Sieben Tage Jakobsweg - Mattis M. Wehlau - E-Book

Sieben Tage Jakobsweg E-Book

Mattis M. Wehlau

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Beschreibung

Mattis träumte schon lange vom Jakobsweg. Der Plan geriet fast in Vergessenheit, denn die Möglichkeit zu einer längeren Auszeit ergab sich leider nie. Durch einen Zufall erfährt er vom Camino Inglés, dem Englischen Weg. Die gut 120 km lange Strecke von der Hafenstadt Ferrol bis nach Santiago de Compostela, ist in nur einer Woche gut zu schaffen. Nach durchwachter Nacht bucht er am nächsten Morgen die Flugtickets. Was sieben Tage Pilgern mit ihm machen würden, hätte der sonst so rationale Mattis niemals erwartet. Zunächst freut er sich einfach auf eine Woche Freiheit. Familie, Beruf und alle Verpflichtungen hinter sich lassen und endlich mal wieder für sich sein. Was aber als einsame Wanderung beginnt, wird sehr schnell zu einem wunderbaren Gemeinschaftserlebnis. Er wird Teil einer Gruppe aus sehr verschiedenen Menschen, darunter die charismatische Sängerin Valentina, die den Weg zur Selbstoptimierung nutzt, ein älterer Herr namens Tonio auf der Suche nach seinem verlorenen Glauben oder der Österreicher Johann, der seine spontan abgesagt Hochzeit verarbeiten muss. Bereits nach kurzer Zeit entsteht eine überraschend enge Verbindung zwischen den Weggefährten. In dem Mattis tiefe Einblicke in das Leben der anderen erhält, erfährt er auch sehr viel über sich selbst. Eine unerwartete Erfahrung die für ihn nicht ohne Folgen bleibt. Auf humorvolle und selbstreflektierte Weise nimmt Mattis die Leser mit auf die Reise nach Santiago und macht Lust, eine eigene Pilgergeschichte zu schreiben.

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Inhalt

Vorwort

Dienstag Das Abenteuer Jakobsweg beginnt

Mittwoch Ferrol - Pontedeume

Donnerstag Pontedeume - Pentanzos

Freitag Bentanzos - Bruma

Samstag Bruma – Sigüeiro

Samstag Sigüeiro - Santiago de Compostela

Samstag Heimreise

Zu Hause

Vorwort

Im Büro herrschen „angenehme“ 40 Grad. Der Sommer meint es in diesem Jahr besonders gut mit uns. Eigentlich ist der Akku schon längst leer, nur die stumpfe Pflichterfüllung fesselt noch an den Schreibtisch. Die Zeit scheint bei drei Uhr stehen geblieben zu sein. Das Telefon klingelt und ein Freund meldet sich. “Es wird leider nichts am Wochenende”, verkündet er bedauernd. “Was könnte denn wichtiger sein, als an einem schönen Sommerabend gemütlich zu grillen?", hake ich enttäuscht nach. Er wäre in Spanien. “Wie Spanien? Ein spontaner Familienurlaub oder was machst Du da?” Nein, er wäre allein - auf dem Jakobsweg - es ist großartig. “Du auf dem Jakobsweg", frage ich ungläubig. “Du bist doch eher der Malle Typ?” Ja schon, aber seine Frau bekommt keinen Urlaub und die Kinder sind bei Oma und Opa. Irgendwie hätte ihn das gerade mal gereizt und jetzt war eben Zeit. “Aber Du kannst doch nicht einfach wochenlang da unten bleiben", insistiere ich. Das wäre auch gar nicht notwendig. Er geht den Camino Inglés – den Englischen Weg von Ferrol nach Santiago de Compostela und der ist in einer Woche gut zu bewältigen. Ich lege auf.

Unser kurzes Gespräch hat mich schockiert. Seit Jahren plane ich nun schon den Camino zu gehen und dieser verrückte Mensch zieht einfach so los, ohne sich je besonders dafür interessiert zu haben. Dass es verschiedene Wege nach Santiago gibt, wusste ich zwar, von einem „Englischen Weg“ habe ich aber noch nie etwas gehört. Eine Woche kann man sich natürlich leichter loseisen, als einen ganzen Monat. Knappe Zeit war jedes Mal der Hauptgrund, diese Reise immer wieder zu verschieben. Macht ein „Jakobsweg Light“ denn überhaupt Sinn? Das ist doch sicher wieder nur eine Erfindung unserer schnelllebigen Zeit. Ich google nach und lese: Der englische Jakobsweg hieße so, weil er im Mittelalter von Pilgern der britischen Inseln begangen wurde. Sie landeten in den Häfen von Ferrol oder La Coruña und brachen von dort nach Santiago auf. Von diesen beiden Städten kann man also auch starten und es ist tatsächlich ein ganz offizieller Jakobsweg mit allem Drum und Dran.

