden. Einen bessern findst du nit …« Die Zeilen von Ludwig Uhland aus dem Jahr 1809 beschreiben, was in uns allen in Momenten wie diesem vorgeht: »Er liegt vor meinen Füßen, als wär’s ein Stück von mir.«
Tränen laufen mir übers Gesicht. Mein Abschiedsgruß an die Gefallenen. Stellvertretend für all die Mütter, Ehefrauen und Kinder, die nicht hier sein können, weine ich um ihre Liebsten. Die Soldaten wissen das. Manche sind froh, dass ich ihrer Trauer ein Ventil gebe. Viele kennen mich seit Jahren. Ich bin Soraya Alekozei. Dolmetscherin der deutschen ISAF-Kommandeure. Dies ist bereits mein sechster Einsatz.
Erst vor wenigen Tagen habe ich meinen sechsundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Geboren wurde ich in Kabul als Tochter einer weltoffenen Großfamilie. Wir zählten zum Bildungsbürgertum. Deshalb hat nie eine Burka mein Gesicht verhüllt. Nie hat man meine Neugier aufs Leben gebremst. Nichts war unmöglich – bis zum Einmarsch der Russen in Afghanistan. Gemeinsam mit meinem Mann und meinem Sohn musste ich 1979 fliehen. Heute ist Deutschland meine Heimat. Doch Afghanistan bleibt das Land meiner Väter. Ein Land, das es so nicht mehr gibt. Ein Land, das seine Freiheit und Großzügigkeit, aber auch sein Mitgefühl und das Lachen seiner Kinder verloren hat. Ich kann und will mich damit nicht abfinden. Darum bin ich wieder hier und trage eine deutsche Uniform und den Dienstgrad eines Oberleutnants. Meinem Mann und unseren Söhnen habe ich allerdings versprochen, dass es das letzte Mal sein wird.
Ich weiß, sie haben recht. Auch mir fehlt dieses Mal jenes Urvertrauen, das wieder alles gut ausgehen wird. Für mein ungutes Bauchgefühl gibt es einen Grund. Meine Mutter ist erst vor kurzem in Kabul gestorben. Während ich hinter dem Sarg herlaufe, wird mir bewusst, dass sie nicht mehr für mich beten kann. Das macht mir Angst. Vielleicht ist es auch eine unbestimmte Vorahnung. Darüber nachdenken darf ich aber nicht. Meine Verdrängungsmechanismen funktionieren noch gut in diesen Tagen.
Wenig später sitze ich neben Generalmajor Markus Kneip im Hubschrauber. Wir kennen uns gut. Der ISAF-Kommandeur und ich haben bereits 2006 zusammengearbeitet. Aus Respekt ist Freundschaft geworden. Es geht los Richtung Norden, nach Taloqan, der Hauptstadt der Provinz Tachar. Beruhigend monoton bewegen sich die Rotorblätter des Helikopters. Ich versuche, mich zu entspannen. Normalerweise liebe ich den Blick von oben auf meine Heimat. Alles wirkt so friedlich. Weich geformte grüne Hügel und Berge bestimmen die Landschaft. Die deutschen Soldaten nennen die Region deshalb scherzhaft »Teletubbie-Land«. Doch es fällt mir dieses Mal schwer, mich darauf einzustellen. Was auch daran liegt, dass mir kalt ist. Unsagbar kalt. Düstere Schauer jagen durch meinen Körper, lassen mich frieren. Reiß dich zusammen, sage ich still zu mir selbst. Schließlich soll ich gleich für meinen Kommandeur auf einer Sicherheitskonferenz übersetzen. Nach den jüngsten Vorfällen soll das Vertrauen zwischen den ISAF-Angehörigen auf der einen Seite und den einheimischen Kräften auf der anderen Seite erneut bestärkt werden. Ein gemeinsamer Schulterschluss gegenüber den Taliban. So ist es immer. Eigentlich Routine.
In Taloqan gelandet, begeben wir uns in den Gouverneurspalast der Provinzhauptstadt. Traditionell wird hinter verschlossenen Türen in einem sogenannten sicheren Raum diskutiert. Die Gespräche laufen gut an diesem 28. Mai. Neben Dienstlichem blieb mir später Zeit für das eine oder andere private Wort mit meinen Landsleuten. Aus diesem Grund war ich noch nicht nach oben gegangen, um meine Splitterschutzweste anzuziehen. Wie immer hatten wir sie abgelegt, um unseren Gastgebern zu zeigen, dass wir ihnen vertrauen. Ich erinnere mich noch, dass jemand plötzlich meinen Namen ruft. Ich drehe mich um. Danach versinkt alles in Dunkelheit.
Während ich gegen den Tod ankämpfe, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Nachrichten von einem terroristischen Anschlag sprechen, der »mörderische Menschenverachtung zeigt«. Ich selbst werde zur Schlagzeile. Zum ersten Mal wird eine deutsche Soldatin im Einsatz Opfer der Gewalt. Lange Zeit weiß niemand, wer ich bin, wie meine Überlebenschancen stehen. Mein Name wird unter Verschluss gehalten. Nicht nur zu meiner Sicherheit, sondern auch, um meine Angehörigen in Afghanistan vor Schlimmerem zu bewahren.
Alle reden. Aber niemand hat genaue Informationen. Ich am allerwenigsten. Bis heute. Noch immer liegt vieles in den Tiefen meines Traumas vergraben. Habe ich die Schreie meiner Kameraden gehört? Gesehen, wie sie vor mir in Stücke gerissen wurden? Konnte ich spüren, wie ein dreißig Zentimeter langes Kantholz in meinen Kopf eindringt, wie unzählige Splitter meine Haut durchbohren und meine Hände Feuer fangen? Die Explosion. Die Schmerzen. Der metallische Geschmack von Blut in meinem Mund. Der Gestank von verbranntem Fleisch. Habe ich all das überhaupt bemerkt? Mein Gedächtnis will es mir nicht verraten.
Dennoch spüre ich keine Wut in mir. Aber Trauer. Unendliche Trauer. Um meine gefallenen Freunde, mein altes Leben und um meine Tränen. Es ist fast so, als hielte ein unsichtbarer Staudamm sie in meinem Inneren gefangen. Vielleicht zu meinem Schutz. Denn wer weiß, welche Erinnerungen ich in mir gespeichert habe, als um mich herum die Hölle losbrach.
Einst war ich
Menschen, die dem Tod ins Gesicht geblickt haben, berichten immer wieder darüber. Im Nirwana, irgendwo zwischen den Welten, soll es ein Licht geben, hell und warm. Und auch Glücksgefühle. Geborgenheit. Ein Wiedersehen mit verstorbenen Verwandten und unendliche Ruhe. Manche sagen, sie seien durch einen Fluss geschwommen. Doch hätten sie keine Wellen sanft liebkost. Stattdessen machten Wassermassen zäh fließend wie Sirup jede Bewegung zur Qual. Zogen sie immer wieder zurück in die Tiefe des ewigen Vergessens. Langsam und mühsam wären sie den Stimmen am anderen Ende des Ufers entgegengeschwommen. Stück für Stück mussten sie sich zurückkämpfen ins Hier und Jetzt.
Andere sahen in Sekundenschnelle ihr ganzes bisheriges Sein an sich vorüberziehen. Lachten, weinten, erinnerten sich. Das tat auch ich. Es war wie ein Schweben. Losgelöst von Raum und Zeit. Ich wurde zum Zuschauer in einem Film, in dem ich selbst die Hauptrolle hatte und doch nicht wusste, wie er enden wird. Den Anfang, den kannte ich gut. Wehmut kroch mir durch den Körper. Heiß wie ein stechender Schmerz und bitter wie der Geschmack verlorener Träume.
Ich sehe mich als achtjähriges Mädchen an einem kalten Wintertag in Kabul. Es ist die früheste Erinnerung, die ich an mich habe, und mir eine der liebsten. »Soraya!« Im Unterbewusstsein nehme ich wahr, dass jemand meinen Namen ruft. »Soraya jan! Soraya, mein Liebes.« Unwirsch schüttele ich den Kopf. Mama, nicht jetzt, denke ich, ich spiele doch gerade so schön. In meinem Kinderzimmer, in dem es warm ist, habe ich einen Tisch aufgebaut. Drum herum sitzen meine Puppen. Nicht die kostbaren, die Mama und Oma für mich genäht haben, sondern die kleinen, die meine Schwester Sultana und ich immer basteln. Sultana ist die Älteste von uns sieben Geschwistern. Wenn sie groß ist, will sie Lehrerin werden. Das erklärt auch ihre Geduld. Vor allem mit mir, der Drittgeborenen. »Soraya!« Die Stimme meiner Mutter hat genau jene Tonlage angenommen, die mir sagt, ich sollte besser zu ihr gehen. Und zwar auf der Stelle. Widerwillig lasse ich meine Puppengesellschaft allein.
Mama wartet in der Eingangshalle. Papa daneben. Beide gucken ernst. Und das aus gutem Grund. Ein Polizist steht vor ihnen. Ich sehe zuerst nur seinen Rücken. Breit und uniformiert. Langsam dreht er sich zu mir um. »Du bist also Soraya«, stellt er fest. Ich nicke selbstbewusst. Viel selbstbewusster, als ich gerade bin. Mein Herz pocht wie wild, meine Knie sind weich. Tapfer unterdrücke ich meine Angst. Ich möchte zeigen, dass ich zu dem stehe, was ich getan habe. Man muss Verantwortung für sein Handeln übernehmen, das haben mich meine Eltern gelehrt. Also straffe ich meine Schultern. Aber es kostet mich eine wahnsinnige Überwindung. Mein Atem geht flach und stoßweise. Doch trotz meiner Schüchternheit stelle ich mich gerade hin und versuche mich etwas größer zu machen. Viel ist es nicht, was ich zu bieten habe. Ich werde zeit meines Lebens zierlich sein. Nur 1,55 Meter groß. Und als Drittklässlerin bin ich natürlich dementsprechend schmächtig. Meine Lehrerin findet, ich sei ein Jend, ein kleines schlaues Wesen aus der afghanischen Sagenwelt. Noch dazu ein neugieriges. Gerade will ich zu einer Frage ansetzen, da ernte ich auch schon einen strengen Blick meiner Mutter. Mein Vater schaut auf den Boden. Um seine Mundwinkel meine ich ein Lächeln zu sehen.
So ist das immer gewesen. Papa schimpft nie. Das überließ er Mama. Alahfazel Alekozei Watanyar war ein Mann der leisen Töne. Gebildet. Studierter Jurist und Beamter des Bildungsministeriums. Ich liebte ihn abgöttisch. Bewunderte ihn mehr als jeden anderen. Und ich siezte ihn. Aus Hochachtung. In meiner Kultur ist das die höchste Form der Anerkennung. Kein Mensch stand mir näher als mein Vater, und gerade deshalb war das Schoma – das »Sie« – die natürlichste Sache der Welt für mich. In seiner Freizeit arbeitete mein Vater als Journalist, Autor und Dichter. Das verschaffte ihm Respekt, auch jetzt von dem Polizisten, der das weiß und der mich eindringlich anschaut. »Soraya, hast du eine Ahnung, warum ich heute hier bin?«, fragt er. »Es geht um die Frau, die ich mit nach Hause genommen habe«, sage ich leise.