Bisher hat es sich leider nie wirklich ergeben. Als Selbständiger sind längere Urlaube immer schwierig. Die wenige Zeit möchte man dann natürlich nicht irgendwo allein verbringen. Ruhigen Gewissens einfach ein paar Wochen zu verschwinden, war bisher keine realistische Option. Zudem halte ich mich in der Firma für unentbehrlich, da bin ich leider keine Ausnahme. Und dann die Familie und das Haus und der Garten und die ganzen anderen Verpflichtungen.

Meine Frau macht im Nebenraum ihre Buchhaltung. Traurig setze ich mich zu ihr ins Büro. Was denn los sei.

“Stefan kommt nicht zum Grillen. Er ist eine Woche pilgern auf dem Jakobsweg.”

“Das ist doch schön. Das wolltest Du doch auch immer machen.”

"Ja, wollte ich."

“Dann mach doch. Eine Woche ist doch ok.”

Nachdenklich schaue ich sie an. Eine Woche ist wirklich ok. Große Projekte stehen gerade nicht an. Die Kollegen kommen auf jeden Fall klar. Die Kinder sind aus dem gröbsten raus und sicherlich auch nicht übermäßig traurig, wenn ich mal ein paar Tage nicht Hausaufgaben oder Zimmer aufräumen anmahne. Was hält mich also?

In der Nacht schlafe ich schlecht. Meine Gedanken kreisen um den Weg. Ich organisiere meine Abwesenheit und frage mich, ob und wie ich da unten klarkomme. Am nächsten Tag sitze ich etwas lustlos an meinen Schreibtisch. Nur so aus Interesse schaue ich mir die Flugverbindungen an. Man kann tatsächlich direkt bis zum Startpunkt fliegen. In ein paar Stunden ist man da. Plötzlich packt es mich. Der Mauszeiger bewegt sich wie von einer unsichtbaren Macht geführt auf den „Jetzt Buchen“ Button. Wenige Minuten später bin ich Besitzer eines Tickets von Berlin nach La Coruña. Ich kann es selbst kaum fassen.

Nach meiner überraschenden Entscheidung ist plötzlich alles ganz einfach. Die wenige Ausrüstung ist schnell besorgt und ein paar Grundinformationen sind zügig beschafft. Ich telefoniere noch ein paar Mal mit Stefan. Der ist zunehmend fasziniert von seiner Reise und kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus. Fast erkenne ich den sonst so nerdigen Typen fast nicht wieder. Jetzt bin ich wirklich neugierig. In zwei Wochen geht’s los. Meine Vorfreude ist riesengroß.

Dienstag – Anfang September

Das Abenteuer Jakobsweg beginnt

Gegen 3 Uhr morgens ist für mich die Nacht vorbei. Ich mache mich auf den Weg zum viel gescholtenen Berliner Hauptstadtflughafen BER. In meinem Caddy, den ich auf einem der zahllosen Shuttleparkplätze abstellen möchte, befinden sich nur mein Rucksack, mein Portemonnaie und überraschenderweise eine Dose Red Bull, eine liebevoll am Vortag im Auto deponierte Gabe meiner stets vorausplanenden Frau. Das ist wirklich nicht ganz meine Aufstehzeit. Vor Aufregung habe ich kaum geschlafen und so stürzte ich das quietsch-süße Energiegetränk bereitwillig hinunter.

Ich bin schon ziemlich spät dran. Verabschiedung und Schlüsselsuche haben wertvolle Minuten gekostet. Der Hund zeigt sich wieder von seiner “gehorsamsten” Seite und flutscht mir durch die Beine auf die Straße. Erst nach langem Flehen und Rufen findet er sich wieder vor der Hoftür ein. Ein Tadel wäre jetzt wohl angebracht, allerdings werden wir uns jetzt eine ganze Woche nicht sehen. Ich belasse es also bei ausgiebigen Knuddeln und Herzen. Das renitente Tier bleibt etwas irritiert hinter der Hoftür zurück und ich kann endlich los.

Aus der sachsen-anhaltinischen Provinz bis in die Hauptstadt ist es zum Glück nicht sehr weit. Unerwartete Autobahnbaustellen oder gar Vollsperrungen sind rund um Berlin immer möglich, aber laut Navi um diese Zeit noch nicht zu erwarten. Trotzdem zieht sich die Strecke länger als erwartet. Mein heiß geliebtes, aber doch schon etwas in die Jahre gekommenes Fahrzeug lässt sich nicht beliebig hetzen. So praktisch es mit seiner großen Ladefläche im dörflichen Alltag auch sein mag, die Autobahn ist definitiv nicht mehr sein Revier. So verliere ich auch auf der Strecke noch einmal eine wertvolle Pufferzeit. Jetzt darf eigentlich nichts mehr schiefgehen, sonst kann ich mich pünktlich zum Frühstück wieder zu Hause einfinden.

Die Internetseite des Parkplatzbetreibers ließ eigentlich keine Wünsche offen. Die super modern gestaltete Webpräsenz vermittelte mir bei der Buchung ein sehr gutes Gefühl. Quasi im Minutentakt fahren Shuttlebusse die Passagiere direkt bis zum Terminal und holen sie dort auch wieder ab. Die “barrierefreien, gut ausgeleuchteten und stets gut bewachten Stellplätze” versprechen Wellness pur für meinen im Alltag arg gebeutelten kleinen Kastenwagen. Das hat er sich redlich verdient.