Die Geschichte verfolgt meine Familie nun schon seit Tagen. Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Meine Mutter Sahibjan schickte mich zum Bäcker, um frisches Brot fürs Frühstück zu holen. Es war eisig kalt draußen. Wie immer im Winter in Kabul. Mein Atem formte sich zu kleinen Wölkchen. Und dort, wo er meine Haare berührte, bildete sich glitzernder Raureif. Schon von weitem konnte ich sie sehen, ein Häuflein Mensch. Zusammengesunken wie ein Berg feuchter Lumpen. Mehr tot als lebendig. »Sie sitzt hier schon den ganzen Morgen«, verriet mir der Bäckermeister. Ich hielt ihr das warme Brot entgegen, das ich gerade gekauft hatte. Sie war zu schwach, um es zu nehmen. Ihre Lippen formten kaum hörbar Wörter, die ich nicht verstand. »Bestimmt ist ihre Zunge eingefroren«, flüsterte ich. Ohne zu überlegen, reichte ich ihr meine Hand und half ihr auf die Füße. Wie in Trance folgte sie mir. Wir müssen ein komisches Bild abgegeben haben. Eine Achtjährige, die eine Obdachlose hinter sich herzog.
»Schnell, macht die Tür auf«, rief ich, kaum dass ich vor unserem Haus in der Karte Parwan stand, einem beliebten Kabuler Wohngebiet. »Allah sei ihr gnädig«, stieß Mir beim Anblick meiner Begleiterin entsetzt aus. Mir war der Diener meines Vaters, der ihm seit seiner Zeit in Kandahar treu zur Seite gestanden hatte. Wir Kinder haben ihn ehrfürchtig »Saheb« genannt, was so viel wie die englische Anrede »Sir« bedeutet. Unsere Spielkameraden machten sich immer lustig darüber: »Er ist doch nur euer Angestellter.« Doch für uns war er mehr gewesen. Ein Familienangehöriger, fast wie ein Onkel. Denn so sanftmütig mein Vater auch war, wenn es darum ging, Respekt zu zeigen, kannte er kein Pardon. Er lehrte uns, allen Menschen stets auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen so ihre Würde zu lassen. »Arroganz ist die Perücke geistiger Kahlheit«, pflegte er dabei zu sagen.
In Windeseile machte meine Mutter ein Bett fertig, besorgte Decken und eine Wärmflasche, während meine Großmutter unserem Gast mit dem Löffel vorsichtig warmen Tee einflößte. Die Frau merkte es kaum. Schlief förmlich im Stehen. Wir beherbergten sie einige Tage und wussten immer noch nicht, wer sie war. »Ihr müsst zur Polizei«, drängten unsere Nachbarn. »Sie ist so schwach«, gab mein Vater zu bedenken. Letztlich gingen meine Eltern doch zu den Behörden. »Das glaube ich jetzt nicht« war das Erste, was ihnen der zuständige Beamte entgegnete. »Wie können Sie so blauäugig sein? Und was ist das überhaupt für ein Mädchen, das wildfremde Leute aufliest?«
Wieder auf der Straße, sah meine Mutter meinen Vater resigniert an. »Warum kann sie nicht wie andere Kinder kranke Tiere mit nach Hause bringen? Wieso sind es immer wieder Menschen, denen sie, ohne nachzudenken, helfen will?« Offensichtlich hatte sie nicht vergessen, dass ich erst kurz zuvor unsere Vorräte geplündert und an vorbeiziehende Nomaden verteilt hatte.
»Sie meint es doch nur gut, und wir haben schließlich mehr als genug«, versuchte mein Vater sie zu besänftigen.
»Aber sie gab ihnen auch das Bettzeug ihrer Oma«, stöhnte Mama.
»Sahibjan, mein Liebling, deine Mutter hat doch zwei Decken. Und außerdem hat Soraya uns versprochen, beim nächsten Mal zu fragen, bevor sie wieder unsere Sachen an Bedürftige verteilt.« Innerlich wird er geschmunzelt haben. Heute weiß ich, er hätte es genauso gemacht.
Einen Tag später musste ich dennoch auf das Revier. Aus diesem Grund stand der Wachtmeister nämlich an jenem kalten Wintertag in unserem Haus: »Ziehen Sie Ihrer Tochter bitte etwas Warmes an, ich nehme sie gleich mit. Wir brauchen ihre Aussage«, informierte er meine Eltern. Mama holte meinen dicken Mantel, wickelte einen Schal fest um meinen Kopf und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Papa tätschelte meine Hand: »Ich fahre hinter euch her.« So kam ich zur ersten und einzigen Motorradfahrt meines Lebens. Wahrscheinlich dachte der Polizist, er täte mir damit einen Gefallen. Doch bis heute kann ich noch den eisigen Fahrtwind in meinem Gesicht spüren und die Angst vor der Befragung auf der Wache. Am Ende war es halb so schlimm. Ich sollte nur meine Geschichte noch einmal zu Protokoll geben. Eine Formalität für die Beamten. Ein Abenteuer für mich. Dennoch war ich unheimlich erleichtert, als mein Vater mir anschließend seine Hand entgegenstreckte und sagte: »Komm, wir gehen nach Hause.«
Um unseren Gast kümmerte sich später eine örtliche Sozialstation. Das Schicksal dieser älteren Frau ließ uns trotzdem nicht los. Später haben wir erfahren, dass sie aus dem Panjshir-Tal stammte, rund 150 Kilometer nördlich von Kabul. Sie hatte ihren Heimatort verlassen, um ihren einzigen Sohn zu suchen, der als Busfahrer unterwegs war und aufgrund des schlechten Wetters wochenlang nicht nach Hause zurückgekehrt war. Zum Glück gab es ein Happy End. Die Polizei fand den Mann, und seine Mutter konnte endlich wieder heim.
Mein Vater erzählte uns ihre ganze Geschichte, als wir später alle im Wohnzimmer saßen und gemeinsam Scha Fard spielten. Bei uns zu Hause drehten sich Spiele häufig um Dichtung und Poesie. In diesem Fall um Königsverse. Papa rezitierte einige Zeilen. Und wir mussten mit dem letzten Buchstaben seines Gedichts unsere Verse beginnen lassen. Dabei hat er immer dafür gesorgt, dass er mit einem schwierigen Konsonanten aufhörte.