Das Handy kündigt mir nach fast zwei Stunden Fahrt endlich das Ziel an. Aufgrund der Bilder und der Beschreibung im Internet hat sich in meinem Kopf die Vorstellung von einem in gleißendes Kunstlicht getauchten Hightech Parkplatz eingepflanzt. Ausgestattet mit allen technischen Raffinessen und moderner Zaun-und Überwachungstechnik. Meine Buchungsbestätigung mit dem QR Code liegt auf dem Beifahrersitz, bereit, dem unbestechlichen Kameraauge an der vollautomatischen Schrankenanlage zur Verifizierung dargereicht zu werden. Mit diesen wohl etwas überzogenen Vorstellungen fahre ich gleich zweimal an dem unscheinbaren Zuweg vorbei. Das Navi schlägt zwar beharrlich immer wieder vor, in die unbefestigte Seitenstraße einzubiegen, das Männergehirn bleibt aber unbelehrbar der Auffassung: “Das kann hier auf keinen Fall richtig sein”. Schon etwas verzweifelt gehorche ich schließlich doch der Elektronik und taste mich zweifelnd auf das unwegsame Gelände vor. Zumindest stehen hier schon mal Autos. Vor einer halb verfallenen Baracke brennt eine Lampe, in deren Lichtkegel sich bereits einige Koffer- und Rucksackträger eingefunden haben. Das muss es dann ja wohl sein. Sehr vertrauenserweckend kommt mir das aber nicht vor. Keine Schranke, keine Kamera, kein Bus, kein Wach- oder sonstiges Personal. Der Autoscheinwerfer erfasst zum Glück ein halb zugewachsenes Schild mit dem Betreiberlogo. Also hier würde ich mein Auto niemals auch nur eine Stunde parken. Da könnte ich es auch gleich auf einen Transporter mit osteuropäischen Kennzeichen abstellen. Ich sehe mich zärtlich über das Lenkrad streicheln, unbewusst verabschiede ich mich bereits von meinem treuen Gefährten. Ich habe keine Wahl. In Kürze geht mein Flug und so quetsche ich mich in eine der wenigen pfützenfreien Parklücken, die ich am Ende eines Betonplattenweges finde. Ich schätze das war zu DDR Zeiten mal eine LPG. Der neue Besitzer scheint sich wirklich große Mühe zu geben, sein Schätzchen im typisch realsozialistischen Originalzustand zu erhalten.

Als ich meinen Krempel aus dem Auto nehme und sorgfältig zum Abtransport vorbereite, sehe ich im Augenwinkel ein weiteres Fahrzeug in das Gelände einfahren. Der Aufregung in der Kofferträgergruppe nach zu urteilen, muss das wohl der Shuttlebus sein. Da es ja unbedingt der pfützenfreie Platz sein musste, bin ich jetzt aber gute 200 Meter vom Haltepunkt entfernt. Also raffe ich hektisch alles zusammen und laufe los. Schnell verschwinden die wenigen Wartenden in dem Minivan. Schon höre ich den Motor starten. Fakt ist, ich muss den Bus erreichen, sonst schaffe ich meinen Flug nicht mehr. Ich fange an zu rennen, so gut es mit Rucksack eben möglich ist und fuchtelte dabei wild mit den Armen. Zum Glück muss der Fahrer erst wenden und die knietiefen Löcher auf der Strecke lassen nur Schrittgeschwindigkeit zu. Zumindest, wenn man verhindern möchte, dass die Passagiere durch die geschlossenen Fenster sofort wieder hinaus in die Nacht katapultiert werden. Noch 50 Meter. Jetzt hat mich der Fahrer entdeckt und öffnet das Fenster. Kurz atme ich auf und werde langsamer. Dann höre ich ihn rufen: “Bin in halbe Stunde zurück”. Ich fange sofort wieder an zu rennen und zu fuchteln, sehe aber schon die Rücklichter des Gefährts Richtung Ausfahrt steuern. Verdammter Mist. Das war’s mit Pilgern. Plötzlich hält der Bus und die Tür geht auf. Ich schöpfe wieder Hoffnung. Mein Blick erfasst einen stehengelassenen Koffer und eine ältere Dame die eilig aussteigt und darauf zusteuert. Das ist meine Chance. Selbstlos biete ich meine Hilfe an und trage der Dame den Koffer zum Bus. Bei so viel praktizierter Nächstenliebe kann auch der sichtlich genervte Busfahrer nicht anders und nimmt mich doch noch mit. Mein erstes kleines Wunder auf dem Jakobsweg. Es sollte nicht das letzte bleiben.