»Was hast du aus deinem Verhalten gelernt?«, erkundigte sich mein Vater am Ende jenes denkwürdigen Abends. »Man darf die Hoffnung niemals aufgeben«, platzte es aus mir heraus. »Ach, Soraya jan«, seufzte er und strich mir zärtlich übers Haar.
Oft habe ich mich gefragt, ob er in Momenten wie diesen dachte, dass sie, seine Tochter, ihren Namen zu Recht trägt. Meinen Vornamen verdanke ich immerhin der ehemaligen Königin Afghanistans – Soraya, der Frau von König Amanullah Khan. Der Monarch legte sein Hauptaugenmerk auf die Modernisierung seiner Heimat und setzte dabei primär auf Deutschland als Partner. Dadurch entstand 1924 die berühmt gewordene Nejat-Oberrealschule in Kabul. Zu Ehren Amanullahs wurde sie im Volksmund »Amani-Schule« genannt. Bis 1984 unterrichteten dort deutsche Lehrer. Auch mein Vater drückte hier die Schulbank. Damit befand er sich in bester Gesellschaft. Denn bis zum kommunistischen Umsturz 1978 gab es keine afghanische Regierung, in der nicht wenigstens ein Minister Absolvent dieser Institution war oder in Deutschland studiert hatte.
König Amanullah galt in den zwanziger Jahren als ein Reformer mit einer starken Partnerin an seiner Seite. Soraya war eine Kämpferin und sprach sich öffentlich und schriftlich gegen den Schleier aus. Mehr noch. Sie legte ihn ab. Damit zeigte sie die Richtung auf, die sie und ihr Mann beschreiten wollten. Einen mutigen Weg, geprägt durch Toleranz. Legendär sind Aufnahmen von ihr anlässlich eines Berlin-Besuchs. Wo die junge Königin, äußerst modisch gekleidet, an der Seite von Reichspräsident Paul von Hindenburg zu sehen ist. Eine Schönheit ganz im Sinne der aufgeklärten zwanziger Jahre. Ihrem Charme konnte sich niemand entziehen, auch mein Vater nicht. Der königliche Hof war ihm nicht fremd. Er hatte mit dem Bruder des Regenten, Obeidullah, gemeinsam das deutsche Gymnasium besucht. Eines Tages lernte er dadurch Soraya kennen und beschloss spontan: »Eine meiner Töchter wird ihren Namen tragen.«
Mein Vater war ein glühender Verehrer des Königshauses. Er schätzte die Weltoffenheit, die durch den jungen Regenten am Hindukusch Einzug gehalten hatte, und bewunderte ihn dafür, dass er sich vom britischen Einfluss losgesagt hatte, um seine Heimat in die Unabhängigkeit zu führen. Schon früh hatte sich Amanullah für alles Deutsche interessiert. Bereits unter der Regierung seines Vaters, Emir Habibullah Khan, waren 1916 erste freundschaftliche Kontakte gepflegt worden. Dem jungen Prinzen gefiel diese Autonomie vom kolonialistischen England. Niemals wollte er sein Land wie Indien als Teil des British Empire sehen. Nachdem er den Thron bestiegen hatte, intensivierte er die Beziehungen mit Deutschland. Drei Paläste in Kabul, die Infrastruktur der Hauptstadt und sogar die Umstrukturierung der Armee tragen eindeutig eine deutsche Handschrift. Meine Heimat erblühte in neuem Glanze. Und so erblühten auch seine Bewohner. Die positive Stimmung jener Jahre hatte sich in den Köpfen meiner Landsleute festgesetzt, Deutschland wurde nie als Besatzer, sondern stets als Freund angesehen. Mein Vater teilte die Auffassung des jungen Herrschers. Doch dabei blieb es nicht. Alahfazel Alekozei Watanyar wurde zum Vertrauten der Familie. Ging im Palast ein und aus. Für ihn eine Zeit der Erfüllung, die jäh endete.
Die Visionen des jungen Königspaares wurden nicht respektiert. Die Mullahs, aufgeheizt durch Propaganda der britischen Regierung, der die Verbindung zu Deutschland seit Jahren ein Dorn im Auge war, verbreiteten Gerüchte vor allem über die Monarchin. Allzu offenherzig soll sie sich im Ausland gezeigt haben. Fotomontagen einer fast nackten Soraya wurden unters Volk gebracht. Die Landbevölkerung war entsetzt über so viel Freizügigkeit. Ein Jahr nach jener ausgedehnten Europareise, die sie auch nach Berlin gebracht hatte, führten Aufstände zum Sturz des Regenten. Gemeinsam mit seiner Frau musste er zuerst in die Türkei und später nach Italien fliehen, wo er fortan in Rom im Exil leben sollte. Auch wenn dies lange vor meiner Geburt geschehen ist, konnte ich schon als Kind den Gedanken nicht ertragen, dass jemand unfreiwillig seine Heimat verlassen musste. »Werde ich auch einmal mein Zuhause verlieren?«, wollte ich von meinem Vater wissen, als er mir von der Flucht von König Amanullah Khan und seiner Ehefrau erzählt hatte. »Soraya jan, mach dir keine Sorgen«, versuchte er mich zu trösten. Doch Tränen füllten bereits meine Augen. »Nicht weinen, alles ist gut.« Beruhigend tätschelte er meine Hand, nahm sein großes weißes Taschentuch und trocknete meine Tränen. Ich fühlte mich geborgen.
Als ich älter war und in der Schule viel über die Geschichte unseres Landes lernte, erzählte mir mein Vater von der politischen Instabilität jener Zeit nach Amanullah und vom schnellen Wechsel auf dem Thron. Auf Mohammed Nadir Schah, der bis 1933 König war, folgte Zahir Schah. Unter dessen Regierungszeit wuchs ich auf. Auch wie es meinem Vater damals erging, was er fühlte und dass er einige Jahre in Kandahar leben musste, verriet er mir eines Tages. Teils mit brüchiger Stimme, teils mit jenem Beben in seinen Worten, das Zeugnis seiner unterdrückten Wut und Enttäuschung war, mit der er stets zu kämpfen hatte, wenn das Thema zur Sprache kam. Es war die erlebte Ungerechtigkeit, die ihn nicht mehr losließ.