Den BER hätte ich mir etwas spektakulärer vorgestellt. Nach endlos langer Bauzeit müsste doch da etwas so atemberaubend Schönes in den Brandenburger Sandboden geklotzt worden sein, dass selbst die schwerreichen Ölstaaten vor Neid erblassen. Was war denn bloß so kompliziert an rechteckigen Gebäuden mit ner Landebahn? Naja, in Berlin scheint eben alles nicht so einfach zu sein. Zumindest finde ich mich gut zurecht. Vom Fliegen habe ich allerdings keine Ahnung mehr. Die letzte Reise mit diesem Verkehrsmittel liegt gute 15 Jahre zurück. Mein Ticket habe ich über ein Buchungsportal geordert. Check In ist damit eigentlich schon erledigt. Trotzdem stelle ich mich sicherheitshalber am Iberia Schalter an und hole mir ein paar klassische Papiertickets. Mit mir steht da nur noch eine ältere Dame, allerdings mit einem großen Koffer, den sie fachgerecht auf das Gepäckband wuchtet. Ich habe nur Handgepäck. Die Mitarbeiterin stellt keine Fragen, sondern erklärt mir alles ganz genau. Offensichtlich erkennt ihr geschultes Auge sofort: Da hat jemand überhaupt keine Ahnung, wie das hier läuft.

Im Sicherheitsbereich sieht es aus, als wütete in Berlin Godzilla und alle wollen panikartig die Stadt verlassen. Hunderte, vielleicht tausende Menschen drängen sich in Richtung der Kontrollschleusen. Als der Schalter endlich in Reichweite ist, sehe ich, wie die Leute ordnungsgemäß ihre Waschutensilien in sorgfältig verschlossenen Plastikbeuteln präsentieren. Was soll das denn? Ein riesiges Schild über dem Schalter gibt Auskunft. Sämtliche Flüssigkeiten und Pasten müssen in einer Tüte verstaut werden und separat vom restlichen Handgepäck dem Personal zur Begutachtung vorgestellt werden. Habe ich leider nicht gesehen. Vermutlich zu groß. Hektisch wühle ich in meinem Rucksack nach einer Tüte. Mit dem stiernackigen Sicherheitsmenschen will ich lieber keine Diskussion über die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme führen. Hinter mir werden die Wartenden langsam ungeduldig. Leider finde ich nichts. Dafür liegt meine halbe Ausrüstung auf dem Boden verstreut. Als ich entschuldigend hochschaue, hält mir der Stiernacken mit gutmütigen Lächeln eine Tüte vor die Nase. „Ahh, OK, Danke…“. Man sollte die Menschen eben nicht nach ihrer Halsmuskulatur beurteilen, tadele ich mich. Hastig stopfe ich alles Flüssige und Gelige in die kleine Tüte. Leider passt die Zahnpasta beim besten Willen nicht mehr rein. Die Stimmung des Beamten droht bereits zu kippen. Genervt winkt er mich weiter, auf das sich sein Kollege mit mir herumärgern muss. Ich bin etwas angespannt. Sicher lauert hinter jeder Tür ein alarmbereites SWAT-Team, bereit jeden gnadenlos niederzuknüppeln, der mit seiner Colgate 4in1 den Flugverkehr in der Hauptstadt empfindlich stören möchte. Entweder bin ich verrückt geworden oder die Welt. Wer denkt sich so etwas aus? Sicher geht es darum zu vermeiden, dass ein außer Kontrolle geratener Passagier ins Cockpit stürmt und den um Gnade winselnden Piloten gründlich die Zähne putzt. Irgendeine hochbezahlte Security Consulting Agentur kam dann auf die Idee mit der Tüte. Der Wüterich kommt jetzt nicht mehr an die Tube - Katastrophe abgewendet. Während ich mir lebhaft ausmale, wie die Agenturmitglieder ihre schlaue Idee bei einem Gläschen Schampus bejubeln, sehe ich meine Zahnpasta einfach in den Müll fliegen. Zumindest ist mir das SWAT-Team erspart geblieben. Trotzdem ärgere ich mich. Vermutlich hat in diesem Bereich noch kein Mitarbeiter je eine Drogerie von innen gesehen. Die bedienen sich hier alle bei den arglosen Passagieren. Dem Pokerface des Kontrolleurs ist jedoch nicht zu entlocken, ob ihm in Kürze die Zahnpasta auszugehen droht.

Fliegen ist schon eine erstaunliche Sache. Ich bin immer wieder fasziniert, wie schnell das geht. Einsteigen, anschnallen, dreimal aus dem Fenster schauen und zack ist man in Madrid. Die Welt ist ein Dorf. Wenn man überlegt, wie lange unsere Vorfahren gebraucht haben, um einfach nur in die nächste Stadt zu kommen. Das Pilgern bis nach Santiago hätte früher Monate, vielleicht Jahre gedauert. Jetzt muss man aufpassen, dass man es schafft, sein im Bordbistro teuer erkauftes Sandwich bis zur Landung aufzuessen.