Seine Verbundenheit zum Königshaus machte ein Leben in Kabul für ihn unmöglich. Als Anhänger der demokratisch gesinnten und westlich orientierten Amani-Bewegung, die auf Amanullah zurückgeht, hatte er zuvor im Gefängnis in Mazar-e Sharif gesessen. Man hatte ihn festgenommen, als er versuchte, dem Regenten an den Bosporus zu folgen. Die Rache war fürchterlich. Folter und Haft. Von Mazar-e Sharif überführte man ihn schließlich in die Hauptstadt. Eine Tortur für diesen Mann, der stets mit Sanftmut für Gerechtigkeit eingetreten war. Mein Vater wurde krank. So schwer, dass er dem Tode näher war als dem Leben. Seine Familie nutzte die Gunst der Stunde. Mit Hilfe eines befreundeten Arztes erklärte sie ihn für tot. In einem Sarg wurde er aus dem Gefängnis geschmuggelt. Eine Geschichte so abenteuerlich, dass sie sich anhört wie aus einem Roman. Doch sie ist wahr.
Langsam erholte sich mein Vater. Er nahm den Namen Watanyar an – »der Heimatliebende« – und ging nach Kandahar, um dort unentdeckt leben und arbeiten zu können. Auch wenn es keine sogenannte Sippenhaft für seine Angehörigen gab, war der Name Alekozei zu bekannt, um ihn weiter zu führen. Zu eng waren die Bindungen an die Monarchie. So ist es immer schon gewesen. Im 18. Jahrhundert gründete Ahmad Schah Durrani das selbständige Königreich Afghanistan. Seine Mutter war eine geborene Alekozei. Patriotismus haben wir somit buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen. Er ist die Triebfeder all unseres Handelns.
Die Jahre in Kandahar haben meinen Vater geprägt. Die Angst, entdeckt zu werden, wurde dort zu seinem ständigen Begleiter. Er lebte zwar in seinem Geburtsland – und durfte trotzdem nicht der sein, der er war. Der Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern war schwierig bis unmöglich. Alles musste im Geheimen ablaufen. Manchmal fühlte er sich dabei wie ein Verdurstender, der zwar das Wasser vor Augen hat, es aber nicht trinken darf. Erst eine Amnestie durch König Zahir Schah erlaubte ihm die Rückkehr nicht nur nach Kabul, sondern auch in den Schoß seiner Familie. »Glaub mir, ich weiß, was Heimweh ist«, gestand er mir später. In seinen Augen konnte ich noch die Spuren des Kampfes zwischen Sehnsucht und Schmerz sehen, die jene Jahre in seinem Herzen hinterlassen hatten.
Dennoch konnte ich seinen Kummer nur erahnen. Damals zumindest. Ich selbst wurde ja unter der Regentschaft von Zahir Schah groß, der uns eine bis in die siebziger Jahre hinein andauernde Phase der Ruhe bescherte, insgesamt über vierzig Jahre. Afghanistan wurde während dieser Ära zum Sehnsuchtsland für all jene, die vor der Hektik der westlichen Welt fliehen wollten und sich auf dem sogenannten Hippie Trail auf die Suche nach dem seelischen Einklang machten. Am Hindukusch empfing sie ein gastfreundliches Land: bunt, lebensfroh und tolerant.
Die intellektuelle Großzügigkeit jener Tage bestimmte mein Leben. Ich trug Plateauschuhe, kurze Röcke und zum Entsetzen meiner Mutter manchmal auch riesige Sonnenbrillen. Sie schüttelte missbilligend den Kopf: »Die verdecken ja mehr von deinem Gesicht, als eine Burka es je könnte.« Damals verstand ich nicht, was sie mir damit sagen wollte, schließlich musste ich mich nie verschleiern. Ich war modern aufgewachsen. Meine Eltern unterstützten ihre Kinder darin, eine eigene Meinung zu haben.
»Ihr dürft niemals eure Wurzeln vergessen, aber gleichzeitig darf euch kein Traum zu groß sein«, darin waren sie sich einig. Engstirnigkeit war ihnen zuwider. Kleingeistigkeit ebenso. Sie wollten uns Kinder zu selbständig denkenden Menschen erziehen. Eine Burka gehörte daher für mich zu einer unbekannten Welt. In meiner Familie sah ich sie nie jemanden tragen. Meine Mutter schlang nur elegant ein Tuch um ihren Kopf, wenn sie das Haus verließ, doch sie verlangte von uns Mädchen nie, es ihr gleichzutun. Erst mit dem Einmarsch der Russen Ende der Siebziger fingen die Frauen an, sich in der Öffentlichkeit immer mehr zu verschleiern. Die Ursache war Angst und nicht religiöser Natur. Sie wollten sich schützen vor den gierigen Blicken der Besatzer. Vergewaltigung und Verschleppung gehörten damals leider zur Tagesordnung.
All das kam, wie gesagt, erst später. Meine Teenagerjahre waren unbeschwert. Durch die Straßen Kabuls wehte in meiner Jugend der Wind der Moderne. Manchmal traf ich auf unserem Basar auf junge Europäerinnen und Amerikanerinnen. Viele waren auf dem Weg nach Indien, um dort innere Erleuchtung zu finden. Sie waren herrlich unbekümmert. Je länger sie blieben, desto mehr schien alle Last von ihren Schultern abzufallen. Wie auch wir besuchten sie vor allem am Juma, dem Freitag, der bei uns wie der westliche Sonntag begangen wird, gern die Parkanlagen des Chelsitoon-Schlosses oder des Darul-Aman-Palastes. Andere bewunderten die Schönheiten der legendären Gartenanlage Bagh-e-Bala. Kurzum, Touristinnen gehörten einfach zu unserem Stadtbild. Wenn ich sie lachend mit einem Händler auf dem Markt feilschen oder entspannt einen Tee trinken sah, fühlte ich mich unsagbar reich. Schließlich war ich nicht wie sie auf der Durchreise, sondern durfte dieses wundervolle Land mein Zuhause nennen.