Der Flughafen in Madrid ist riesig. Von Gate D2 muss ich bis K61 laufen. Das ist fast schon eine vollwertige Etappe auf dem Jakobsweg. Endlich angekommen, halte ich nach weiteren Pilgern Ausschau. Wer sollte denn sonst nach La Coruña fliegen wollen? Ich muss gestehen, dass ich die Stadt bis zum Beginn meiner Reiseplanungen nicht kannte. Ich gehe die Passagiere in der Schlange durch, entdecke aber weder Rucksäcke, Jakobsmuscheln noch sonst irgendein Anzeichen auf eine längere Wanderung. Aber der Weg ist ja auch nicht so hoch frequentiert. Gewöhnlich fliegt man wohl auch eher nach Santiago de Compostela. Dahin gehen deutlich mehr Flüge und man kommt direkt vom Flughafen mit dem Bus nach Ferrol. Das wollte ich aber nicht. Es hätte sich merkwürdig angefühlt, schon zu Beginn meiner Reise am Ziel zu sein, da war mir die Coruña Route doch sympathischer. So bewahre ich mir den Eindruck einer echten Reise von A nach B. Ich möchte auch jetzt noch gar nicht wissen, wie es auf der Strecke oder in Santiago aussieht. Das wäre wie am ersten Advent bereits alle Geschenke auszupacken und dann ein Weihnachten ohne Überraschung erleben. Die Vorfreude ist doch eigentlich das Beste. Allerdings mache ich mir doch Gedanken, ob das mit dem Bus alles klappen wird. Direkt vom Flughafen gibt es keine direkte Verbindung nach Ferrol. Man muss erst in die Stadt gelangen und von da aus sehen, wie man weiterkommt. Hier oben spricht man wenig Englisch. Mit dem Durchfragen könnte es deshalb schwierig werden. Selbst Spanisch gibt es nicht in Reinform. Gewöhnlich wird Galicisch gesprochen. Ich bin wieder voll im üblichen Planungsmodus und aufgrund der vielen Unbekannten in meiner Reisegleichung ziemlich angespannt. Von befreiter Urlaubsatmosphäre ist noch gar nichts zu spüren.

Aber zumindest habe ich es schon mal bis nach La Coruña geschafft. Der kleine Provinzflughafen ist wirklich sehr überschaubar. Im Gegensatz zu Madrid wirkt hier alles wie ausgestorben. Das finde ich schon mal gut. Da macht sich doch gleich eine gewisse Vertrautheit breit, denn in meiner dörflichen Heimat ist es nicht viel anders. Frohen Mutes trete ich aus dem Gebäude. Die Luft ist trocken und für September sehr warm. Weit und breit ist kaum jemand zu sehen. Ein paar abgestellte Autos, ein geschlossener Zeitungskiosk, ein paar verirrte Gestalten. Der böige Wind riecht nach Salz und treibt Papierfetzen über den schmucklosen Betonvorplatz. Jetzt fehlen eigentlich nur noch ein paar vorbeirollende Kugelbüsche. So wie in den alten Westernfilmen, wenn der Held die Bühne betritt und mit verkniffenen Blick über die menschenleere Hauptstraße einer gottverlassenen Stadt reitet. Da bin ich also. Mein kleines Abenteuer kann endlich beginnen. Das gleißende Sonnenlicht und der aufgewirbelte Staub erschweren das Sehen. Vergeblich suche ich das weitläufige Areal nach einem Bus ab. Es ist keiner da. Automatisch ziehe ich bereits Plan B in Erwägung. Doch am leicht verbogenen Taxistandschild herrscht ebenfalls gähnende Leere. Etwas irritiert schlendere ich einfach mal los. Eine kleine Überdachung mit Häuschen deutet auf eine Bushaltestelle hin. Das will ich mir doch mal genauer anschauen. Auf halbem Weg fährt auch schon der Bus ein, die fast exakte Kopie des kleinen Flughafenshuttles von heute Morgen. Das macht doch schon mal Hoffnung. Kurz vorm Haltepunkt überholt mich eiligen Schrittes die Flugzeugbesatzung und steigt fröhlich schwätzend in das Fahrzeug. Noch bevor ich den Einstieg erreiche, verschwindet es schon hinter einer Kurve. Jetzt ist also auch noch die Besatzung weg. Plan C, unverzüglicher Rückflug, ist damit auch ausgeschlossen.

Ich versuche mich mit dem Fahr- und Streckenplan vertraut zu machen. Offensichtlich hat hier jemand versucht, so viele Daten wie möglich auf engstem Raum zusammenzufassen. Im Internet habe ich die Info gefunden, dass es eine stündliche Verbindung von der Station Hospital Materno nach Ferrol gäbe. Vergeblich suche ich den Plan, der zig verschiedene Buslinien beinhaltet, danach ab. Dann schaue ich mir auf Google verschiedene ausgewiesene Haltestellen an und schätze die Entfernung zum Wunschziel ein. Zeit habe ich ja. Von Bussen oder weiteren Reisenden ist weiter erstmal nichts zu sehen.

Plötzlich kommt Bewegung in die Sache. Die Flughafentüre spuckt eine kleine Gruppe Menschen auf den Vorplatz. Nach kurzer Orientierungsphase, schlagen auch sie den Weg zur Bushaltestelle ein. Ich höre also auf den rätselhaften Busplan zu studieren und beschließe einfach einen dieser Leute zu fragen. Eine Frau mit kluger Brille kommt lächelnd direkt auf mich zu. Offensichtlich hat sie meine Nöte erkannt und macht sich bereit, mir fachkundig mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Eilig formuliere ich im Kopf meine Frage und gehe sie noch einmal gedanklich durch. Ich werde es erst einmal mit Englisch probieren. Freudig harre ich der Ankunft meiner Retterin. Doch schnell macht sich Ernüchterung breit. Noch bevor ich irgendein Wort sagen kann, höre ich schon: "Excuse me, do you know…??” Was heißt bloß, das wollte ich sie eigentlich fragen, denke ich enttäuscht, belasse es aber bei einem Schulterzucken und einem schmallippigen “Sorry”. Die anderen scheinen ebenfalls keine echte Hilfe zu sein. Mit der gleichen Ahnungslosigkeit versuchen auch sie, dem Busplan verwertbare Informationen zu entlocken. Abwechselnd stellen sie sich wild diskutierend mal in diesem, mal in jenem Wartebereich auf. Ich beobachte das Treiben etwas ratlos.

Plötzlich tippt mir jemand unvermittelt auf die Schulter. Hinter mir steht wie aus dem Nichts ein Pärchen mit Rucksack. Sie fragt vorsichtig und mit sanfter Stimme "Ferrol?”. “Ja!”, rufe ich erleichtert. Die beiden sind ohne Zweifel auch zum Pilgern nach Spanien gekommen. Sofort fühle ich mich nicht mehr so verlassen. Die kleine, von meiner Tochter handgefilzte, blau-gelbe Jakobsmuschel, die deutlich sichtbar an meinem Rucksack baumelt, leistet schon erste gute Dienste. Nach kurzer Enttäuschung der beiden darüber, dass ich leider auch keinen Plan habe, beschließen wir, die Sache gemeinsam anzugehen. Die sympathische Enddreißigerin stellt sich als Marina vor. Sie spricht etwas Spanisch, was sich bei der Befragung der Busfahrer als hilfreich erweisen könnte. Ihr Mann Paolo spricht ganz passabel Englisch. Bereitwillig teile ich mein gesamtes Wissen zum Thema Bustransfer. Leider ist es nur die Erkenntnis, dass der Fahrplan schwerer zu enträtseln ist, als das Voynich Manuskript. Dann lege ich mein Schicksal in die Hände der beiden Italiener.

Irgendwann kommt tatsächlich ein Bus und obwohl sich die wartende Gruppe inzwischen nach bestem Wissen auf drei verschiedene Wartebereiche verteilt hat, steigen schließlich alle ein. Auch wir. Allerdings ist es mehr Gruppenzwang als Überzeugung. Die Befragung des Busfahrers bleibt ergebnislos und die Nummer am Bus ist auf dem Plan nirgendwo verzeichnet. Wir hoffen auf die Schwarmintelligenz der Gruppe und suchen uns ein Plätzchen. Mit viel Glück und Google Maps finden wir am Ende tatsächlich einen vielversprechenden Ausstiegspunkt in der Nähe des Busbahnhofes von La Coruña. In dem langgestreckten Gebäude entdecken wir nach einigen Fragen und Suchen etwas abseits einen unscheinbaren Schalter der Fernbuslinie. Hier kaufen wir uns die Fahrkarte nach Ferrol und begeben uns in den Wartebereich, wo sich tatsächlich auch schon andere Pilger und einige Einheimische eingefunden haben. Mit dem Bus zu fahren kostet hier nicht viel und scheint ausgesprochen beliebt zu sein. Langsam fällt die Anspannung etwas von mir ab. Das Hotel in Ferrol ist schließlich schon gebucht. Was soll jetzt noch schiefgehen. Ich beschließe also gemütlich ein Käffchen am Kiosk zu trinken. Bis zur Abfahrt ist es ja noch eine gute halbe Stunde. Die beiden Italiener wollen lieber bleiben und warten. Muss jeder selbst wissen. “Cafe con Leche”, sind meine ersten spanischen Wörter, die mir fließend über die Lippen kommen. Ich bestelle und pflanze mich gemütlich an eine Fensterfront. Entspannt beobachte ich das Treiben auf der Straße und genieße mein heißes Getränk.