Mein erster Abschied
Als ich Anfang der siebziger Jahre in die Oberstufe wechselte, wurde mein Vater pensioniert. Zum alten Eisen wollte er aber auf keinen Fall gehören. »Es gibt in der Nachbarprovinz ein Projekt zusammen mit den Chinesen, daran möchte ich mitarbeiten«, erklärte er meiner Mutter. Gemeinsam beschlossen sie nach Parwan zu ziehen. Obwohl die Stadt nur vierzig Kilometer nördlich von Kabul liegt, war ich entsetzt. Ich liebte meine alte Schule, das Zarghuna-Mädchengymnasium. Aber ich musste mit. Ob ich wollte oder nicht.
Die neue Schule war eine Katastrophe. So empfand ich es jedenfalls. In der Hauptstadt hatten wir aufgeklärte, moderne Lehrer. Jetzt saß ich plötzlich im Religionsunterricht einem Mullah gegenüber. »Glaubst du wirklich, dass die Amerikaner auf dem Mond gelandet sind?«, fragte er mich eines Tages. Ich sah ihn fassungslos an. »Natürlich, das ist doch eine Tatsache«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. Seinen Wutanfall werde ich nie vergessen. Zornestränen schossen mir in die Augen. Das Gefühl der Ohnmacht über so viel politische Ignoranz war stärker als jede Angst vor diesem Mann, der eigentlich als Lehrer eine Respektsperson für mich hätte sein müssen. Aufgebracht schilderte ich nach Schulschluss meinen Eltern den Vorfall. Meine Stimme zitterte vor Empörung. Für mich stand am Ende dieses Tages fest: »Ich will zurück nach Kabul.« Dazu war mir jedes Mittel recht. Ich stellte die beiden vor die Wahl: »Wenn ich in der Provinz bleiben muss, gehe ich nicht mehr in die Schule.« Was sollten sie darauf sagen?
Mama sah Papa an. Mein Vater zuckte mit den Schultern: »Irgendwie hat sie ja recht.« Meine Mutter gab sich geschlagen: »Dann müssen wir deinen Bruder fragen, ob sie bei ihm wohnen kann.« Sie hatte für ihre Verhältnisse überraschend schnell eine Lösung vorgeschlagen. Vielleicht setzte sie darauf, dass bei dem Bruder meines Vaters kein Platz für mich sei. Schließlich hatten Onkel Ali Mohamed Alekozei und Tante Hamida elf Kinder. Aber Familiensinn wurde bei uns schon immer hochgehalten. Und so zog ich bei ihnen ein.
Mein Onkel war ein gelernter Flugzeugingenieur und bis zu seiner Pensionierung Kommandeur der afghanischen Luftwaffe in Bagram. Seine Ausbildung als Flieger hatte er im heutigen Pakistan absolviert, einer damals noch englischen Kolonie. Sein Zeugnis unterschrieb daher Winston Churchill. Er war einer der ersten Piloten unseres Landes. Zeit seines Lebens, und er wurde immerhin 108 Jahre alt, erinnerte er mich an einen britischen Gentleman. Die vornehmen markanten Gesichtszüge. Die gerade Haltung. Er strahlte Autorität aus und wirkte dennoch gleichzeitig ein bisschen verwegen, aber auf eine elegante Art.
Von meinen elf Cousinen und Cousins wohnten nicht mehr alle in dem großen Stadthaus, das in derselben Straße stand wie mein Elternhaus. Wali, der Älteste, studierte gerade in Deutschland Betriebswirtschaft. »Er sieht unbeschreiblich toll aus«, schwärmten seine Schwestern. Die Bilder aus jenen Jahren zeigten einen schlanken jungen Mann, der tatsächlich dem Ideal der siebziger Jahre entsprach. Wali strahlte die lässige Intellektualität der ausklingenden Hippie-Ära aus.
Meine Pläne ähnelten den seinen. Ich wollte erst einmal mein Abitur machen und dann studieren. Dari, eine unserer Landessprachen, war mein Lieblingsfach. In meinen Träumen sah ich mich deshalb schon als große Literaturwissenschaftlerin. Bildung hatte damals in meiner Heimat einen hohen Stellenwert. Anfang der sechziger Jahre, als ich eingeschult wurde, besuchten knapp eine halbe Millionen Schüler – davon circa 100 000 Mädchen – landesweit eine Schule. Allein in Kabul gab es fünf Mädchengymnasien.
Ich galt als sehr diskussionsfreudige Schülerin. Wollte immer alles ganz genau wissen. »Möchtest du nicht lieber Politikerin werden?«, meinte eine meiner Lehrerinnen. Lachend schüttelte ich den Kopf. Dabei war eine politische Karriere damals für Frauen durchaus üblich. Seit 1964 durften sie wählen. Ein Jahr später wurde erstmals ein Ministerium einer Abgeordneten übertragen. Dreißig Jahre lang gab es Frauen in Führungspositionen. Das war ganz normal. Intelligenz wurde belohnt und nicht bestraft.
Mir schwebte vor, nach meinem Studium Radiomoderatorin zu werden. Erste Erfahrungen hatte ich schon als Grundschülerin gesammelt. Mein Vater hatte mich zu einem Sender mitgenommen. Einer seiner Freunde arbeitete dort, und er wusste, wie sehr ich Radiosendungen liebte, insbesondere die, in denen es um Poesie ging. Ich war ganz aufgeregt, als wir die Rundfunkanstalt betraten. Dabei hatte mir mein Vater noch gar nicht die große Überraschung verraten. »Soraya jan, hättest du Lust, Geschichten im Radio vorzulesen?«, fragte er mich beiläufig. Stumm nickte ich.