Als ich zurückkomme, hat sich die Menge der Wartenden locker verdreifacht. Oje, wo kommen die denn plötzlich alle her und wie zum Teufel sollen die alle in den Bus passen. Spontan hat sich eine korrekt ausgerichtete Schlange gebildet, an deren Ende Menschen mit sehr besorgten Blicken stehen. Ich entdecke Marina und Paolo irgendwo in der Mitte. Sie winkt mir zu und bedeutet mir, mich dazuzustellen. Zögernd bleibe ich stehen. Ich hasse es, wenn sich jemand vordrängelt, und würde es selbst nicht mal an der Eisdiele tun. Aber ohne die beiden bin ich vermutlich verloren und am Ende der Schlange habe ich wohl nicht die geringste Chance, noch mitgenommen zu werden. Marina erkennt zum Glück meine Zerrissenheit. Sie kommt auf mich zu und zerrt mich beherzt auf die vielversprechende Mittelposition. Entschuldigend schaue ich die Leute hinter uns an. Die sind aber überraschend gelassen. Als der Bus kommt, gelingt es tatsächlich, alle Wartenden in das Gefährt zu stopfen. Gleichgültig winkt der Fahrer einen nach dem anderen durch. Zum Glück scheint es hier keine Berührungsängste zu geben. Zum Schluss ist nahezu jeder Kubikzentimeter des Innenraums gut mit Mensch und Gepäck ausgefüllt. Trotzdem sind alle bester Laune und es wird munter geschwatzt und gescherzt. Ich habe sogar einen Fensterplatz am Ende des Busses erwischt. Trotzig setzt der hörbar in die Jahre gekommene Dieselmotor das deutlich überladene Gefährt in Bewegung.

Endlich ist etwas Zeit in Ruhe ein paar Worte zu wechseln. Marina und Paolo wollten eigentlich einen Strandurlaub machen, haben sich dann aber aus Gründen, die ich wegen mangelnder Englischkenntnisse auf beiden Seiten nicht verstehe, fürs Wandern auf dem Jakobsweg entschieden. Bei Italienern wäre der "Englische Weg" sehr populär. Eine Feststellung, die sich im Laufe meiner Wanderung absolut bestätigen wird. Ich frage mich, ob es auch einen “Italienischen Weg" gibt, der inzwischen von Engländern bevölkert wird. Vermutlich wären da schon am frühen Morgen die knappen Betten in den Herbergen mit Handtüchern gesichert. Ein Ärgernis, das im Laufe der Jahrhunderte die kultivierten Südländer vertrieben hat. Marina fragt mich, aus welcher Region ich denn komme. Dass mein kleines Dorf niemand kennt, ist ja klar. Also taste ich mich von den Mittelzentren zu den größeren Städten vor. Egal welche Stadt ich aber benenne, es zeigen sich immer die gleichen Fragezeichen über den Köpfen der beiden. Der Osten Deutschlands scheint in weiten Teilen Europas ebenso unbekannt zu sein wie Sibirien oder Feuerland. Bei Dresden klingelt es dann aber. Davon hat man zumindest schon mal gehört. Ich beschließe, für nächste Woche auf Nachfrage in Dresden zu wohnen. Das macht die Sache um einiges leichter. Marina und Paolo kommen aus Venedig. Ich hätte nicht gedacht, dass es da noch richtige Einwohner gibt. Es kam mir bei einem Besuch mehr wie ein historisches Disneyland vor. Verwundert hake ich nach. Dabei stellt sich heraus, dass die beiden schon länger die Dresden-Strategie verfolgen. Ihr tatsächlicher kleiner Wohnort dürfte selbst den meisten Italienern völlig unbekannt sein. Eigentlich bin ich weder sonderlich kontaktfreudig noch besonders interessiert an Smalltalk. Die beiden finde ich aber von Anfang an richtig sympathisch. Zum Glück scheint das auf Gegenseitigkeit zu beruhen und so verabreden wir uns gleich zum Essen. Es stellt sich heraus, dass wir sogar im gleichen Hotel übernachten. Als wir schließlich zu dieser Erkenntnis gelangen, ist unsere deutsch-italienische Allianz perfekt.

Das Hotel Zahara ist schnell gefunden. Die kleine Rezeption befindet sich mitten im gemütlichen Restaurant und wird bei Bedarf von der Bedienung mit betreut. Alle haben gut zu tun. Es ist gerade Stoßzeit. Trotzdem nimmt sich eine der Angestellten alle Zeit der Welt, um uns zu begrüßen und alles genau zu erklären. Marina übernimmt wieder das Management. Ich konzentriere mich auf die Begutachtung der herrlich angerichteten Teller, die unter meiner Nase zu den Gästen wandern. Die tadellos gekleideten Kellnerinnen bewegen sich grazil zwischen den Tischen und haben für jeden Gast ein freundliches Wort. Alles ist sehr familiär und angenehm. Keine Ahnung, wann ich in unserer Region das letzte Mal so eine einladende Atmosphäre erlebt habe. Meistens herrscht bei uns chronische Unterbesetzung und entsprechende Stimmung beim zumeist ungelernten Personal. Hier sind Profis bei der Arbeit. Am liebsten hätte ich mich gleich irgendwo hingesetzt. Dabei fällt mir ein, dass ich vor der Aufregung seit gestern kaum etwas gegessen habe. Da käme mir so ein üppig angerichteter Steakteller gerade recht. Allerdings sehe ich nirgends einen freien Platz. Marina reißt mich aus meinen kulinarischen Träumen. Sie teilt mir meine Zimmernummer mit und überreicht mir den Code, mit dem ich die Tür öffnen kann. Naja. Damit haben auch die beiden meinen Schlüssel. Es ist mir egal. Vor mir steht die fleischgewordene Rechtschaffenheit mit einem absolut unschuldigen Lächeln. Eins ist klar: Diese Frau ist absolut vertrauenswürdig und ohne ihre Hilfe würde ich mir jetzt vermutlich ein Plätzchen irgendwo in La Coruña suchen müssen.