Der Reihe nach stellte er mich allen Mitarbeitern des Senders vor. Mir schwirrte der Kopf. Ich konnte immer nur denken: Alle werden mir gleich zuhören. Mama, meine Geschwister, meine Lehrerinnen und vor allem auch meine Freundinnen. Das gemeinsame Radio-Hören war im Kabul meiner Kindheit eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Papa strich mir beruhigend über den Kopf. »Du musst nicht nervös sein.«
Und kaum war ich im Aufnahmeraum, fiel auch alle Anspannung von mir ab. Es war, als ob ich nie etwas anderes gemacht hätte. »Deine Tochter ist begabt, aber warte lieber noch ein paar Jahre. Sie ist so jung, und die Medienlandschaft ist nichts für Kinder«, raunte sein Freund ihm zu. Mein Vater sah mich an, wie ich mit roten Wangen meinen Text vorlas. Registrierte das Strahlen in meinen Augen.
Nach der Sendung hüpfte ich aufgeregt neben ihm her. Redete ohne Punkt und Komma und schmiedete bereits Pläne für künftige Sendungen. Mein Vater schwieg zu alldem. Wie gesagt, es fiel ihm schwer, unangenehme Sachen auszusprechen, aber dieses Mal musste er es. Er sagte: »Schatz, du musst warten, bis du älter bist.« Ich verstand die Welt nicht mehr. »Alle haben doch gesagt, ich sei gut gewesen«, setzte ich an. Mein Vater unterbrach mich. »Das warst du auch. Dein Talent kann man nicht übersehen. Allah hat dich mitten ins Herz geküsst. Du hast eine besondere Gabe. Aber jetzt ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.« Natürlich war ich im ersten Moment enttäuscht. Aber ein Blick in seine traurigen braunen Augen sagte mir, dieser Mann wird nie etwas tun, was mich verletzt.
Jetzt, so kurz vor dem Abitur, war die Zeit jedoch gekommen, um den Gedanken, zum Hörfunk zu gehen, wieder aufzugreifen. Das fand ich viel spannender als die Geschichten meiner Cousinen. Überhaupt: Was interessierte es mich, ob ihr großer Bruder gerade Fotos von sich im neuen Fellmantel geschickt hatte und darauf Jeans und lange Haare trug? Der Sechsundzwanzigjährige sah in den Klamotten und mit der Frisur auch nicht anders aus als die vielen Hippies, die in unserer Stadt weilten. Nur ein Bild mit einem Mädchen an seiner Seite, das schickte er nie. Aber selbst daran verschwendete ich keinen Gedanken.
Ob mein Onkel sich wegen dieser Tatsache langsam Sorgen machte, wagte ich zu bezweifeln. Schließlich hatte er ebenso wie sein Bruder, also mein Vater, erst mit über dreißig geheiratet. Viel wichtiger war Ali Mohammed Alekozei, dass sein Sohn nach seinem Studium neues Wissen in die alte Heimat mitbrachte. »Wir müssen alle unseren Beitrag dazu leisten, dass dieses Land sich zu einem modernen Staat entwickelt« war seine Devise. Er selbst wäre gern Ende der Dreißiger nach Italien gegangen, um sich als Ingenieur weiterzuentwickeln. Ein Visum hatte er bereits, als ihm die Geschichte einen Strich durch die Rechnung machte. Mit der »Reichspogromnacht« in Deutschland wurden 1938 auch seine Hoffnungen zerstört. Ihm war klar, dass der Faschismus übergreifen und der nächste Schritt Krieg sein würde. Italien würde seinem deutschen Bündnispartner dann zur Seite stehen.
Mein Onkel war Soldat. Durch und durch. Trotzdem durfte Wali, sein Erstgeborener, während des Studiums alle Freiheiten genießen. Lange Haare, studentische Sitzstreiks oder noch nebenbei die Gründung eines kleinen Geschäfts – alles war in Ordnung. Hauptsache, der Sohn hat dadurch etwas gelernt. Einmal fuhr er sogar mit dem Auto und einem Freund den ganzen Weg von Köln, wo er damals wohnte, nach Kabul. »Die Straße ist die Schule des Lebens«, erklärte er seiner überraschten Familie. Aber Wali war nicht der einzige Weltenbummler der Alekozeis. Seine Tante Shiela und ihr Mann Jawed lebten und arbeiteten ebenfalls in Deutschland. Sie als Bankerin und er als Doktorand an der Kölner Universität. Regelmäßige Reisen nach Kabul waren eine Selbstverständlichkeit.
Jene im Herbst 1973 sollte mein Leben verändern. Sharifa hatte ihre Familie besucht und dabei jede Menge Fotos gemacht. Auf einer dieser Momentaufnahmen war ich. Es ist ein schönes Bild. Ein Schnappschuss aus glücklichen Tagen. Nicht mehr und nicht weniger. Für mich zumindest. Ahnte ich doch nicht, was er auslösen würde. Wali war jedoch wie elektrisiert, als er das Bild sah. »Wer ist dieses Mädchen?«, fragte er. Wie sollte er mich auch erkennen? Wenn mein Cousin zu seinen Eltern kam, war er eigentlich immer auf dem Sprung. Meist wollte er Freunde treffen, das Land bereisen. Die Tochter seines Onkels war für ihn nicht mehr als eine Spielkameradin seiner jüngeren Geschwister. Er wusste, dass es mich gab, aber sonderlich interessiert hatte es ihn nicht. Das änderte sich schlagartig, als er mich auf dem Foto sah.
Drei Monate später saß er im Flugzeug in die Heimat. Verliebt in ein achtzehnjähriges Mädchen, ausgelöst durch einen Schnappschuss. Von alldem ahnte ich nichts. Merkte die sehnsüchtigen Blicke nicht, die mich auf Schritt und Tritt verfolgten, als er bei meinem Onkel eingetroffen war. Mehrere Tage nach seiner Ankunft lud mich Wali plötzlich ins legendäre Restaurant »Khyber« ein. Heute würde man sagen, es war ein In-Treff. Hier verkehrten Ausländer und betuchte Afghanen. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt. Und neugierig war ich auch. Auf die Umgebung, nicht auf ihn.
»Du solltest unbedingt den Kuchen probieren. Es ist der beste von ganz Kabul«, riet mir mein Cousin. Entspannt lehnte ich mich zurück. Schon bald fing ich aber an, mich zu wundern. Wali wollte wissen, ob ich in jemanden verliebt sei. Ich lachte unsicher. »Was denkst du dir eigentlich?« Als Schülerin eines Mädchengymnasiums traf ich eher selten fremde Männer. In meiner Jugend begegnete man ohnehin nur auf Familienfesten dem anderen Geschlecht. Das hatte nichts damit zu tun, dass meine Eltern es mir vielleicht verboten hätten. Es gab einfach keine anderen Gelegenheiten. Im Studium schon, aber nicht während der Schulzeit.
Ich fing an, mich unwohl zu fühlen. Rutschte auf meinem Stuhl ungeduldig hin und her. Wali merkte von alldem nichts. Es kam mir vor, als wären Stunden vergangen, als er endlich mit der Wahrheit herausrückte. Er habe sich in mich verliebt, sagte er plötzlich, und ob ich mir vorstellen könne, mein Leben mit ihm zu verbringen. »Ich kann dir nichts bieten außer meiner Liebe.« Ich war starr vor Schreck. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihn an. Er merkte, wie ich anfing zu zittern. »Du musst nicht ja sagen, wenn du nicht willst«, beruhigte er mich.
Natürlich musste ich das nicht. Das war mir klar. Schließlich hatte meine Schwester Sultana den Heiratsantrag eines Verwandten abgelehnt. »Es ist ihre Entscheidung«, unterstrich damals unser Vater. So würde es auch dieses Mal sein. Alahfazel Alekozei Watanyar hätte niemals zugelassen, dass eines seiner Kinder unglücklich wird. Das entsprach nicht seinem Wesen und ebenso wenig unserer Religion. Nach dem Koran soll eine Ehe nur dann geschlossen werden, wenn sie auf beiderseitigem Einverständnis beruht.
Wali brachte mich nach Hause und nahm mir das Versprechen ab, über seinen Antrag nachzudenken. Ich nickte stumm. Zwei Tage später erklärte er, dass er wieder nach Bonn fliegen wolle. Ich überlegte: Würde ich durch ein Nein alles kaputtmachen? Ich liebte die Familie meines Cousins wie meine eigene und hatte Angst, ihre Gefühle zu verletzen. Bis zu jenem Nachmittag im »Khyber« war mein Leben unkompliziert gewesen. Ich war ein Kind, das morgens mit einem Kuss in die Schule geschickt und nachmittags mit einem Kuss zu Hause begrüßt wurde. Behütet und geliebt. So hatte ich mich stets gefühlt. In wenigen Monaten würde ich mein Studium beginnen. Vielleicht auch ins Ausland gehen. Andere Kulturen kennenlernen. Könnte ich all das, wenn ich verheiratet wäre?
Aber mehr noch beschäftigte mich eine andere Frage: Was war mit der Liebe? Musste sie nicht von Anfang an da sein? Oder konnte sie sich entwickeln? War gegenseitiger Respekt das Samenkorn, aus dem die Liebe wuchs? Ich wusste es nicht. Wali stieg also in sein Flugzeug nach Deutschland und hatte keine Ahnung, wie meine Antwort ausfallen würde.
Aufgeben wollte er allerdings nicht. Er fing an, mir zu schreiben. Lange, liebevolle Briefe. Dabei machte er seine Gefühle deutlich. Und erzählte, wie er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellte. Plötzlich kam mir ein Leben an seiner Seite nicht mehr so abwegig vor. Wir würden gemeinsam studieren, die Welt entdecken und später in Kabul eine Familie gründen. All das brachte er zu Papier. Seine Träume waren auf einmal auch meine Träume. Damit brachte er meine Seele zum Klingen, und ich gab ihm mein Jawort. Schriftlich. Heute ziehe ich ihn manchmal damit auf, dass wir die Schirni Dadan, also unsere Verlobung, ohne ihn gefeiert haben. Ich mit den Familien in Kabul und Wali mit einem Bild von mir in seiner Studentenbude in Köln.
Wir wollten eine kleine Hochzeit. Aber wir hatten die Rechnung ohne Walis Vater gemacht. Da in Afghanistan die Familie des Mannes die Hochzeit bezahlt und auch ausrichtet, duldete der pensionierte Oberst in diesem Fall keine Widerworte. Er sei auf so vielen Hochzeiten eingeladen gewesen, da verstehe es sich doch von selbst, dass sein eigener Sohn im großen Rahmen heiraten werde. Über vierhundert Leute lud mein Onkel Ali Mohamed Alekozei ein. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten es ruhig ein paar mehr sein dürfen. Aber wir konnten einfach keinen größeren Saal finden.
Als Hochzeitstermin legten wir den 15. Juli 1974 fest. Wali kam vier Wochen vorher. »Wir müssen uns doch besser kennenlernen«, meinte er. Ich wusste, selbst zu diesem Zeitpunkt hätte er das Ganze noch abgeblasen, wenn ich es gewollt hätte. Das rechnete ich ihm hoch an. Andere wären, da war ich mir sicher, weniger verständnisvoll gewesen. Wie in meiner Heimat üblich, sollte ich in einem grünen Kleid heiraten. »Ich möchte aber lieber ein rotes Kleid«, erklärte ich meiner Mutter. Doch dieses Mal blieben meine Eltern hart. »Grün ist die Farbe des Islam und somit Tradition.« Damit war die Diskussion beendet.