Wir stellen unsere Sachen in die minikleinen aber ordentlichen Zimmer und begeben uns gemeinsam auf Nahrungssuche. Leider ist im Zahara immer noch kein Tisch frei, aber schon um die nächste Ecke finden wir ein kleines, recht nettes Burgerrestaurant. Wir sind furchtbar hungrig und beschließen deshalb nicht weiter zu suchen. Wir reden ein bisschen darüber, was wir beruflich so treiben, über die Familie und über unsere Heimatregionen. Es herrscht eine echte Grundsympathie zwischen uns, allerdings reißt auch immer mal wieder der Gesprächsfaden. Weder Paolos noch meine Englischkenntnisse reichen für wirklich tiefgründige Gespräche aus. Das macht die Kommunikation etwas anstrengend. Irgendwie schade, aber so ist es ja häufiger bei Urlaubsbekanntschaften. Das Angebot der beiden, am Abend gemeinsam die Stadt zu erkunden, lehne ich deshalb lieber ab. Mein Plan ist, in Ruhe alles auf mich wirken lassen und bei Gelegenheit vielleicht auch den ersten Stempel für meinen Pilgerausweis zu organisieren. Außerdem wollte ich ja ein paar Tage einfach nur für mich sein. Ich habe keine Zweifel, dass ich damit hervorragend klarkomme. Ich genieße es an Sonntagen stundenlang durch die Landschaft zu laufen, nur begleitet von unserem Hund Elsbet. Die meiste Zeit ist Einsamkeit aber purer Luxus. Als Familienvater, Ehemann, Sohn, Onkel, Kollege, Freund oder Trainer im Verein spielt man immer irgendeine Rolle. Das ist zwar meistens absolut ok, man hat aber nie wirklich Zeit, um einfach mal ein paar Gedanken in aller Ruhe durchzudeklinieren. Darauf freue ich mich hier am meisten. Hier, so gelobe ich feierlich, will ich einfach mal nur machen, wonach mirgerade ist. Keine Verpflichtungen. KEINE VERPFLICHTUNGEN!!! Absolute Freiheit ist zwar eine Illusion. Ich will aber zumindest einmal daran schnuppern.

Zurück im Hotel haue ich mich erst einmal aufs Ohr. Der Tag mit seinen vielen Eindrücken kommt mir schon jetzt unendlich lang vor. Das Bettchen scheint aus dem Zwergenland zu stammen. Meine Füße passen nicht mehr rein. Aber zumindest ist auf der Straße Ruhe eingekehrt. Siesta. Ich schlafe sofort ein.

Am späten Nachmittag mache ich mich auf, um die Stadt zu erkunden. Der Startpunkt für den Jakobsweg ist der Hafen. Den will ich mir auf jeden Fall schon mal anschauen. Ich habe keine Lust, morgen ziellos durch die Stadt zu irren und den Startpfeil zu suchen. Vorbereitung ist alles. Meinen Pilgerausweis nehme ich auch gleich mit. Da soll heute noch der erste Stempel rein. Das sonnige Wetter vor meinem Fenster macht außerdem Lust auf ein frisch gezapftes Kaltgetränk. Optimalerweise direkt am Meer. Der Plan steht also.

Ferrol wurde sicherlich noch von niemandem als Perle im Norden oder als architektonisches Juwel beschrieben. Die Straßen und Häuser künden nicht von großen Reichtümern unter den Einwohnern. Alles sieht recht nüchtern und zweckmäßig aus. Trotzdem hat die Stadt durchaus Charme. Die Lage am Meer, die kleinen Parks und Plätze und die Aufgeräumtheit vermitteln schon mal einen ersten positiven Eindruck. Es sind aber in erster Linie die Menschen, die für Wohlfühlatmosphäre sorgen. Hier scheint es noch ein echtes Miteinander zu geben. Man kennt sich, grüßt sich, bleibt auf ein kleines Schwätzchen stehen. Um diese Zeit sind die Straßen wieder sehr belebt. Überall herrscht emsige Betriebsamkeit. Die Stadt ist voller kleiner Läden. Große Supermärkte und Shopping Malls auf der grünen Wiese scheinen noch unbekannt zu sein. Zahlreiche Lebensmittelhändler haben ihre Auslagen auf die Straße gestellt. Vor einem Eisenwarengeschäft unterhalten sich ein paar Handwerker. In einem Hutladen begutachten zwei ältere Damen die feilgebotenen Kopfbedeckungen. Kein Handelsgut scheint zu unbedeutend, um dafür nicht extra ein Geschäft zu eröffnen. Von ausblutenden Innenstädten ist man hier offensichtlich noch weit entfernt. Was bei uns in einem großen Baumarkt konzentriert ist, verteilt sich hier auf zahllose kleine Läden. Auch die Cafés und Bars sind um diese Zeit schon gut besucht. Für ein Käffchen zwischendurch scheint sich immer etwas Zeit zu finden.